Der Goldfischteich und andere Geschichten



Es regnete, als ich in L.A. ankam, und mir kam es vor, als sei ich plötzlich von hunderten alter Filme umzingelt.

Ein Chauffeur in einer schwarzen Uniform wartete vor dem Flughafengebäude auf mich. Er hielt ein Stück weiße Pappe in der Hand, auf der mein Name in akkuraten, wenn auch falschen Buchstaben stand.

»Ich bringe Sie in Ihr Hotel, Sir«, sagte der Fahrer. Er schien ein wenig enttäuscht, dass ich kein richtiges Gepäck hatte, das er hätte tragen können, nur eine verbeulte alte Reisetasche, in die ich ein paar TShirts, Unterwäsche und Socken gestopft hatte.

»Ist es weit?«

Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht fünfundzwanzig, dreißig Minuten. Sind Sie schon mal in L.A. gewesen?«

»Nein.«

»Na ja, ich sag immer, L.A. ist eine Dreißig-Minuten-Stadt. Wo auch immer Sie hinwollen, es sind dreißig Minuten Fahrt bis dorthin. Nie mehr.«

Er verstaute meine Tasche im Kofferraum und hielt mir die Tür zur Rückbank auf. Ich stieg ein.

»Und woher kommen Sie?«, fragte er, verließ das Flughafengelände und fädelte sich in den Verkehr ein. Neonlichter spiegelten sich im nassen, glänzenden Asphalt der Straße.

»Aus England.«

»Aus England?«

»Ja. Waren Sie mal da?«

»Nein, Sir. Hab Filme gesehen. Sind Sie Schauspieler?«

»Schriftsteller.«

Er verlor das Interesse. Hin und wieder fluchte er leise auf die anderen Verkehrsteilnehmer.

Plötzlich riss er das Steuer herum, wechselte die Spur und fuhr an einer Karambolage, in die vier Fahrzeuge verwickelt waren, vorbei.

»Wenn es in dieser Stadt mal ein paar Tropfen regnet, vergessen plötzlich alle, wie man Auto fährt«, erklärte er mir. Ich ließ mich tiefer ins Polster der Rückbank gleiten. »In England regnet es viel, hab ich gehört.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

»Hin und wieder.«

»Hin und wieder?« Er lachte. »Regnet jeden Tag in England. Und dann der Nebel. Wirklich dichter grauer Nebel.«

»Eigentlich nicht.«

»Was soll das heißen?«, fragte er verwirrt, plötzlich in der Defensive. »Ich hab doch Filme gesehen.«

Danach schwiegen wir, während wir durch den Hollywood-Regen fuhren, aber nach einer Weile sagte er: »Fragen Sie nach dem Zimmer, in dem Belushi gestorben ist.«

»Wie bitte?«

»Belushi. John Belushi. Er ist in Ihrem Hotel gestorben. Drogen. Haben Sie nicht davon gehört?«

»Ach so, doch, doch.«

»Sie haben einen Film über seinen Tod gedreht. Mit irgendeinem fetten Typen, sah ihm kein bisschen ähnlich. Aber keiner erzählt die wahre Geschichte, wie er gestorben ist. Versteh’n Sie, er war nicht allein. Zwei Typen waren bei ihm. Die Studios wollten keinen Skandal. Aber wenn Sie den ganzen Tag Leute durch die Gegend kutschieren, hören Sie allerhand.«

»Wirklich?«

»Robin Williams und Robert de Niro. Sie waren bei ihm. Und alle drei waren sie voll breit auf Angel Dust.«

Das Hotel war ein möchtegern-gotisches Chateau. Ich verabschiedete mich von meinem Chauffeur, checkte ein und fragte nicht nach dem Zimmer, in dem Belushi gestorben war.

Durch den Regen ging ich zu meinem Chalet, meine Reisetasche in einer Hand, in der anderen eine Schlüsselsammlung, die, so hatte der Portier mir versichert, mir Tür und Tor öffnen würde. Die Luft roch nach nassem Staub und seltsamerweise nach Hustensaft. Es dämmerte, war beinah schon dunkel.

Überall plätscherte Wasser. In Rinnsalen und Sturzbächen floss es über den Innenhof. Es lief in einen kleinen Fischteich, der wie ein natürlicher Felsvorsprung aus der Mauer ragte, die den Hof umgab.

Ich stieg die Stufen zu meinem kleinen, feuchten Zimmer hinauf. Kaum vorstellbar, dass ein Star an einem so nichts sagenden Ort gestorben sein sollte.

Das Bett schien ein wenig klamm und der Trommelrhythmus des Regens auf der Klimaanlage konnte einen in den Wahnsinn treiben.

Ich sah ein bisschen fern – die Wiederholungs-Wüste: ›Cheers‹ blendete unmerklich in ›Taxi‹ über, das wiederum zu einer schwarz-weiß flimmernden Episode der ›Lucy Show‹ wurde. Dann schlief ich ein.

Ich träumte von Drummern, die in nur dreißig Minuten Entfernung ein unablässiges Trommelkonzert abhielten.

Das Telefon weckte mich. »Hey-hey-hey-hey! Gut gelandet?«

»Wer ist da?«

»Jacob vom Studio. Wie sieht’s aus mit Frühstück, hey-hey?«

»Frühstück …?«

»Kein Problem. Ich hol Sie in dreißig Minuten an Ihrem Hotel ab. Tisch ist reserviert. Alles geritzt. Haben Sie meine Nachrichten bekommen?«

»Ich …«

»Hab sie gestern Abend durchgefaxt. Also, bis gleich.«

Es regnete nicht mehr. Der Sonnenschein war warm und hell: anständiges Hollywood-Licht. Ich ging zum Hauptgebäude hinüber, lief auf einem Teppich zerdrückter Eukalyptusblätter – das Hustensaftaroma von gestern Abend.

Man gab mir einen Umschlag mit einem Fax darin: mein Terminplan für die nächsten Tage, mit Ermunterungen und handschriftlichen Optimismusbotschaften am Rand wie etwa: ›Das wird ein Blockbuster!‹ oder ›Wir machen Filmgeschichte oder was denken Sie!‹ Das Fax war von Jacob Klein unterschrieben, offenbar die Stimme am Telefon. Ich hatte nie zuvor mit Jacob Klein zu tun gehabt.

Ein roter Sportwagen hielt vor dem Hotel. Der Fahrer stieg aus und winkte. Ich trat zu ihm. Er hatte einen kurzen Pfeffer-und-Salz-Bart, ein Lächeln, das er bei jeder Bank hätte verpfänden können, und ein Goldkettchen um den Hals. In der Hand hielt er mein Buch: Menschensöhne.

Er war Jacob. Wir gaben uns die Hand.

»Ist David auch hier? David Gambol?«

David Gambol war der Mann, mit dem ich telefoniert, die Reise und dieses Treffen hier arrangiert hatte. Er war nicht der Produzent. Ich war nicht ganz sicher, was genau er war. Er selbst hatte sich als »mit dem Projekt betraut« bezeichnet.

»David arbeitet nicht mehr für das Studio. Ich bin jetzt mehr oder weniger zuständig für das Projekt und ich will, dass Sie wissen, dass ich echt total hin und weg bin, hey-hey.«

»Ist das gut?«

Wir stiegen in den Wagen. »Wo ist die Besprechung?«, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. »Es ist keine Besprechung«, sagte er. »Ein Frühstück.« Ich war verwirrt. Er erbarmte sich und erklärte: »Eine Art Vorbesprechung vor der Besprechung.«

Nach etwa einer halben Stunde Fahrt kamen wir zu einem Einkaufszentrum und unterwegs erzählte Jacob mir, wie gut mein Buch ihm gefallen habe und wie glücklich er sei, mit dem Projekt zu tun zu haben. Es sei seine Idee gewesen, mich in dem Hotel unterzubringen. »Da kann man die Art von Hollywood-Erfahrung machen, die man im Four Seasons oder im Ma Maison nie kriegen würde, stimmt’s?« Dann wollte er wissen, ob ich das Chalet bewohnte, in dem John Belushi gestorben war. Ich sagte, ich wisse es nicht, habe aber meine Zweifel.

»Sie wissen natürlich, wer bei ihm war, als er starb? Die Studios haben alles vertuscht.«

»Nein. Wer denn?«

»Meryl und Dustin.«

»Sie meinen Meryl Streep und Dustin Hoffman?«

»Klar.«

»Woher wissen Sie das?«

»Die Leute quatschen. Das hier ist Hollywood, versteh’n Sie.«

Ich nickte, aber in Wirklichkeit verstand ich nicht besonders viel.



