Shoggoth’s Old Peculiar



Benjamin Lassiter kam langsam zu der unausweichlichen Überzeugung, dass die Frau, die Eine Wanderung entlang der britischen Küsten verfasst hatte, das Buch nämlich, das er in seinem Rucksack trug, niemals eine wie auch immer geartete Wanderung unternommen hatte und dass sie die britische Küste wahrscheinlich auch dann nicht erkennen würde, wenn dieselbe mit einer Blaskapelle durch ihr Schlafzimmer marschierte und mit lauter Stimme »Ich bin die britische Küste« sänge und sich dazu auf einer Flöte begleitete.

Seit fünf Tagen war er ihren Ratschlägen gefolgt und es hatte ihm abgesehen von Blasen und Rückenschmerzen nicht viel eingebracht. Alle englischen Küstenorte verfügen über eine Reihe von Bed-and-Breakfast-Pensionen, wo man Sie in der Nebensaison nur zu gern aufnehmen wird, lautete etwa einer ihrer Ratschläge. Ben hatte ihn durchgestrichen und an den Seitenrand gekritzelt: Alle englischen Küstenorte verfügen über ein paar Bed-and-Breakfast-Pensionen, deren Eigentümer in den letzten Septembertagen ihre Türen absperren, um sich nach Spanien, in die Provence oder sonst wohin zu verflüchtigen.

Er hatte noch einige andere Randbemerkungen geschrieben. So etwa: Bestelle auf keinen Fall je wieder Rühreier in einer Raststätte oder Was ist dieses Fisch-and-Chips-Dings? Und Nein, sind sie nicht. Letzteres stand neben einem Abschnitt, in dem behauptet wurde, die Einwohner der malerischen Dörfer entlang der britischen Küste seien immer hoch erfreut, einen jungen amerikanischen Touristen auf einer Wandertour zu sehen.

Fünf höllische Tage lang war Ben von Dorf zu Dorf gezogen, hatte süßen Tee und Pulverkaffee in billigen Schnellrestaurants getrunken und auf die raue, graue Felsenküste und das schieferfarbene Meer hinausgestarrt. Selbst in seinen zwei dicken Pullovern hatte er gefroren, er wurde nass und hatte nicht eine der versprochenen Sehenswürdigkeiten gefunden.

An einem Abend hatte er seinen Schlafsack im Wartehäuschen einer Bushaltestelle ausgerollt und begonnen, beschreibende Schlüsselwörter zu übersetzen: charmant hieß nichts sagend, entschied er; malerisch bedeutete hässlich, aber mit hübschem Ausblick, wenn der Regen je nachlässt und reizend hieß vermutlich so viel wie: Wir waren nie dort und kennen auch niemanden, der es gesehen hat. Darüber hinaus war er zu dem Schluss gekommen, dass ein Dorf umso langweiliger war, je exotischer der Name klang.

So kam es, dass Ben Lassiter am fünften Tag etwas nördlich von Bootle zu dem Dorf Innsmouth kam, das in seinem Reiseführer weder als charmant, malerisch oder reizend bezeichnet wurde. Weder der rostige Pier wurde beschrieben noch die Berge verrotteter Hummerfallen auf dem Kiesstrand.

Gleich an der Uferstraße lagen drei Bed-and-Breakfasts nebeneinander: Sea View, Mon Repose und Shub Niggeruth. Ein jedes hatte ein ausgeschaltetes Neonschild Zimmer frei im Fenster hängen und an jeder der drei Türen war mit Heftzwecken ein Zettel befestigt: Von Oktober bis März geschlossen.

Es gab keine Restaurants oder Cafés an der Uferstraße. In der Glastür des einsamen Fish-and-Chips-Ladens hing ein Schild: Geschlossen. Ben postierte sich vor dem Laden und wartete auf die Öffnungszeit, während das graue Nachmittagslicht langsam in die Dämmerung überging. Endlich kam eine kleine, etwas froschgesichtige Frau die Straße hinab und schloss die Ladentür auf. Ben fragte sie, wann der Laden öffne, und sie sah ihn verwirrt an und erwiderte: »Es ist Montag, mein Junge. Montags ist Ruhetag.« Dann betrat sie ihre Fish-and-Chips-Bude, verriegelte die Tür und ließ Ben kalt und hungrig draußen stehen.

