Schnee, Glas, Äpfel



Ich vermag nicht zu sagen, was für ein Geschöpf sie ist. Das weiß niemand. Sie tötete ihre Mutter bei der Geburt, aber das ist keine ausreichende Erklärung.

Sie nennen mich weise, doch ich bin alles andere als weise, selbst wenn ich manches vorausgesehen habe, erstarrte Momente, gefangen in Wasserbecken oder im kalten Glas meines Spiegels. Wäre ich weise, hätte ich nicht versucht zu ändern, was ich sah. Wäre ich weise, hätte ich meinem Leben ein Ende gemacht, lange bevor ich ihr je begegnete, lange bevor ich ihn einfing.

Weise und eine Hexe. Oder zumindest sagte man das. Und ich hatte sein Gesicht mein Leben lang im Traum und in Spiegelungen gesehen. Sechzehn Jahre des Träumens, ehe er an jenem Morgen an der Brücke sein Pferd zügelte und mich nach meinem Namen fragte. Er half mir in den Sattel seines stattlichen Rosses und wir ritten zusammen zu meiner kleinen Hütte, mein Gesicht im Gold seiner Haare vergraben. Er verlangte das Beste, was ich hatte. Das ist das Recht der Könige.

Sein Bart hatte die Farbe von rötlicher Bronze im Morgenlicht und ich erkannte in ihm nicht meinen König, denn von Königen wusste ich damals noch nichts, sondern meinen Liebsten. Er nahm sich alles von mir, das er wollte, nahm sich sein Königsrecht, doch am nächsten Tag kehrte er zu mir zurück und am Abend darauf auch. Sein Bart war so rot, sein Haar so golden, seine Augen blau wie ein Sommerhimmel und die Haut leicht gebräunt wie reifer Weizen.

Seine Tochter war noch ein Kind, als ich in den Palast kam, nicht älter als fünf Jahre. Im Turmzimmer der Prinzessin hing ein Bildnis ihrer toten Mutter: eine hoch gewachsene Frau, ihr Haar die Farbe von Ebenholz und nussbraune Augen. Von ganz anderem Blut als ihre bleiche Tochter.

Das Kind wollte nicht mit uns essen.

Ich weiß nicht, wo im Palast sie die Mahlzeiten einnahm.

Ich hatte meine eigenen Gemächer. Auch mein Gemahl, der König, hatte eigene Räume. Wenn er mich wollte, schickte er nach mir und ich ging zu ihm, um ihn zu erfreuen und meine Freude an ihm zu haben.

Als ich schon einige Monate im Palast lebte, kam sie eines Nachts zu mir. Sie war sechs. Ich saß beim Licht einer Lampe und stickte, verengte die Augen gegen den Rauch der Flamme und ihr unruhiges Flackern. Als ich aufsah, stand sie dort.

»Hoheit?«

Sie sprach nicht. Ihre Augen waren schwarz wie Kohlen, schwarz wie ihr Haar, ihre Lippen röter als Blut. Sie blickte zu mir auf und lächelte. Ihre Zähne wirkten scharf im Lampenlicht, selbst damals schon.

»Warum seid Ihr nicht auf Eurem Zimmer?«

»Ich bin hungrig«, sagte sie, wie Kinder es tun.

Es war Winter und im Winter sind frische Speisen nur ein Traum von Wärme und Sonnenschein, doch ich hatte in meinem Gemach ganze Äpfel, entkernt und getrocknet, auf Schnüren aufgezogen, von den Deckenbalken hängen und ich zog einen für sie herab.

»Hier.«

Der Herbst ist die Zeit des Trocknens, des Pökelns und Räucherns, die Zeit, Äpfel zu pflücken und Gänseschmalz herzustellen. Der Winter ist die Zeit des Hungers, die Zeit von Schnee und Tod. Und zum Fest der Wintersonnenwende schlachten wir ein Schwein, bestreichen seine Haut mit Gänseschmalz, füllen es mit Äpfeln und braten es im Ofen oder am Spieß und laben uns an der knusprigen Kruste.

Sie nahm den getrockneten Apfel und begann, ihn mit ihren scharfen gelben Zähnen zu kauen.

»Ist er gut?«

Sie nickte. Ich hatte mich vor der kleinen Prinzessin immer gefürchtet, doch in diesem Augenblick empfand ich Wärme für sie und strich ihr sanft mit den Fingern über die Wange. Sie sah mich an und lächelte – man sah sie selten lächeln – und dann schlug sie die Zähne in meinen Handballen unterhalb des Daumens, bis das Blut hervorschoss.

