XI. Da Capo

Ehe er noch den Mund aufgemacht hatte, näherte sich draußen das Dröhnen eines Triebwerks, und ein großer Schatten zog über das Parkgelände. Das Donnern schwächte sich ab und kam zurück. Direkt über den Baumkronen schwebte ein Hubschrauber und zerschnitt mit seinen Rotorblättern die Luft. Es knallte zweimal, als habe jemand die Korken gigantischer Sektflaschen springen lassen. Die Maschine kam so tief herunter, daß ich die Männer in der Kabine sehen konnte. Einer öffnete die Tür und feuerte noch einmal aus dem nach unten gerichteten Signalwerfer. Gramer riß es auf die Füße, ich hätte nie geglaubt, daß er so schnell sein konnte. Den Kopf im Nacken, rannte er hinaus.

Aus dem Hubschrauber fiel etwas Glänzendes und verschwand im Gras, die Maschine stieg mit aufheulendem Triebwerk in die Höhe und flog davon. Gramer war in die Knie gegangen und durchwühlte das hohe Gras, bis er einen etwa fußballgroßen Behälter fand. Er öffnete ihn und zog einen Umschlag hervor, den er, immer noch gebückt und auf den Knien, sofort aufriß. Die Nachricht, die darin enthalten war, konnte nicht belanglos sein, denn Gramer fingen die Hände an zu flattern. Er wandte den Blick zu mir herüber, sein Gesicht war bleich und verändert. Noch einmal nahm er sich, bevor er aufstand, den Briefbogen vor, dann zerknüllte er ihn und steckte ihn in die Brusttasche. Ohne Eile und ohne sich die Mühe zu machen, den Parkweg zu benutzen, kam er quer über den Rasen zu mir zurück. Er trat ein und versetzte dem größten der Antiabhörgeräte wortlos einen Fußtritt, daß es darin knackte und den Ritzen des metallenen Kastens der bläuliche Qualm eines Kurzschlusses entquoll. Ich blieb auf dem Fußboden sitzen, während Gramer seine unbezahlbaren Apparate zertrampelte und die Kabel zerriß, als wäre er wirklich verrückt geworden. Schließlich zog er sein Jackett aus, hängte es über meinen Stuhl und ließ sich atemlos in einen Sessel fallen. Dann sah er mich an, als bemerke er mich erst jetzt, und stöhnte laut auf.

„Das ist nur so, aus lauter Ärger“, erklärte er nicht recht plausibel. „Ich gehe wahrscheinlich in Rente. Auch deine Karriere ist zu Ende. Den Mond kannst du vergessen und Shapiro eine Ansichtskarte schreiben, eventuell an die Adresse der Agentur. Die wird aus reinem Beharrungsvermögen noch eine Weile ihre Amtsgeschäfte führen.“

Ich sagte nichts, weil ich nicht auf einen neuen Dreh hereinfallen wollte. Gramer zog ein kariertes Tuch aus der Tasche, trocknete sich die schweißnasse Stirn und sah mich voller Wehmut und Mitgefühl an.

„Vor zwei Stunden hat es angefangen und zieht seine Kreise wie der Satan, überall gleichzeitig. Kannst du dir das vorstellen? Wir sind restlos pazifiziert, hier und drüben, überm Ozean, von Pol zu Pol, hin und zurück! Ein Globalverlust von etwa 900 Billionen! Den Kosmos mitgerechnet, denn als erste sind die Satelliten ausgefallen. Was glotzt du denn so?“ fuhr er mich ärgerlich an. „Kannst du es dir nicht denken? Ich habe einen Brief von Uncle Sam bekommen …“

„Ich bin schwach im Rätselraten.“

„Du denkst, wir spielen immer noch, nicht wahr? Nein, Brüderchen, das Spiel ist aus. Beschreibe deine Abenteuer, die Agentur, deine Mission und was du willst. In ein paar Wochen hast du ausgesorgt fürs ganze Leben, es wird garantiert ein Bestseller. Und niemand wird dir deswegen auch nur ein Haar krümmen. Nur beeilen mußt du dich, damit dir die Burschen von der Agentur nicht zuvorkommen. Vielleicht sitzen sie schon an ihren Memoiren aus einer verflossenen Zeit …“