Ben war in einer trockenen Stadt in Nordtexas aufgewachsen. Wasser gab es dort nur in Swimmingpools und die einzig bekannte Art der Fortbewegung war die in klimatisierten Pick-ups. So hatte ihn die Vorstellung gereizt, durch eine Küstenlandschaft zu wandern, obendrein in einem Land, wo man so etwas wie Englisch sprach. Bens Heimatstadt war im doppelten Sinne trocken: Voller Stolz pochte man dort darauf, dass der Alkohol in dieser Stadt schon dreißig Jahre bevor der Rest von Amerika die Prohibition ausrief, verboten worden und auch nach deren Ende nie wieder zugelassen worden sei. So war alles, was Ben über Pubs wusste, dass es Orte der Sünde waren, so ähnlich wie Bars, nur mit hübscheren Namen. Doch die Autorin von Eine Wanderung entlang der britischen Küsten deutete an, dass man im Pub Lokalkolorit und örtliche Neuigkeiten finden konnte, dass man »eine Runde geben« musste und dass es in manchen Pubs auch etwas zu essen gab.

Der Pub von Innsmouth hieß The Book of Dead Names und das Schild über der Tür setzte Ben davon in Kenntnis, dass der Eigentümer ein gewisser A. Al-Hazred war, der eine amtliche Lizenz zum Ausschank von Wein und Spirituosen besaß. Ben überlegte, ob der Name bedeutete, dass es hier indisches Essen gab. Das hatte er in Bootle kennen gelernt und ziemlich gern gemocht. Er hielt kurz bei den Schildern, die den Weg zur Public Bar und zur Saloon Bar wiesen, und fragte sich, ob eine Public Bar in England vielleicht privat sei, so wie eine Public School. Schließlich entschied er sich für die Saloon Bar, weil sich das nach einem Western anhörte.

Der Raum war beinah völlig verlassen. Es roch nach dem verschütteten Bier der letzten Woche und dem abgestandenen Zigarettenqualm von vorgestern. Hinter der Bar stand eine pummelige Frau mit blond gefärbten Haaren. In einer Ecke saßen zwei Männer in langen grauen Regenmänteln und Schals. Sie spielten Domino und tranken ein dunkelbraunes, schaumgekröntes bierartiges Gebräu aus gläsernen Wabenmusterkrügen.

Ben trat an die Bar. »Gibt es hier etwas zu essen?«

Die Kellnerin kratzte sich einen Moment an der Nase, dann räumte sie brummend ein, sie könne ihm wohl ein Ploughman’s machen.

Ben hatte nicht die geringste Ahnung, worum es sich dabei handeln mochte, und wünschte sich zum hundertsten Mal, Eine Wanderung entlang der britischen Küsten enthielte so etwas wie einen britisch-amerikanischen Sprachführer. »Ist das was zu essen?«, fragte er.

Sie nickte.

»Okay. Dann hätte ich das gern.«

»Und zu trinken?«

»Cola, bitte.«

»Haben wir nicht.«

»Dann Pepsi.«

»Pepsi haben wir auch nicht.«

»Was denn? Sprite? 7UP? Fanta?«

Sie schien noch verwirrter als zuvor. Dann sagte sie: »Ich glaub, wir haben hinten noch ein, zwei Flaschen Kirschlimo.«

»In Ordnung.«

»Das macht dann fünf Pfund zwanzig und ich bring Ihnen das Ploughman’s, wenn es fertig ist.«

Ben setzte sich an einen kleinen, etwas klebrigen Holztisch, trank ein sprudelndes Zeug, das leuchtend rot war und ebenso chemisch schmeckte, wie es aussah, und entschied, dass ein Ploughman’s vermutlich irgendeine Art Steak war. Ihm war durchaus bewusst, dass dieser Schluss von Wunschdenken beeinflusst war. Er stellte sich Pflüger in der ländlichen Idylle vergangener Tage vor, die bei Sonnenuntergang ihre fetten Ochsen von den frisch gepflügten Feldern führten, weil er inzwischen mit Freuden und nur ein bisschen fremder Hilfe einen ganzen Ochsen hätte vertilgen können.