Ich fing an zu schreien, vor Schmerz und Überraschung, doch als sie mich ansah, verstummte ich.

Die kleine Prinzessin presste die Lippen auf meine Hand und leckte, saugte und trank. Als sie genug hatte, verließ sie das Zimmer. Ich sah auf meine Hand hinab und augenblicklich begann die Wunde, sich zu schließen, zu verschorfen und zu heilen. Am nächsten Morgen war es eine alte Narbe, als hätte ich mich in meiner Kindheit mit dem Taschenmesser in die Hand geschnitten.

Sie hatte mich vollkommen erstarren lassen, hatte mich besessen und beherrscht. Das machte mir Angst, mehr noch als das Blut, das sie getrunken hatte. Von diesem Tage an verriegelte ich nachts meine Tür, versperrte sie mit einem Eichenbalken und hieß den Schmied, eiserne Stangen anzufertigen und damit auch meine Fenster zu vergittern.

Mein Gemahl, mein König, mein Liebster, schickte immer seltener nach mir und wenn ich zu ihm kam, litt er an Schwindel, war matt und verwirrt. Er konnte mich nicht mehr lieben, wie ein Mann eine Frau liebt, und er gestattete mir nicht, ihn mit meinem Mund zu erfreuen. Das eine Mal, da ich es versuchte, zuckte er zusammen und begann zu weinen. Ich hielt ihn in den Armen, bis das Schluchzen verebbte, und er schlief ein wie ein Kind.

Ich strich mit den Fingern über seine Haut, als er schlief. Sie war mit einer Unzahl alter Narben übersät. Doch aus unserer Freierszeit entsann ich mich keiner Narben bis auf eine in der Seite, wo ein Keiler ihn einmal verletzt hatte, als er als Knabe auf die Jagd geritten war.

Bald war er nur mehr der Schatten des Mannes, den ich an der Brücke kennen und lieben gelernt hatte. Blau und weiß schimmerten die Knochen durch seine dünne Haut. Ich war bei ihm in seiner letzten Stunde. Seine Hände waren kalt wie Stein, seine Augen milchig blau, Haar und Bart verblasst, glanzlos und schlaff. Er starb ungetröstet, seine Haut von Kopf bis Fuß bedeckt mit winzigen alten Narben.

Er wog kaum mehr als eine Feder. Die Erde war hart gefroren und wir konnten kein Grab für ihn schaufeln und so errichteten wir einen Steinhaufen über seinem Leichnam, nur zur Erinnerung, denn es war kaum mehr genug Fleisch an ihm, um hungrige Tiere und Vögel anzuziehen.

So wurde ich Königin.

Und ich war töricht und jung – achtzehn Lenze waren erst vergangen, seit ich das Licht der Welt erblickt hatte – und so tat ich nicht, was ich heute täte.

Wäre es heute geschehen, hätte ich ihr das Herz herausschneiden lassen, gewiss. Aber damit nicht genug. Als Nächstes hätte ich ihr Kopf, Arme und Beine abhacken lassen. Ich hätte befohlen, ihr die Eingeweide herauszuschneiden. Dann hätte ich auf dem Marktplatz gestanden und zugeschaut, während der Henker das Feuer anfachte, bis es weiß glühte, hätte ohne mit der Wimper zu zucken zugesehen, wie er sie Stück um Stück dem Feuer überantwortete. Und ich hätte Bogenschützen um den Marktplatz postiert und befohlen, jeden Vogel und jedes Tier zu erschießen, das sich den Flammen näherte, jede Ratte, jeden Raben, Hund oder Falken. Und ich hätte die Augen nicht geschlossen, ehe die Prinzessin zu Asche zerfiel, die eine sachte Brise zerstreuen mochte.

Doch das habe ich nicht getan und wir zahlen für unsere Fehler.

Sie sagen, ich habe mich täuschen lassen, es sei nicht ihr Herz gewesen. Dass es das Herz eines Tieres war, eines Hirschs vielleicht oder eines Wildschweins. Das sagen sie und sie irren sich.

Manche sagen gar (doch das ist ihre Lüge, nicht meine) dass man mir das Herz gebracht und ich es verschlungen hätte. Lügen und Halbwahrheiten fallen wie Schnee und bedecken die Dinge, derer ich mich entsinne, Dinge, die ich sah. Eine Landschaft, die nach dem Schneefall nicht wiederzuerkennen ist, das ist es, was sie aus meinem Leben gemacht hat.

