18. Der Grund der Welt

Training hat ungeheuer viel zu bedeuten.

Ich glaube, wäre mir auf der Akademie nicht eingebleut worden, daß panische Angst der größte Feind ist, dann wäre ich wohl in diesem Moment zusammengebrochen. Ich hätte den kleinen Seewagen auf kürzestem Weg wieder nach oben gebracht, den Ballast aus den Tanks geblasen und uns damit wahrscheinlich alle getötet.

Eine leise, eindringliche Stimme in mir, die mehr Verstand hatte als ich, erklärte mir, daß mein Bild nicht ganz stimme. Für einen Sekundenbruchteil veränderte ich nichts an den Instrumenten.

In diesem Sekundenbruchteil begriff ich. In einer Tiefe von sieben Meilen tröpfelte das Seewasser nicht. Woher dieses Sik-kerwasser stammte, wußte ich nicht, aber es kam jedenfalls nicht durch ein Leck.

Ich sprang von den Instrumenten auf und sperrte sie in der gegenwärtigen Stellung. Dann rannte ich zurück ins andere Abteil. Dort waren die Wände eisig kalt, weil niemand sich darin aufhielt und daher auch keine Wärme erzeugt wurde. Die Feuchtigkeit war Kondenswasser, und das war durch die Tür getröpfelt, als dünner Faden.

Langsam kehrte ich an meinen Platz zurück und erzählte Bob und Gideon, was es war. Keiner sagte ein Wort.

Brand Sperry rührte sich wieder. Gideon stand neben ihm, schaute zwar noch Bob an, war aber bereit, sich mit Sperry zu beschäftigen, falls es dieser wieder auf einen Streit anlegte. Aber er schien nicht dazu in Stimmung zu sein. Er öffnete die Augen, schaute mich einmal an, dann starrte er zur Decke hinauf.

Ich ging an meine Kontrollen zurück. Auf dem Mikrosonarschirm erkannte ich nun einen winzigen, torpedoförmigen Umriß, der ein wenig verwischt und in den Grund eingesunken war. Aber er war leicht zu erkennen. Dieser Umriß mußte das Schiff meines Onkels sein; ja, es war gar nicht möglich, daß es sich um etwas anderes handelte.

Die Beschichtung hielt. Ich schickte nun wirklich ein leises Gebet zum Himmel, als ich unser Schiff auf das andere setzte. Wir spürten einen winzigen Ruck, dann lag Hülle an Hülle. Nun berührten wir meines Onkels Schiff. Oder sein Grab?

Was nun? Gideon und ich schauten einander fragend an.

Es war unmöglich, von einem Schiff zum anderen zu kommen, da wir keine Anzüge hatten, die einem solchen Außendruck standhielten. Die Anzüge im Seewagen waren mit Stan-dard-Edenit beschichtet wie alle übrigen in den Seewagen der Ozeane. Für vier Meilen Tiefe waren sie absolut sicher, sogar für fünf, aber für siebeneinhalb?

»Jim, die Greifer«, sagte Gideon.

Ich nickte. Es war die einzige Möglichkeit. Ich bewegte unser Schiffchen in genauer Übereinstimmung mit dem Muster des anderen auf dem Mikrosonar, dann öffnete ich vorsichtig die Rheostaten für die magnetischen Greifer. Für diese Geräte war es eine recht große Ladung, aber es mußte gehen. Eine andere Möglichkeit hatten wir nicht.

Nun begann ich mit den Ballastpumpen und drückte mit ihnen einen Teil des Wassers aus den Schwimmtanks; nicht zuviel, denn das würde unsere Greifer zu sehr belasten, und die Magnete konnten brechen. Dann schaukelte ich die zwei miteinander verbundenen Seewagen hin und her mit den Propellerantrieben, bis ...

Es war schon eine merkwürdige Sache, und in seichtem Wasser wäre ein solches Manöver unmöglich gewesen. Hier war es theoretisch auch nicht möglich, aber praktisch . . .

Im seichten Wasser hätte es Strömungen und Turbulenzen gegeben, und jede Bewegung des Schiffchens im Schlamm hätte ihn noch mehr aufgerührt, den Wagen noch tiefer hineingewühlt.