»Hier, bitte. Ihr Ploughman’s«, sagte die Kellnerin und stellte einen Teller vor ihn.

Dieses Ploughman’s war eine herbe Enttäuschung: ein rechteckiges Stück eines scharf schmeckenden Käses, ein Salatblatt, eine unterentwickelte Tomate mit einem Daumenabdruck darauf, ein Häuflein einer breiartigen braunen Masse, die wie saure Marmelade schmeckte, und eine kleine, harte, altbackene Semmel. Ben war schon vorher zu der Erkenntnis gekommen, dass die Briten Essen offenbar als eine Art Strafe betrieben. Mühsam kaute er auf dem Käse und Salatblatt und verfluchte jeden Pflüger in England, der sich mit so einem Schweinefraß zufrieden gab.

Die Männer in den grauen Regenmänteln, die in der Ecke saßen, beendeten ihr Dominospiel, brachten ihre Gläser zu Ben herüber und setzten sich zu ihm. »Was trinken Sie da?«, fragte einer von ihnen neugierig.

»Es heißt Kirschlimonade«, erklärte er. »Es schmeckt, als komme es aus einer Chemiefabrik.«

»Interessant, dass Sie das sagen«, erwiderte der kleinere der Männer. »Wirklich interessant, dass Sie das sagen. Weil ich hatte nämlich mal einen Freund, der in einer Chemiefabrik gearbeitet hat, und der hat nie Kirschlimonade getrunken.« Er legte eine dramatische Pause ein und nippte dann an seinem braunen Gesöff. Ben wartete, dass er fortfuhr, aber offenbar kam nichts mehr. Die Konversation war versiegt.

Ben bemühte sich, höflich zu wirken, und fragte deshalb: »Und was trinken Sie da?«

Der größere der beiden Fremden, der trübsinnig vor sich hin gestarrt hatte, schien plötzlich deutlich fröhlicher. »Das ist aber wirklich furchtbar freundlich von Ihnen. Für mich ein Shoggoth’s Old Peculiar, bitte.«

»Für mich auch«, sagte sein Freund. »Ich könnt ein Shoggoth’s so runterschütten. He, ich wette, das wär ein guter Werbeslogan. ›Ich könnte ein Shoggoth’s so runterschütten‹. Ich sollte mal hinschreiben und es vorschlagen. Die wären bestimmt froh.«

Ben ging zum Tresen mit der Absicht, die Kellnerin um zwei Pints Shoggoth’s Old Peculiar und ein Glas Wasser für sich selbst zu bitten, doch sie hatte schon drei Gläser mit dem dunklen Bier gefüllt. Na ja, warum nicht aufs Ganze gehen, dachte er. Es konnte bestimmt nicht schlimmer schmecken als die Kirschlimonade. Er probierte einen Schluck. Das Bier hatte einen Geschmack, den Werbeleute, so vermutete er, wohl als vollmundig beschreiben würden, obwohl sie bei genauerem Nachfragen einräumen müssten, dass der fragliche Mund wenigstens zur Hälfte mit Ziegenfleisch gefüllt wäre.

Er bezahlte für die drei Biere und brachte die Gläser zu seinen neuen Freunden zurück.

»Und was treiben Sie hier in Innsmouth?«, fragte der Größere. »Ich nehme an, Sie sind einer unserer amerikanischen Vettern und sind gekommen, um sich das berühmteste englische Dorf anzusehen.«

»Das in Amerika wurde nach diesem hier benannt, wissen Sie«, fügte der Kleinere hinzu.

»Gibt es ein Innsmouth in den Staaten?«, fragte Ben.