Manche Leute behaupten, es gäbe Bücher, die sich selbst schreiben, aber das ist eine Lüge. Kein Buch schreibt sich von allein. Es braucht Denkarbeit und Recherche und Kreuzschmerzen und Notizen und mehr Zeit und Arbeit, als ihr euch vorstellen könnt.

Außer Menschensöhne, denn das hatte sich mehr oder weniger von selbst geschrieben.

Die nervtötende Frage, die man uns stellt – damit meine ich uns Schriftsteller – ist: »Woher bekommen Sie Ihre Ideen?«

Und die Antwort lautet: Konfluenz. Die Dinge laufen zusammen. Die richtigen Zutaten und plötzlich: Abrakadabra!

Es begann mit einem Dokumentarfilm über Charles Manson, den ich eigentlich nur zufällig sah (er war als Drittes auf einer Videokassette, die ich mir von einem Freund geborgt hatte, folgte den beiden Aufnahmen, die ich eigentlich hatte sehen wollen): In epischer Breite wurde die ganze Story aufgerollt. Mansons Verhaftung, die Anfangsphase, als alle dachten, er sei unschuldig, und die Regierung wolle nur einen Schlag gegen die Hippies führen. Und da auf dem Bildschirm war Manson – ein charismatischer, gut aussehender, messianischer Redner. Einer, für den man barfuß in die Hölle gegangen wäre. Einer, für den man töten konnte.

Der Prozess begann und nach ein paar Wochen war der charismatische Redner verschwunden. Statt seiner saß ein stammelndes, affenartiges Wrack auf der Anklagebank, ein Kreuz in die Stirn geritzt. Was immer ihm Genie eingehaucht hatte, war nicht mehr vorhanden. Verschwunden. Aber es war da gewesen.

Der Dokumentarfilm ging weiter: Ein Exsträfling mit stechendem Blick, der mit Manson zusammen gesessen hatte, erklärte: »Charlie Manson? Hör mal, Charlie war ein Witz. Ein Nichts. Wir haben uns über ihn lustig gemacht. Verstehst du? Er war eine absolute Null!«

Und ich nickte. Es hatte also eine Zeit gegeben, bevor Manson der charismatische König wurde. Ich dachte an eine Art Segnung, eine Gabe, die wieder weggenommen wird.

Wie besessen verschlang ich den Rest der Dokumentation. Dann, während ein Schwarzweißfoto eingeblendet war, sagte der Sprecher etwas. Ich spulte zurück und er sagte es noch mal.

Ich hatte eine Idee. Ich hatte ein Buch, das sich von selbst schrieb.

Was der Sprecher gesagt hatte, war dies: Die Kinder, die Manson mit den Frauen der »Family« gezeugt hatte, waren auf Kinderheime im ganzen Land verteilt und zur Adoption freigegeben worden. Das Vormundschaftsgericht hatte ihnen neue Nachnamen gegeben.

Und ich dachte über ein Dutzend fünfundzwanzigjähriger Mansons nach. Stellte mir vor, diese Charismagabe werde ihnen allen zur gleichen Zeit verliehen. Zwölf glorreich strahlende, junge Mansons, die unaufhaltsam nach L.A. gezogen werden, von überall auf der Welt. Und eine Manson-Tochter, die verzweifelt versucht, ihr Zusammentreffen zu verhindern, die – wie es im Klappentext so schön heißt – »ihre entsetzliche Bestimmung erkannt hat«.

Ich schrieb Menschensöhne wie unter Strom. Nach einem Monat war es fertig und ich schickte es meiner Agentin. Das Buch überraschte sie (»Nun, es ist so ganz anders als deine anderen«, führte sie mir vor Augen) und sie verkaufte es auf einer Versteigerung – meiner ersten – für mehr Geld, als ich für möglich gehalten hätte. (Meine anderen Bücher, drei Bände eleganter, vielschichtiger Gruselgeschichten voll angedeuteter Bezüge, hatten kaum den Computer bezahlt, auf dem sie geschrieben worden waren.)

Und dann waren die Filmrechte noch vor der Veröffentlichung nach Hollywood verkauft worden – wieder per Versteigerung. Drei oder vier Filmgesellschaften hatten Interesse, aber nur eine wollte, dass ich das Drehbuch schreibe. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das wirklich klappen würde, aber dann fing mein Faxgerät an, Freudenbotschaften auszuspucken, immer spät nachts, die meisten unterschrieben von einem gewissen Dave Gambol. Eines Tages unterschrieb ich einen Vertrag in fünffacher Ausfertigung, jede so dick wie ein Ziegelstein. Ein paar Wochen später teilte meine Agentin mir mit, dass der erste Scheck eingelöst sei, und ich fand Flugtickets nach Hollywood zu »ersten Gesprächen« in meinem Briefkasten. Es war wie ein Traum.

Die Tickets waren für die Business Class. In dem Moment, als ich das sah, wusste ich, der Traum war Wirklichkeit.

Ich flog in der Kuppel im Obergeschoss eines Jumbo Jets nach Hollywood und knabberte Räucherlachs, die ersten Exemplare von Menschensöhne druckfrisch auf dem Schoß.



Also. Frühstück.

Sie sagten mir, wie gut das Buch ihnen gefalle. Irgendwie bekam ich nicht so richtig mit, wie all die Leute hießen. Die Männer trugen Bärte oder Baseballkappen oder beides, die Frauen waren verblüffend attraktiv, auf eine sterile Art.

Jacob orderte und bezahlte unser Frühstück. Er erklärte mir, die bevorstehende Besprechung sei eine reine Formalität.

»Es ist Ihr Buch, das wir lieben«, sagte er. »Warum hätten wir es kaufen sollen, wenn wir es nicht machen wollten? Warum hätten wir Sie fürs Drehbuch engagieren sollen, wenn wir nicht Ihre besondere Art für das Projekt wollten? Ihren individuellen Touch.«

Ich nickte, sehr ernst, als sei mein individueller literarischer Touch etwas, womit ich mich schon häufig und eingehend beschäftigt habe.

»Eine solche Idee. Ein solches Buch. Sie sind ziemlich einzigartig.«

»Einer der Einzigartigsten«, sagte eine Frau, die Dina oder Tina oder vielleicht auch Deanna hieß.

Ich zog eine Braue in die Höhe. »Also was wird von mir erwartet bei dieser Besprechung?«

»Seien Sie offen«, sagte Jacob. »Seien Sie positiv.«



Die Fahrt zum Studio dauerte ungefähr eine halbe Stunde in Jacobs kleinem roten Flitzer. Wir fuhren bis an ein Sicherheitstor, wo Jacob mit einem der Wachmänner eine Auseinandersetzung hatte. Offenbar arbeitete er erst seit kurzem für das Studio und hatte noch keinen unbefristeten Studiopass.

Und noch keinen für ihn reservierten Parkplatz, fand ich heraus, als wir endlich passieren konnten. Diesen Mechanismus habe ich nie so ganz durchschaut: Nach dem, was er mir sagte, hatten Parkplätze im gleichen Maß mit persönlichem Status im Studio zu tun, wie Geschenke des Kaisers im alten China die Rangordnung bei Hofe bestimmten.

Wir fuhren durch die Straßen eines eigentümlich zweidimensionalen New York und parkten vor einer großen Bank.

Nach zehn Minuten Fußmarsch erreichten wir einen Konferenzraum. Zusammen mit Jacob und all den anderen Leuten vom Frühstück wartete ich dort auf irgendjemanden. In der allgemeinen Hektik hatte ich nicht genau mitbekommen, wer dieser Jemand war und was er oder sie tat. Ich holte mein Buch hervor und legte es vor mir auf den Tisch, eine Art Talisman.

Jemand trat ein. Er war groß, hatte eine spitze Nase und ein spitzes Kinn und zu lange Haare – er sah aus, als habe er einen viel jüngeren Mann gekidnapped und dessen Schopf gestohlen. Er war Australier und das überraschte mich.

Er nahm Platz.

Er sah mich an.

»Schießen Sie los«, sagte er.

Ich sah zu den Leuten vom Frühstück, aber keiner erwiderte meinen Blick, niemand sah so ganz in meine Richtung. Also fing ich an zu reden: über das Buch, über den Plot, über das Ende, den Showdown in einem Nachtclub in L.A., wo die gute Manson-Tochter die anderen in die Luft jagt. Oder jedenfalls glaubt sie das. Über meine Idee, einen Schauspieler für die Rollen aller Manson-Söhne zu nehmen.