„Was ist denn passiert?“

„Alles. Hast du mal von Soft Wars gehört?“

„Nein.“

„Und von Core Wars?“

„Sind das Computerspiele?“

„Na siehst du, du weißt es doch! Ja, es sind Programme, die alle anderen Programme vernichten. Das ist schon in den achtziger Jahren erfunden worden. Damals war es reine Dummheit, Spielerei von Programmierern. Infektion integrierter Schaltkreise nannte man es, ein Unterhaltungsspiel. Dwarf, Creeper, Raider, Reaper, Darwin und eine Menge anderer. Ich weiß nicht, warum ich hier sitze und dir einen Vortrag über die Pathologie der Rechentechnik halte! Was mich das an Gesundheit gekostet hat! Ich sollte dich anködern, und jetzt bin ich so gütig, dir Bildung zu vermitteln, statt mich um einen neuen Job zu kümmern!“

„Der Onkel hat dir den Brief per Hubschrauber geschickt? Gibt es demnach kein Postwesen mehr?“ fragte ich. Ich witterte in alledem immer noch eine Hinterlist. Gramer nahm sein Scheckheft heraus und krakelte etwas quer über ein Formular, das er zu einem Pfeil faltete und mir auf den Schoß fliegen ließ.

„Dem Missionar zum Andenken an seine treue Adelaide“, las ich.

„Damit vertreiben wir uns jetzt die Zeit?“ fragte ich und sah ihn an.

„Was anderes ist nicht übriggeblieben. Der Onkel läßt natürlich auch dich grüßen. Ein Postwesen gibt es nicht mehr, es gibt überhaupt nichts mehr. Nichts!“ Er schlug mit dem Arm einen Kreisbogen. „Vor zwei Stunden ist es losgegangen, ich sage es dir doch! Es lohnt sich nicht einmal, nach Schuldigen zu suchen. Auch dein Professor ist bereits arbeitslos, ein so gutmütiger alter Herr! Bloß gut, daß ich mir noch rechtzeitig ein Haus gekauft habe. Ich werde Rosen züchten, eventuell auch Gemüse anbauen, da es ja wieder zum Austausch Ware gegen Ware kommt. Das Bankwesen ist bei der Gelegenheit auch in die Binsen gegangen. Mir wird schwül …“

Er fächelte sich mit dem Scheckheft Luft zu, dann sah er es voller Widerwillen an und warf es in den Papierkorb.

„Pax vobiscum“, sprach er. „Et cum spiritu tuo. Hol’s der Teufel!“

Mir begann etwas zu dämmern. Seine Verzweiflung war nicht gespielt.

„Diese Viren …?“ fragte ich bedächtig.

„Du wirst scharfsinnig! Jawohl, mein wackerer Missionar. Du hast alles kurz und klein geschlagen. Du warst es ja, der dieses listige Pulver auf die Erde gebracht hat. Man kann dir jetzt den Friedensnobelpreis verleihen oder dich wegen allgemeinen Hochverrats an die Wand stellen. Den Nobelpreis solltest du dir nicht einbilden, aber ein Platz in der Geschichte ist dir sicher. Nur werden in den nächsten Jahren die Fetzen fliegen in dem Streit, ob die Seuche, die du eingeschleppt hast, heilsam oder verderblich war. Aber du wirst in jedem Lexikon stehen.“

„Vielleicht in deiner Gesellschaft?“ bot ich ihm an, denn ich hatte zwar noch nicht völlig begriffen, was für eine Katastrophe sich abgespielt hatte, war aber sicher, daß Gramer nichts vortäuschte. Dafür hätte ich beide Hälften meines armen Kopfes hingegeben.

