Ein Großteil der Schienenstränge wurde Anfang der Sechzigerjahre demontiert, als ich drei oder vier war. Die Bahngesellschaft riss gewaltige Löcher ins Schienennetz, sodass man nirgendwo mehr hinfahren konnte als nur nach London, und die kleine Stadt, wo ich wohnte, war nun das Streckenende.
Meine früheste verlässliche Erinnerung: Ich bin achtzehn Monate alt, meine Mutter ist im Krankenhaus, um meine Schwester zur Welt zu bringen, und meine Großmutter geht mit mir zur Brücke, hebt mich hoch, sodass ich den Zug sehen kann, der dort unten entlangfährt, schnaufend und Rauch speiend wie ein schwarzer Eisendrache.
Im Laufe der nächsten Jahren verschwanden die letzten Dampfloks und mit ihnen das dichte Schienennetz, das Dorf mit Dorf und Stadt mit Stadt verband.
Ich merkte nichts davon, dass die Loks verschwanden. Als ich sieben war, gehörten sie schon der Vergangenheit an.
Wir lebten in einem alten Haus am Rand des Städtchens. Die Felder gegenüber waren leer und brach. Manchmal kletterte ich über den Zaun und legte mich in den Schatten der Binsen und las, manchmal packte mich auch die Abenteuerlust und ich erkundete den Park des verlassenen Gutshauses jenseits der Felder. Dort gab es einen überwucherten Zierteich, den eine niedrige Holzbrücke überspannte. Während meiner Streifzüge dort traf ich niemals irgendwelche Gärtner oder Hausmeister in Garten und Park und ich versuchte nie, in das Herrenhaus einzudringen. Das hätte bedeutet, mein Glück über Gebühr zu strapazieren, und außerdem gab es für mich nicht den geringsten Zweifel, dass es in allen verlassenen, alten Häusern spukte.
Es war nicht so, dass ich leichtgläubig gewesen wäre, ich glaubte lediglich an all die Dinge, die finster und gefährlich waren. Und Teil dieses jugendlichen Credos war auch, dass die Nacht von Geistern und Hexen bevölkert war, hungrig und flatternd und ganz in Finsternis gehüllt.
Der Umkehrschluss hatte dementsprechend etwas Beruhigendes: Im Tageslicht war man sicher. Im Tageslicht war man immer sicher.
Ein Ritual: Am letzten Schultag vor den großen Sommerferien zog ich mir auf dem Heimweg Schuhe und Strümpfe aus, hielt sie in der Hand und lief auf empfindlichen, weichen rosa Füßen den steinigen Schotterweg entlang. Während der Ferien trug ich nur unter Zwang irgendwelches Schuhwerk. Ich schwelgte in barfüßiger Freiheit, bis im September die Schule wieder begann.
Als ich sieben war, entdeckte ich den Pfad durch den Wald. Es war Sommer, heiß und hell, und an diesem Tag entfernte ich mich weit von zu Hause.
Ich unternahm eine Forschungsreise. Ich ging am alten Gutshaus mit seinen verbretterten Fenstern vorbei, durchquerte den Park und kam schließlich durch einen unbekannten Wald. Ich kletterte eine steile Böschung hinab und fand mich auf einem von Bäumen überschatteten Pfad. Das Licht, das durch das Laubdach drang, war grün und golden gefleckt und ich glaubte, ich sei im Feenland.
Ein Bach plätscherte entlang des Weges, er wimmelte nur so von winzigen, durchsichtigen Flusskrebsen. Ich holte sie heraus, beobachtete, wie sie sich auf meinen Fingerspitzen krümmten und wanden, dann warf ich sie wieder ins Wasser.