»Glauben Sie diese Dinge?« Es war die erste Frage von diesem Jemand.

Das war einfach. Diese Frage hatte ich schon mindestens zwei Dutzend englischen Journalisten beantwortet.

»Ob ich glaube, dass Charles Manson eine Zeit lang von einer übernatürlichen Kraft gelenkt wurde, die heute in seinen vielen Kindern wirkt? Nein. Ob ich glaube, dass irgendetwas Seltsames vorging? Ich denke, ja. Vielleicht war es einfach so, dass sein Wahnsinn sich für eine kurze Zeit mit dem Wahnsinn der restlichen Welt deckte. Ich weiß es nicht.«

»Hm. Diese Manson-Söhne. Könnten wir Keanu Reeves nehmen?«

Um Himmels willen, nein, dachte ich. Jacob sah mich an und nickte verzweifelt. »Ich wüsste nicht, was dagegen spricht«, sagte ich. Es war sowieso alles nur Fantasie. Nichts davon war real.

»Wir machen gerade einen Deal mit seinen Leuten«, sagte der Jemand und nickte versonnen.

Sie schickten mich weg und sagten, ich solle ein Treatment schreiben und ihnen zur Genehmigung vorlegen. Das hieß wohl, dem australischen Jemand, nahm ich an, auch wenn ich nicht ganz sicher war.

Ehe ich ging, gab mir jemand siebenhundert Dollar und ließ mich eine Quittung unterschreiben: zwei Wochen per diem.



Zwei Tage schrieb ich an diesem Treatment. Ich gab mir alle Mühe, den Roman zu vergessen, die Geschichte als Film zu strukturieren. Es ging mir gut von der Hand. Ich saß in dem kleinen Hotelzimmer und tippte auf dem Notebook-Computer, den das Studio mir geschickt hatte, und druckte auf dem Bubble-Jet-Drucker aus, den sie ebenfalls geschickt hatten. Ich aß in meinem Zimmer.

Jeden Nachmittag machte ich einen kleinen Spaziergang über den Sunset Boulevard. Ich ging immer bis zum »fast rund um die Uhr«-Buchladen, wo ich eine Zeitung erstand. Dann setzte ich mich eine halbe Stunde in den kleinen Innenhof des Hotels und las meine Zeitung. Nach dieser Tagesdosis Licht und Sonne verkroch ich mich wieder in meinem abgedunkelten Zimmer und verwandelte meinen Roman in etwas anderes.

Ein sehr alter schwarzer Mann, ein Hotelangestellter, erschien jeden Tag, schlurfte mit beinah schmerzlicher Langsamkeit durch den Innenhof, tränkte die Pflanzen und sah nach den Fischen. Er grinste mir im Vorbeigehen zu und ich nickte.

Am dritten Tag stand ich auf und ging zu ihm hinüber, als er am Fischteich stand und mit den Fingern Unrat herausholte: ein paar Münzen und eine Zigarettenschachtel.

»Hallo«, sagte ich.

»Sir«, grüßte der alte Mann.

Ich erwog, ihn zu bitten, mich nicht »Sir« zu nennen, aber mir fiel nicht ein, wie ich es formulieren könnte, ohne ihn zu kränken. »Hübsche Fische.«

Er nickte grinsend. »Zierkarpfen. Kommen aus China.«

Wir sahen ihnen eine Weile zu, während sie ihre Runden schwammen.

»Ich frag mich, ob ihnen nie langweilig wird.«

Er schüttelte den Kopf. »Mein Enkel, er ist Ichthyologe, wissen Sie, was das ist?«

»Fischkunde.«

»Hm. Er sagt, ihr Gedächtnis reicht nur dreißig Sekunden. Sie schwimmen also im Teich rum und werden ständig überrascht. Denken immerzu: ›Hier war ich noch nie.‹ Sie treffen einen anderen Fisch, den sie seit hundert Jahren kennen, und fragen: ›Wer bist du denn, Fremder?‹.«

»Würden Sie Ihren Enkel etwas fragen?« Er nickte. »Ich hab gelesen, dass Karpfen keine natürliche Lebensspanne haben. Sie altern nicht so wie wir. Sie sterben durch Krankheiten oder werden von Mensch oder Raubtier erbeutet, aber sie werden nicht einfach alt und sterben. Theoretisch könnten sie ewig leben.«

Er nickte. »Ich frag ihn. Das klingt wirklich nicht übel. Diese drei hier … Also, dieser hier, ich nenne ihn Ghost, der ist erst vier, fünf Jahre alt. Aber die anderen beiden wurden aus China hergebracht, als ich gerade hier angefangen hatte.«

»Und wann war das?«

»Das muss im Jahre des Herrn neunzehnhundertvierundzwanzig gewesen sein. Was schätzen Sie, wie alt ich bin?«

Das war unmöglich zu sagen. Er hätte aus altem Holz geschnitzt sein können. Über fünfzig und jünger als Methusalem. Das sagte ich ihm.

»Ich bin Jahrgang 1906. Das ist die Wahrheit.«

»Wo sind sie geboren? Hier in L.A.?«

Er schüttelte den Kopf. »Als ich zur Welt kam, war Los Angeles nicht viel mehr als ein Orangenhain. Kein Vergleich mit New York.« Er streute Fischfutter auf die Wasseroberfläche. Die drei Fische tauchten auf, blasse, silberweiße Geisterkarpfen, starrten uns an oder so schien es jedenfalls, das O ihrer Mäuler öffnete und schloss sich ständig, als sprächen sie in ihrer eigenen, geheimen, lautlosen Sprache zu uns.

Ich wies auf den, den er mir vorhin gezeigt hatte. »Also das ist Ghost, ja?«

»Das ist Ghost, ganz genau. Der da unter der Lilie, sehen Sie seinen Schwanz, da vorn? Er heißt Buster. Benannt nach Buster Keaton. Keaton wohnte gerade hier, als wir die älteren beiden bekamen. Und das hier ist unsere Princess.«

Princess war leicht von den anderen Karpfen zu unterscheiden. Sie hatte eine blasse, cremeweiße Farbe und einen leuchtend roten Fleck auf dem Rücken.

»Sie ist wunderschön.«

»Das ist sie. Ja, das ist sie wirklich.«

Er atmete tief durch und fing an zu husten, ein röchelnder Husten, der seine ganze magere Gestalt schüttelte. Jetzt sah er auf einmal tatsächlich wie ein Neunzigjähriger aus.

»Alles in Ordnung?«

Er nickte. »Sicher, sicher, sicher. Alte Knochen«, sagte er. »Alte Knochen.«

Wir gaben uns die Hand und ich kehrte ins Halbdunkel zu meinem Treatment zurück.



Ich druckte das fertige Treatment aus und faxte es Jacob ins Studio.

Am nächsten Tag suchte er mich in meinem Chalet auf. Er wirkte bekümmert.

»Alles okay? Gibt es ein Problem mit dem Treatment?«

»Nur Scheiße, die nach unten läuft. Wir haben diesen Film gedreht mit …« und er nannte eine berühmte Schauspielerin, die ein paar Jahre zuvor in ein paar erfolgreichen Filmen gespielt hatte. »Die Frau ist ein Publikumsmagnet, richtig? Nur ist sie leider nicht mehr so jung, wie sie mal war, und sie besteht darauf, ihre Nacktszenen selbst zu machen, dabei ist das wirklich kein Körper, den irgendwer noch sehen will, das können Sie mir glauben.