„Es gab mal ein Programm unter dem Kryptonym ›Worm‹ — das Würmchen.“ Gramer sprach phlegmatisch, beinahe gelangweilt. „Du mußt wissen, daß ein ordentlicher Fachmann auf meinem Gebiet inzwischen Hochschulbildung braucht. Die Zeiten sind vorbei, daß man nur eine hübsche Frau zu sein und mit jemandem ins Bett zu steigen brauchte, um ihm Dokumente zu klauen, sie im Badezimmer abzulichten und schleunigst am nächsten Treff abzuliefern. Nein, erst mußt du deinen Doktor der Mathematik und der Informatik machen, dann kommt die höhere Spezialausbildung — du hast das halbe Leben rum, ehe du überhaupt anfangen kannst.“

„Als Spion?“

„Spion!“ sagte er, ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen und zuckte verächtlich die Achseln. „Spion!“ wiederholte er und ließ die dunkelblauen, weißgestirnten Hosenträger einige Male gegen die Brust schnellen. „Rede doch kein dummes Zeug“, fuhr er in mildem Ton fort. „Ich bin Staatsbeamter mit Sondergehalt, alles im Rahmen höherer Gründe. Der ›Spion‹ paßt auf mich wie die Faust auf eine Nase. Übrigens spielt das ohnehin keine Rolle mehr. Aus diesen Wurmprogrammen jedenfalls entstand die Theorie der Informationserosion. Hast du davon gehört?“

„Nur ungefähr.“

„Na also. Nachher zeigte sich, daß es nicht die Erfindung eines Professor of Computer Science, sondern von Bakterien gewesen war, und das schon vor zirka vier Milliarden Jahren. Plus/minus zweihundert Jahrmillionen sind einen Streit dabei nicht wert. Ja, schon diese ältesten Zellen, diese ersten, deren jede bereits ihr Programm besaß, fraßen sich gegenseitig an und auf, weil noch niemand da war, der von Herpes oder von Krebs befallen werden konnte. Den großen Experten sind solche Analogien natürlich nicht aufgefallen, weil ihre Köpfe durch kolossales Wissen verstopft waren. So kam es nur einige Male zu solchen Versuchen: im Rahmen eines verstohlenen Konkurrenzkampfes großer Konsortien, um die Computer der anderen stillzulegen. Damals sind diese battle programms entstanden, du wirst davon gelesen haben.“

„Das ist aber doch lange her …“

„Vierzig oder fünfzig Jahre. Eben darum ist jetzt alles in Staub zerfallen. Außer dem Knüppel, dem Küchenmesser und dem Revolver gibt es doch keine Waffe, die nicht vom Computer abhängig wäre! Überall steckten Programme und Mikroprozessoren, und dadurch ist es passiert. Hast du vielleicht mal versucht, irgendwo anzurufen?“

„Heute noch nicht. Warum?“

„Die automatischen Zentralen sind ebenfalls außer Betrieb. Mann, diese Viren sind überall auf einmal eingedrungen! Hast du Radio gehört?“

„Nein. Ich habe ja auch gar keins.“

„Sie verfügen über keinen Intellekt. Das war von Anfang an klar. An Verstand haben sie soviel wie der erste beste Virus. An Virulenz und Erosionsfähigkeit aber — das Maximum! Ich weiß auch nicht!“ sandte er einen Klageruf gegen die Wand, an der goldgelb die Blumen einer Van-Gogh-Reproduktion prangten. „Was soll ich mich denn jetzt noch mit dir abgeben? Ich werde spazierengehen oder mich aufhängen. Mit diesen Strippen!“ Er gab erneut einem seiner Apparate einen Tritt.

„Was von vorn wie ein verwickeltes Geheimnis aussieht, ist von hinten gewöhnlich simpel wie ein Stück Draht“, sagte er. „Haben wir die besten waffenerzeugenden Programme auf den Mond geschickt? Jawohl. Haben sie sich jahrelang vervollkommnen können? Und wie! Sind sie mit Volldampf aufeinander losgegangen? Natürlich, anders hatte es gar nicht sein können. Wer hat gesiegt? Wie immer derjenige, der im geringsten Rauminhalt die größte Virulenz unterbringt. Die Parasiten haben gesiegt, die molekularen Winzlinge! Ich weiß nicht mal, ob sie schon getauft sind. Ich würde als Namen vorschlagen: ›Virus Lunaris Pacemfaciens‹. Neugierig bin ich nur noch, zu erfahren, was dich wie auf den Mond gelockt hat, damit du diese wohltätige Pest einschleppen konntest. Du kannst es mir ruhig sagen, es ist Privatsache, denn für die Regierungen spielt es jetzt keine Rolle mehr.“

„Sämtliche Programme sind ausgelöscht, die Speicher in den Computern, alles?“ fragte ich wie betäubt. Erst jetzt begann ich das Ausmaß dieser Neuigkeit zu erfassen.

