X. Der Kontakt

Es wurde Ende August, und wenn ich abends die Schreibtischlampe anknipste, mußte ich das Fenster vor den Nachtfaltern verschließen. Ich habe ein eher von Abneigung geprägtes Verhältnis gegen Insekten, Marienkäfer ausgenommen. Schmetterlinge versetzen mich nicht in Entzücken, aber ich kann sie ertragen, während Nachtfalter mich zur Panik treiben. Ich weiß selber nicht, warum. Ausgerechnet in diesem August schwärmten und flatterten sie in Massen vor meinen Zimmerfenstern. Einige waren so groß, daß es einen dumpfen Laut gab, wenn sie gegen das Glas stießen. Da mir allein ihr Anblick unangenehm ist, wollte ich eben die Vorhänge zuziehen, als ich ein scharfes, deutliches Klopfen vernahm, als schlüge jemand mit einem Metallstab an die Scheibe.

Mit der Lampe in der Hand trat ich zum Fenster. Unter den durcheinanderschwirrenden Faltern erblickte ich ein Exemplar, das größer als die anderen und ganz schwarz war, dennoch aber das Licht reflektierte. Es flog ein Stück zurück und stieß wieder gegen das Fenster, daß ich den Rahmen erzittern fühlte. Statt des Kopfes hatte dieser Falter etwas wie einen kleinen Schnabel. Wie gebannt stand ich da und starrte ihn an, denn er schlug nicht planlos, sondern in regelmäßigen Abständen an die Scheibe, immer dreimal. Dann nahm er neuen Anlauf und klopfte wieder dreimal. Drei Punkte, Pause, drei Punkte, Pause. Im Morsealphabet bedeutet das den Buchstaben S. Ich muß gestehen, daß ich davor zurückschreckte, das Fenster zu öffnen. Ich ahnte zwar dunkel, daß dies kein lebendiges Geschöpf war, fürchtete aber, zugleich mit ihm einen ganzen Schwarm der zappelnden Nachtfalter einzulassen. Schließlich überwand ich mich und öffnete einen Spalt breit, das Insekt schwirrte herein, ich schlug das Fenster zu und suchte den Besucher mit den Augen. Er saß auf den Papieren, von denen mein Schreibtisch übersät war, hatte keine Flügel und glich in keiner Weise einem Nachtfalter oder überhaupt einem Insekt, sondern eher einer schwarzglänzenden Olive. Unwillkürlich fuhr ich zurück, als das Ding aufflog und zirpend einen halben Meter über dem Schreibtisch hängenblieb. Da es nicht aus einer Puppe ausgekrochen war, erregte es aber auch nicht länger meinen Widerwillen. Die Lampe in der Linken haltend, griff ich mit der Rechten zu. Die Olive ließ sich anfassen, sie war hart, aus Metall oder Plastik. Ich achtete genauer auf ihr Zirpen: drei Punkte, drei Striche, drei Punkte. Ich legte sie ans Ohr und vernahm eine menschliche Stimme, schwach und fern, aber deutlich.

„Hier Eule. Hier Eule. Bitte melden!“

Ich steckte die Olive ins Ohr und kam sofort auf die richtige Antwort.

„Hier Maus. Hier Maus. Ich höre.“

„Guten Abend.“

„Sei gegrüßt“, gab ich zurück, zog, da es nach einem längeren Gespräch aussah, die Fenstervorhänge zu und drehte noch einmal den Schlüssel im Schloß herum. Mittlerweile hatte ich Lax auch an der Stimme erkannt.

„Wir können uns ganz ungezwungen unterhalten“, sagte er und kicherte. „Niemand kann zuhören, das Scrambling habe ich selber ausgeheckt. Trotzdem ist es besser, wenn ich die Eule bleibe und Sie die Maus. Okay?“

„Okay“, sagte ich und löschte auch noch das Licht.