Der Plot ist folgender: Da ist dieser Fotograf, der Frauen überredet, die Hüllen für ihn fallen zu lassen. Dann vergewaltigt er sie. Nur glaubt niemand, dass er das tut. Darum muss die Polizeichefin – gespielt von unserer Ms. Lasst-mich-der-Welt-meinen-nackten-Hintern-zeigen – einsehen, dass der einzige Weg, ihn zu verhaften, ist, sich als eine der Frauen auszugeben. Also geht sie mit ihm ins Bett. Aber dann läuft die Sache schief …«

»Sie verliebt sich in ihn?«

»Oh. Genau. Dann erkennt sie, dass Frauen immer Gefangene der männlichen Vorstellungen von Frauen sein werden, und um ihre Liebe zu ihm zu beweisen, steckt sie all die Fotos in Brand, als die Polizei kommt, um sie beide zu verhaften. Sie kommt in den Flammen um, nachdem ihr die Kleider vom Leib gebrannt sind. Wie klingt das für Ihren Geschmack?«

»Bescheuert.«

»Das fanden wir auch, als wir’s gesehen haben. Also haben wir den Regisseur gefeuert, das ganze Ding neu gecuttet und einen weiteren Drehtag angesetzt. Jetzt trägt sie eine Wanze, als sie mit ihm ins Bett geht. Und als sie anfängt, sich in ihn zu verlieben, findet sie raus, dass er ihren Bruder umgebracht hat. Sie sieht im Traum, wie ihr die Klamotten vom Leib brennen, sie rückt mit dem Sondereinsatzkommando aus, um ihn festzunehmen. Aber er wird von ihrer kleinen Schwester erschossen, die er auch gevögelt hat.«

»Und das ist besser?«

Er schüttelte den Kopf. »Es ist Müll. Wenn sie zustimmen würde, ein Double für die Nacktszenen zu nehmen, stünden wir vielleicht besser da.«

»Wie fanden Sie das Treatment?«

»Was?«

»Mein Treatment. Das ich Ihnen geschickt habe.«

»Ach so. Das Treatment. Toll. Wir fanden es alle toll. Es war großartig. Wirklich super. Wir sind alle ganz aus dem Häuschen.«

»Also was passiert als Nächstes?«

»Na ja, sobald alle Gelegenheit hatten, einen Blick draufzuwerfen, setzen wir uns zusammen und reden darüber.«

Er klopfte mir auf die Schulter und ging und ich war ohne Beschäftigung allein in Hollywood.

Ich beschloss, eine Shortstory zu schreiben. Schon bevor ich England verlassen hatte, war mir diese Idee gekommen. Etwas mit einem kleinen Theater am Ende eines Piers. Eine Zaubervorführung, während es draußen schüttet. Ein Publikum, das nicht zwischen Magie und Illusion unterscheiden kann, dem es völlig gleich wäre, wenn jede Illusion real wäre.



Beim Spaziergang an diesem Nachmittag kaufte ich im »fast rund um die Uhr«-Buchladen ein paar Bücher über Zauberkunst und viktorianische Zauberkünstler. Eine Geschichte oder jedenfalls das Samenkorn einer Geschichte war in meinem Kopf und ich wollte die Materie erforschen. Ich setzte mich auf die Bank im Innenhof und blätterte die Bücher durch. Es war eine ganz bestimmte Atmosphäre, die ich einfangen wollte, ging mir auf.

Ich las gerade über die Pockets Men, die alle nur denkbaren kleinen Gegenstände in ihren Taschen hatten und hervorzauberten, was immer man nannte. Keine Illusion, nur eine Meisterleistung in Organisation und Merkfähigkeit. Ein Schatten fiel auf die Seite. Ich sah auf.

»Hallo«, sagte ich zu dem alten schwarzen Mann.

»Sir.«

»Bitte nennen Sie mich nicht so. Es gibt mir das Gefühl, als müsste ich einen Anzug tragen oder so was.« Ich sagte ihm meinen Namen.

Er nannte mir seinen: »Pious Dundas.«

»Pious?« Ich war nicht sicher, ob ich mich nicht verhört hatte. »Der Fromme?«

Er nickte stolz. »Manchmal bin ich das, manchmal nicht. Meine Mama hat mich so genannt und es ist ein guter Name.«

»Ja.«

»Und? Was tun Sie hier, Sir?«

»Ich bin nicht ganz sicher. Ich soll ein Drehbuch schreiben, glaub ich. Oder zumindest warte ich darauf, dass sie mir sagen, ich soll anfangen, das Drehbuch zu schreiben.«

Er kratzte sich an der Nase. »All die Filmleute haben hier gewohnt. Wenn ich anfangen wollte, Ihnen von allen zu erzählen, könnte ich bis nächsten Mittwoch reden und wäre noch nicht mal zur Hälfte fertig.«

»Wen mochten Sie am liebsten?«

»Harry Langdon. Er war ein Gentleman. George Sanders. Er war Engländer, wie Sie. Er sagte immer; ›Ach, Pious, Sie müssen für meine Seele beten.‹ Und ich sagte darauf: ›Ihre Seele ist Ihre Angelegenheit, Mister Sanders.‹ Aber ich hab trotzdem für ihn gebetet. Und June Lincoln.«

»June Lincoln?«

Seine Augen funkelten und er lächelte. »Sie war die Königin der Silberleinwand. Sie war feiner als all die anderen: Mary Pickford oder Lilian Gish oder Theda Bara oder Louise Brooks … Sie war die Beste. Sie hatte ›es‹. Wissen Sie, was ›es‹ ist?«

»Sexappeal.«

»Mehr als das. Sie war alles, wovon Sie je geträumt haben. Wenn man einen June-Lincoln-Film sah, wollte man …« Er brach ab und zog kleine Kreise mit der Hand, als versuche er, die fehlenden Worte einzufangen. »Ich weiß nicht. Auf die Knie fallen vielleicht, wie ein Ritter vor seiner Königin. June Lincoln war die Beste von allen. Ich hab meinem Enkel von ihr erzählt und versucht, einen ihrer Filme auf Video zu kriegen, aber nichts zu machen. Gibt es nicht mehr. Sie lebt nur noch in den Köpfen alter Männer.« Er tippte sich an die Stirn.

»Sie muss sehr außergewöhnlich gewesen sein.«

Er nickte.

»Was wurde aus ihr?«

»Sie hat sich erhängt. Manche Leute sagten, sie hätte es getan, weil sie im Tonfilm keine Chance gehabt hätte, aber das stimmt nicht. Sie hatte eine Stimme, die man niemals vergaß, wenn man sie mal gehört hatte. Cremig und dunkel war diese Stimme, wie Irishcoffee. Manche haben behauptet, ein Mann hätte ihr das Herz gebrochen oder eine Frau. Oder dass sie gespielt oder gesoffen oder sich mit Gangstern eingelassen habe. Wer weiß? Es waren wilde Zeiten.«

»Sie haben sie also sprechen gehört?«

Er grinste. »Sie hat gesagt: ›Kannst du rausfinden, was aus meiner Stola geworden ist, Junge?‹ Und als ich sie ihr gebracht hab, da hat sie gesagt: ›Du bist ein hübscher Knabe.‹ Und der Mann, der bei ihr war, hat gesagt: ›June, lass den Gärtner zufrieden.‹ Und sie hat mich angelächelt und mir fünf Dollar gegeben und gesagt: ›Aber er nimmt’s mir doch nicht übel, oder, Junge?‹ Und ich hab nur den Kopf geschüttelt. Dann machte sie diese Sache mit den Lippen, wissen Sie.«

»Einen Schmollmund?«

»Irgendwas in der Art. Ich hab es hier gespürt.« Er tippte sich an die Brust. »Diese Lippen. Sie konnten einen Mann in Stücke reißen.«

Er biss sich einen Moment auf die Unterlippe, den Blick in die Ewigkeit gerichtet. Ich hätte gerne gewusst, wo er war. Und in welcher Zeit er war. Dann schaute er mich wieder an.

»Wollen Sie ihre Lippen sehen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Kommen Sie mal mit. Folgen Sie mir.«

»Aber was …?« Vor meinem geistigen Auge sah ich einen Lippenabdruck in Zement wie die Handabdrücke vor Grauman’s Chinese Theatre.

Er schüttelte den Kopf und legte einen Finger an die Lippen. Still.

Ich klappte die Bücher zu. Wir überquerten den Innenhof. Als wir an den kleinen Fischteich kamen, blieb er stehen.

»Sehen Sie sich Princess an«, befahl er.

»Der mit dem roten Fleck, richtig?«

Er nickte. Der Fisch erinnerte mich an einen chinesischen Drachen: weise und bleich. Ein Geisterfisch, weiß wie altes Gebein bis auf den scharlachroten Fleck am Rücken – knapp drei Zentimeter lang, wie ein Doppelbogen geformt. Princess lag reglos im Wasser, ließ sich treiben, dachte.

»Da sind sie«, sagte er. »Auf ihrem Rücken. Sehen Sie?«

»Da komm ich nicht ganz mit.«

Er antwortete nicht gleich, stierte auf den Fisch hinab.

»Möchten Sie sich vielleicht setzen?« Mr. Dundas Alter war mir auf einmal nur zu bewusst.

»Ich werde nicht fürs Rumsitzen bezahlt«, erwiderte er sehr ernst. Dann sagte er in einem Tonfall, als wolle er einem kleinen Kind etwas erklären: »Sie waren wie Götter damals. Heute ist alles Fernsehen: kleine Helden. Kleine Leute in Flimmerkisten. Manchmal sehe ich welche von ihnen hier. Wirklich kleine Leute.

