Charlotte



1965 war ich neunzehn Jahre alt, trug Röhrenjeans und meine Haare wuchsen langsam und klammheimlich Richtung Hemdkragen. Jedes Mal wenn man das Radio einschaltete, sangen die Beatles Help! und ich wünschte mir, ich wäre John Lennon, ständig einen zynischen Spruch auf den Lippen und Mädchen, die mir hinterherkreischten. Das war das Jahr, als ich mein erstes Penthouse kaufte, an einem kleinen Kiosk in der King’s Road. Ich bezahlte meine paar Schillinge und stopfte die Zeitschrift unter den Pullover. Auf dem Heimweg sah ich hin und wieder an mir runter, um sicherzugehen, dass sie auch keine Löcher in die Wolle brannte.

Die Zeitschrift wurde schon vor langer Zeit weggeworfen, aber ich werde mich immer daran erinnern: gesetzte Beiträge über Zensur, eine Kurzgeschichte von H.E. Bates und ein Interview mit einem amerikanischen Schriftsteller, den ich nicht kannte; ein Modeteil über Mohairanzüge und Paisley-Krawatten, die es in der Carnaby Street zu kaufen gab. Und das Beste von allem waren natürlich die Mädchen; und das beste von allen Mädchen war Charlotte.

Charlotte war auch neunzehn.

Alle Mädchen in dieser längst vergangenen Zeitschrift schienen identisch mit ihrem makellosen Plastikfleisch, jedes Härchen saß perfekt (man konnte das Haarspray förmlich riechen) und sie lächelten treuherzig in die Kamera, während ihre Augen einen durch ein dichtes Wimperngestrüpp hindurch anzwinkerten. Weißer Lippenstift, weiße Zähne, weiße Brüste – bikinigebleicht. Mir fiel überhaupt nicht auf, in welch seltsamen Posen sie sich züchtig arrangierten, um zu verhindern, dass auch nur das kleinste Löckchen oder ein Schatten ihrer Schamhaare zu sehen war – ich hätte sowieso nicht gewusst, was das war. Ich hatte nur Augen für ihre blassen Hinterteile und Brüste, ihre keuschen, aber doch einladenden, auffordernden Blicke.

Dann schlug ich die nächste Seite auf und sah Charlotte. Sie unterschied sich von den anderen. Charlotte war Sex, sie trug Sexualität wie einen durchsichtigen Schleier, wie ein betörendes Parfum.

Neben den Bildern standen Wörter und ich las wie in Trance: »Die bezaubernde Charlotte Reave ist neunzehn … eine aufrührerische Individualistin und Beat-Dichterin … schreibt Beiträge für das FAB Magazine …« Satzfetzen brannten sich in mein Gedächtnis, während ich die zweidimensionalen Bilder studierte. Sie posierte und schmollte in einer Wohnung in Chelsea – die dem Fotografen gehörte, nahm ich an – und ich wusste, dass ich sie brauchte.

Sie war so alt wie ich. Das war Schicksal.

Charlotte.

Charlotte war neunzehn.

Von da an kaufte ich Penthouse regelmäßig in der Hoffnung, sie werde wieder darin auftauchen. Doch das tat sie nicht. Jedenfalls nicht damals.

Sechs Monate später fand meine Mum einen Schuhkarton unter meinem Bett und schaute hinein. Erst machte sie mir eine Szene, dann warf sie die Zeitschriften in den Müll und schließlich mich aus der Wohnung. Am nächsten Tag fand ich einen Job und eine Einzimmerwohnung in Earl’s Court, alles in allem ohne größere Schwierigkeiten.

Ich arbeitete in einem Elektroladen unweit der Edgware Road. Alles, was ich konnte, war, einen Stecker auszuwechseln, aber damals konnten die Leute es sich leisten, für solche Kleinigkeiten einen Elektriker kommen zu lassen. Mein Boss meinte, mit der Zeit werde ich alles andere schon lernen.