„Jawohl, mein pfundiger Missionar! Pfundweise nämlich hast du uns die Pest eingeschleppt, sicher nicht mit Absicht, denn woher hättest du das wissen können! Wir sind zurückgefallen in die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. In technischer Hinsicht und überhaupt. Damals gab es allerdings Kanonen. Die müssen jetzt erst wieder aus den Museen geholt werden.“

„Warte mal, Adelaide“, unterbrach ich ihn. „Warum denn ausgerechnet ins zwanzigste Jahrhundert? Damals gab es doch schon ganz hochgerüstete Armeen.“

„Da hast du recht. Der Zustand ist eigentlich ohne Beispiel. Es ist wie nach einem lautlosen Atomkrieg, bei dem die gesamte Infrastruktur verlorengegangen ist. Die industrielle Basis, das Nachrichtenwesen, das Bankwesen, die Automatisierung. Übriggeblieben sind nur einfache Mechanismen, auch hat weder ein Mensch noch eine Fliege den geringsten Schaden erlitten. Doch, denn es muß eine Menge Unfälle gegeben haben, nur daß keiner ordentlich Bescheid weiß, weil das Nachrichtenwesen ausgefallen ist. Auch die Zeitungen werden ja längst nicht mehr nach Gutenbergs Methode gedruckt. Die Redaktionen hat ebenfalls der Schlag getroffen. Nicht mal in den Autos funktionieren alle Anlagen. Mein Cadillac ist ein Wrack.“

„Es wird doch wohl nur der Dienstwagen sein“, bemerkte ich, „da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“

„Wahrhaftig“, pflichtete er mir bei. „Jetzt sind die Armen obenauf, die Vierte Welt, denn dort haben sie noch alte Schießeisen, vielleicht sogar noch von 1870, dazu die Munition und schließlich Spieße, Bumerangs und Knüppel. Das sind jetzt die ›Massenvernichtungswaffen‹! Wir können uns auf eine Invasion der australischen Ureinwohner gefaßt machen. Bei sich zu Hause dürften sie längst an der Macht sein. Nun kannst du mir wenigstens sagen, warum du da hinuntergeklettert bist! Was schadet es dir denn noch?“

„Glaubst du wirklich, daß ich das weiß?“ fragte ich, allerdings nicht allzusehr verwundert, weil ich fühlte, wie mikroskopisch klein meine Person und meine Lage geworden waren. „Ich habe keine Ahnung und bin bereit, dir fünf Prozent der Einkünfte für diesen Bestseller abzutreten, wenn du mir DAS erklären kannst. Nach deinem Studium mußt du doch besser sein als Sherlock Holmes. Ziehe deine Schlüsse, du kennst sämtliche Indizien so gut wie ich.“

Er schüttelte melancholisch den Kopf.

„Er weiß es nicht“, erklärte er den Blumen van Goghs, die jetzt von den Sonnenstrahlen erreicht wurden und einen gelben Widerschein auf mein zerknautschtes Bett warfen. Da mir die Beine weh taten, erhob ich mich aus dem Schneidersitz, nahm aus dem Schrank eine hinter den Anzügen versteckte Flasche Bourbon und aus dem Kühlfach Eiswürfel, schenkte uns beiden ein und schlug vor, auf eine Beerdigung zu trinken: die der Abrüstung durch Aufrüstung.