„Das hast du sehr schlau angefangen“, erklärte mein Gesprächspartner. „Ich wußte sofort Bescheid, es war nicht allzu schwer.“

„Aber wie …“

„Es ist für die Maus besser, wenn sie nicht zu viel weiß. Wir verständigen uns jetzt zwar nach der Art von Spitzbuben, die Maus soll aber wissen, daß hier ein verläßlicher Partner sitzt. Wir haben vor uns verschiedene Teile eines Puzzles. Die Eule fängt an: Der Staub ist kein Staub, es sind Mikropolymere von sehr interessantem Bau und mit Supraleitfähigkeit bei Zimmertemperatur. Einige haben sich mit den Resten des armen Kerls vereinigt, der auf dem Mond geblieben ist.“

„Was bedeutet das?“

„Für eine gesicherte Antwort ist es zu früh. Vorläufig habe ich nur mehrere Vermutungen. Durch Beziehungen habe ich mir eine Prise von dem Pulver verschafft. Wir haben eine halbe Stunde Zeit, dann geht das, was zwischen uns die Verbindung hält, hinter deinem Horizont unter. Bei Tage konnte ich mich nicht melden, wir hätten dann zwar mehr Zeit gehabt, aber das Risiko wäre größer gewesen.“

Ich war entsetzlich neugierig, wie Lax mir dieses metallene Insekt hatte schicken können, begriff aber, daß ich nicht fragen durfte.

„Ich höre weiter“, sagte ich.

„Meine Befürchtungen haben sich bestätigt, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Ich hatte angenommen, auf dem Mond werde aus dem entstandenen Wirrwarr etwas entstehen, ahnte aber nicht, daß es etwas sein könnte, das sich unseres Boten bedient.“

„Geht es nicht deutlicher?“

„Ich müßte unnötigerweise in den Jargon der Techniker verfallen. Ich sage das, was ich für die Wahrheit halte, in möglichst einfachen Worten. Es ist zu einer immunologischen Reaktion gekommen, natürlich nicht auf der gesamten Mondoberfläche, aber zumindest an einer Stelle. Von dort aus hat die Expansion der Nekrozyten eingesetzt. Diesen provisorischen Namen habe ich für den Staub erfunden.“

„Woher stammen diese Nekrozyten, und was machen sie?“

„Sie stammen aus den Trümmern der Bits und Logosbauteile. Einige von ihnen können Sonnenenergie aufnehmen. Das ist auch gar nicht verwunderlich, denn es hat dort sehr viele Systeme mit Fotoelementen gegeben. Ich schätze ihre Menge auf viele Milliarden. Der Witz liegt darin, daß der Mond sozusagen eine allmähliche Immunität gegen jedwede Invasion gewonnen hat. Nur bitte ich, nicht zu meinen, dort sei Intelligenz entstanden. Bekanntlich sind wir mit der Gravitation und dem Atom fertig geworden, nicht aber mit dem Schnupfen oder der Grippe. Auf der Erde sind Biozönosen entstanden, und so könnte man sagen, daß es auf dem Mond zu einer Nekrozönose gekommen ist — von diesem ganzen Durcheinander her, aus diesen gegenseitigen Angriffen und Wühlarbeiten. Mit einem Wort, das System von Schild und Schwert hat, ohne Willen und Wissen seiner Programmierer, im Sterben als Nebenprodukt die Nekrozyten hervorgebracht.“

„Was machen die denn nun eigentlich?“

„Erstens werden sie, wie ich meine, die Rolle der ältesten irdischen Bakterien erfüllt, sich also einfach nur vermehrt haben. Sicher hat es viele Arten gegeben, und die meisten sind, wie es die Evolution mit sich bringt, ausgestorben. Nach einiger Zeit sind symbiotische Gattungen aufgetreten, solche also, die zusammenarbeiten, weil es allen Seiten nützt. Aber ich sage noch einmal: keinerlei Intelligenz, nichts dergleichen. Sie sind — wie etwa die Grippeviren — lediglich zu einer großen Modifikationsvielfalt imstande. Im Unterschied zu den irdischen Bakterien sind sie keine Parasiten, weil sie gar keine Wirte haben konnten, sieht man von den Rechnerruinen ab, aus denen sie schlüpften. Diese waren ja nur der anfängliche Nährboden. Die Sache komplizierte sich dadurch, daß es inzwischen zu einer Zweiteilung sämtlicher Waffen gekommen war, die dort entstanden, solange die Programme noch einigermaßen nach ihren Vorgaben arbeiten konnten.“