Das ging drei Wochen lang gut. Mein erster Kundentermin war ziemlich aufregend: ich musste den Stecker der Nachttischleuchte am Bett eines englischen Filmstars wechseln, der mit seiner Darstellung wortkarger Cockney-Casanovas berühmt geworden war. Als ich dort ankam, lag er mit zwei wunderschönen Mädchen im Bett. Ich wechselte den Stecker aus und verschwand. Alles ging hoch anständig zu. Ich bekam nicht mal den winzigsten Zipfel Brustwarze zu sehen, geschweige denn eine Einladung, mich dem Trio anzuschließen.

Drei Wochen später wurde ich gefeuert und verlor meine Unschuld am selben Tag. Es war ein nobles Haus in Hampstead. Niemand war daheim bis auf das Hausmädchen, eine kleine, dunkelhaarige Frau, die ein paar Jahre älter war als ich. Ich ging runter auf die Knie, um den Stecker auszutauschen, und sie stieg neben mir auf einen Stuhl, um die Oberkante der Tür abzustauben. Ich sah auf: sie trug Strümpfe und Strumpfhalter unter dem Rock und – Gott helfe mir – nichts sonst. So entdeckte ich, was es mit den Partien auf sich hatte, die die Bilder nicht zeigten.

Ich verlor also meine Jungfräulichkeit unter einem Esstisch in Hampstead. Heutzutage sieht man keine Hausmädchen mehr. Sie sind einfach aus der Welt verschwunden wie der Kabinenroller und die Dinosaurier.

Anschließend verlor ich meinen Job. Nicht einmal mein Boss, so felsenfest er auch von meiner kompletten Unfähigkeit überzeugt war, ließ sich weismachen, dass ich drei Stunden gebraucht hatte, um einen Stecker zu wechseln – und ich konnte ihm schlecht erklären, dass ich mich zwei dieser drei Stunden lang unter einem Esstisch hatte verstecken müssen, weil der Herr und die Dame des Hauses früher als erwartet heimgekommen waren, oder?

Danach folgte eine Reihe kurzlebiger Anstellungen, erst als Drucker, dann als Setzer, bis ich schließlich bei einer kleinen Werbeagentur über einem Sandwichladen auf der Old Compton Street landete.

Ich kaufte auch weiterhin das Penthouse. Alle sahen aus wie Statisten in Mit Schirm, Charme und Melone, aber im wirklichen Leben sahen die Leute genauso aus. Artikel über Woody Allen und Sapphos Insel, Batman und Vietnam, Peitschen schwingende Stripperinnen in Aktion, Mode und Prosa und Sex.

Die Anzüge bekamen Samtkragen und die Mädchen verunstalteten sich die Haare. Fetisch war Mode. London swingte, die Titelseiten der Zeitschriften wurden psychedelisch und selbst wenn kein Acid im Leitungswasser war, benahmen wir uns doch zumindest so, als wäre es der Fall.

1969 sah ich Charlotte wieder. Ich hatte die Hoffnung längst aufgegeben und dachte, ich hätte vergessen, wie sie aussah. Dann kam eines Tages der Geschäftsführer der Agentur und legte ein Penthouse vor mir auf den Tisch. Wir hatten eine Zigarettenwerbung darin platziert, die ihm ausnehmend gut gefiel. Ich war dreiundzwanzig und mächtig im Aufwind, leitete die künstlerische Abteilung, so als wisse ich, was ich tat, und manchmal war das sogar der Fall.

Ich kann mich an die Ausgabe kaum erinnern. Nur an Charlotte. Die Haare wild und sandfarben wie eine Löwenmähne, die Augen provokativ und sie lächelte, als kenne sie alle Geheimnisse des Lebens, wolle sie aber in ihrer unbekleideten Brust verschlossen halten. Sie hieß nicht mehr Charlotte, sondern Melanie oder so. Im Text stand, sie sei neunzehn.