Ich lief weiter den Pfad entlang. Er war schnurgerade und mit kurzem Gras bewachsen. Hin und wieder fand ich einen dieser wunderbaren Steine: blasige, geschmolzene Dinger, braun und purpurn und schwarz. Wenn man sie gegen das Licht hielt, sah man alle Farben des Regenbogens darin schimmern. Ich war überzeugt, sie müssten ungeheuer wertvoll sein, und stopfte mir die Taschen damit voll.
Weiter und immer weiter ging ich den grüngoldenen Korridor entlang und ich sah niemanden.
Ich spürte weder Hunger noch Durst. Ich fragte mich lediglich, wohin der Pfad wohl führen mochte. Er verlief schnurgerade und war vollkommen eben. Der Pfad selbst veränderte sich nicht, die umliegende Landschaft umso mehr. Zuerst befand ich mich am Grund einer Senke, auf beiden Seiten ragten steile, grasbewachsene Böschungen auf. Dann lag der Pfad über dem Land und ich konnte auf die Baumkronen und die Dächer der vereinzelten Häuser in der Ferne hinabsehen. Mein Weg blieb eben und gerade und ich folgte ihm durch Täler und Ebenen, Täler und Ebenen. Schließlich kam ich in einem der Täler an eine Brücke.
Sie bestand aus akkuraten roten Backsteinen und überspannte den Pfad in einem gewaltigen Bogen. Neben der Brücke war eine steinerne Treppe in die Böschung gelegt worden, deren Abschluss ein hölzernes Törchen bildete.
Ich war verwundert, Anzeichen menschlicher Zivilisation auf diesem Pfad zu finden. Inzwischen war ich überzeugt, er müsse eine natürliche Formation sein, wie ein Vulkan. Und vornehmlich von Neugier getrieben (ich war schließlich hunderte von Meilen gelaufen oder jedenfalls glaubte ich das und war Gott weiß wohin gelangt), stieg ich die Stufen hinauf und ging durch das Tor.
Ich war nirgendwohin gelangt.
Die Oberseite der Brücke war mit Morast bedeckt. Auf beiden Seiten lagen Felder. Weizen wuchs auf dem einen, das andere war eine verwilderte Wiese. Riesige Traktorreifen hatten tiefe Furchen im getrockneten Schlamm hinterlassen. Ich überquerte die Brücke, um ganz sicher zu gehen. Kein Trippel-Trappel; meine bloßen Füße verursachten keinen Laut.
Nichts im Umkreis von vielen Meilen, nur Felder und Weizen und Bäume.
Ich pflückte eine Weizenähre, schälte die süßen Körner und kaute sie versonnen.
Schließlich wurde mir bewusst, dass ich Hunger hatte, und ich ging wieder zurück, die Treppe hinunter auf die verlassene Bahntrasse. Es wurde Zeit, nach Hause zu gehen. Ich hatte mich nicht verlaufen, alles, was ich tun musste, war, den Weg zurückzugehen, den ich gekommen war.
Unter der Brücke wartete ein Troll auf mich.
»Ich bin ein Troll«, sagte er. Er unterbrach sich kurz und fügte dann hinzu: »Fol rol de ol rol.«
Er war riesengroß: fast stieß er mit dem Kopf an die Wölbung des Brückenbogens. Und er war mehr oder minder durchsichtig. Ich konnte die Backsteine und Bäume hinter ihm erkennen, verschwommen, aber nicht verdeckt. Der Troll war die Fleischwerdung all meiner Albträume: er hatte lange Fangzähne, scharfe Krallen und starke, behaarte Pranken. Seine Haare waren lang, wie die dieser kleinen Plastikpuppen – Gonk genannt –, mit denen meine Schwester so gern spielte. Seine Augen quollen hervor. Er war nackt und sein Penis baumelte aus einem Büschel Gonkhaare zwischen seinen Beinen.