„Ich errate etwas. Eine Trennung in Waffen, die gegen das Leben, und solche, die gegen unbelebte Gegner gerichtet sind.“

„Die Maus ist schlau. So muß es gewesen sein. Allerdings dürfte von den ersten Nekrozyten, die sicherlich vor vielen Jahren entstanden sind, nichts mehr übrig sein. Aus den Nekrozyten entstanden die Selenozyten. Anders ausgedrückt, sie begannen sich zu vereinigen, um zu überleben und Vielseitigkeit zu gewinnen, etwa wie gewöhnliche Krankheitserreger, die unter der Wirkung von Antibiotika ihre Virulenz dadurch verstärken, daß sie gegen Antibiotika immun werden.“

„Was hat auf dem Mond die Rolle der Antibiotika gespielt?“

„Darüber könnte man lange reden. Vor allem waren für die Selenozyten natürlich alle Produkte der militärischen Autoevolution gefährlich, die die Aufgabe hatten, jegliche ›Kraft des Feindes‹ zu vernichten.“

„Ich verstehe nicht recht.“

„Na was denn, in der Agonie liegt das Mondprojekt erst heute, aber jahrelang zuvor gab es dort eine Spezialisierung und Progression der Waffen, die erst simuliert und dann produziert wurden. Einige von ihnen gingen auf die Selenozyten los.“

„Aha, sie betrachteten sie als Feind, den es zu vernichten galt.“

„Jawohl. Es war ein vorzügliches Doping, das Pendant der Geschütze, mit denen die Pharmaindustrie auf die Bakterien feuert. Das führte die Akzeleration der Entwicklung herbei. Die Selenozyten behielten die Oberhand, weil sie sich als funktionstüchtiger erwiesen. Der Mensch kann einen Schnupfen, der Schnupfen aber nie einen Menschen haben. Das ist ganz klar, nicht wahr? Die großen komplizierten Systeme spielten dort die Rolle des Menschen.“

„Und dann?“

„Dann gab es eine sehr interessante und gänzlich unerwartete Wende. Die Immunität wurde von einer passiven zu einer aktiven.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Es war der Übergang von der Verteidigung zum Angriff. Die Selenozyten beschleunigten — dazu noch gewaltsam — den Ruin des Rüstungswettlaufs auf dem Mond.“

„Dieser Staub?“

„Jawohl, dieser Staub. Und als die Reste des großartigen Genfer Entwurfs schon in den letzten Zügen lagen, erhielten die Selenozyten unerwartet Verstärkung.“

„Nämlich?“

„Durch den Dispersanten. Sie bemächtigten sich seiner. Sie zerstörten ihn nicht, sondern schluckten ihn, trieben mit ihm einen logisch-elektronischen Informationsaustausch. Es kam zur Bastardisierung, zu einer Kreuzung.“

„Wie konnte das passieren?“

„Das ist gar nicht so unwahrscheinlich, denn auch ich bin von Silikonpolymeren mit Halbleitermerkmalen ausgegangen, anderen natürlich, aber die Adaptivität meiner Teilchen und der des Mondes war in etwa gleich. Verwandtschaft, fern, aber immerhin. Letztlich erzielt man, wenn man vom gleichen Baustoff ausgeht, stets Resultate, die einander gleichen.“