Die Stars von früher, sie waren Riesen, angestrahlt in Silberlicht, groß wie Häuser … und wenn man sie traf, waren sie immer noch riesig. Die Menschen glaubten an sie.

Sie feierten ihre Partys hier. Und wenn man hier arbeitete, sah man, was sie so trieben. Es gab Schnaps und Gras und es passierten Sachen, die Sie gar nicht glauben würden. Bei einer dieser Partys … Der Film hieß Hearts of the Desert. Je davon gehört?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Einer der größten Filme von 1926. Vom gleichen Kaliber wie What Price Glory mit Victor McLaglen und Dolores Del Rio und Ella Cinders mit Colleen Moore. Haben Sie von denen gehört?«

Ich schüttelte wieder den Kopf.

»Dann vielleicht von Warner Baxter? Belle Bennett?«

»Wer waren sie?«

»Große, große Stars damals, 1926.« Er schwieg einen Moment. »Hearts of the Desert. Sie feierten die Party hier im Hotel, als er fertig war. Es gab Wein und Bier und Whiskey und Gin – das war die Zeit der Prohibition, aber die Studios hatten die Polizei praktisch gekauft, darum drückten sie immer beide Augen zu. Es gab bergeweise Essen und jede Menge Dummheiten. Ronald Colman war da und Douglas Fairbanks – der Vater, nicht der Sohn – und das ganze Filmteam und eine Jazzband spielte da drüben, wo jetzt die Chalets stehen.

Und June Lincoln war der größte Star in Hollywood an diesem Abend. Sie spielte die arabische Prinzessin in dem Film. Damals war arabisch gleichbedeutend mit Leidenschaft und Begierde. Heutzutage … na ja, die Zeiten ändern sich.

Ich weiß nicht, wie es angefangen hat. Ich habe gehört, es sei eine Mutprobe gewesen oder eine Wette, vielleicht war sie einfach nur betrunken. Mir kam sie jedenfalls betrunken vor. Wie auch immer, sie stand auf und die Band spielte etwas Leises, Langsames. Und sie kam hier herüber, blieb stehen, wo ich jetzt stehe, und steckte die Hände ins Wasser. Sie lachte und lachte und lachte …

Miss Lincoln nahm den Fisch, packte ihn mit beiden Händen, holte ihn aus dem Wasser und dann hielt sie ihn sich vors Gesicht.

Ich wurde ziemlich nervös, denn die Fische waren gerade erst aus China gekommen und hatten zweihundert Dollar das Stück gekostet. Damals war ich natürlich nicht für die Fische zuständig, nicht ich hätte das also von meinem Lohn abstottern müssen. Aber trotzdem, zweihundert Dollar waren ein ganz schöner Haufen Geld damals.

Dann lächelte sie uns alle an und beugte sich vor und küsste ihn, ganz langsam, auf den Rücken. Er zappelte überhaupt nicht, lag ganz still in ihren Händen und sie küsste ihn mit ihren korallenroten Lippen und die Leute auf der Party lachten und klatschten.

Sie legte den Fisch wieder ins Wasser und für einen Augenblick war es, als wolle er sie nicht verlassen. Er blieb bei ihr, stupste mit dem Maul an ihre Finger. Dann ging der erste Kracher vom Feuerwerk los und er schwamm weg.

Ihr Lippenstift war röter als rot und sie hat den Abdruck ihrer Lippen auf dem Rücken des Fisches verewigt. Da. Sehen Sie?«

Princess, der weiße Karpfen mit dem korallenroten Fleck auf dem Rücken, ließ eine Flosse zucken und setzte dann die endlose Folge dreißigsekündiger Rundreisen um den Teich fort. Der rote Fleck sah wirklich aus wie ein Lippenabdruck.

Pious Dundas streute eine Handvoll Fischfutter aufs Wasser und die drei Karpfen ließen sich an die Oberfläche treiben und fraßen.

Ich ging zu meinem Chalet zurück, die Bücher über alte Zaubertricks in der Hand. Das Telefon klingelte. Es war jemand vom Studio. Sie wolle mit mir über das Treatment reden. Ein Wagen werde mich in dreißig Minuten abholen.

»Wird Jacob dabei sein?«

Aber die Leitung war schon tot.



Der australische Jemand nahm an der Besprechung teil und sein Assistent, ein bebrillter Mann im Anzug. Er war der erste Mensch mit Anzug, der mir bislang hier begegnet war, und seine Brille war leuchtend blau. Er wirkte nervös.

»Wo wohnen Sie?«, fragte der Jemand.

Ich sagte es ihm.

»Ist das nicht, wo Belushi …?«

»So heißt es, ja.«

Er nickte. »Er war nicht allein, als er starb.«

»Nein?«

Er strich sich mit dem Finger über einen Flügel seiner spitzen Nase. »Es waren noch zwei Leute auf dieser kleinen Party. Beide Regisseure, zwei von den ganz großen. Die Namen brauchen Sie nicht zu wissen. Ich hab davon gehört, als ich den letzten Indiana-Jones-Film gemacht habe.«

Ein unbehagliches Schweigen entstand. Wir saßen an einem riesigen runden Tisch, nur wir drei, und jeder hatte eine Kopie meines Treatments vor sich. Schließlich fragte ich:

»Was halten Sie davon?«

Sie nickten beide, fast synchron.

Und dann gaben sie sich beide die größte Mühe, mir klarzumachen, dass sie es grässlich fanden, ohne je etwas zu sagen, das mich möglicherweise kränken könnte. Es war eine merkwürdige Konversation.

»Wir haben ein Problem mit dem dritten Akt«, sagten sie und deuteten vage an, dass der Fehler nicht bei mir lag, nicht einmal beim Treatment oder dem dritten Akt, sondern bei ihnen.

Sie wollten sympathischere Figuren. Sie wollten grelles Licht und Schatten, keine Grautöne. Sie wollten aus der Heldin einen Helden machen. Und ich nickte und machte mir Notizen.

Am Ende der Besprechung schüttelte ich dem Jemand die Hand und der Assistent mit dem blauen Brillengestell führte mich durch das Labyrinth der Korridore zurück zur Außenwelt, meinem Wagen und Chauffeur.

Unterwegs fragte ich ihn, ob es irgendwo hier im Studio wohl ein Bild von June Lincoln gebe.

»Von wem?« Sein Name war Greg, stellte sich heraus. Er zückte ein kleines Notizbuch und einen Bleistift und schrieb etwas auf.

»Sie war ein Stummfilmstar. 1926 war sie eine Berühmtheit.«

»War sie bei diesem Studio unter Vertrag?«

»Keine Ahnung«, gestand ich. »Aber sie war berühmt. Sogar berühmter als Marie Provost.«

»Wer?«

»›Aus der Stummfilmmutter wurde Hundefutter.‹ Einer der größten Filmstars ihrer Zeit. Aber sie starb völlig verarmt, nachdem der Tonfilm aufgekommen war, und ihr Dackel hat sie gefressen. Nick Lowe hat ein Lied über sie geschrieben.«

»Wer?«

»›I knew the bride when she used to rock and roll.‹ Na ja, ist auch egal. June Lincoln. Ob irgendwer mir ein Foto raussuchen könnte?«

Er kritzelte wieder etwas auf seinen Block. Starrte einen Moment darauf. Schrieb noch etwas. Dann nickte er.

Wir kamen ins Freie und mein Wagen wartete.

»Ach übrigens«, sagte er. »Eins müssen Sie wissen: Er redet Scheiße.«

»Wie bitte?«

»Er redet Scheiße. Es waren nicht Spielberg und Lucas, die bei Belushi waren. Es waren Bette Midler und Linda Ronstadt. Sie haben eine Koksorgie veranstaltet. Das ist allgemein bekannt. Aber er redet nur Scheiße. Und er war nur ein verdammter kleiner Buchhalter bei dem Indiana-Jones-Film. Redet, als wär’s sein Film gewesen. Arschloch.«

Wir gaben uns die Hand. Ich stieg in den Wagen und fuhr zum Hotel zurück.



Die Zeitverschiebung holte mich in dieser Nacht ein und um vier Uhr morgens war ich endgültig hellwach.

Ich stand auf, ging pinkeln, dann zog ich eine Jeans über (ich schlafe in einem TShirt) und ging nach draußen.