»Ich habe dich gehört, Jack«, flüsterte er, seine Stimme klang wie der Wind. »Ich habe dich über die Brücke trippeln und trappeln gehört. Und jetzt werde ich dein Leben auffressen.«
Ich war erst sieben, aber es war helllichter Tag und ich habe keine Erinnerung an Furcht. Es ist gut, wenn man sich als Kind den Elementen der Märchenwelt gegenüberfindet – Kinder haben das nötige Rüstzeug, um damit fertig zu werden.
»Friss nicht mich«, sagte ich zu dem Troll. Ich trug ein braun gestreiftes TShirt und braune Cordhosen. Meine Haare waren ebenfalls braun und mir fehlte ein Schneidezahn. Ich lernte gerade, durch die Zähne zu pfeifen, aber ich hatte es noch nicht ganz geschafft.
»Ich werde dein Leben auffressen, Jack«, sagte der Troll.
Ich sah ihm unverwandt ins Gesicht. »Meine große Schwester kommt gleich diesen Pfad entlang«, log ich. »Sie schmeckt viel besser als ich. Friss sie stattdessen.«
Der Troll schnupperte die Luft und lächelte. »Du bist ganz allein«, sagte er. »Nichts und niemand sonst ist auf dem Pfad. Überhaupt nichts.« Dann beugte er sich vor und strich mit den Fingern über mich. Es fühlte sich an wie Schmetterlingsflügel im Gesicht, wie die Berührung eines Blinden. Dann schnüffelte er an seinen Fingern und schüttelte seinen riesigen Kopf. »Du hast gar keine große Schwester. Nur eine jüngere und sie ist heute bei ihrer Freundin.«
»Das alles kannst du riechen?«, fragte ich erstaunt.
»Trolle können den Regenbogen riechen und die Sterne«, flüsterte er traurig. »Trolle können die Träume riechen, die du geträumt hast, noch ehe du geboren wurdest. Komm näher und ich werde dein Leben auffressen.«
»Ich habe Edelsteine in der Tasche«, sagte ich dem Troll. »Nimm sie, nicht mich. Sieh nur.« Ich zeigte ihm die Lavajuwelen, die ich gefunden hatte.
»Schlacke«, sagte der Troll. »Abfallprodukte von Dampflokomotiven. Sie haben keinen Wert für mich.«
Er öffnete das Maul weit. Scharfe Zähne. Atem, der nach verrottetem Laub und der verborgenen Unterseite der Dinge roch. »Fressen. Jetzt.«
Es schien, als werde er mit jeder Sekunde massiver, realer, während die Welt draußen flacher wurde, ihre Farben dumpfer.
»Warte.« Ich stemmte die Fersen in die feuchte Erde unter der Brücke, wackelte mit den Zehen, hielt mich fest an der realen Welt und starrte unverwandt in seine großen Augen. »Du willst mein Leben gar nicht auffressen. Noch nicht. Ich … ich bin erst sieben. Ich habe noch gar nicht gelebt. Es gibt so viele Bücher, die ich noch nicht gelesen habe. Ich bin noch nie im Flugzeug geflogen. Ich kann noch nicht pfeifen, jedenfalls nicht richtig. Warum lässt du mich nicht laufen? Wenn ich älter und größer geworden bin, eine richtige Mahlzeit für dich, dann komme ich wieder.«
Die Augen des Trolls starrten mich an wie riesige Scheinwerfer.
Dann nickte er.
»Also dann wenn du wiederkommst«, sagte er. Und er lächelte.
Ich machte kehrt und ging den stillen geraden Pfad zurück, wo einmal die Schienen verlaufen waren.
Schließlich fing ich an zu rennen.
Im grünen Licht sauste ich den Pfad entlang, schnaufend und keuchend, bis ich Seitenstiche bekam, und mit der Hand um die schmerzende Seite gekrallt stolperte ich heimwärts.
Die Felder verschwanden, als ich älter wurde. Häuser wurden eines nach dem anderen aus dem Boden gestampft, Reihe um Reihe, neue Straßen entstanden und wurden nach Wildblumen oder respektablen Dichtern benannt. Unser Heim, ein alterndes, schäbiges viktorianisches Haus, wurde verkauft, abgerissen und bald erhoben sich neue Häuser in unserem Garten.