„Und nun?“

„Da bin ich noch nicht restlos dahintergekommen. Der Schlüssel könnte deine Landung sein. Warum bist du im Mare Ignii gelandet?“

„Im japanischen Sektor? Weiß ich nicht. Ich erinnere mich nicht.“

„Überhaupt nicht?“

„Eigentlich nicht.“

„Und deine rechte Hälfte?“

„Auch nicht. Ich kann mich schon ganz gut mit ihr verständigen. Aber behalten Sie das bitte für sich.“

„Ich behalte es für mich. Sicherheitshalber unterlasse ich die Frage, wie du das machst. Was weiß sie?“

„Daß ich, als ich an Bord zurückkehrte, die Tasche voll von diesem Staub hatte. Wie er hineingekommen ist, weiß sie aber nicht.“

„Du kannst ihn an Ort und Stelle selber eingesackt haben. Die Frage ist nur, warum.“

„Nach dem zu schließen, was ich soeben erfahren habe, muß ich es selber getan haben. Von allein werden mir diese Selenozyten ja nicht in die Tasche gekrochen sein. Ich kann mich aber an nichts erinnern. Was weiß die Agentur?“

„Der Staub hat Aufregung und Panik ausgelöst, zumal dadurch, daß er deiner Spur gefolgt ist. Weißt du das?“

„Ja, Professor S. hat es mir gesagt. Vor einer Woche war er hier.“

„Damit du dich untersuchen läßt? Hast du abgelehnt?“

„Nicht direkt. Ich spiele auf Zeit. Hier ist jedenfalls noch jemand, der mir abgeraten hat. Ich weiß nicht, in wessen Namen. Er spielt hier einen Patienten.“

„Davon hast du noch mehr um dich.“

„Was heißt das, daß der Staub ›meiner Spur gefolgt‹ ist? Hat er mir nachspioniert?“

„Nicht unbedingt. Man kann der Träger von Krankheitserregern sein, ohne davon zu wissen.“

„Aber die Geschichte mit dem Raumanzug?“

„Ja, das ist eine harte Nuß. Das hat dir jemand eingefüllt, oder du hast es selbst getan. Die Frage ist nur, wozu.“

„Wissen Sie es nicht?“

„Ich bin kein Hellseher. Die Situation ist reichlich verworren. Du bist gelandet, um ETWAS zu holen. Du hast ETWAS gefunden. JEMAND hat dich der Erinnerung zu berauben gesucht, und zwar in beiden Angelegenheiten. Daher die Kallotomie.“

„Also gab es mindestens drei antagonistische Seiten?“

„Es kommt nicht auf die Zahl an, sondern darauf, sie zu identifizieren.“

„Warum ist denn nun gerade das so wichtig? Früher oder später wird das Fiasko des ganzen Mondprojekts doch sowieso publik. Und wenn diese Selenozyten auch zum ›Immunsystem‹ des Mondes geworden sind — welchen Einfluß kann das auf die Erde haben?“

„Einen zweifachen. Erstens — das war lange vorauszusehen — eine Erneuerung des Wettrüstens. Zweitens — das ist die hauptsächliche Überraschung — das Interesse, das die Selenosyten an uns zeigen.“

„An den Menschen? An der Erde? Nicht nur an mir?“

„Das ist es ja.“

„Was machen sie denn?“

„Vorläufig vermehren sie sich.“

„In den Labors?“

„Ehe unsere Leute überhaupt durchsahen, war das Zeug in alle Himmelsrichtungen verflogen. Dir ist nur ein winziger Teil gefolgt.“

„Und dieses Zeug vermehrt sich? Und weiter?“

„Weiter nichts, ich sagte es doch. Die Dinger sind so groß wie Ultraviren.“

„Wovon ernähren sie sich?“

„Von Sonnenenergie. Ich habe gehört, daß man sie schon auf etliche Trillionen schätzt, zu Wasser, zu Lande und in der Luft.“