Aber am Boden der Eden Tiefen lag das Wasser kalt und tot da. Die Saugkraft des Schlammes war nicht übermäßig groß, und es dauerte auch nur ein paar Momente, bis wir frei waren.

Ja, wir waren frei! Ich setzte Kurs für eine ziemlich steile Aufwärtsspirale, um über die Gebirgszüge wegzukommen, die die Eden Tiefen umgeben. Wir waren auf dem Rückweg nach Thetis.

Thetis war unser Ziel, doch nicht zu erreichen.

Wir hatten das Gebirge noch nicht passiert und waren noch ein paar hundert Faden unterhalb der normalen Tiefen für Tiefsee-Wagen, als wir die ersten Anzeichen von Schwierigkeiten bemerkten.

Es war nur ein flackernder Schatten am Rand des Mikrosonars, ein Schatten, der sich teilte und bewegte, wieder vereinte und sich in drei Schatten aufteilte.

Die Seepatrouille!

»Jim, daran bin ich schuld«, sagte Bob Eskow. »Ich habe sie gerufen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das hast du getan, weil du es für richtig hieltest, Bob. Für uns heißt die Frage: was tun wir jetzt?«

»Aufgeben«, meldete sich Brand Sperry. Nun, da wir die unheimliche Tiefe verlassen hatten, schien er sich wieder zu erholen; frech war er ja schon wieder. »Sie sind abgeschlagen. Egal, was Sie im Sub Ihres Onkels finden — gegen meinen Vater kommen Sie nie an, Eden!«

Wir hörten gar nicht hin. Gideon überlegte laut: »Wenn ich mir so die Karten anschaue, fällt mir was auf. Wir sind nur fünfzig Meilen von Fisherman's Island entfernt. Dort hatte dein Onkel einen Posten für Lufttransportverbindungen, als er in diesem ganzen Gebiet seine Minenoperationen laufen hatte. Ich glaube, die Insel ist jetzt verlassen. Ist ja auch ganz winzig und mit einem Korallenriff. Keine Eingeborenenbevölkerung.«

»Was könnte uns die Insel nützen?« fragte Bob.

Gideon zuckte die Schultern. »Wir könnten uns da eine Weile verstecken«, schlug er vor. »Und... Ja, über Sie weiß ich ja nicht Bescheid, Mr. Eskow, aber Jim und ich, wir beide kön-nen's gar nicht erwarten, in Stewart Edens Seewagen zu kommen.« Warum, das sagte er nicht, aber ich wußte auch so, was er dachte und vorhatte. Keiner von uns wollte nur eine Hoffnung aussprechen, die mehr als verwegen war. Nur, wir wußten ja nicht sicher, ob Onkel Stewart tot war.

Gideon erklärte die Vorteile seines Planes: Die Route zur Insel war für uns sowieso perfekt. Wir konnten uns fast die Hälfte der Strecke an diesen Bergrücken klammern und waren noch unterhalb der normalen Seetiefen, auch außerhalb der Reichweite der Orter. Eine Mikrosonarausrüstung hat gewisse Grenzen. Es ist schwieriger, nach unten zu suchen als nach oben, da die Reflexe vom Seegrund stören. Und wenn wir den Bergrük-ken überschritten, dann konnten wir uns dazu Täler aussuchen, die ein gutes Versteck boten. Die Seepatrouille müßte dann schon ein unerhörtes Glück haben, uns zu finden.

Für diese Fahrt brauchten wir nicht einmal zwei Stunden, obwohl wir zwischen den Tiefseegipfeln wahre Schlangenlinien fuhren. Die Wagen der Seepatrouille hatten wir dauernd auf unserem Sonarschirm, aber sehr weit weg. Ich konnte sicher sein, daß sie uns noch nicht entdeckt hatten.

Wir kreisten erst noch um die Unterwasserberge, die sich dann zu Fisherman's Island erhoben und peilten die Oberfläche an. In nur wenigen Metern Tiefe fand ich auf der Sonarplatte den Kanal zur Lagune innerhalb des Korallenriffs. Manchmal ging es recht knapp her, und unser Beutewagen hing nur wenig über dem Seegrund. Nur etwas über hundert Meter vom Strand entfernt tauchten wir auf.

Mir schien es Jahre her zu sein, seit ich zum letztenmal die Erdoberfläche gesehen hatte. Ich öffnete die obere Luke und schob meinen Kopf durch. Vorsichtshalber kniff ich die Augen zusammen, damit die Sonne mich nicht blendete.