Ich wollte die Sterne sehen, aber die Lichter der Stadt waren zu hell, die Luft zu verschmutzt. Der Himmel war ein dreckiges, sternloses Gelb. Ich dachte an all die Konstellationen, die man in England auf dem Land am Nachthimmel sah, und zum ersten Mal überkam mich heftiges Heimweh. Es war kindisch. Aber ich vermisste die Sterne.



Ich wollte an der Kurzgeschichte arbeiten oder mit dem Drehbuch anfangen. Stattdessen plagte ich mich mit der zweiten Fassung des Treatments herum.

Ich reduzierte die Anzahl der Manson Juniors von zwölf auf fünf und machte es von Anfang an glasklar, dass einer von ihnen – neuerdings männlichen Geschlechts – kein Bösewicht war, die anderen vier aber definitiv in diese Kategorie gehörten.

Sie schickten mir eine betagte Ausgabe einer Filmzeitschrift. Sie roch schwach nach altem Zellstoffpapier und trug einen purpurroten Stempel mit dem Namen des Studios und dem Wort Archiv. Das Cover zeigte John Barrymore in einem Boot. Der Artikel berichtete über June Lincolns Tod. Ich fand ihn schwierig zu lesen und noch schwerer zu verstehen: Er deutete an, dass irgendwelche verpönten Laster zu ihrem Tod geführt hatten, so viel bekam ich heraus, doch schien er sich für seine Andeutungen einer Geheimsprache zu bedienen, für die moderne Leser keinen Dechiffriercode hatten. Oder vielleicht, erkannte ich nach längerem Nachdenken, hatte der Verfasser dieses Nachrufs gar nichts gewusst und seine dunklen Andeutungen zielten ins Leere.

Interessanter und vor allem verständlicher als der Artikel waren die Fotos. Ein ganzseitiges, schwarz gerändertes Bild einer Frau mit riesigen Augen und einem sanften Lächeln, die eine Zigarette rauchte (die allerdings hineinretuschiert war, ziemlich ungeschickt für meinen Geschmack. Waren die Leute je auf so stümperhafte Fotomontagen hereingefallen?). Ein zweites Bild zeigte sie bei einem Filmkuss mit Douglas Fairbanks, auf einem kleinen Foto stand sie auf dem Trittbrett eines Autos und hielt zwei winzige Hunde im Arm.

Nach den Fotografien zu urteilen, entsprach sie nicht unbedingt dem heutigen Schönheitsideal. Ihr fehlte die Transzendenz einer Louise Brooks, die erotische Ausstrahlung einer Marilyn Monroe oder die verruchte Eleganz einer Rita Hayworth. Sie war ein Sternchen der Zwanziger, genauso nichts sagend wie alle anderen Stummfilmsternchen. Ich konnte nichts Mystisches in ihren großen Augen, ihrem Pagenkopf erkennen. Sie hatte perfekt geschminkte Lippen, geschwungen wie Amors Bogen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie ausgesehen hätte, wäre sie in die Jetztzeit versetzt worden.

Trotzdem, sie war real, sie hatte gelebt. Die Menschen in den Kinopalästen hatten sie bewundert und angebetet. Sie hatte den Fisch geküsst und war vor siebzig Jahren durch die Säle dieses Hotels gewandelt. Siebzig Jahre: keine nennenswerte Zeitspanne in England, aber eine Ewigkeit in Hollywood.



Ich fuhr wieder zum Studio, um über das Treatment zu reden. Keiner der Leute, mit denen ich bisher gesprochen hatte, war dort. Stattdessen wurde ich in das winzige Büro eines sehr jungen Mannes geführt, der niemals lächelte und mir versicherte, wie sehr das Treatment ihn begeistert habe, wie glücklich er sei, dass das Studio die Rechte erworben hatte.

Er sagte, die Figur des Charles Manson sei besonders gelungen und dass Manson vielleicht, »wenn er erst einmal voll dimensionalisiert ist«, der neue Hannibal Lecter werden könne.

»Aber, ähm … Manson ist real. Er sitzt im Gefängnis. Seine Leute haben Sharon Tate ermordet.«

»Sharon Tate?«

»Sie war Schauspielerin. Ein Filmstar. Sie war schwanger und die haben sie umgebracht. Sie war mit Polanski verheiratet.«

»Roman Polanski?«

»Der Regisseur, ja.«

Er runzelte die Stirn. »Aber wir basteln gerade an einem Vertrag mit Polanski.«

»Das ist doch Klasse. Er ist ein guter Regisseur.«

»Weiß er von dieser Sache?«

»Wovon? Von dem Buch? Unserem Film? Sharon Tates Ermordung?«

Er schüttelte den Kopf. »Es ist ein Deal über drei Filme. Julia Roberts hängt auch schon halb mit drin. Sie sagen, Polanski weiß nichts von diesem Treatment?«

»Nein, was ich sagte, war …«

Er sah auf die Uhr.

»Wo wohnen Sie?«, fragte er. »Hat man Sie anständig untergebracht?«

»Ja, vielen Dank«, sagte ich. »Ich wohne nur zwei Chalets von dem Zimmer entfernt, in dem Belushi gestorben ist.«

Ich erwartete eine weitere Enthüllung; vielleicht würde er mir erzählen, dass John Belushi in Gesellschaft von Julie Andrews und Miss Piggy ins Gras gebissen hatte. Aber ich irrte mich.

»Belushi ist tot?«, fragte er, die glatte Jungenstirn gerunzelt. »Belushi ist nicht tot. Wir machen einen Film mit ihm.«

»Ich meinte seinen Bruder«, erklärte ich. »Er ist vor Jahren gestorben.«

Er zuckte die Schultern. »Klingt wie ein Scheißhaus. Wenn Sie das nächste Mal rüberkommen, verlangen Sie, dass man Sie im Bel Air unterbringt. Soll ich dafür sorgen, dass Sie dahin umziehen können?«

»Nein, vielen Dank. Ich hab mich schon ganz gut eingewöhnt in meinem Hotel. Was ist jetzt mit dem Treatment?«, fragte ich.

»Überlassen Sie das nur uns.«



Ich fand zwei Zauberkunststücke in meinen Büchern, die mich zunehmend faszinierten: »Der Traum des Malers« und »Das verzauberte Fenster«. Sie waren Metaphern für irgendetwas, da war ich sicher, nur die Geschichte, die diese Erkenntnis hätte begleiten sollen, wollte sich noch nicht einstellen. Ich schrieb erste Sätze, aus denen niemals erste Absätze wurden, erste Absätze, die es nie zur ersten Seite brachten. Ich schrieb sie am Computer und löschte sie wieder.

Ich saß draußen im Hof und starrte die zwei weißen und den rot-weißen Karpfen an. Sie sahen aus wie Escher-Zeichnungen von Fischen, entschied ich, und das überraschte mich, denn bisher war mir nie aufgefallen, dass es auch nur etwas entfernt Realistisches in Eschers Bildern gab.

Pious Dundas stand mit einer Flasche Politur und einem Lappen in der Nähe und wienerte die Blätter einer Pflanze.

»Hi, Pious.«

»Sir.«

»Herrlicher Tag.«

Er nickte und hustete, hämmerte sich mit der Faust an die Brust und nickte nochmals.

Ich kehrte den Fischen den Rücken und setzte mich auf die Bank.

»Warum sind Sie nicht im Ruhestand?«, fragte ich. »Hätten Sie nicht vor fünfzehn Jahren in Rente gehen sollen?«

Er polierte weiter. »Um Himmels willen, nein. Ich bin so was wie ein Wahrzeichen hier. Sie können behaupten, all die Stars hätten hier gewohnt, aber ich erzähle den Leuten, was Cary Grant zum Frühstück gegessen hat.«

»Daran erinnern Sie sich?«

»Natürlich nicht. Aber das wissen die ja nicht.« Er hustete wieder. »Was schreiben Sie?«

»Na ja, letzte Woche habe ich ein Treatment für diesen Film geschrieben. Dann hab ich ein neues Treatment geschrieben. Und jetzt warte ich auf … irgendwas.«

»Also, was schreiben Sie jetzt

»Eine Geschichte, die nicht in Gang kommen will. Über einen viktorianischen Zaubertrick. Er heißt ›Der Traum des Malers‹. Ein Künstler kommt mit einer großen Leinwand auf die Bühne, die er auf eine Staffelei stellt. Es ist das Gemälde einer Frau. Und er betrachtet das Gemälde und verzweifelt, weil er glaubt, dass er niemals ein wirklicher Künstler sein wird. Dann setzt er sich hin und schläft ein und die Frau auf dem Gemälde erwacht zu Leben, steigt herab und befiehlt ihm, nicht aufzugeben. Weiterzukämpfen. Eines Tages werde er ein großer Maler sein. Sie klettert zurück in den Rahmen. Die Lichter werden gedämpft. Dann wacht er auf und es ist wieder ein Gemälde …«