Ich lebte zu der Zeit mit einer Tänzerin namens Rachel zusammen in einer Wohnung in Camden Town. Rachel war die hübscheste, wunderbarste Frau, die ich je gekannt habe. Und ich ging an diesem Tag früher als sonst nach Hause, die Bilder von Charlotte in meinem Aktenkoffer, schloss mich im Bad ein und wichste, bis mir die Sinne schwanden.

Kurz darauf trennten wir uns, ich und Rachel.

Die Werbeagentur boomte – alles boomte in den Sechzigern – und 1971 bekam ich den Auftrag, »Das Gesicht« für eine Modefirma zu finden. Sie wollten eine Frau, die alles Sexuelle verkörperte, die ihre Produkte trug, als wolle sie im nächsten Moment die Arme heben und sie sich vom Leibe reißen – wenn ihr nicht irgendein Mann zuvorkam. Und ich wusste die perfekte Lösung: Charlotte.

Ich rief bei Penthouse an. Niemand dort verstand, wovon ich sprach, aber schließlich verwiesen sie mich unwillig an die beiden Fotografen, die die Aufnahmen von ihr gemacht hatten. Die Leute vom Penthouse schienen mir nicht so recht zu glauben, als ich sagte, es sei beide Male dasselbe Mädchen gewesen.

Ich wandte mich an die Fotografen in der Hoffnung, den Namen ihrer Agentur zu erfahren.

Sie sagten mir, die Frau gebe es nicht.

Jedenfalls nicht in der Form, dass man ihrer irgendwie habhaft werden könne. Sicher, beide wussten sofort, welches Mädchen ich meinte. Aber, wie einer mir versicherte, es war »verdammt seltsam«. Sie war zu ihnen gekommen. Sie hatten ihr ein Honorar bezahlt und die Bilder verkauft. Nein, sie hatten ihre Adresse nicht.

Ich war sechsundzwanzig und kein Idiot. Ich kapierte sofort, was hier gespielt wurde: die wollten mich an der Nase herumführen. Vermutlich hatte irgendeine andere Agentur sie unter Vertrag genommen, plante eine große Kampagne mit ihr und bezahlte die Fotografen, damit sie nichts ausplauderten. Ich fluchte und beschimpfte sie am Telefon. Ich machte unhaltbare finanzielle Angebote.

Verpiss dich, sagten sie mir.

Und im Monat darauf war sie wieder im Penthouse. Es war längst kein psychedelisches Spannerblättchen mehr, sondern hatte mehr Klasse. Den Mädchen waren Schamhaare gewachsen und in ihren Augen lag ein männerhungriges Glitzern. Weichzeichnerfotos zeigten Männer und Frauen eng umschlungen in Kornfeldern – rosa Fleisch vor goldfarbenem Hintergrund.

Ihr Name, sagte die Bildunterschrift, sei Belinda. Sie war Antiquitätenhändlerin. Es war Charlotte, kein Zweifel, nur war ihr Haar jetzt dunkel und zu üppigen Löckchen aufgetürmt. Der Text nannte auch ihr Alter: neunzehn.

Ich rief meinen Kontakt beim Penthouse an und bekam den Namen des Fotografen: John Felbridge. Ich rief ihn an. Er behauptete genau wie die anderen, nichts über sie zu wissen, aber inzwischen hatte ich dazugelernt. Statt ihn durchs Telefon anzubrüllen, gab ich ihm einen Job, einen ziemlich lukrativen Auftrag: Werbeaufnahmen von einem kleinen Jungen, der ein Eis löffelte. Felbridge war langhaarig, Ende dreißig und trug einen mottenzerfressenen Pelzmantel und Turnschuhe ohne Schnürsenkel, aber er war ein guter Fotograf. Nach dem Shooting lud ich ihn auf ein Bier ein und wir redeten über das lausige Wetter, Fotografie, Dezimalwährung, seine Arbeit und Charlotte.