Ich hatte Narben an meinem Liebsten gefunden, Narben auf ihres Vaters Schenkeln, seinem Hodensack und seinem Glied, als er starb.

Ich ging nicht mit ihnen. Sie ergriffen sie am Tage, die Zeit, da sie schläft und am schwächsten ist. Sie brachten sie tief in den Wald und dort öffneten sie ihr Hemd, schnitten ihr das Herz heraus und ließen sie tot in einem Graben liegen, auf das der Wald sie verschlinge.

Der Wald ist ein dunkler Ort, Grenze vieler Königreiche. Niemand wäre so töricht, die Herrschaft über den Wald zu beanspruchen. Gesetzlose leben dort, Räuber und Wölfe. Man kann viele Tage durch den Wald reiten, ohne je einer Menschenseele zu begegnen, doch die ganze Zeit spürt man Augen auf sich gerichtet.

Sie brachten mir ihr Herz. Ich wusste, es war ihres. Kein Herz einer Sau oder Ricke hätte weiter geschlagen und gezuckt, nachdem es den Körper verlassen hatte, so wie ihres es tat.

Ich trug es in mein Gemach.

Ich aß es nicht, sondern hing es an die Balken über meinem Bett an einem Zwirnsfaden, auf den ich Vogelbeeren aufgezogen hatte, orangefarben wie die Brust des Rotkehlchens, und Knoblauchknollen.

Draußen rieselte der Schnee und bedeckte die Fußspuren meiner Jäger ebenso wie den kleinen Körper, der im Wald lag.

Ich hieß den Schmied, die Eisenstangen von meinem Fenster zu entfernen, und an jedem der kurzen Winternachmittage verbrachte ich eine Weile in meinem Gemach und sah hinaus auf den Wald, bis es dunkel wurde.

Es gab, wie ich bereits erwähnte, Menschen im Wald. Manche von ihnen kamen im Frühling anlässlich des Lenzmarktes zum Vorschein; ein raffgieriges, wildes Volk, manche von ihnen missgestaltet, Zwerge und Bucklige, andere hatten die riesigen Zähne und leeren Gesichter von Schwachsinnigen, manche hatten Finger wie Flossen oder Krebsscheren. Jahr um Jahr kamen sie aus dem Wald gekrochen, wenn nach der Schneeschmelze der Lenzmarkt gehalten wurde.

Als junges Mädchen hatte ich auf dem Markt gearbeitet und damals hatten sie mir Angst gemacht, die Leute aus dem Wald. Ich hatte den Marktbesuchern die Zukunft vorausgesagt, indem ich in einer Schale mit stillem Wasser las, und später, als ich älter war, in einem Stück polierten Glas, dessen Rückseite versilbert war – das Geschenk eines Kaufmannes, dessen entlaufenes Pferd ich in einem Tintenspiegel gesehen hatte.

Auch die Händler auf dem Markt fürchteten sich vor dem Waldvolk. Sie nagelten ihre Waren auf die Bretter ihrer Stände: Ingwerbrot oder Ledergürtel wurden mit dicken Eisennägeln ans Holz geschlagen, denn andernfalls, so sagten sie, würde das Waldvolk ihre Waren stehlen und davonlaufen, während sie das erbeutete Ingwerbrot kauten und mit den Gürteln um sich schlugen.

Dabei hatte das Waldvolk durchaus Geld. Eine Münze hier oder da, manchmal grün und fleckig vom Alter oder der Walderde und die Gesichter auf ihren Münzen waren selbst den ältesten unter uns unbekannt. Außerdem besaßen sie Dinge, die sie eintauschen konnten, und so bediente der Markt auch alljährlich die Ausgestoßenen und die Zwerge und die Räuber (wenn sie vorsichtig waren), die dem gelegentlichen Reisenden aus fernen Ländern jenseits des Waldes auflauerten oder den Zigeunern oder dem Wild. Auch das galt in den Augen des Gesetzes als Raub, denn das Wild gehörte der Königin.

Langsam zogen die Jahre ins Land und mein Volk sagte, die Königin herrsche mit Weisheit. Das Herz hing nach wie vor über meinem Bett und pulsierte schwach in der Nacht. Ich wüsste niemanden, der um die Prinzessin getrauert hätte, denn alle fürchteten sich damals vor ihr und waren froh, ihrer ledig zu sein.