„Ich habe zwar zu hohen Blutdruck und Zucker“, wandte Gramer ein und drehte das Glas in den Fingern, „aber das eine Mal zählt nicht. Meinetwegen, auf unsere verstorbene Welt!“

„Warum denn ›verstorben‹?“ protestierte ich. Wir tranken, Gramer verschluckte sich und hustete, setzte das Glas ab und rieb sich die Wange. Ich bemerkte, wie nachlässig er rasiert war. Mit schwacher Stimme, als sei er plötzlich um zehn Jahre gealtert, sagte er: „Je höher einer durch Computer geklettert war, um so tiefer ist er jetzt gefallen. Sämtliche Programme sind zersetzt.“ Er klopfte sich auf die Tasche, in der der Brief von „Uncle Sam“ steckte. „Das ist eine Leichenfeier. Eine Epoche ist zu Ende.“

„Wieso denn? Wenn es Medikamente gegen normale Viren gibt …“

„Rede keinen Quatsch. Mit welchem Medikament läßt sich ein Leichnam aufwecken? Von allen Programmen auf der Erde, in der Luft, unter Wasser und im All ist doch nichts übrig. Selbst diesen Brief mußten sie mir mit einer alten ›Bell‹ herbringen, weil in den neueren Maschinen alles ausgefallen ist. Einige Minuten nach acht hat es angefangen, und diese Idioten haben geglaubt, es sei eine gewöhnliche Seuche.“

„Überall gleichzeitig?“

Vergebens suchte ich mir das Chaos vorzustellen — in den Banken, auf den Flughäfen, in Ämtern, Ministerien und Krankenhäusern, in Rechenzentren, an Universitäten, in Schulen und Fabriken …

„Genaues weiß man nicht, weil es kein Nachrichtenwesen gibt, aber dem zufolge, was ich erfahren habe, überall zur gleichen Zeit.“

„Wie konnte das passieren?“

„Du hast wohl Larvenformen oder Dauersporen mitgebracht, die sich dann lawinenartig vermehrten, um in der Luft, im Wasser und überall einen bestimmten Sättigungsgrad zu erreichen, der dann ihre Aktivierung auslöste. Die Rüstungsprogramme auf dem Mond waren bestgesichert gewesen, und so war es auf der Erde nur ein Kinderspiel. Die totale Bitodemie, ein parasitäres Bitozid. Mit Ausnahme dessen, was lebte, denn auf dem Mond hatten sie mit Lebendem nie zu tun gehabt. Andernfalls hätten sie uns alle erledigt, einschließlich der Antilopen, Ameisen, Sardinen und sämtlicher Gräser als Zugabe. Laß mich jetzt in Ruhe! Ich habe keine Lust mehr, dir Vorträge zu halten.“

„Wenn es so ist, wie du sagst, beginnt alles von vorn — auf alte Weise.“

„Na klar. In einem halben oder ganzen Jahr findet man ein Antidot gegen den Virus Lunaris Bitoclasticus, man läßt Gegenviren auf ihn los, und die Welt stolpert in die nächste Patsche.“

„Dann büßt du deinen Job vielleicht doch nicht ein.“

„Ich habe die Nase voll“, erklärte er kategorisch. „Nicht unbedingt, weil ich nicht wollte, aber ich bin einfach zu alt. Die neue Ära verlangt eine neue Ausbildung. Antilunare Informatik und so weiter. Der Mond wird sicherlich thermonuklear geschmort und sterilisiert, wenn das auch in die Milliarden geht. Aber ruhig Blut, es rentiert sich.“

„Für wen?“ fragte ich. Dieser Gramer war sonderbar, die ganze Zeit tat er, als wolle er sich verabschieden, machte aber keine Anstalten, aufzustehen und zu gehen. Offenbar wollte er mir sein Leid klagen, weil ich als einziger im ganzen Sanatorium wußte, wer er wirklich war. Sollte er mit seinem verpfuschten Leben etwa zu den Psychiatern gehen?

„Für wen?“ wiederholte er. „Für die Waffenhersteller, für alle Zweige der Industrie. Für alle. Sie kramen die alten Pläne aus den Bibliotheken, bauen erst ein paar klassische Anlagen und Raketen und machen sich dann über die Computerleichen her. Die ganze Hardware steht ja da wie eine wohlkonservierte Mumie, nur die Software ist beim Teufel. Warte nur ein paar Jahre, dann wirst du sehen!“

„Die Geschichte wiederholt sich niemals genau“, bemerkte ich und schenkte ihm ein, ohne zu fragen. Er leerte das Glas auf einen Zug, verschluckte sich diesmal nicht, aber seine Glatze lief rot an. In dem durchs Fenster einfallenden Sonnenstrahl spielten kleine glänzende Fliegen.