»Du hast also die Bilder im Penthouse gesehen, sagst du, ja?«, fragte Felbridge.

Ich nickte. Wir waren beide leicht angetrunken.

»Ich werd dir was erzählen über dieses Mädchen. Sie ist der Grund, warum ich mit dem Glamourzeug aufhören und ein anständiger Fotograf werden will. Sie sagte, ihr Name sei Belinda.«

»Wie hast du sie kennen gelernt?«

»Dazu komm ich ja gerade, okay? Ich dachte, sie wär von irgendeiner Agentur, verstehst du? Sie klopft an die Tür und ich denk heilige Scheiße! und bitte sie rein. Sie sagt, sie kommt von keiner Agentur, sondern sie verkauft …« Er runzelte verwirrt die Stirn. »Ist das nicht komisch? Ich habe vergessen, was sie verkauft. Vielleicht war es doch nicht Verkauf. Weiß nicht mehr. Demnächst vergess ich noch meinen eigenen Namen.

Ich wusste sofort, dass sie was Besonderes war. Ich frag sie, ob ich sie fotografieren darf, sag ihr, alles ist koscher, keine Hintergedanken, und sie war einverstanden. Klick! Fünf Filme in null Komma nichts. Kaum sind wir fertig, zieht sie ihre Klamotten wieder an und geht zur Tür. ›Was ist mit deinem Geld?‹, frag ich sie. ›Schick es mir‹, sagt sie und schon ist sie die Treppe runter und weg.«

»Also hast du ihre Adresse?«, fragte ich und versuchte, mein Interesse aus meiner Stimme herauszuhalten.

»Nein. Verdammter Mist. Ich hab das Geld beiseite gelegt, weil ich irgendwie hoffe, sie kommt noch mal wieder.«

Ich entsinne mich, dass mir außer meiner Enttäuschung die Frage in den Sinn kam, ob sein Cockney-Akzent echt oder eine Masche war.

»Aber worauf ich hinauswollte, war das: Als die Bilder zurückkamen, da wusste ich … na ja, was Titten und Ärsche anging, nein, was das Fotografieren von Frauen überhaupt anging, hatte ich alles geseh’n und erlebt. Sie war die Weiblichkeit, verstehst du? Und ich hatte sie fotografiert. Nein, nein, ich hol dir noch einen. Meine Runde. Bloody Mary, stimmt’s? Ich muss sagen, ich freu mich auf unsere zukünftige Zusammenarbeit …«

Es gab keine zukünftige Zusammenarbeit.

Die Agentur wurde von einer größeren, etablierteren Firma geschluckt, die unsere Umsätze wollte. Unsere Initialen wurden den ihren einverleibt und sie behielten ein paar von den guten Textern, aber der Rest von uns landete auf der Straße.

Ich ging zurück in meine Wohnung und wartete darauf, dass die Jobangebote zu strömen begannen, doch es tat sich nichts; aber eines Abends spät fing der Freund von der Freundin eines Freundes mich in einem Club an zu bequatschen (auf der Bühne spielte ein Typ, von dem ich nie gehört hatte. Sein Name war David Bowie. Er war wie ein Astronaut aufgemacht und der Rest seiner Band trug silberne Cowboyklamotten. Ich hörte nicht hin.) und ehe ich wusste, wie mir geschah, managte ich meine eigene Rockband, die Diamonds of Flame. Wenn du nicht zufällig Anfang der Siebziger in der Londoner Clubszene zu Hause warst, hast du nie von der Band gehört, aber sie war wirklich gut. Puristisch und lyrisch. Fünf Typen. Zwei von ihnen spielen heute in weltberühmten Supergruppen. Einer ist Klempner in Walsall; er schickt mir immer noch Weihnachtskarten. Die anderen beiden sind seit fünfzehn Jahren tot – anonyme Drogentote. Sie starben beide innerhalb einer Woche und die Band zerbrach daran.