Ein Lenzmarkt folgte dem anderen, fünf waren inzwischen vergangen, jeder trauriger, ärmlicher und schäbiger als der vorangegangene. Immer weniger Leute kamen aus dem Wald, um Handel zu treiben. Diejenigen, die kamen, schienen niedergeschlagen und matt. Die Händler nagelten ihre Waren nicht länger an den Brettern fest. Und im fünften Jahr kam nur noch eine Handvoll des Waldvolkes – ein verängstigtes Häuflein kleiner, haariger Männer und niemand sonst.

Der Herr des Marktes und sein Knappe kamen am Abend des Markttages zu mir. Ich hatte ihn flüchtig gekannt, ehe ich Königin wurde.

»Ich komme nicht zu Euch als Königin«, begann er.

Ich schwieg und hörte zu.

»Ich komme zu Euch, weil Ihr weise seid«, fuhr er fort. »Als Ihr ein Kind wart, fandet Ihr ein verirrtes Fohlen, indem Ihr in eine Schale mit Tinte schautet, und als junges Mädchen fandet ihr einmal ein verirrtes Kind mit Eurem Spiegel. Ihr kennt Geheimnisse und könnt das Verborgene sehen. Meine Königin, was geschieht mit dem Waldvolk? Nächstes Jahr wird es keinen Lenzmarkt geben. Die Reisenden aus anderen Königreichen sind selten geworden und das Waldvolk ist beinah ausgelöscht. Noch ein Jahr wie das letzte und wir werden alle verhungern.«

Ich befahl meiner Zofe, mir meinen Spiegel zu bringen. Er war schlicht, eine Glasscheibe mit versilberter Rückseite, die ich eingewickelt in Hirschleder in einer Truhe in meinem Gemach verwahrte.

Sie brachte ihn zu mir und ich blickte hinein:

Sie war zwölf und kein kleines Mädchen mehr. Ihre Haut war immer noch bleich, Augen und Haare rabenschwarz, die Lippen blutrot. Sie trug dieselben Kleider wie am Tage, da sie den Palast zum letzten Mal verlassen hatte – ein Hemd und einen Rock, häufig geflickt und mit ausgelassenem Saum. Darüber trug sie einen ledernen Umhang und statt Stiefel schützten Lederbeutel ihre zierlichen Füße, zugebunden mit Riemen.

Sie stand im Wald im Schatten eines Baumes.

Während ich sie im Geiste beobachtete, sah ich sie von Baum zu Baum schlüpfen und huschen und schleichen und gleiten wie ein Tier, eine Fledermaus oder ein Wolf. Sie verfolgte jemanden.

Es war ein Mönch. Er war in Sackleinen gekleidet und seine bloßen Füße waren hart und wie gegerbt. Bart und Haare waren lang, die Tonsur fast zugewachsen.

Sie beobachtete ihn aus dem Dickicht. Schließlich machte er für die Nacht Halt, schichtete Zweige auf und zerbrach das Nest eines Rotkehlchens für Zunder. Dann holte er Stahl und Feuerstein aus der Tasche, schlug einen Funken und bald züngelten die ersten Flammen auf. Zwei Eier hatten in dem Nest gelegen, das er gefunden hatte, und er verschlang sie roh. Kaum genug, um einen großen Mann wie ihn zu sättigen.

Als er dort im Feuerschein saß, kam sie schließlich aus ihrem Versteck. Sie hockte sich auf die andere Seite des Feuers und starrte zu ihm auf. Er grinste, als sei es lange her, seit er ein anderes menschliches Wesen gesehen hatte, und winkte sie näher.

Sie erhob sich und umrundete das Feuer, hielt eine Armeslänge von ihm entfernt an. Er durchsuchte seine Tasche, bis er eine Münze fand – einen winzigen Kupferpfennig –, und warf sie ihr zu. Sie fing sie auf, nickte und trat näher. Er löste den Strick, der ihm als Gürtel diente, und seine Kutte glitt auseinander. Er war behaart wie ein Bär. Sie drängte ihn zurück, bis er im Moos lag. Eine ihrer Hände kroch spinnenartig durch das dichte, buschige Haar und schloss sich dann um seine Männlichkeit, während die andere Hand seine linke Brustwarze umkreiste. Er schloss die Augen und schob eine seiner riesigen Hände unter ihren Rock. Sie legte den Mund auf die Brustwarze, die sie gereizt hatte, ihre glatte Haut schimmerte weiß auf seinem pelzigen braunen Leib.