»Das will ich meinen«, erwiderte der kleine Mann. »Er hat ständig darüber geschrieben. Er, dessen Namen wir nicht nennen.«

»Wie bitte?«, sagte Ben.

Der Kleine sah über die Schulter und zischte dann ziemlich laut: »H.P. Lovecraft!«

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst den Namen nicht aussprechen«, schimpfte sein Freund und trank an seinem dunkelbraunen Bier. »H.P. Lovecraft. H.P. Blödmann Lovecraft. H. Blödmann P. Blödmann Love Blödmann craft.« Er unterbrach sich, um Atem zu schöpfen. »Was wusste der schon, he? Ich meine, was wusste der denn schon?«

Ben nippte an seinem Bier. Der Name kam ihm vage bekannt vor. Beim Durchwühlen der alten Vinylschallplatten ganz hinten in der Garage seines Vaters war er darüber gestolpert. »War das nicht eine Rockband?«

»Ich rede von keiner Rockband. Ich meine den Schriftsteller.«

Ben hob die Schultern. »Nie gehört«, gab er zu. »Ich lese eigentlich nur Western. Und technische Handbücher.«

Der kleine Mann stieß seinen Freund an. »Da, Wilf. Hast du das mitgekriegt? Er hat nie von ihm gehört.«

»Na ja. Ist nichts gegen einzuwenden. Ich hab früher auch diesen Zane Grey gelesen«, antwortete der Größere. »Auch wenn das nichts ist, worauf man besonders stolz sein kann. Dieser Kerl … Wie, sagten Sie, war doch gleich Ihr Name?«

»Ben. Ben Lassiter. Und Sie sind …?«

Der kleine Mann lächelte. Er sah furchtbar froschartig aus, dachte Ben. »Ich bin Seth«, stellte er vor. »Und mein Freund hier heißt Wilf.«

»Angenehm«, sagte Wilf.

»Freut mich«, erwiderte Ben.

»Wenn ich ehrlich bin, muss ich Ihnen zustimmen«, meinte der Kleine.

»Ah ja?«, fragte Ben verdutzt.

Der kleine Mann nickte. »Ja. H.P. Lovecraft. Ich weiß nicht, warum so ein Gewese um ihn gemacht wird. Der konnte doch noch nicht mal schreiben.« Er schlürfte sein Bier und leckte sich mit einer langen, beweglichen Zunge den Schaum von den Lippen. »Ich meine, seht euch doch nur mal an, was für Wörter der benutzt hat. Abstrus. Wissen Sie, was abstrus bedeutet?«

Ben schüttelte den Kopf. Wie es schien, saß er mit zwei Fremden in einem englischen Pub, diskutierte über Literatur und trank Bier dabei. Einen Augenblick fragte er sich, ob er sich vielleicht, als er gerade mal nicht hingeschaut hatte, in jemand anders verwandelt hatte. Je weiter der Pegel in seinem Glas absank, umso erträglicher wurde der Geschmack des Biers und langsam vertrieb es den hartnäckigen Nachgeschmack der Kirschlimonade.

»Abstrus. Heißt seltsam. Eigenartig. Komisch. Das bedeutet es. Ich hab’s nachgeschlagen. Im Lexikon. Und sphärenförmig

Ben schüttelte wieder den Kopf.

»Der sphärenförmige Mond. Bedeutet rund. Der Mond war voll. Und wie heißt das Wort noch mal, wie er uns immer genannt hat? Dingsda. Sag schon. Fängt mit b an. Liegt mir auf der Zunge …«

»Bastarde?«, schlug Wilf vor.

»Quatsch. Dings. Du weißt doch. Batrachisch. Das war’s. Soll froschartig heißen.«

»Moment mal«, unterbrach Wilf. »Ich dachte, das hat was mit irgendwelchen Kamelen zu tun.«

Seth schüttelte entschieden den Kopf. »Frösche, hundert pro. Keine Kamele. Frösche.«

Wilf schlürfte sein Shoggoth’s. Ben nippte vorsichtig an seinem, ohne große Lust.