Ich zerbrach um ein Haar auch daran. Ich stieg aus, wollte so weit weg von der Großstadt und diesem Leben wie nur möglich. Ich kaufte eine kleine Farm in Wales. Und da war ich glücklich mit meinen Schafen und Ziegen und Kohlköpfen. Ohne Penthouse und sie wäre ich wohl heute noch dort.

Ich habe keine Ahnung, woher es kam. Eines Morgens kam ich nach draußen und fand eine Zeitschrift im Hof. Sie lag mit dem Titelblatt nach unten im Morast. Die Ausgabe war fast ein Jahr alt. Charlotte war ohne Make-up und in einer anscheinend sehr exklusiven Wohnung abgelichtet. Zum ersten Mal konnte ich ihre Schamhaare sehen oder hätte sie sehen können, wäre das Foto nicht künstlich verschwommen, ein ganz klein wenig unscharf gewesen. Es sah aus, als käme sie aus dem Nebel.

Ihr Name, stand dort, sei Lesley. Sie war neunzehn.

Und danach konnte ich mich einfach nicht länger verkriechen. Ich verkaufte die Farm für ein Butterbrot und kam in den letzten Tagen des Jahres 1976 zurück nach London.

Ich lebte von der Stütze, wohnte in einer Sozialwohnung in Victoria, stand gegen Mittag auf, ging in die Pubs, bis sie nachmittags schlossen, las Zeitungen in der Bibliothek, bis sie wieder öffneten, und pilgerte von Pub zu Pub bis zur Sperrstunde. Ich lebte von der Stütze und versoff meine Ersparnisse.

Ich war dreißig und fühlte mich viel älter. Ich zog mit einer blonden Punkerin aus Kanada zusammen, die ich in einem Club an der Greek Street kennen lernte. Sie kellnerte da und eines Abends erzählte sie mir, als sie dicht machte, dass sie ihre Bleibe verloren habe, also bot ich ihr mein Sofa an. Sie war erst sechzehn, stellte sich heraus, und sie schlief keine Nacht auf dem Sofa. Sie hatte kleine Granatapfelbrüste, einen tätowierten Totenschädel auf dem Rücken und trug die Haare wie Frankensteins Braut. Es gebe nichts, was sie nicht schon getan hätte, und nichts, woran sie noch glaubte, sagte sie mir. Manchmal redete sie stundenlang darüber, dass die Welt sich auf einen Zustand totaler Anarchie zubewege, und sie behauptete, es gebe weder Hoffnung noch eine Zukunft, aber sie fickte, als habe sie das Ficken erfunden. Und das gefiel mir.

Mit nichts als einem Dornhalsband aus schwarzem Leder und dickem schwarzen Augen-Make-up kam sie ins Bett. Manchmal spuckte sie, rotzte einfach so auf den Gehweg, wenn wir durch die Stadt liefen, und das fand ich grässlich. Sie nahm mich mit in ihre Punk-Clubs, wo ich ihr beim Rotzen und Fluchen und Pogo zuschauen durfte. Dann fühlte ich mich wirklich alt. Doch wenigstens die Musik gefiel mir teilweise: Peaches, solche Sachen. Und ich sah die Sex Pistols live. Sie waren beschissen.

Dann verkündete die Punkerin, ich sei ein langweiliger alter Sack, und verließ mich für einen extrem molligen arabischen Prinzen.

»Ich dachte, du glaubst an gar nichts«, rief ich ihr nach, als sie in den Rolls stieg, den er geschickt hatte.