„Dieses Viehzeug ist natürlich heil davongekommen“, sagte Gramer finster. Er sah hinaus in den Park, wo die Patienten wie immer in bunten Morgenmänteln und Pyjamas durch die Alleen schlurften. Der Himmel war blau, die Sonne schien, der Wind wiegte die Kronen der großen Kastanienbäume, die Rasensprenger drehten sich, in den Strahlen des versprühten Wassers spielten die Farben des Regenbogens. Mittlerweile war eine Welt untergegangen, unwiederbringliche Vergangenheit geworden, eine andere aber noch nicht einmal in Sicht. Ich teilte Gramer diesen Gedanken nicht mit — dafür war er zu banal — und schenkte den restlichen Schnaps in die Gläser.

„Willst du mich besoffen machen?“ fragte er, trank aber aus, setzte das Glas ab und stand endlich auf. Er warf sich das Jackett über und blieb, die Hand auf der Türklinke, noch einmal stehen.

„Wenn dir etwas einfallen sollte … du weißt schon … dann schreibe mir. Wir vergleichen es.“

„Wir vergleichen es?“ fragte ich wie ein Echo.

„Ja, denn unter uns gesagt: ich habe darüber meine Vorstellungen.“

„Weshalb ich gelandet bin?“

„Sozusagen.“

„Dann heraus damit!“

„Ich darf nicht.“

„Warum nicht?“

„Es steht mir nicht an, ich habe einen Diensteid abgelegt, und Dienst ist Dienst. Wir haben an verschiedenen Seiten des Tisches gesessen.“

„Aber der Tisch ist nicht mehr da. Nun sei mal nicht so dienstgeil. Übrigens kann ich dir mein Ehrenwort geben, es für mich zu behalten.“

„Du bist gut! Du wirst es niederschreiben, veröffentlichen und behaupten, dein Gedächtnis sei zurückgekehrt.“

„Dann wirst du eben mein Teilhaber. Sechs Prozent meines Honorars.“

„Gibst du mir das schriftlich?“

„Selbstverständlich.“

„Zwanzig!“

„Du überspannst die Sache.“

„Ich?“

„Langsam glaube ich ohnehin zu ahnen, was du mir sagen kannst.“

„So?“

Er wurde verlegen. Offenkundig hatte er zuviel Wissenschaft geschluckt, aber zuwenig von anderer Ausbildung genossen. Ich fand, er eignete sich nicht besonders für seinen Beruf, aber ich sagte es ihm nicht. Er wollte sich ja sowieso pensionieren lassen.

Er schloß wieder die Tür, sah — gewiß aus bloßer Routine — aus dem Fenster, setzte sich auf die Kante des Schreibtisches und kratzte sich hinterm Ohr.

„Dann rede“, grunzte er.

„Wenn ich rede, wirst du keinen Cent zu sehen kriegen …“

Hinter seinem Rücken grünte der Park. Der alte Padderhorn fuhr in einem Rollstuhl die Allee entlang, in der Hand wie einen Marschallstab seinen halbmeterlangen Löffel. Der Pfleger, der ihn schob, rauchte seine Zigarre. Einige Schritte dahinter folgte Padderhorns Gorilla, nur in Shorts, mit braungebranntem, muskulösem Oberkörper, auf dem Kopf einen breitrandigen weißen Hut, das Gesicht beschattet von einem aufgeschlagenen bunten Comic. Am schlaffen Gürtel baumelte die Pistolentasche und schlug gegen den Oberschenkel.