Aber es war gar keine Sonne. Es war Nacht, zahllose Sterne glänzten oben, und das Wasser schien mit leuchtendem Leben angefüllt zu sein. Der Strand war dagegen ganz schwarz. Ich hatte fast vergessen, daß es so etwas wie Tag und Nacht gab!

Schnell prüfte ich mein Chronometer nach; noch etwa eine Stunde bis Sonnenaufgang. Als ich mir so den Horizont besah, glaubte ich, ein ganz schwaches Schimmern zu erkennen.

»Machen wir uns an die Arbeit«, sagte Gideon.

Wir brauchten eine volle Stunde, bis wir meines Onkels Seewagen in die richtige Position gebracht hatten. Wir setzten die Greifer und die hydraulischen Extensoren ein, bis es uns gelang, das Schiff unter dem unseren herauszuholen und es auf den Korallensand zu setzen. Die Flut war hoch, und das Wasser spülte über die Oberseite des Wagens. Wir warteten also noch, erst eine halbe Stunde, dann noch eine halbe Stunde, bis die Wasserlinie erheblich unter der Einstiegsluke lag.

Wir vier standen oben auf dem kleinen Seewagen und warteten, bis das Wasser weit genug fiel. Brand Sperry tat hochmütig und schwieg; Bob Eskow war hundemüde; Gideon und ich dagegen waren so gespannt, daß wir kaum mehr den Augenblick erwarten konnten, da wir die Luke öffnen durften.

Schließlich konnten wir nicht mehr länger warten. Wir überließen es Bob Eskow, Brand Sperry zu bewachen. Gideon und ich mußten uns sehr anstrengen, bis wir die Luke offen hatten und hineinklettern konnten. Eine Sturzsee folgte uns, aber das war alles.

Innen war es dunkel und feucht; die abgestandene, heiße Luft war reines Gift. Ich hustete heftig, dann auch Gideon. Er war vorsichtiger gewesen als ich. Während ich wie betäubt herumschaute, klickte es, und Gideon hatte seinen Handscheinwerfer eingeschaltet.

Wir waren in dem hinteren Abteil. Um uns herum sahen wir die Beweise für Catronis Sabotage, das verwüstete Instrumentarium, demolierte Ausrüstung, zerschlagene Maschinen. Es würde viel Zeit vergehen, bis dieses Schiff wieder eingesetzt werden konnte.

Aber wir hielten ja nicht nach den Verwüstungen Ausschau, sondern suchten jeden Winkel des Abteils nach einer Spur von meinem Onkel ab. Wir fanden nichts und hörten auch kein Geräusch.

Ich glaubte, dies war der schlimmste Augenblick für mich. Den Seewagen selbst hatten wir zwar gerettet, und das war sicher schon ein großer Triumph, doch ich hatte so sehr gehofft, meinen Onkel lebend darin vorzufinden! Ich hatte irgendwie das Gefühl gehabt, ich brauchte nur die Luke zu öffnen, und mein Onkel komme lachend heraus ...

Gideon berührte meine Schulter. Wir hatten keine Hoffnung mehr, als wir zum vorderen Abteil vorstießen.

Hier gab es keine Zerstörungen. Mein Onkel und sein Freund hatten sich hier aufgehalten, als sie, die Nichtsahnenden, von Catroni so furchtbar betrogen wurden. Catroni hatte das Schiff gemordet. Hier war die Dunkelheit noch schwärzer. Gideon ließ das Licht seines Handscheinwerfers spielen . . .

Gemeinsam und gleichzeitig sahen wir es: einen Haufen Lumpen, so sah es aus, vor dem Instrumentenbrett. Wir machten gleichzeitig einen Satz, Gideon ein wenig länger als ich.

Das Gesicht war blaß und still, aber es war das meines Onkels Stewart. Die Augen hatte er geschlossen. Keine Spur von Leben oder Bewegung war zu entdecken. Gideon beugte sich über ihn.

Die Zeit stand still. Schließlich blickte Gideon mit großen Augen zu mir auf.

»Ehre sei Gott, Jim Eden«, sagte er im Ton glücklicher Er-leichterung. »Er lebt!«

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