„Und sie sind völlig unschädlich?“

„Bis jetzt ja. Das ist es doch, was die größte Sorge ausgelöst hat.“

„Warum denn?“

„Ganz einfach: Nicht nur aus beträchtlicher Höhe, sondern auch auf dem Handteller sehen sie aus wie feinkörniger Sand. Du bist gelandet, und dafür muß es einen Grund gegeben haben. Aber was für einen? Das ist es, was herausgebracht werden soll.“

„Wenn ich mich aber an nichts erinnere — weder ich noch das übrige von mir?“

„Wie du mit diesem übrigen klarkommst, weiß ja keiner, und außerdem gibt es verschiedene Arten von Amnesie — unter Hypnose oder anderen besonderen Umständen läßt sich ein Mensch entlocken, woran er sich um keinen Preis erinnern konnte. Mit dir gehen sie sanft und behutsam um, weil sie Angst haben, ein Schock, eine Gehirnerschütterung oder irgendein Trauma könnte beschädigen oder auslöschen, was du wissen könntest, wenn du dich auch nicht erinnerst. Außerdem liegen unsere Leute untereinander in Zwietracht über die angemessene Methode der Untersuchung. Diese Fehde ist deiner Gesundheit bisher sehr zuträglich gewesen.“

„Ich glaube nun zu wissen, welchen Stellenwert ich in dieser Geschichte einnehme. Warum haben aber die Erkundungsflüge nach mir nichts gebracht?“

„Wer hat dir das gesagt?“

„Mein erster Besucher, der Neurologe.“

„Was hat er konkret gesagt?“

„Daß die Kundschafter zwar zurückgekehrt, aber mit einer Show konfrontiert worden seien. So drückte er sich aus.“

„Verlogenerweise, denn soviel ich weiß, hat es nacheinander drei Erkundungen gegeben. Zwei waren teleferistisch, und sämtliche Sendlinge sind dabei draufgegangen. Meiner wurde nicht mehr verwendet, nur die konventionellen Typen. Sie besaßen zwar besondere Raketen, um Gesteinsproben an Bord des Raumschiffs schießen zu können, aber es kam dabei nichts heraus.“

„Wer hat sie vernichtet?“

„Das weiß man nicht, weil der Funkkontakt sehr schnell abbrach. Sie waren erst im Landeanflug, als sich das Gelände in einem Radius von mehreren Meilen sofort mit einem Nebel oder Qualm überzog, den kein Radar mehr durchdrang.“

„Das ist mir neu. Und der dritte Kundschafter?“

„Er war am Ort, landete und kam zurück. In völliger Amnesie. Erst an Bord kam er zu sich. So habe jedenfalls ich es gehört, ich bin nicht ganz sicher, ob es stimmt. Gesehen habe ich ihn nicht. Je dunkler die Lage, desto größer die Geheimhaltung. Daher weiß ich nicht, ob auch er solchen Staub mitgebracht hat. Ich schätze, man wird den armen Kerl in die Mangel nehmen, dabei aber nicht viel Erfolg haben. Sonst wäre man nicht so scharf auf dich.“

„Was soll ich tun?“

„Ich sehe die Sache als verkorkst, aber nicht hoffnungslos an. Die Selenozyten werden in relativ kurzer Zeit die Überreste der Mondrüstung endgültig abservieren. Sie agieren nach der Kurzschlußmethode, vernichten zuerst, was ihnen Gefahr bringt. Das Mondprojekt ist zwar in aller Stille längst abgeschrieben, aber darum geht es nicht. Wir haben hier einige erstklassige Informatiker, die der Ansicht sind, der Mond beginne sich für die Erde zu interessieren. Das Motto lautet: ›Die Selenosphäre greift in die Biosphäre ein.‹“