Überall wurden Häuser gebaut.
Einmal verlief ich mich in dem Neubaugebiet, das zwei Weiden verdrängt hatte, auf denen ich jeden Halm gekannt hatte. Aber es machte mir nicht viel aus, dass die Felder verschwanden. Das alte Gutshaus wurde von einer multinationalen Investorengruppe gekauft und auf dem Anwesen weitere Häuser gebaut.
Acht Jahre vergingen, ehe ich zu der alten Bahnlinie zurückkehrte, und dieses Mal war ich nicht allein.
Ich war fünfzehn und hatte in der Zwischenzeit zweimal die Schule gewechselt. Ihr Name war Louise und sie war meine erste Liebe.
Ich liebte ihre grauen Augen, ihre feinen, hellbraunen Haare und ihren staksigen Gang (wie ein Kitz, das gerade laufen lernt. Das hört sich völlig behämmert an und dafür entschuldige ich mich). Als ich dreizehn war, hatte ich sie Kaugummi kauen sehen und mich rettungslos in sie verliebt.
Das Schlimmste an der Sache war, dass Louise und ich gute Freunde waren und wir gingen beide mit jemand anderem.
Ich hatte ihr nie gesagt, dass ich sie liebte oder dass ich scharf auf sie war. Wir waren Kumpel.
Ich war an diesem Abend bei ihr gewesen. Wir saßen in ihrem Zimmer und hörten Rattus Norvegicus, die erste LP der Stranglers. Es war der Beginn des Punk und alles schien so unglaublich aufregend: die Möglichkeiten – musikalische und andere – waren unbegrenzt. Schließlich wurde es Zeit, dass ich mich auf den Heimweg machte, und sie beschloss, mich zu begleiten. Wir hielten uns an den Händen, unschuldig, einfach nur gute Freunde, machten wir uns schlendernd auf den zehnminütigen Weg zu mir nach Hause.
Der Mond schien hell, machte die Welt sichtbar und farblos und die Nacht war warm.
Wir kamen zu unserem Haus, sahen drinnen Licht, standen in der Auffahrt und sprachen über die Band, die ich gründen wollte. Wir gingen nicht hinein.
Dann beschlossen wir, dass ich sie nach Hause bringen würde. Also machten wir uns auf den Rückweg.
Sie erzählte mir von dem Dauerkrieg mit ihrer jüngeren Schwester, die ihr ständig das Make-up und Parfum klaute. Louise hatte den Verdacht, dass ihre Schwester schon mit Jungen schlief. Louise war noch Jungfrau. Das waren wir beide.
Wir standen auf der Straße vor ihrem Haus im natriumgelben Licht einer Laterne und starrten auf die schwarzen Lippen, in das blassgelbe Gesicht des anderen.
Wir grinsten uns an.
Dann gingen wir einfach weiter, suchten stille Straßen und verlassene Pfade. In einem der Neubaugebiete begann ein Weg, der in den Wald führte, und ihm folgten wir.
Der Pfad verlief schnurgerade und lag im Dunkeln, doch die Lichter der fernen Häuser leuchteten wie Sterne am Boden und der Mond gab uns ausreichend Licht. Einmal packte uns die Angst, als vor uns irgendetwas schnüffelte und schnaufte. Wir drängten uns dicht aneinander, erkannten, dass es ein Dachs war, lachten, umarmten uns und gingen weiter.
Mit leisen Stimmen redeten wir dummes Zeug, vertrauten uns an, was wir uns erträumten, was wir wollten und dachten.
Und die ganze Zeit wollte ich sie küssen und ihre Brüste spüren und vielleicht die Hand zwischen ihre Beine schieben.