Sie schlug die Zähne in seine Brust. Er riss die Augen auf, schloss sie wieder und sie trank.

Sie saß rittlings auf ihm und labte sich. Und während sie trank, begann eine schwärzliche Flüssigkeit zwischen ihren Beinen herabzutröpfeln …

»Wisst Ihr, was die Reisenden von unserer Stadt fern hält? Was mit dem Waldvolk geschieht?«, fragte der Herr des Marktes.

Ich wickelte den Spiegel in seine Lederhülle und sagte meinem Besucher, dass ich es persönlich auf mich nehmen werde, den Wald wieder sicher zu machen.

Das musste ich tun, obwohl ich mich fürchtete. Aber ich war die Königin.

Eine törichte Frau wäre auf der Stelle in den Wald gegangen und hätte versucht, die Kreatur einzufangen, doch ich war bereits einmal töricht gewesen und wollte es kein zweites Mal sein.

Ich las in alten Büchern. Ich sprach mit den Zigeunerfrauen (die Zigeuner kamen jetzt über die Berge im Süden in unser Land, nicht mehr durch den Wald im Norden und Westen).

Ich traf meine Vorbereitungen und trug alles zusammen, was ich brauchen würde. Als der erste Schnee zu fallen begann, war ich bereit.

Nackt und allein begab ich mich auf die Zinnen des höchsten Turms meines Palastes. Dort stand ich unter freiem Himmel und der Wind kühlte meinen Leib aus, eine Gänsehaut kroch über Arme, Brust und Schenkel. Ich trug eine Silberschale und einen Korb, in dem ein Silbermesser lag, eine silberne Nadel, eine Zange, ein graues Gewand und drei grüne Äpfel.

Ich stellte alles auf den steinernen Boden und stand dort unbekleidet auf dem Turm, demütig vor dem Nachthimmel und dem Wind. Hätte irgendwer mich so gesehen, ich hätte ihn blenden lassen, doch niemand war dort, um mir nachzuspionieren. Wolken trieben über den Himmel, versteckten und enthüllten den abnehmenden Mond.

Ich ergriff das Silbermesser und schnitt in meinen linken Arm – eins-, zwei-, dreimal. Das Blut rann in die Schale und schien im Mondlicht schwarz statt rot.

Ich fügte das Pulver aus der Phiole hinzu, die ich um den Hals trug. Es war feiner brauner Staub aus getrockneten Kräutern, der Haut bestimmter Kröten und gewissen anderen Zutaten. Er verdickte das Blut und verhinderte, dass es gerann.

Nacheinander nahm ich die drei Äpfel und stach mit der Silbernadel kleine Löcher in die Schale. Dann legte ich die Äpfel in die Silberschale und ließ sie dort, während die ersten zarten Schneeflocken des Jahres langsam auf mich niederschwebten, auf die Äpfel und das Blut.

Als der Sonnenaufgang den Himmel erhellte, hüllte ich mich in den grauen Umhang, nahm die roten Äpfel nacheinander aus der Silberschale, wobei ich sie behutsam mit der Silberzange herausholte und sicherging, dass ich sie nicht berührte. Nichts von meinem Blut und dem braunen Pulver war in der Schale übrig, nichts als ein schwärzlicher Rückstand wie Grünspan.

Ich vergrub die Schale. Dann belegte ich die Äpfel mit einem Zauber, der sie begehrenswert und unwiderstehlich erscheinen ließ (einmal zuvor hatte ich an einer Brücke mich selbst mit einem ähnlichen Zauber belegt). Und so wurden sie die wundervollsten Äpfel der Welt und das leuchtende Rot ihrer Schale hatte die warme Farbe von frischem Blut.

Ich zog die Kapuze meines Umhangs tief ins Gesicht. Ich nahm bunte Bänder und Haarschmuck und legte ihn auf die Äpfel in den Binsenkorb und dann ging ich allein in den Wald, bis ich zu ihrer Behausung kam: einem steilen Sandsteinhügel, durchbrochen von tiefen Höhlen, die sich tief in den Felsen zogen.

Am Fuße des Hügels wuchsen Bäume und hohe Findlinge ragten dort auf. Lautlos schlich ich von Baum zu Baum, ohne auch nur einen Zweig oder ein gefallenes Blatt zu berühren. Schließlich fand ich ein Versteck, wo ich mich auf die Lauer legte und wartete.