„Also doch eine Invasion?“

„Nein. Nein, sosehr die Meinungen auch geteilt sind. Nichts im Sinne traditioneller Auffassungen. Es sind viele dienstbare Geister versandt worden, ordentlich in Flaschen verkorkt. Sie haben sich daraus befreit und einander beim Kragen genommen, als Nebenprodukt aber tote Mikroorganismen von gewaltiger Lebenskraft gezeugt. Nach einer vorsätzlichen Invasion sieht das nicht aus, eher nach einer Pandemie.“

„Da begreife ich nicht den Unterschied.“

„Ich kann das nur bildlich erklären. Die Selenosphäre verhält sich gegen Eindringlinge wie ein Immunsystem gegen Fremdkörper. Antigene erzeugen Antikörper. Selbst wenn es sich nicht genauso verhält, müssen wir diese Begriffe verwenden, um überhaupt etwas begreifen zu können. Die beiden Kundschafter, die nach dir dort oben waren, verfügten über den neuesten Typ der Bewaffnung. Ich kenne die Einzelheiten nicht, aber es handelte sich weder um konventionelle noch um nukleare Waffen. Die Agentur hält die Vorgänge geheim, aber die Staubwolken auf dem Mond waren so groß, daß sie von vielen astronomischen Observatorien bemerkt und fotografiert wurden. Mehr noch: Nachdem die Wolken sich gelegt hatten, wies das Gelände Veränderungen auf. Trichter waren entstanden, die in nichts den typischen Mondkratern glichen. Die Agentur kann das nicht leugnen, daher hüllt sie sich in Schweigen. Der Stab hat sich erst hinterher an den Kopf gefaßt, als es als möglich angesehen werden konnte, daß man mit einer um so heftigeren Gegenoffensive rechnen muß, je gewaltsamere Mittel der Erkundung eingesetzt werden.“

„Also doch …“

„Nein, nein, keinerlei ›doch‹, denn das ist kein Feind oder Gegner, sondern lediglich eine Art gigantischen Ameisenhaufens. Mir sind so kuriose Vermutungen zu Ohren gekommen, daß ich sie lieber nicht wiedergeben will. Wir müssen Schluß machen. Bleib sitzen, wo du sitzt. Solange man nicht restlos den Verstand verliert, bleibst du ungeschoren. Ich verreise für drei Tage, am Sonnabend will ich mich wieder melden, gleiche Stelle, gleiche Welle! Bleib gesund, mein wackerer Missionar!“

„Auf Wiederhören!“ sagte ich, war aber nicht sicher, ob er es noch gehört hatte, denn plötzlich war alles still. Ich nahm die glänzende Olive aus dem Ohr, wickelte sie nach einigem Besinnen in Stanniol und legte sie in eine angerissene Schachtel mit Pralinen. Ich hatte viel Zeit und Stoff zum Nachdenken, mehr aber nicht. Vor dem Schlafengehen zog ich die Vorhänge zurück. Die Nachtfalter waren weg, offenbar hinweggelockt von den beleuchteten Fenstern anderer Pavillons im Park. Der Mond schwamm durch weißliche Federwolken. Da haben wir uns was eingebrockt, dachte ich und zog mir die Decke über den Kopf.


Am nächsten Morgen — ich lag noch im Bett — klopfte Gramer bei mir an. Er sagte, Padderhorn habe am Vortage eine Gabel verschluckt, es sei nicht das erste Mal, daß er Besteckteile zu selbstmörderischen Zwecken benutzt habe. Er stehe unter ständiger Aufsicht, vor einer Woche habe er einen Schuhlöffel geschluckt. Daraufhin sei eine Oesophagoskopie gemacht worden, er habe einen Löffel von einem halben Meter Länge verordnet bekommen, diese Gabel aber wohl heimlich im Speisesaal geklaut.

„Bist du nur wegen solchen Tafelsilbers gekommen?“ fragte ich mit maßvoller Freundlichkeit. Gramer seufzte tief, knöpfte seinen Pyjama bis oben hin zu und ließ sich neben mir in einem Sessel nieder.