»Und was weiter?«, fragte Ben.

»Sie haben zwei Höcker«, warf Wilf, der größere, ein.

»Frösche?«, fragte Ben.

»Nein, nein. Das Batrachiarkamel. Wohingegen das durchschnittliche Dromedar nur einen Höcker hat. Für die lange Reise durch die Wüste. Das ist es, was sie essen.«

»Frösche?«, fragte Ben.

»Kamelhöcker.« Wilf fixierte Ben mit seinen hervorquellenden, gelblichen Augen. »Jetzt hör mir mal zu, mein Junge: Wenn du mal drei oder vier Wochen in einer unwegsamen Wüste gewesen bist, wird ein Teller Kamelhöcker dir auch ziemlich appetitlich vorkommen.«

Seth schnaubte verächtlich. »Du hast doch noch nie Kamelhöcker gegessen.«

»Hätt ich aber«, entgegnete Wilf.

»Ja, aber hast du nicht. Du bist doch noch nie in der Wüste gewesen.«

»Na ja, aber sagen wir mal, ich wär auf Pilgerfahrt zum Grab von Nyarlathotep …«

»Der schwarze König der Altvordern, der des Nachts aus dem Osten kommt und den du nicht erkennen wirst, meinst du?«

»Natürlich mein ich den.«

»Ich frag ja nur.«

»Blöde Frage, wenn du mich fragst.«

»Du hättest doch jemand anders mit demselben Namen meinen können.«

»Hör mal, das ist nicht gerade ein gebräuchlicher Name, oder? Nyarlathotep. Davon wird’s wohl kaum zwei geben, oder? ›Mein Name ist Nyarlathotep, was für ein Zufall, dich hier zu treffen, ist ja komisch, dass es zwei von uns gibt.‹ Wohl kaum. Wie auch immer, ich irre also durch die endlose Wüste und denk mir: Ich würd alles geben für ein schönes Stück Kamelhöcker …«

»Aber hast du nicht, stimmt’s? Du bist doch noch nie im Leben aus Innsmouth rausgekommen.«

»Ähm … nein.«

»Da hast du’s.« Seth sah Ben triumphierend an. Dann beugte er sich vor und flüsterte Ben ins Ohr: »So ist er eben, wenn er ein paar Bierchen intus hat.«

»Das hab ich gehört«, sagte Wilf.

»Schön«, antwortete Seth. »Wie auch immer. H.P. Lovecraft. Schrieb einen seiner behämmerten Sätze. Etwa: ›Der sphärenförmige Mond hing tief über der abstrusen Welt der batrachischen Einwohner des squamösen Dulwich.‹ Was heißt das? Was heißt das? Ich sag’ euch, was es verdammt noch mal heißt: Es heißt, dass der Mond voll war und alle, die in Dulwich lebten, ein Haufen verrückter Frösche waren. Das soll es bedeuten.«

»Was war das andere Wort, das du gesagt hast?«, fragte Wilf.

»Was?«

»Squamös. Was soll das bedeuten?«

Seth zuckte die Schultern. »Keine Ahnung«, räumte er ein. »Aber er hat es ständig gebraucht.«

Es folgte wieder in kurzes Schweigen.

»Ich bin Student«, eröffnete Ben ihnen. »Ich werde Metallurge.« Irgendwie war es ihm gelungen, sein ganzes Pint Shoggoth’s Old Peculiar auszutrinken. Das erste alkoholische Getränk seines Lebens, erkannte er, auf angenehme Weise schockiert. »Und was macht ihr so?«

»Wir sind Diener«, sagte Wilf.

»Des Großen Cthulhu«, fügte Seth stolz hinzu.

»Ach ja? Und was genau tut ihr?«, wollte Ben wissen.