„Nun mach den Mund auf oder die Tür hinter dir zu, mein alter Freund!“ sagte ich. „Du weißt ja, daß die Agentur sowieso alles abstreitet, was ich veröffentliche.“

„Aber ich kriege Ärger, wenn du mich als Informanten erwähnst.“

„Gegen Ärger hilft nichts so gut wie Geld. Übrigens werde ich dich erwähnen, falls du mir nichts sagst! Außerdem finde ich, daß du zur Kur mußt. Du bist völlig mit den Nerven herunter, das sieht man. Was guckst du denn so? Du hast mir schon alles entdeckt …“

Er war fertig, seine Wangen zuckten. Ein bißchen tat er mir leid.

„Du wirst dich nicht auf mich berufen?“

„Ich ändere Namen und Aussehen.“

„Man wird mich trotzdem erkennen.“

„Nicht unbedingt. Glaubst du etwa, du bist der einzige, den man hier auf mich angesetzt hat? Es kam alles durch euch, stimmt’s?“

Er war empört.

„Durch irgendein ›uns‹ überhaupt nicht! Wir haben mit der Lunar Agency nichts zu tun. Die waren es!“

„Wie und zu welchem Zweck?“

„Ich weiß nicht genau, wie, aber ich weiß, zu welchem Zweck. Du solltest nicht zurückkommen. Wärest du dort verschollen, so wäre alles beim alten geblieben.“

„Aber doch nicht ewig. Früher oder später …“

„Gerade um das ›später‹ ging es ja! Sie fürchteten deinen Bericht.“

„Schön und gut, aber dieser Staub? Wie ist er in meinen Raumanzug gekommen? Wie konnten sie von ihm wissen?“

„Sie wußten es nicht, aber Lax hatte seine Befürchtungen. Deswegen machte er Ausflüchte mit diesem Dispersanten.“

„Und ihr habt das erfahren?“ fragte ich verwundert.

„Einer seiner Assistenten ist unser Mann. Lauger.“

Ich erinnerte mich des ersten Gesprächs mit Lax. Er hatte in der Tat davon gesprochen, daß einer seiner Mitarbeiter ihn hintergangen habe. Die ganze Geschichte erschien in einem neuen Licht.

„Und die Kallotomie — waren die das auch?“ fragte ich.

„Keine Ahnung.“ Er zuckte die Schultern.

„Du wirst es nie erfahren“, fuhr er fort. „Niemand wird es erfahren. Wenn es um den höchsten Einsatz geht, hört die Wahrheit auf zu existieren. Es bleiben nur Hypothesen, verschiedene Versionen. Wie es bei Kennedy war.“

„Dem Präsidenten?“

„Hier war der Einsatz noch höher, es ging um die ganze Welt! Jetzt stell mir aus, was du versprochen hast.“

Ich entnahm der Schublade Briefpapier und Kugelschreiber. Gramer stellte sich abgewandt ans Fenster. Ich unterschrieb und gab ihm das Schriftstück. Er sah es durch und staunte.

„Hast du dich nicht geirrt?“

„Nein.“

„Zehn Prozent?“

„Jawohl.“

„Du hast zugelegt, da will ich nicht zurückstehen: Der Dispersant sollte dich auf den Mond locken.“

„Soll das heißen, daß Lax …? Das glaube ich nicht!“

„Lax wußte nichts davon. Lauger kannte alle Pläne, er fügte den Programmen noch eines hinzu. Das war keine Kunst, er ist ja Programmierer.“

„Also ist das doch durch euch gekommen.“

„Nein. Er hat für drei Seiten zugleich gearbeitet.“

„Lauger?“

„Ja. Aber wir brauchten ihn.“

„Schön. Der Dispersant hat mich gerufen, ich bin gelandet. Was aber ist mit diesem Sand?“

„Ein zufälliger Faktor, den niemand vorausgesehen hat. Wenn nicht du dich an jenen Moment dort oben erinnerst, wird es niemals mehr zu erfahren sein. Von niemandem.“

Er faltete das Papier zusammen und steckte es ein.

„Mach’s gut!“ warf er mir von der Tür aus zu.

Ich sah ihm nach, er ging zum Hauptgebäude. Ehe er hinter einer Hecke verschwand, ergriff meine Linke die Rechte und drückte sie kräftig. Ich will nicht sagen, daß dieser Ausdruck der Zustimmung mich erfreute. Aber irgendwie mußte das Leben ja weitergehen.


Mai 1984

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