„Nein, nicht nur“, sagte er mit sonderbar schwacher Stimme. „Es steht nicht gut, Jonathan.“

„Kommt drauf an, für wen“, gab ich zurück. „Ich jedenfalls habe nicht die Absicht, etwas zu schlucken.“

„Es steht wirklich schlimm“, sagte Gramer noch einmal. Er hatte die Hände über dem Bauch gefaltet und drehte die Daumen umeinander. „Ich habe Angst um dich, Jonathan.“

„Nur ruhig Blut“, erwiderte ich, schüttelte mein Kopfkissen auf und schob mir ein kleineres unter den Nacken. „Ich stehe unter sicherem Schutz. Du hast doch sicher von den Nekrozyten gehört?“

Er war so perplex, daß ihm der Mund offenblieb und sein Gesicht ohne jede Absicht jene dümmliche Miene gewann, die er als in seinen Träumen unersättlicher Millionär aufzusetzen pflegte.

„Ich sehe, du hast davon gehört. Von der Selenosphäre sicherlich auch? Was? Oder hast du nicht die Dienststellung, daß du in solche Dinge eingeweiht wirst? Weißt du vielleicht etwas vom kläglichen Schicksal der sogenannten kollaptischen Waffe, von den letzten Erkundungen und den Wolken überm Mare Ignium? Nein, das wird man dir bestimmt nicht gesagt haben …“

Er saß da, starrte mich mit runden Fischaugen an und schnaufte.

„Sei so freundlich, Adelaide, und gib mir die Bonbonniere vom Schreibtisch“, forderte ich ihn lächelnd auf. „Ich esse vor dem Frühstück gern was Süßes.“

Da er sich nicht rührte, stieg ich selbst aus dem Bett, um die Pralinen zu holen. Unter meine Schlafdecke zurückgekehrt, bot ich ihm die Schachtel, hielt aber den Daumen so, daß die bewußte Ecke zugedeckt war.

„Bitte!“

„Woher weißt du das?“ fragte er endlich heiser. „Wer … du hast doch …“

„Du regst dich unnötig auf“, sagte ich etwas undeutlich, weil mir das Marzipan am Gaumen klebte. „Ich weiß, was ich weiß. Und das nicht nur über meine Abenteuer auf dem Mond, sondern auch über die Mißlichkeiten meiner Kollegen.“

Wieder verschlug es ihm die Sprache. Er sah sich im Zimmer uni, als wäre er zum ersten Male hier.

„Funkgeräte, Relais, geheime Leitungen, Antennen und Modulatoren, nicht wahr?“ fragte ich. „Nichts davon gibt es hier, nur im Bad tropft es ein wenig aus der Dusche, offenbar ist die Dichtung kaputt. Was wunderst du dich? Weißt du wirklich nicht, daß sie sich in mir befinden?“

Er war wie vor den Kopf geschlagen, wischte sich schweigend den Schweiß von der Nase und griff sich ans Ohrläppchen. Diese Symptome der Verzweiflung bereiteten mir aufrichtiges Mitgefühl.

„Vielleicht singen wir zweistimmig ein Liedchen?“ schlug ich vor. Die Pralinen waren köstlich, ich mußte aufpassen, daß nicht zu wenige übrigblieben. Ich leckte mir die Lippen und sah Gramer an.

„Nun beweg dich mal und sag was, du machst mich ganz traurig. Du hattest Angst um mich, und nun mache ich mir Sorgen um dich. Denkst du, daß du Schwierigkeiten bekommen könntest? Wenn du dich anständig benimmst, kann ich ein Wort für dich einlegen. Du weißt ja, wo.“

Ich bluffte, aber warum sollte ich das nicht tun? Allein die Tatsache, daß er mit so wenigen Worten total aus der Fassung gebracht werden konnte, zeugte von der Ratlosigkeit seiner Auftraggeber, wer immer sie waren.