Nach einigen Stunden kam eine Schar Zwerge aus einer der Höhlen: hässliche, missgestaltete, haarige kleine Männer, die ältesten Bewohner dieses Landes. Man sieht sie nur noch selten.

Sie verschwanden im Wald und keiner bemerkte mich, obgleich einer anhielt und an den Findling pinkelte, hinter dem ich mich verbarg.

Ich wartete. Niemand sonst kam heraus.

Ich trat an den Höhleneingang und rief mit der brüchigen Stimme einer alten Gevatterin hinein.

Die Narbe an meinem Handballen begann zu pochen und zu schmerzen, als sie aus der Dunkelheit auf mich zukam, nackt und allein.

Sie war jetzt dreizehn Jahre alt, meine Stieftochter, und ihre perfekte weiße Haut trug keinen Makel bis auf die Narbe auf der linken Brust, wo ihr vor langer Zeit das Herz herausgeschnitten worden war.

Die Innenseiten ihrer Schenkel waren von einer nassen, schwarzen Masse verschmiert.

Sie betrachtete mich neugierig, die ich ganz von meinem Mantel verhüllt war. Gierig sah sie mich an. »Schleifen, gute Frau«, krächzte ich. »Hübsche Bänder für Euer Haar …«

Sie lächelte und winkte mich näher. Ein Zucken. Die Narbe an meiner Hand zog mich zu ihr. Ich tat, was ich geplant hatte, aber bereitwilliger als geplant: Ich ließ meinen Korb fallen, kreischte auf wie das dumme alte Krämerweib, das ich zu sein vorgab, und rannte davon.

Mein grauer Mantel hatte die Farbe des Waldes und ich war schnell. Sie holte mich nicht ein.

Ich kehrte zurück zum Palast.

Ich sah es nicht. Aber man kann es sich unschwer vorstellen, wie das Mädchen hungrig und enttäuscht zur Höhle zurückkehrt und meinen verlorenen Korb am Boden liegen sieht.

Was tat sie wohl?

Ich vermute, sie spielte zuerst mit den Bändern, flocht sie in ihr rabenschwarzes Haar, legte sie um ihren bleichen Hals oder die zierliche Taille.

Dann räumte sie mit zunehmender Neugier den Stoff beiseite, um zu sehen, was sonst im Korb war, und entdeckte so die leuchtend roten Äpfel.

Sie dufteten natürlich nach frischen Äpfeln, doch zugleich rochen sie nach Blut. Und das Kind war hungrig. Ich stelle mir vor, wie sie einen Apfel auswählt, ihn an ihre Wange drückt, seine kühle Glätte auf der Haut spürt.

Dann öffnete sie den Mund und biss ein großes Stück ab.

Als ich in mein Gemach zurückkehrte, hatte das Herz, das dort zwischen den Äpfeln, den Schinken und getrockneten Würsten von den Dachsparren hing, aufgehört zu schlagen. Reglos und ohne Leben hing es dort und ich fühlte mich wieder sicher.

Der Schnee lag hoch in diesem Winter und die Schmelze kam spät. Wir waren alle hungrig, als endlich Frühling wurde.

Der Lenzmarkt verlief ein wenig reger in diesem Jahr. Das Waldvolk kam nicht zahlreich, aber es kam. Und Reisende aus den Ländern jenseits des Waldes fanden sich ein.

Ich sah die kleinen Männer aus der Waldhöhle. Sie kauften und tauschten ihre Waren gegen Glasstücke jeder Größe und Kristall- und Quarzklumpen. Sie zahlten gar mit Silbermünzen für ihr Glas. Beute von den Raubzügen meiner Stieftochter, dessen war ich sicher. Als sich herumsprach, was sie kauften, liefen die Stadtleute nach Hause und holten ihre Glückskristalle. Manche kamen mit nicht ganzen Fensterscheiben zum Markt zurück.

Ich erwog einen Moment, die kleinen Männer töten zu lassen, doch ich tat es nicht. Solange das Herz still und kalt und reglos an seinem Balken in meinem Gemach hing, war ich sicher. Und sicher waren auch die Bewohner des Waldes und letztlich auch die der Stadt.

Ich wurde fünfundzwanzig und es lag zwei Winter zurück, dass meine Stieftochter den vergifteten Apfel gekostet hatte, als der Prinz zu meinem Palast kam. Er war groß, sehr groß und hatte kalte grüne Augen und die schwärzliche Haut derer, die jenseits der Berge leben.