Schließlich sah ich meine Chance gekommen. Eine alte Backsteinbrücke überspannte den Pfad und in ihrem Schatten hielten wir. Ich drängte mich an sie. Ihre Lippen öffneten sich unter meinen.
Dann wurde sie auf einmal kalt und steif und rührte sich nicht mehr.
»Hallo«, sagte der Troll.
Ich ließ Louise los. Unter der Brücke war es dunkel, aber die Gestalt des Trolls füllte die Dunkelheit.
»Ich habe sie gebannt«, erklärte der Troll, »damit wir reden können. Und jetzt werde ich dein Leben auffressen.«
Mein Herz hämmerte und ich spürte, dass ich zitterte.
»Nein.«
»Du hast gesagt, du würdest zu mir zurückkommen. Und hier bist du. Hast du pfeifen gelernt?«
»Ja.«
»Das ist gut. Ich konnte nie pfeifen.« Er schnupperte und nickte. »Ich bin zufrieden. Du hast gelebt, Erfahrungen gemacht, bist gewachsen. Umso mehr zu fressen. Mehr für mich.«
Ich packte Louise, die ein starrer Zombie geworden war, und schob sie vor. »Nimm nicht mich. Ich will nicht sterben. Nimm sie. Ich wette, sie schmeckt viel besser als ich. Und sie ist zwei Monate älter als ich. Warum nimmst du nicht sie?«
Der Troll schwieg.
Er beschnupperte Louise von Fuß bis Kopf, schnüffelte an den Füßen, am Schritt, an Brüsten und Haaren.
Dann sah er mich an.
»Sie ist unschuldig«, sagte er. »Das bist du nicht. Sie will ich nicht. Ich will dich.«
Ich trat an die Öffnung des Brückenbogens und sah zu den Sternen auf.
»Aber es gibt noch so vieles, das ich nie getan habe«, sagte ich teils zu mir selbst. »Ich meine, ich hab noch nie. Na ja, ich hab noch nie Sex gehabt. Ich bin noch nie in Amerika gewesen. Ich hab noch nie …« Ich unterbrach mich. »Ich hab nichts vollbracht. Noch nicht.«
Der Troll sagte nichts.
»Ich könnte zu dir zurückkommen. Wenn ich älter bin.«
Der Troll sagte immer noch nichts.
»Ich werde zurückkommen. Ehrlich, das werd ich wirklich.«
»Zu mir zurückkommen?«, fragte Louise. »Wieso? Wohin gehst du denn?«
Ich drehte mich um. Der Troll war verschwunden und das Mädchen, das ich zu lieben geglaubt hatte, stand im Schatten unter der Brücke.
»Wir gehen nach Hause«, sagte ich ihr. »Komm.«
Auf dem ganzen Rückweg sprachen wir kein einziges Wort.
Sie verliebte sich in den Drummer der Punk-Band, die ich gründete, und viele Jahre später heiratete sie jemand anderen. Wir trafen uns einmal zufällig in einem Zug, lange nachdem sie geheiratet hatte, und sie fragte, ob ich mich an jenen Abend erinnere.
Ich sagte, ja.
»Ich hatte dich wirklich gern an diesem Abend, Jack«, sagte sie. »Ich dachte, du würdest mich küssen. Ich dachte, du würdest mich um eine Verabredung bitten. Ich hätte Ja gesagt. Wenn du gefragt hättest.«
»Aber das habe ich nicht.«
»Nein«, stimmte sie zu. Sie trug die Haare ganz kurz geschnitten. Es stand ihr nicht.
Ich habe sie nie wiedergesehen. Diese adrette Frau mit dem verkniffenen Lächeln war nicht das Mädchen, das ich geliebt hatte, und die Begegnung hatte mir Unbehagen eingeflößt.