»Ich glaube an hundert Ocken für einmal blasen und an Bettlaken aus Nerz«, brüllte sie zurück. Eine Hand spielte mit einer Strähne ihrer Frankensteinlocken. »Und einen goldenen Vibrator. Daran glaub ich.«

So eilte sie dem Ölreichtum und einer neuen Garderobe entgegen und ich machte einen Kassensturz und stellte fest, dass ich absolut abgebrannt war, praktisch keinen Penny mehr besaß. Ich kaufte immer noch gelegentlich ein Penthouse. Meine 60er-Jahre-Seele war sowohl zutiefst schockiert als auch vollkommen hingerissen darüber, wie viel Fleisch man heutzutage zu sehen bekam. Nichts blieb mehr der Fantasie überlassen, was mich manchmal bannte und manchmal abstieß.

Gegen Ende des Jahres 1977 war sie wieder drin.

Meine Charlotte. Ihr Haar war vielfarbig, ihre Lippen so tiefrot, als habe sie Brombeeren gegessen. Sie lag auf einem Satinlaken mit einer Juwelenmaske auf dem Gesicht und einer Hand zwischen den Beinen, ekstatisch, orgastisch, alles, was ich mir je erträumt hatte: Charlotte.

Sie firmierte unter dem Namen Titania und war in Pfauenfedern gehüllt. Die kleinen schwarzen Buchstaben, die wie Insekten um ihre Bilder herumkrochen, besagten, sie arbeite in einem Maklerbüro im Süden. Sie mochte sensible, ehrlich Männer. Sie war neunzehn.

Und Gott verflucht, sie sah aus wie neunzehn. Und ich war abgebrannt und arbeitslos wie über eine Million andere und hatte nichts erreicht.

Ich verkaufte meine Plattensammlung, meine Bücher, meine Penthouse-Sammlung bis auf vier Ausgaben, den Großteil meiner Möbel und erstand eine einigermaßen gute Kamera. Dann rief ich all die Fotografen an, mit denen ich zu tun hatte, als ich fast ein Jahrzehnt zuvor in der Werbung gearbeitet hatte.

Die meisten erinnerten sich nicht an mich oder behaupteten das zumindest. Und selbst die, die sich erinnerten, waren nicht scharf auf einen eifrigen Assistenten, der nicht mehr jung war und keinerlei Erfahrung hatte. Aber ich versuchte es weiter und irgendwann landete ich bei Harry Bleak, einem silbermähnigen alten Knaben mit seinem eigenen Studio in Crouch End und einer Schar kostspieliger kleiner Liebhaber.

Ich erklärte ihm, was ich wollte. Er nahm sich nicht einmal eine Sekunde zum Nachdenken, sondern sagte: »Sei in zwei Stunden hier.«

»Kein Pferdefuß?«

»In zwei Stunden. Das ist alles.«

Ich war da.

Im ersten Jahr machte ich das Studio sauber, malte Kulissen und klapperte die umliegenden Geschäfte und Straßenhändler ab, um Requisiten zu borgen, zu schnorren oder zu kaufen. Im nächsten Jahr durfte ich bei der Beleuchtung helfen, Objekte arrangieren, Rauch und Trockeneis herumwedeln und Tee kochen. Das ist übertrieben. Ich habe nur ein einziges Mal Tee gekocht, denn mein Tee schmeckt fürchterlich. Aber ich lernte unglaublich viel über Fotografie.

Und plötzlich war 1981, die Welt war »New Romantic« und ich war fünfunddreißig und spürte jede einzelne Minute dieser Jahre. Bleak bat mich, das Studio ein paar Wochen zu hüten, während er zu einem Monat wohlverdienter Ausschweifungen nach Marokko aufbrach.

In diesem Monat war sie wieder im Penthouse. Züchtiger, strenger als beim Mal zuvor, erwartete sie mich zwischen Werbeanzeigen für Stereoanlagen und Scotch. Jetzt hieß sie Dawn, aber es war immer noch meine Charlotte, mit Nippeln wie Blutstropfen auf ihrer gebräunten Brust, dem dunklen, lockigen Büschel zwischen ihren kilometerlangen Beinen, aufgenommen an irgendeinem Strand. Sie war erst neunzehn, stand da. Charlotte. Dawn.