Er ritt mit kleinem Gefolge: genug Männer, um ihn zu verteidigen, aber nicht so viele, dass ein anderer Herrscher – wie ich, zum Beispiel – sie als Gefahr ansehen könnte.

Ich betrachtete die Dinge pragmatisch: Eine Allianz unserer Länder barg viele Vorteile. Das vereinte Königreich würde vom Wald bis ans Meer weit im Süden reichen. Ich dachte an meinen goldhaarigen, bärtigen Liebsten, der jetzt acht Jahre tot war, und in der Nacht ging ich zum Gemach des Prinzen.

Ich bin keine Unschuld, obgleich mein verstorbener Gemahl und einstiger König mein erster Liebhaber war, ganz gleich, was sie sagen.

Zuerst schien der Prinz voller Erregung. Er hieß mich mein Hemd ausziehen und mich ans geöffnete Fenster stellen, weit vom Feuer entfernt, bis meine Haut eisig kalt geworden war. Dann verlangte er, dass ich mich auf den Rücken legte, die Hände auf der Brust gefaltet und die Augen weit geöffnet, aber starr auf die Deckenbalken gerichtet. Er bat mich, so flach wie möglich zu atmen und mich nicht zu bewegen. Und er flehte mich an, nicht zu sprechen. Er spreizte meine Beine.

Und dann drang er in mich ein.

Als er zustieß, spürte ich, wie meine Hüften sich hoben, wie ich mich ihm anpasste, jeden der heftigen Stöße erwiderte. Ein Stöhnen entfuhr mir. Ich konnte es nicht zurückhalten.

Sein Glied glitt heraus. Ich streckte die Hand aus und berührte es: ein winziges, glitschiges Ding.

»Bitte«, sagte er leise. »Du darfst dich weder bewegen noch sprechen. Lieg einfach still auf dem Steinboden, so kalt und schön.«

Ich versuchte es, doch er hatte, was auch immer seine Manneskraft erregte, verloren und wenige Zeit später verließ ich den Prinzen, seine Flüche und Tränen verfolgten mich bis in meine Gemächer.

Er brach früh am nächsten Morgen mit all seinen Männer auf und sie ritten davon in den Wald.

Ich stelle mir vor, wie es sich anfühlte in seinen Lenden: ein Knoten der Enttäuschung am Ansatz seiner Männlichkeit. Ich stelle mir vor, wie er die bleichen Lippen zusammenpresste. Dann stelle ich mir vor, wie sein kleiner Trupp durch den Wald ritt und schließlich auf den aus Glas und Kristall errichteten Grabhügel meiner Stieftochter stieß. So bleich. So kalt. Nackt unter dem Glas, kaum mehr als ein Kind und tot.

In meiner Fantasie kann ich die plötzliche Härte in seiner Hose beinah fühlen, mir die Lust vorstellen, die sich seiner bemächtigte, die Dankgebete, die er ob dieser glücklichen Fügung vor sich hin murmelte. Und vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie er mit den kleinen haarigen Männern verhandelte, ihnen Gold und Gewürze für den schönen Leichnam in dem Kristallgrab bot.

Nahmen sie das Gold willig an? Oder sahen sie seine Männer auf ihren Rössern, mit ihren scharfen Schwertern und Speeren und erkannten, dass ihnen nichts anderes übrig blieb?

Ich weiß es nicht. Ich war nicht dort, habe nicht in meinen Spiegel geblickt. Ich kann nur ahnen …

Hände, die die Glasscheiben und Quarzklumpen von ihrem kalten Leib nehmen. Hände, die sanft ihre kalte Wange liebkosen, ihren kalten Arm bewegen, den Leichnam, der noch so frisch und biegsam war.

Nahm er sie dort vor ihrer aller Augen? Oder ließ er sie zu einem verborgenen Winkel schaffen, eh er sie bestieg?

Ich kann es nicht sagen.

Hat sich der Apfel aus ihrer Kehle gelöst, als er in sie hineinstieß? Oder öffnete sie langsam ihre Augen, dann den Mund, diese roten Lippen, schlug sie ihre scharfen gelben Zähne in seinen schwärzlichen Hals, sodass das Blut, welches Leben bedeutet, ihre Kehle hinabrann und das Stück meines vergifteten Apfels hinabspülte?

Ich stelle es mir vor, doch ich weiß es nicht.