Ich zog nach London und ein paar Jahre später zog ich wieder zurück, aber die Stadt, in die ich heimkehrte, war nicht die, die ich in Erinnerung hatte: Es gab keine Felder, keine Farmen und keine schmalen Schotterwege, also zog ich sobald wie möglich wieder fort, in ein winziges Dorf zehn Meilen weiter.
Ich zog mit meiner Familie – inzwischen hatte ich eine Frau und einen kleinen Sohn – in ein altes Haus, das vor vielen Jahren einmal ein Bahnhof gewesen war. Die Schienen waren längst entfernt worden und das alte Ehepaar von gegenüber züchtete auf der einstigen Trasse Gemüse.
Ich wurde älter. Eines Tage entdeckte ich ein graues Haar, ein andermal hörte ich eine Aufnahme meiner Stimme und erkannte, dass ich mich genau wie mein Vater anhörte.
Ich arbeitete in London, wo ich für eine der großen Plattenfirmen Nachwuchstalente auftat und produzierte. Ich fuhr morgens mit dem Zug hin und kam manchmal abends heim.
Ich hatte mir eine kleine Wohnung in London genommen, denn es ist schwierig, ein geregeltes Pendlerdasein zu führen, wenn die Bands, die man unter die Lupe nehmen will, nicht vor Mitternacht auf die Bühne torkeln. Es bedeutete außerdem, dass es relativ einfach war rumzuvögeln, wenn mir der Sinn danach stand, was meistens der Fall war.
Ich glaubte, Eleanora – das war der Name meiner Frau, den ich wohl schon eher hätte erwähnen sollen – wisse nichts von den anderen Frauen, aber als ich an einem Wintertag von einer zweiwöchigen New-York-Tour zurückkam, fand ich mein Haus kalt und leer.
Sie hatte mir einen Brief hinterlassen, nicht nur einen Zettel. Fünfzehn säuberlich getippte Seiten und jedes einzelne Wort war wahr. Du liebst mich überhaupt nicht. Und das hast du nie getan.
Ich war erschüttert, fühlte mich wie betäubt. Ich zog einen dicken Mantel über, verließ das Haus und stiefelte los.
Es lag kein Schnee, aber der Boden war hart gefroren und das Laub knisterte unter meinen Schuhen. Die Bäume standen wie schwarze Skelette vor dem strengen grauen Winterhimmel.
Ich lief am Straßenrand entlang. Autos fuhren an mir vorbei auf dem Weg von und nach London. Irgendwann trat ich auf einen Ast, der in einem Laubhaufen versteckt gelegen hatte. Er riss das Hosenbein auf und verletzte die Haut darunter.
Schließlich erreichte ich das nächste Dorf. Ein Bach verlief im rechten Winkel zur Straße, am Ufer führte ein Pfad entlang, den ich nie zuvor gesehen hatte. Ich schlug diesen Weg ein und starrte auf das teilweise zugefrorene Flüsschen hinaus. Es gluckerte und plätscherte und sang.
Der Pfad führte auf die Felder hinaus. Er war grasbewachsen und schnurgerade.
Am Wegesrand fand ich einen halb von Erde bedeckten Stein, hob ihn auf und wischte die Krumen ab. Es war ein Klumpen aus irgendeiner geschmolzenen, purpurnen Substanz und hatte einen eigenartigen Regenbogenschimmer. Ich steckte ihn in die Manteltasche und hielt ihn in der Hand, während ich weiterging. Er fühlte sich warm und beruhigend an.
Der Fluss machte eine Biegung und verschwand zwischen den Feldern. Ich ging weiter durch die Stille.
Ich war vielleicht eine Stunde gelaufen, ehe ich die ersten Häuser sah; neu und klein und kastenartig standen sie oben an der Böschung.
Und dann entdeckte ich die Brücke und wusste, wo ich mich befand: Ich befand mich auf der alten Bahntrasse, war dieses Mal aus der anderen Richtung gekommen.
Graffiti waren auf die Brückenmauer geschmiert: Fuck und Barry liebt Susan und das allgegenwärtige NF der Nationalen Front.