Harry Bleak kam auf der Heimreise von Marokko ums Leben: ein Bus fiel auf ihn.

Das war eigentlich nicht witzig. Er war auf der Autofähre von Calais und hatte sich in den Fahrzeugraum hinabgeschlichen, um seine Zigarren zu holen, die er im Handschuhfach seines Mercedes vergessen hatte.

Die See war rau und ein Touristenbus (der einer Genossenschaft in Wigan gehörte, wie ich den Zeitungen und dem ausführlichen Bericht des in Tränen aufgelösten Liebhabers entnahm) war nicht richtig gesichert. Harry wurde zwischen dem Bus und seinem silbernen Mercedes zerquetscht.

Er hatte auf dem Lack nie ein Stäubchen geduldet.

Als das Testament eröffnet wurde, fand ich heraus, dass der alte Bastard mir das Studio vermacht hatte. In dieser Nacht weinte ich mich in den Schlaf, war eine Woche lang sternhagelvoll und dann übernahm ich das Geschäft.

Seither hat sich allerhand ereignet. Ich habe geheiratet. Es hat drei Wochen gehalten, dann zogen wir einen Schlussstrich. Ich schätze, ich bin einfach kein Typ zum Heiraten. Ich wurde mal spät nachts in einem Zug von einem besoffenen Schotten zusammengeschlagen und die anderen Fahrgäste taten so, als wär nichts. Ich kaufte mir zwei Schildkröten und ein Terrarium, brachte sie in die Wohnung über dem Studio und nannte sie Rodney und Kevin. Ich wurde ein einigermaßen guter Fotograf. Ich machte Kalender, Werbeaufnahmen, Mode- und Aktfotografie, kleine Kinder und große Stars – alles, was kam.

Und an einem Frühlingstag im Jahr 1985 begegnete ich Charlotte.

Ich war allein im Studio an diesem Donnerstagmorgen, unrasiert und barfuß. Es war ein Tag ohne Termine und ich wollte ihn damit verbringen, gründlich sauber zu machen und die Zeitungen zu lesen. Ich hatte die Studiotür offen gelassen, damit frische Luft hereinkam und den Gestank nach Zigaretten und verschüttetem Wein vom Shooting des Vorabends ersetzte, als eine Frauenstimme fragte: »Bleak Photographie?«

»Stimmt«, sagte ich, ohne aufzusehen, »aber Bleak ist tot. Ich schmeiß den Laden jetzt.«

»Ich möchte für Sie Modell sitzen«, sagte sie.

Ich wandte mich um. Sie war etwa eins siebzig groß, hatte honigblondes Haar, olivgrüne Augen und ein Lächeln wie kühles Wasser in der Wüste.

»Charlotte?«

Sie neigte den Kopf zur Seite. »Wenn Sie wollen. Möchten Sie mich fotografieren?«

Ich nickte wie benommen. Stöpselte die Schirme ein, stellte sie vor eine nackte Mauer und machte zwei Polaroids als Test. Kein besonderes Make-up, kein Set, nur ein bisschen Licht, eine Hasselblad und das schönste Mädchen der Welt.

Nach ein paar Minuten fing sie an, sich auszuziehen. Ich hatte sie nicht darum gebeten. Ich kann mich nicht entsinnen, überhaupt irgendetwas zu ihr gesagt zu haben. Sie zog sich aus und ich fotografierte weiter.

Sie wusste Bescheid: Pose, Mimik, Blick, sie kannte das alles. Schweigend flirtete sie mit der Kamera und mit mir dahinter. Ich umrundete sie, machte eine Aufnahme nach der anderen. Ich kann mich nicht erinnern, je eine Pause eingelegt zu haben, aber zumindest für den Filmwechsel muss ich unterbrochen haben, denn ich hatte nachher sage und schreibe ein Dutzend Filme von ihr.