„Ich verspreche dir, daß ich weder Namen noch Institutionen nennen werde, denn ich will dir nicht noch zusätzlich Ärger machen.“

„Tichy“, ächzte er schließlich. „Um Gottes willen! Nein, das kann nicht sein. Sie wirken überhaupt nicht so.“

„Habe ich denn gesagt, wie sie wirken? Ich hatte einen Traum, außerdem bin ich der Natur nach ein Hellseher.“

Gramer faßte plötzlich einen Entschluß. Er legte einen Finger vor den Mund und verließ das Zimmer. Von seiner Rückkehr überzeugt, versteckte ich die Bonbonniere unter den Hemden im Wäscheschrank, und ich schaffte es sogar, mich zu duschen und zu rasieren, ehe er wieder sachte klopfte. Er hatte den Morgenmantel mit seinem weißen Anzug vertauscht, in der Hand trug er, in ein Badetuch gewickelt, ein ziemlich großes Bündel. Er zog die Vorhänge vors Fenster und packte kleine Geräte aus, deren schwarze Buchsen er auf die Wände richtete. Ein kleines, aus einem schwarzen Kasten hängendes Kabel schloß er an einen Schalter an und hantierte noch ein Weilchen daran herum, tüchtig schnaufend, denn er war wirklich fett, der Bauch völlig echt. An die sechzig dürfte Gramer gewesen sein, er hatte abstehende Ohren mit riesigen Muscheln, auf den Knien quälte er sich mit seiner Elektronik herum, und als er sich endlich aufrichtete, war sein Gesicht tief gerötet.

„So“, sagte er, „wennschon, dennschon. Reden wir.“

„Worüber denn?“ wunderte ich mich, während ich mir mein schönstes Hemd mit seinem unerhört praktischen, weil dunkelblauen Kragen überstreifte. „Du bist es, der zu reden hat, denn dir brennt es ja auf den Nägeln. Erzähle mir von dieser Angst, in die dich die Sorge um mein Schicksal versetzt hat. Erzähle mir von dem Burschen, der dir versichert hat, ich säße hier besser unter Verschluß als eine Fliege in einer verkorkten Flasche. Rede übrigens, was du willst, schütte mir dein Herz aus, tu dir keinen Zwang an. Du wirst sehen, wie leicht dir davon wird.“

Plötzlich — mir nichts, dir nichts wie ein Pokerspieler, der den Einsatz überbietet, ohne etwas in der Hand zu haben — fragte ich: „Wo kommst du eigentlich her — aus der vierten Abteilung?“

„Nein, aus der ers…“

Er stockte, dann setzte er hinzu: „Was weißt du über mich?“

„Genug davon“, sagte ich und setzte mich so auf einen Stuhl, daß ich die Lehne vor mir hatte. „Du glaubst doch wohl nicht, daß du ohne Gegenleistung etwas von mir erfährst.“

„Was soll ich dir sagen?“

„Wir können mit Shapiro anfangen“, sagte ich verträglich. „Er ist von der L. A. Das steht fest.“

„Aber er ist nicht nur Neurologe?“

„Nein. Er hat noch ein zweites Spezialgebiet.“

„Sprich weiter.“

„Was weißt du von der Nekrosphäre?“

„Was weißt du davon?“

Die Angelegenheit begann undurchsichtig zu werden. Vielleicht hatte ich überzogen. Wenn er nur Agent eines Sicherheitsdienstes war, ganz egal, woher, konnte er nicht allzuviel wissen. Hochdotierte Fachleute schickt man nicht auf solche Trips. Da der Fall aber ungewöhnlich war, konnte ich mich irren.

„Schluß mit dem Blindekuhspiel“, sagte Gramer. Er war desperat, sein weißes Jackett unter den Achseln völlig durchgeschwitzt.

„Setz dich mal lieber neben mich“, knurrte er und ließ sich auf den Teppich nieder.

Ich folgte seiner Aufforderung. Umringt von Strippen und Geräten, saßen wir voreinander, als wollten wir die Friedenspfeife rauchen.

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