»Meine Runde«, verkündete Wilf. »Warte einen Moment.« Er ging an die Bar und kam mit drei gefüllten Gläsern zurück. »Nun ja, wir tun nicht gerade besonders viel«, erklärte er dann. »Unser Dienst ist nicht gerade eine Schinderei. Was natürlich daran liegt, dass er schläft. Oder genauer gesagt, er schläft nicht direkt. Wenn du’s ganz genau wissen willst: Er ist tot

»›In seinem Heim im versunkenen R’lyeh liegt Cthulhu tot und träumt‹«, warf Seth ein. »Oder, wie der Dichter sagt: ›Tot ist nicht, was ewig liegen kann …‹«

»›Doch in seltsamen Äonen …‹«, fügte Wilf hinzu.

»Und mit seltsam meint er wirklich verdammt komisch …«

»Genau. Wir reden hier absolut nicht von irgendwelchen gewöhnlichen Äonen.«

»›Doch in seltsamen Äonen mag selbst der Tod sterben.‹«

Ein wenig überrascht stellte Ben fest, dass er offenbar noch ein vollmundiges Shoggoth’s Old Peculiar trank. Irgendwie war der ranzige Ziegengeschmack beim zweiten Glas nicht mehr so schlimm. Und er war selig festzustellen, dass er keinen Hunger mehr hatte, seine blasenübersäten Füße nicht mehr schmerzten und seine Tischnachbarn faszinierende, intelligente Gesprächspartner waren, deren Namen er nicht so richtig auseinander halten konnte. Er hatte nicht genug Erfahrung mit Alkohol, um zu erkennen, dass dies eins der Symptome beim zweiten Glas Shoggoth’s Old Peculiar war.

»Und im Moment ist das Geschäft eher ruhig«, erklärte Seth oder möglicherweise Wilf. »Es besteht hauptsächlich aus warten.«

»Und beten«, fügte Wilf hinzu, wenn es nicht Seth war.

»Und beten. Aber ziemlich bald wird sich das alles ändern.«

»Ah ja?«, fragte Ben. »Wieso?«

»Na ja.« Der Größere lehnte sich vertraulich zu ihm herüber. »Es kann jetzt jeden Tag geschehen, dass der Große Cthulhu (vorübergehend verstorben), der unser Boss ist, in seiner Behausung unter dem Meer aufwacht.«

»Und dann«, fuhr der Kleinere fort, »wird er gähnen und sich rekeln und anziehen …«

»Vermutlich auch zur Toilette gehen, würde mich nicht wundern.«

»Und vielleicht die Zeitung lesen.«

»Und wenn er all das erledigt hat, wird er aus den Tiefen des Ozeans aufsteigen, um die Welt zu verschlingen.«

Ben fand das unbeschreiblich komisch. »Wie ein Ploughman’s«, sagte er.

»Ganz recht, ganz recht. Wohl gesprochen, mein junger amerikanischer Freund. Der Große Cthulhu wird die Welt vertilgen wie ein Ploughman’s Lunch und nichts auf seinem Teller übrig lassen als ein Häuflein Branston Pickle.«

»Das ist das braune Zeug?«, fragte Ben. Sie versicherten ihm, dass es das sei, und er ging an die Bar und holte noch eine Runde Shoggoth’s Old Peculiar.

Er konnte sich später kaum an die Unterhaltung erinnern, die noch folgte. Er entsann sich, dass er sein Glas geleert hatte, und dann hatten seine neuen Freunde ihn zu einem Rundgang durchs Dorf eingeladen und ihm die verschiedenen Sehenswürdigkeiten gezeigt. »Da leihen wir unsere Videos aus und das große Gebäude da drüben ist der Namenlose Tempel Unaussprechlicher Götter und samstagmorgens ist in der Krypta immer ein Trödelmarkt …«

Er erklärte ihnen seine Theorie über seinen Reiseführer und versicherte ihnen überschwänglich, dass Innsmouth sowohl charmant als auch malerisch sei. Er sagte ihnen, sie seien die besten Freunde, die er je gehabt habe, und dass Innsmouth einfach reizend sei.

Der Mond war voll und in seinem bleichen Licht hatten seine neuen Freunde eine frappierende Ähnlichkeit mit riesigen Fröschen. Oder vielleicht auch mit Kamelen.