Ich weiß nur so viel: Ich wachte mitten in der Nacht davon auf, dass das Herz wieder schlug und pulsierte. Salziges Blut tropfte auf mein Gesicht. Ich richtete mich auf. Meine Hand brannte und pochte, als hätte ich mir mit einem Stein auf den Handballen unterhalb des Daumens geschlagen.

Jemand hämmerte an meine Tür. Ich fürchtete mich, doch ich bin eine Königin und so zeigte ich meine Furcht nicht. Ich öffnete.

Erst betraten seine Männer mit ihren scharfen Schwertern und den langen Speeren mein Gemach und umringten mich.

Dann kam er herein und spuckte mir ins Gesicht.

Endlich trat sie ein, so wie in der Nacht, als ich gerade Königin geworden und sie ein Kind von sechs Jahren war. Sie schien völlig unverändert.

Sie riss den Zwirnsfaden, an dem ihr Herz hing, von seinem Balken und streifte die Vogelbeeren eine nach der anderen ab und auch die Knoblauchknolle, die nach all den Jahren klein und vertrocknet war. Dann schloss sie die Finger um ihr pochendes Herz – ein kleines Ding war es, nicht größer als das einer Ziege oder einer Bärin – und es lief über und pumpte sein Blut in ihre Hand.

Scharf wie Glas müssen ihre Nägel gewesen sein: sie ritzte sich die Brust damit auf, genau auf der purpurnen Narbe. Plötzlich klaffte das Fleisch auf, weit und blutlos. Sie leckte einmal über ihr Herz, als das Blut ihr durch die Finger rann, dann steckte sie das Herz tief in die offene Brust.

Ich sah, wie sie es tat. Sah, wie die Wunde sich wieder schloss. Und ich sah, wie die Narbe zu verblassen begann.

Ihr Prinz schien einen Augenblick erschrocken, legte aber nichtsdestotrotz den Arm um sie. Dann standen sie Seite an Seite da und warteten.

Und sie blieb kalt, die weiße Todesblüte blieb auf ihren Lippen und seine Lust war nicht geschmälert.

Sie sagten mir, dass sie heiraten wollten, dass die Königreiche in der Tat vereint sein würden. Und sie sagten, dass ich am Tage ihrer Hochzeit bei ihnen sein würde.

Es wird heiß hier drin.

Sie haben den Menschen schreckliche Dinge über mich erzählt, ein bisschen Wahrheit, um dem Gericht Würze zu verleihen, doch vermischt mit vielen Lügen.

Man band mich und hielt mich in einer winzigen steinernen Zelle unter dem Palast gefangen. Dort verbrachte ich den ganzen Herbst. Heute befreiten sie mich aus meinem Verlies, zogen mir die Lumpen aus, wuschen den Schmutz von meinem Körper und dann rasierten sie mir Kopf und Schoß und bestrichen meine Haut mit Gänseschmalz.

Der Schnee fiel, als sie mich hinaustrugen – zwei Mann an jedem Arm und jedem Bein. Nackt und schutzlos und durchfroren war ich und sie trugen mich zu diesem Ofen.

Meine Stieftochter stand dort mit ihrem Prinz. Sie betrachtete mich in meiner vollkommenen Entwürdigung und sagte nichts.

Als sie mich johlend und höhnend hineinstießen, sah ich eine Schneeflocke auf ihre Wange fallen und dort haften bleiben, ohne zu schmelzen.

Sie schlossen die Ofentür. Es wird immer heißer hier drinnen und draußen lachen sie und jubeln und schlagen gegen die Ofenwand.

Sie hat nicht gelacht, nicht gespottet, nicht gesprochen. Sie hat mich nicht verhöhnt und sich nicht abgewandt. Doch sie hat mich angeschaut und für einen Augenblick sah ich mein Spiegelbild in ihren Augen.

Ich werde nicht schreien. Die Befriedigung werde ich ihnen nicht geben. Meinen Körper können sie nehmen, doch meine Seele und meine Geschichte gehören mir allein und sollen mit mir sterben.

Das Gänsefett beginnt, auf meiner Haut zu schmelzen und zu glitzern. Ich werde keinen Laut von mir geben. Ich werde nicht mehr daran denken.

Stattdessen will ich an die Schneeflocke auf ihrer Wange denken.

Ich denke an ihr kohlschwarzes Haar, ihre Lippen, röter als Blut, und ihre Haut – sneewit.

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