Ich stand unterhalb des roten Backsteinbogens der Brücke inmitten all der Eisverpackungen und Chipstüten und dem einsamen, traurigen gebrauchten Kondom und sah zu, wie mein Atem weiße Dampfwolken in der kalten Nachmittagsluft bildete.
Das Blut an meinem Hosenbein war getrocknet.
Über mir brausten Autos über die Brücke, aus einem hörte ich laute Musik dröhnen.
»Hallo?«, sagte ich leise, verlegen, ich kam mir idiotisch vor. »Hallo?«
Ich bekam keine Antwort. Der Wind ließ die Chipstüten und das Laub rascheln.
»Ich bin zurückgekommen. Wie ich gesagt habe. Hallo?«
Stille.
Dann fing ich an zu weinen, wortlos, sinnlos schluchzte ich unter der Brücke.
Eine Hand berührte mein Gesicht und ich sah auf.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du zurückkommst«, sagte der Troll.
Er war jetzt nicht mehr größer als ich, aber davon abgesehen unverändert. Das lange Gonkhaar wirkte ungepflegt. Ein paar Blätter hingen darin. Die großen Augen waren voller Einsamkeit.
Ich zuckte mit den Schultern und wischte mir mit dem Ärmel übers Gesicht. »Ich bin zurückgekommen.«
Drei Kinder überquerten die Brücke über uns, schreiend und rennend.
»Ich bin ein Troll«, sagte der Troll mit leiser, furchtsamer Stimme. »Fol rol de ol rol.«
Er zitterte.
Ich streckte die Hand aus, nahm seine riesige, klauenbewehrte Pranke und lächelte ihn an. »Es ist in Ordnung«, sagte ich ihm. »Wirklich. Es ist schon in Ordnung.«
Der Troll nickte.
Er drückte mich zu Boden zwischen die Blätter und Chipstüten und das Kondom und legte sich auf mich. Dann hob er den Kopf, öffnete sein Maul und fraß mit seinen großen starken Zähnen mein Leben auf.
Als er fertig war, stand der Troll auf und klopfte sich die Kleidung ab. Er steckte die Hand in seine Manteltasche und zog einen blasigen, verbrannte Steinklumpen hervor.
Den reichte er mir.
»Das ist deiner«, sagte der Troll.
Ich sah ihn an. Er hatte mein Leben mühelos übergestreift, schien es vertraut und angenehm zu finden, als trage er es seit Jahren. Ich nahm den Schlackeklumpen aus seiner Hand und schnupperte daran. Ich konnte den Zug riechen, von dem er vor so langer Zeit herabgefallen war. Ich hielt ihn fest in meiner behaarten Pranke.
»Danke«, sagte ich.
»Viel Glück«, erwiderte der Troll.
»Tja. Dir auch. Also dann …«
Der Troll grinste mit meinem Gesicht.
Er drehte mir den Rücken zu und schlug die Richtung ein, aus der ich gekommen war, zurück zum Dorf, zu dem leeren Haus, das ich an diesem Morgen verlassen hatte, und er pfiff vor sich hin, während er ging.
Seitdem bin ich hier. Verstecke mich. Bin ein Teil der Brücke.
Aus dem Schatten beobachte ich die Menschen, die vorbeikommen: ihre Hunde ausführen oder reden oder eben die Dinge machen, die Menschen so tun. Manche bleiben unter meiner Brücke stehen, um zu pinkeln oder sich zu lieben. Und ich beobachte sie, aber ich sage nie ein Wort und sie bemerken mich nicht.
Fol rol de ol rol.
Ich werde ganz einfach hier bleiben in der Dunkelheit unter dem Brückenbogen. Ich kann euch alle da draußen hören, trippel-trappel, trippel-trappel auf meiner Brücke.
O ja, ich höre euch.
Aber ich werde nicht rauskommen.