»… und der andere Trick hieß ›Das verzauberte Fenster«, erzählte ich der Frau vom Studio, die den Fehler gemacht hatte, am Beginn der Besprechung Interesse zu heucheln. »Ein Fenster hängt in der Luft und Gesichter erscheinen darin, aber es ist niemand in der Nähe. Ich denke, ich kann eine gewisse Parallele zwischen dem verzauberten Fenster und dem Fernsehen hinkriegen.«

»Ich mag ›Seinfeld‹«, sagte sie. »Haben Sie das schon mal gesehen? Es geht um gar nichts. Ich meine, sie drehen ganze Episoden, die von rein gar nichts handeln. Und ich mochte Garry Shandling, bevor er diese neue Show angefangen hat und so gehässig wurde.«

»Diese Zaubertricks …« fuhr ich fort. »Wie alle großen Illusionen veranlassen sie uns, die Natur der Realität infrage zu stellen. Aber sie werfen auch die Frage aus, wohin Unterhaltung sich entwickeln sollte. Filme, bevor es Filme gab. Das Fernsehen, lange bevor es erfunden wurde.«

Sie runzelte die Stirn. »Soll das ein Filmskript werden?«

»Das will ich nicht hoffen. Eine Kurzgeschichte, wenn ich es hinkriege.«

»Also, lassen Sie uns über den Film reden.« Sie blätterte einen Stapel Notizen durch. Sie war Mitte zwanzig und wirkte ebenso attraktiv wie steril. Ich fragte mich, ob sie eine der Frauen war, die am ersten Morgen an diesem Frühstück teilgenommen hatten, eine Deanna oder Tina.

Sie las etwas und schien verwirrt. »I Knew the Bride When She Used to Rock and Roll?«

»Das hat er aufgeschrieben? Es hat nichts mit diesem Film zu tun.«

Sie nickte. »Also, ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass einige Punkte Ihres Treatments nicht ganz unproblematisch sind. Diese Manson-Sache … na ja, wir haben Zweifel, ob das ankommt. Könnten wir ihn rausnehmen?«

»Aber nur um ihn geht es doch. Ich meine, der Roman heißt Menschensöhne. Manson – Menschensohn. Er handelt von ihm und seinen Kindern. Wenn Sie ihn rausnehmen, bleibt nicht viel übrig, oder? Ich meine, das ist das Buch, das Sie gekauft haben.« Ich hielt es hoch, damit sie es sehen konnte. Meinen Talisman. »Manson rauszuschmeißen wäre wie … ich weiß nicht. Als würde man eine Pizza bestellen und sich dann beschweren, weil sie flach und rund ist und Tomaten und Käse drauf sind.«

Sie gab keinerlei Anzeichen, dass sie auch nur ein Wort gehört hatte, sondern fragte: »Was halten Sie von When We Were Badd als Titel? Mit zwei Ds in Badd.«

»Keine Ahnung. Für diesen Film?«

»Wir wollen nicht, dass die Leute denken, es sei irgendwas Religiöses. Menschensöhne. Es klingt, als wäre es irgendwie antichristlich.«

»Na ja, ich habe schon irgendwie angedeutet, dass die Macht, von der die Manson-Kinder besessen sind, eine Art Dämon ist.«

»Wirklich? Das haben Sie gesagt?«

»Im Roman.«

Sie bedachte mich mit einem mitleidigen Blick von der Sorte, die nur Leute zustandebringen, die wissen, dass Romane – wenn überhaupt – nur eine einzige Daseinsberechtigung haben: als unverbindliche Filmvorlagen.

»Tja, ich fürchte, das Studio würde das als unpassend empfinden.«

»Wissen Sie, wer June Lincoln war?«, fragte ich sie.

Sie schüttelte den Kopf.

»David Gambol? Jacob Klein?«

Sie schüttelte wieder den Kopf, ein bisschen ungeduldig. Dann gab sie mir eine getippte Liste von Details, die ihrer Ansicht nach der Nachbesserung bedurften, was auf so ziemlich alles hinauslief. Die Liste war an: mich und eine Reihe weitere Leute, deren Namen mir nichts sagten, und von: Donna Leary.

Ich sagte, danke schön, Donna, und fuhr dann zurück ins Hotel.



Den Rest des Tages war ich düsterer Stimmung. Dann kam mir eine Idee, wie ich das Treatment umarbeiten konnte, sodass Donnas Beanstandungen samt und sonders behoben würden.

Ein weiterer Tag Denkarbeit, ein paar Tage Schreibarbeit und schließlich faxte ich das dritte Treatment ans Studio.

Pious Dundas brachte mir sein Sammelalbum, als er zu dem Schluss gekommen war, dass ich mich wirklich für June Lincoln interessierte – benannt, wie ich herausfand, nach dem Monat und dem Präsidenten und 1903 mit dem bürgerlichen Namen Ruth Baumgarten geboren. Es war ein in Leder gebundenes, altes Sammelalbum und hatte die Größe und das Gewicht einer Familienbibel.

Sie war vierundzwanzig gewesen, als sie starb.

»Ich wünschte, Sie hätten sie sehen können«, sagte Pious Dundas. »Ich wünschte, ein paar ihrer Filme hätten überlebt. Sie war so großartig. Sie war der größte Star von allen.«

»War sie eine gute Schauspielerin?«

Er schüttelte entschieden den Kopf. »Nein.«

»War sie eine besondere Schönheit? Wenn ja, kann ich es jedenfalls nicht sehen.«

Er schüttelte wieder den Kopf. »Die Kamera liebte sie, das steht fest. Aber das war es nicht. In jedem Film gab es ein Dutzend Komparsen, die hübscher waren als sie.«

»Was war es dann?«

»Sie war ein Star.« Er hob die Schultern. »Sie hatte das, was es ausmacht, ein Star zu sein.«

Ich blätterte weiter: Zeitungsausschnitte, Besprechungen von Filmen, die mir völlig unbekannt waren, Filme, die mitsamt den Negativen vor langer Zeit verloren gegangen waren, verlegt oder von der Feuerwehr vernichtet, weil Nitratnegative eine so berüchtigte Feuergefahr darstellten. Dann Ausschnitte aus Filmzeitschriften: June Lincoln in Aktion, June Lincoln in der Drehpause, June Lincoln am Set zu Das Hemd des Pfandleihers, June Lincoln in einem riesigen Pelzmantel – der das Foto irgendwie deutlicher datierte als der seltsame Pagenkopf oder die unvermeidliche Zigarette.

»Haben Sie sie geliebt?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht wie man eine Frau lieben würde …«, sagte er.

Es war einen Moment still. Dann streckte er die Hand aus und blätterte die nächste Seite um.

»Und meine Frau hätte mich umgebracht, wenn sie mich das hätte sagen hören …«

Wieder ein kurzes Schweigen.

»Doch. Magere, tote, weiße Frau. Ich schätze, ich habe sie geliebt.«

»Aber für Sie ist sie nicht tot, oder?«

Er schüttelte den Kopf. Dann ging er. Aber er ließ mir das Album da.

Das Geheimnis hinter dem »Traum des Malers« war folgendes: Zusammen mit dem Bild wurde das Mädchen hereingetragen, das sich mit Hilfe von Griffen an der Rückseite der Leinwand festhielt. Die Leinwand hing an unsichtbaren Drähten, die das Gewicht trugen, sodass der Künstler das mit dem Mädchenkörper beschwerte Gemälde mühelos auf die Staffelei heben konnte. Das Bild des Mädchens funktionierte wie ein Rollo, das herauf- und heruntergelassen wurde.

»Das verzauberte Fenster« hingegen war tatsächlich ein Spiegeltrick. Ein Spiegel wurde in einem solchen Winkel aufgestellt, dass er die Gesichter der Leute reflektierte, die fürs Publikum unsichtbar am seitlichen Bühnenrand standen.

Selbst heute noch verwenden viele Zauberer Spiegel bei ihren Darbietungen, um einem vorzugaukeln, man sehe Dinge, die aber gar nicht da sind.

Es war einfach, wenn man wusste, wie es funktionierte.