Die drei spazierten bis zum Ende des verrosteten Piers und Seth und/oder Wilf zeigte Ben die Ruinen des versunkenen R’lyeh draußen in der Bucht, das unter der Wasseroberfläche im Mondlicht schimmerte, und dort überkam Ben ein, wie er zu erklären versuchte, plötzlicher und unvorhersehbarer Anfall von Seekrankheit und er übergab sich heftig und scheinbar endlos über die Metallbrüstung in die schwarze See …

Danach wurde alles ein bisschen eigenartig.



Ben Lassiter erwachte frierend am Hang eines Hügels mit hämmerndem Schädel und einem ekligen Geschmack im Mund. Sein Kopf ruhte auf seinem Rucksack. Felsige Heidelandschaft umgab ihn auf allen Seiten und er entdeckte keinerlei Anzeichen einer Straße oder eines Dorfes, weder malerisch noch charmant oder reizend, nicht einmal pittoresk.

Er taumelte und hinkte fast eine Meile zur nächsten Straße, der er folgte, bis er eine Tankstelle erreichte.

Man sagte ihm, es gebe hier in der Gegend nirgendwo ein Dorf namens Innsmouth. Kein Dorf mit einem Pub, der The Book of Dead Names heiße. Ben berichtete von zwei Männern, Wilf und Seth, und einem Freund von ihnen, der irgendwo unter dem Meer schlief, wenn er nicht tot war. Die Leute von der Tankstelle erklärten ihm, sie hielten keine großen Stücke auf amerikanische Hippies, die hier durch die Gegend streiften und Drogen nahmen, und dass er sich nach einer schönen Tasse Tee und einem Gurken-Thunfisch-Sandwich bestimmt besser fühlen würde, doch für den Fall, dass er darauf bestehe, durch die Gegend zu streifen und Drogen zu nehmen, würde der junge Ernie, der die Nachmittagsschicht hatte, ihm sicher nur zu gern ein Beutelchen mit seinem selbst gezüchteten Cannabis verkaufen, wenn er nach der Mittagspause noch mal wiederkommen könnte.

Ben zog seine Wanderung entlang der britischen Küsten aus der Tasche und versuchte, Innsmouth darin zu finden, um ihnen zu beweisen, dass er es nicht geträumt hatte, aber er konnte die Seite nicht finden. Falls es sie je gegeben hatte. Doch etwa in der Mitte des Buches war eine Seite großteils herausgerissen worden.

Und dann rief Ben sich ein Taxi, das ihn zum Bahnhof in Bootle brachte. Von dort nahm er den Zug nach Manchester, von dort einen Flieger nach Chicago, wo er umstieg nach Dallas, von wo aus er weiter nach Norden flog und schließlich fuhr er mit einem Mietwagen heim.

Er fand die Gewissheit, sechshundert Meilen vom Meer entfernt zu leben, äußerst beruhigend, obwohl er später nach Nebraska zog, um die Entfernung zum Meer zu vergrößern. Es gab Dinge, die er gesehen hatte oder glaubte gesehen zu haben in jener Nacht unter dem alten Pier, die er einfach nicht mehr aus seinem Kopf bekam. Es gab Dinge, die unter grauen Regenmänteln lauerten, die besser kein Mensch wissen sollte. Squamös. Er brauchte es nicht nachzuschlagen. Er wusste es. Sie waren squamös.

Ein paar Wochen nach seiner Heimkehr schickte Ben sein mit Randbemerkungen versehenes Exemplar von Eine Wanderung entlang der britischen Küsten über den Verlag an die Autorin. Er fügte einen ausführlichen Brief mit einer Vielzahl hilfreicher Verbesserungsvorschläge für zukünftige Auflagen bei. Außerdem bat er die Autorin um eine Kopie der Seite, die aus seinem Buch herausgerissen worden war, weil er hoffte, das werde seine Ängste zerstreuen. Doch insgeheim war er erleichtert, als die Tage zu Monaten wurden, Monate zu Jahren und Jahre zu Jahrzehnten, und sie niemals antwortete.




Загрузка...