Ich nehme an, du glaubst, nachdem ich sie fotografiert habe, hätte ich sie geliebt. Na ja, ich wäre ein Lügner, wollte ich behaupten, ich hätte nie ein Model gevögelt. Oder manchmal war’s auch so, dass sie mich gevögelt haben. Aber sie habe ich nicht angerührt. Sie war mein Traum, und wenn man einen Traum berührt, verschwindet er wie eine Seifenblase.

Und ich konnte sie einfach nicht anfassen.

»Wie alt bist du?«, fragte ich, ehe sie ging, als sie ihren Mantel überzog und nach der Handtasche griff.

»Neunzehn«, antwortete sie, ohne mich anzusehen, und dann war sie verschwunden.

Sie hat nicht Auf Wiedersehen gesagt.

Ich schickte die Fotos an Penthouse. Etwas anderes fiel mir nicht ein. Zwei Tage später rief der Chefredakteur an. »Wunderbares Model! Das Gesicht der Achtziger und so weiter! Was können Sie mir über ihre Daten sagen?«

»Ihr Name ist Charlotte«, sagte ich ihm. »Sie ist neunzehn.«

Und jetzt bin ich neununddreißig und eines Tages werde ich fünfzig sein und sie wird neunzehn bleiben. Aber dann wird es ein anderer sein, der sie fotografiert.

Rachel, meine Tänzerin, hat schließlich einen Architekten geheiratet.

Die blonde Punkerin aus Kanada betreibt heute eine multinationale Modekette. Hin und wieder mache ich ein paar Shootings für sie. Ihre Haare sind jetzt kurz geschnitten und haben einen ersten Grauschimmer und sie ist unter die Lesben gegangen. Die Nerzbettwäsche hat sie immer noch, hat sie mir erzählt, aber den Vibrator aus Gold hatte sie erfunden.

Meine Exfrau hat einen netten Kerl geheiratet, dem zwei Videotheken gehören. Sie sind nach Slough gezogen und sie haben Zwillingssöhne.

Ich habe keine Ahnung, was aus dem Hausmädchen geworden ist.

Und Charlotte?

In Griechenland debattieren die Philosophen, Sokrates leert den Schierlingsbecher und sie steht Modell für eine Skulptur der Erato, Muse der leichten Poesie und der Liebenden. Und sie ist neunzehn.

In Kreta ölt sie ihre Brüste ein, betritt den Ring und springt über den Rücken eines Stieres, während König Minos ihr Beifall zollt, und irgendwer verewigt den Moment als Gemälde auf einer Vase. Und sie ist neunzehn.

Im Jahr 2065 liegt sie auf dem Drehboden im Studio eines Holofotografen, der sie als erotischen Traum in Living Sensolove aufnimmt, ihren Anblick, Laute, selbst ihren Geruch in einer winzigen Diamantmatrix bannt. Sie ist neunzehn.

Und ein Höhlenmensch malt Charlottes Umrisse mit einem angekohlten Stecken auf die Wand der Tempelhöhle und versucht mit Erd- und Beerenfarben, ihre Formen und den Schimmer ihrer Haut wiederzugeben. Neunzehn.

Charlotte ist immer da, an allen Orten, zu allen Zeiten. Gleitet durch unsere Wunschträume, ewig ein Mädchen.

Ich will sie so sehr, dass es manchmal wehtut. Dann nehme ich die Fotos von ihr aus dem Schrank und betrachte sie einfach eine Weile und frage mich, warum ich nicht versucht habe, sie zu berühren, warum ich nicht einmal mit ihr gesprochen hatte, als sie da war. Und nie gelange ich zu einer Antwort, die ich verstehen könnte.

Das ist wohl der Grund, warum ich all das hier aufgeschrieben habe.

Heute Morgen habe ich schon wieder ein graues Haar an meiner Schläfe entdeckt. Charlotte ist neunzehn. Irgendwo.




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