9. An Bord der Isle of Spain

Als ich an Bord des Schiffes war, vergaß ich allen Ärger.

Das riesige Tiefsee-Linienschiff maß mehr als dreihundert Meter in der Länge, hatte den Umfang eines siebenstöckigen Hauses und schaukelte ein wenig in der Dünung des Pazifiks. An Bord ging man über eine gedeckte Rampe, aber durch die Luken ließ sich die glänzende Edenit-Schicht leicht erkennen. Bug und Heck waren wie Torpedos geformt.

Das war eine meiner größten Sehnsüchte! Unter diesen nächtlich grauen Wassern lag der Grund des Pazifiks, der vom flachen Kontinentalschelf langsam absank, dann aber in die mächtigen Tiefen stürzte, in denen Marinia lag, dreitausend Meilen weit weg und fünfzehnhundert und mehr Faden tief.

Bald, in wenigen Minuten, würde ich durch diese Wasser rasen, unterwegs sein zu den großen Tiefsee-Städten! Fast vergaß ich die Akademie, meines Onkels Tod, den Mann mit dem roten Hut.

Fast. Nicht ganz. Ich schaute mich kurz nach anderen Passagieren um. Einige Urlauber, die diese lange Tiefsee-Reise als Vergnügungskreuzfahrt benutzten. Harte Tiefsee-Minenleute, deren Gesicht gebräunt war vom Troyon-Licht. Schiffsoffiziere und Mannschaften, die sich geschickt durch die Menge bewegten, auch eine Gruppe Fähnriche und Unter-Lieutenants — da wurde ich für einen Moment rasend eifersüchtig — in der scharlachroten Uniform des Tiefsee-Service.

Keiner von all denen sah gefährlich aus, ganz gewiß nicht so wie dieser Mann im roten Hut.

Ich unterschrieb die Passagierliste und wartete auf den Steward, der mich zu meiner Kabine führen sollte. Inzwischen besah ich mir die Passagiere. Und da kam mir die Erleuchtung.

Der Mann im roten Hut sah auffallend aus; wer wirklich an mir interessiert war, wollte vielleicht unverdächtig wirken, fast unsichtbar. Und jetzt schaute ich die Passagiere mit neuen Augen an.

Da fand ich ihn. Ich war überzeugt davon.

Er saß zwischen seinem Gepäck und starrte auf den Boden, ein kleiner, geschrumpfter Mann mit ausdruckslosem Gesicht und blassen, nichtssagenden Augen. Seine Kleidung war neutral grau, weder elegant noch schäbig. Er gehörte zu jenen Menschen, die einen Raum betreten können, ohne gesehen zu werden.

Natürlich konnte er auch ein ganz harmloser Passagier sein. Vielleicht war niemand im ganzen Schiff an mir interessiert. Aber wenn mich einer in einer verlassenen Straße von San Franzisko außer Gefecht setzt, dann läßt er mich nicht einfach laufen, sondern verfolgt mich weiter und behält mich im Auge.

Und das wollte ich auch tun: ein Auge auf ihn werfen. Gründlich.

Ein weißgekleideter Steward kam zu mir, ich übergab ihm mein Gepäck und ein Trinkgeld und ließ ihn ohne mich zu meiner Kabine gehen. Ich begleitete ihn nur bis zur Salontür. Und dort wartete ich, um zu sehen, was dieser graue Mann tat.

Wenige Minuten später winkte er einen Steward heran, übergab ihm seine Koffer und ging in der gleichen Richtung davon, die mein Steward genommen hatte. Ich ließ ihn vorangehen, dann folgte ich.

Der Steward führte den Mageren an den Aufzügen vorüber, an den Rolltreppen, die zu den Luxussuiten oben führten. Gut. Seine Kabine würde also auf dem gleichen Deck liegen wie die meine. Der Steward sperrte eine Tür auf, beide traten ein.

Kaum war die Tür zu, lief ich daran vorbei. Der Dünne hatte die Kabinennummer 335, die meine war 334.

Ich fand einen Steward, um ganz sicher zu sein, und er führte mich in die Kabine neben dem kleinen Grauen. Er war also mein Nachbar. Das war sicher kein Zufall mehr, jetzt war ich dessen sicher.

Der Steward betrat hinter mir die Kabine. Er zeigte mir, wie das Troyon-Licht einzustellen, wie die künstliche Luft in Bewegung zu setzen, wie die Temperatur zu regeln war und was es sonst noch gab. Dann machte er sich an den Handtüchern zu schaffen, weil er auf ein Trinkgeld wartete.

Einen Zufall konnte ich fast sicher ausschließen. Der Mann im roten Hut hatte genug Möglichkeiten gehabt, meine Kabinennummer herauszufinden, entweder als er hinter mir anstand, während ich meine Reservierung bestätigte, oder als er später meine Taschen durchschaute, als ich bewußtlos war. Und dem kleinen Grauen war es sicher leicht möglich gewesen, die Kabine neben mir zu bekommen.

Warum?

Ich grub in meiner Tasche nach einem schönen Trinkgeld, der Steward salutierte und wollte gehen.

»Sagen Sie«, hielt ich ihn auf. »Wer ist denn das in der Kabine nebenan? Ich dachte, ich kenne ihn.«

Er schaute mich an. »Wenn Sie ihn kennen, Sir, warum ...«

Ich legte noch einen Schein in seine Hand, und da schaute er sehr erfreut drein. »Können Sie seinen Namen für mich herausfinden?« bat ich.

Der Steward spitzte die Lippen. »Ganz gewiß, Sir. In der Passagierliste steht er ja.«

»Bitte, tun Sie das.« Er nickte und ging. Fünf Minuten später war er wieder da.

»Er heißt E. A. Smith, Sir. Keine Adresse ... Der Zahlmeister sagt, es sei eine Reservierung in allerletzter Minute gewesen.«

»Danke.« Ich versuchte ziemlich unbeteiligt zu tun. »Vielleicht habe ich mich doch geirrt. Es gibt ja unzählige Smiths auf der Welt.«

»Und noch mehr, die gar nicht Smith heißen«, sagte er lä-chelnd.

Als ich am nächsten Morgen aus meiner Kabine kam, war das Schiff unterwegs. Ich spürte das leichte Rollen, nicht ruckhaft wie bei Oberflächenschiffen, sondern sehr sanft und fast einschläfernd, als es durch die tiefen Strömungen glitt. Das und das fast unmerkliche Vibrieren der Schrauben waren das einzige Signal, daß wir mit sechzig Knoten oder mehr durch die See rasten.

Nach dem Frühstück freundete ich mich mit einem jungen Offizier an, der mir anbot, mir das Schiff zu zeigen. Ich war überaus erfreut.

Erst gingen wir zur schmalen Promenade um das Kabinendeck, direkt außen am Rumpf. Er öffnete eine Metallblende, und wir schauten hinaus. Gesehen hatte ich das schon oft: Dunkelheit, durch die ab und zu ein schwachleuchtender Umriß huscht.

»Wir sind jetzt ungefähr hundert Faden tief«, erklärte mir der Offizier. »Das Wasser ist eiskalt. Der Druck liegt bei einer Vierteltonne auf den Quadratzoll.«

Ich nickte. »Das weiß ich«, antwortete ich und schloß die Blende.

Wir gingen weiter nach unten, und er zeigte mir die Ballasttanks mit den mächtigen Pumpen, das Batteriedeck mit den Reihen der Vauclain-Zellen; falls einmal der Reaktor ausfallen sollte, waren sie der Ersatz. Dann umrundeten wir den Reaktor selbst, in dem es ganz leise wisperte und sang. Der Maschinenraum war so sauber und ordentlich wie eine Küche, doch er roch etwas nach Schmieröl. Zu hören war nur die dumpfe Vibration der Schrauben und das Säuseln des aus den Turbinen kommenden Dampfes am Ende der Hitze-Aus-tauschkette.

Wir sahen auch die Frachträume, das Vordeck, den Steuerraum, das Oberdeck mit Schwimmbecken und Palmengarten, dann die SuperStruktur oben auf dem Rumpf mit dem Steuerhaus, dem Kartenhaus, dem Funkraum und den Offiziersquartieren. Das war natürlich ganz anders, als die enge, schon etwas schäbige Pocatello gewesen war.

Der Tag verging. Wir aßen, dann trieb auch der Nachmittag vorbei. Wir aßen wieder, und dann war der Abend da. Wir pflügten weiter durch die Schwärze der Tiefsee. Dann war ich müde, und ich zog mich in meine Kabine zurück.

Etwas kam mir merkwürdig vor.

Ich stand auf der Schwelle und hatte den Schlüssel noch im Schloß; ich wartete und lauschte.

Ich schaltete die Troyonröhren ein und schaute mich um.

War mein Gepäck durchsucht worden, so hatte dies ein außerordentlich geschickter Fachmann getan, denn ich entdeckte daran nichts. Das Gefühl blieb aber. Also machte ich mich daran, die Kabine gründlich zu untersuchen.

Im Bad, hinter dem Handtuchhalter, fand ich das, was ich suchte.

Am Boden war etwas Mörtelstaub, und hinter dem Handtuchhalter selbst entdeckte ich ein kleines rundes Loch, das man nur sehen konnte, wenn man die Handtücher wegschob. Es hatte vielleicht die Größe eines Kirschkerns. Es war durch die Wand gebohrt worden.

Weshalb?

Schon wieder ein Rätsel, und die Antwort konnte ich nicht einmal vermuten. Man konnte doch von der anderen Seite her nicht durch die Handtücher schauen. War es eine Lauschgelegenheit? Kaum. Es gab elektronische Geräte, die viel zuverlässiger waren.

Da ich mir nicht vorstellen konnte, wozu das Loch diente, mußte ich auf jeden Fall Vorsichtsmaßnahmen treffen. Ich rief also einen Steward und sagte ihm, ich hätte mich entschlossen, diesen Raum zu tauschen.

Der Steward sah mißbilligend drein, als ich ihm meinen Wunsch vorgetragen hatte. »Das ist sehr ungewöhnlich, Sir. Entspricht Ihnen die Kabine nicht?«

Es war nicht der Steward vom Vortag, und so sagte ich so hochmütig wie möglich: »Steward, ich wünsche einen anderen Raum. Das ist alles. Bitte, besorgen Sie mir einen. Ich weiß natürlich, daß ich für zwei Kabinen zu bezahlen habe und bin dazu bereit.«

Ich hatte mir da eine ziemlich dumme Rolle ausgesucht, aber ich wollte ihm noch nicht von dem Loch hinter dem Handtuchhalter erzählen. Er brummte vor sich hin, doch ich fand in meiner Tasche einen angemessenen Schein, und danach war er sehr viel aufgeschlossener. Er zuckte die Achseln. »Hierher, Sir«, sagte er mit der Resignation eines Mannes, der in seiner beruflichen Laufbahn mit den sonderbarsten Leuten zu tun hat.

Nachts schlief ich wie ein Baby.

Aber keinesfalls so tief, wie ich geschlafen hätte, wäre ich nicht umgezogen.

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