»Bevor wir anfangen«, sagte er, »sollten Sie wissen, dass ich keine Treatments lese. Ich finde immer, dass sie meine Kreativität hemmen. Keine Bange, ich habe mir von einer Sekretärin eine Zusammenfassung erstellen lassen, ich bin also auf dem Laufenden.«

Er hatte einen Bart und lange Haare und sah ein bisschen wie Jesus aus, auch wenn ich bezweifelte, dass Jesus so perfekte Zähne hatte. Er war, so schien es, der wichtigste Mensch, mit dem ich bislang hier gesprochen hatte. Sein Name war John Ray und sogar ich hatte schon von ihm gehört, auch wenn ich nicht ganz sicher war, was genau er darstellte: sein Name erschien im Vorspann diverser Filme hinter Wörtern wie Executive Producer. Die Stimme am Telefon, die mich zu dem Treffen eingeladen hatte, hatte erklärt, sie – das Studio – seien ganz aus dem Häuschen darüber, dass er sich für das Projekt interessierte.

»Hemmt denn eine Zusammenfassung Ihre Kreativität nicht genauso?«

Er grinste. »Wir alle hier sind der Ansicht, dass Sie einen sagenhaften Job hingelegt haben. Atemberaubend. Es gibt nur noch ein paar Kleinigkeiten, mit denen wir ein Problem haben.«

»Und zwar?«

»Na ja. Diese Manson-Sache. Und die Idee von den heranwachsenden Kindern. Also haben wir im Büro zusammengesessen und ein paar Szenarien durchgespielt. Was halten Sie hiervon: Da ist dieser Typ namens, sagen wir Mal Jack Badd. Mit zwei Ds, das war Donnas Idee …«

Donna senkte bescheiden den Kopf.

»Er wird wegen satanischer Riten verurteilt, auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet und ehe er stirbt, schwört er, dass er zurückkommen und sie alle vernichten wird.

Dann sind wir im Heute und wir sehen diese halbwüchsigen Jungs in der Spielhölle, die völlig süchtig sind nach einem Videospiel mit dem Namen Be Badd. Sein Gesicht ist darauf. Und während sie es spielen, ergreift er … Besitz von ihnen. Vielleicht ist irgendwas seltsam an seinem Gesicht, so eine Jason- oder Freddy-Geschichte.« Er hielt inne, als warte er auf meine Zustimmung.

Also fragte ich: »Und wer macht diese Videospiele?«

Er wies mit dem Finger auf mich und sagte: »Sie sind der Autor, Schätzchen. Sollen wir die ganze Arbeit für Sie machen?«

Ich sagte nichts. Mir fiel einfach nichts ein.

Denk in filmischen Dimensionen, sagte ich mir. Sie verstehen sich auf Filme. »Aber was Sie vorschlagen, ist doch so etwas wie The Boys from Brazil ohne Hitler.«

Er sah mich verständnislos an.

»Das war ein Film von Ira Levin«, sagte ich. Kein Schimmer des Erkennens in seinen Augen. »Rosemarys Baby.« Immer noch nichts. »Sliver

Er nickte, irgendwo war der Groschen doch noch gefallen. »Verstehe«, sagte er. »Schreiben Sie nur den Sharon Stone-Part. Dann bewegen wir Himmel und Hölle, um sie zu kriegen. Ich hab einen guten Draht zu ihren Leuten.«

Also ging ich.



An diesem Abend war es kalt, dabei darf es in L.A. doch eigentlich gar nicht kalt sein, und die Luft roch mehr denn je nach Hustentropfen.

Eine alte Freundin von mir wohnte in der Umgebung von Los Angeles und ich beschloss, sie ausfindig zu machen. Ich rief die Nummer an, die sie mir mal gegeben hatte, und das war der Anfang einer Schnitzeljagd, die mehr oder minder den restlichen Abend in Anspruch nahm. Irgendwelche Leute gaben mir irgendwelche Telefonnummern und ich rief sie an und bekam weitere Nummern und rief auch die an.

Zu guter Letzt war eine vertraute Stimme am anderen Ende.

»Weißt du, wo ich bin?«, fragte sie.

»Nein. Jemand hat mir die Nummer gegeben.«

»Ich bin im Krankenhaus«, sagte sie. »Im Zimmer meiner Mutter. Sie hatte eine Gehirnblutung.«

»Das tut mir Leid. Geht es ihr einigermaßen?«

»Nein.«

»Tut mir wirklich Leid.«

Es folgte ein verlegenes Schweigen.

»Wie geht’s dir?«, fragte sie.

»Ziemlich miserabel.«

Ich erzählte ihr alles, was mir bislang passiert war. Ich sagte ihr, wie ich mich fühlte.

»Warum ist das so?«, fragte ich sie.

»Weil sie Angst haben.«

»Warum haben sie Angst? Und wovor?«

»Weil du nur so gut bist wie die letzten Hits, mit denen du deinen Namen in Zusammenhang bringen kannst.«

»Was?«

»Du gibst deine Zustimmung zu irgendwas und das Studio geht hin und macht einen Film, der zwanzig oder dreißig Millionen Dollar kostet. Und wenn er durchfällt, hängt dein Name mit dran und du verlierst Status. Wenn du von vornherein Nein sagst, riskierst du diesen Statusverlust nicht.«

»Im Ernst?«

»Ja, so ungefähr.«

»Woher weißt du so viel über diese Geschichten? Du bist Musikerin, du hast nichts mit Filmen zu tun.«

Sie lachte müde. »Ich lebe hier. Jeder, der hier lebt, weiß über diese Dinge Bescheid. Hast du jemals versucht, Leute nach ihren Drehbüchern zu fragen?«

»Nein.«

»Probier es irgendwann mal. Frag irgendwen. Den Typ an der Tankstelle. Ganz gleich. Jeder hat eins.« Jemand im Hintergrund sagte irgendwas zu ihr und sie antwortete und sagte dann: »Hör mal, ich muss Schluss machen«, und legte auf.

Ich konnte die Heizung nicht finden, falls das Zimmer überhaupt eine hatte, und ich fror erbärmlich in meinem kleinen Chalet-Zimmer, ganz ähnlich dem, wo Belushi gestorben war, der gleiche, nichts sagende Druck an der Wand, da war ich sicher, die gleiche, eisige Feuchtigkeit in der Luft.

Ich ließ mir ein Bad ein, um mich aufzuwärmen, aber als ich herauskam, war mir noch kälter.



Weiße Goldfische glitten im Wasser hin und her, verschwanden pfeilschnell unter den Lilienblättern. Einer der Goldfische hatte ein feuerrotes Mal auf dem Rücken, das möglicherweise ein perfekter Lippenabdruck war: das wundersame Stigma einer beinah vergessenen Göttin. Der graue Himmel des frühen Morgens spiegelte sich im Teich.

Ich starrte trübsinnig darauf hinab.

»Alles in Ordnung?«

Ich wandte mich um. Pious Dundas stand neben mir.

»Sie sind früh auf den Beinen.«

»Ich habe schlecht geschlafen. Zu kalt.«

»Sie hätten die Rezeption anrufen sollen. Die hätten Ihnen einen Heizlüfter und zusätzliche Decken geschickt.«

»Darauf bin ich nicht gekommen.«

Sein Atem ging holprig, mühsam.

»Geht es Ihnen gut?«

»Nein, wirklich nicht. Ich bin alt. Kommen Sie mal in mein Alter, Junge, dann wird’s Ihnen auch nicht besser gehen. Aber ich werde noch hier sein, wenn Sie wieder weg sind. Was macht die Arbeit?«

»Ich weiß nicht. Ich arbeite nicht mehr an dem Treatment und mit dem ›Traum des Künstlers‹ hänge ich fest, diese Geschichte über viktorianische Zauberkunststücke. Sie spielt in einem englischen Badeort im Regen. Und der Zauberer kommt auf die Bühne und führt seine Kunststücke vor, wodurch sich das Publikum irgendwie verändert. Es berührt ihre Herzen.«

Er nickte bedächtig. »›Der Traum des Künstlers‹ …« sagte er. »Und? Sehen Sie sich selbst als den Künstler oder den Zauberer?«

»Keine Ahnung. Ich glaube, ich bin keiner von beiden.«

Ich wandte mich ab, aber dann fiel mir noch etwas ein.

»Mr. Dundas, haben Sie ein Drehbuch? Das Sie geschrieben haben?«

Er schüttelte den Kopf.

»Sie haben niemals ein Drehbuch geschrieben?«

»Ich nicht, nein«, antwortete er.

»Schwören Sie’s mir?«

Er grinste. »Ich schwöre.«

Ich ging wieder in mein Zimmer. Ich blätterte durch das englische Hardcover von Menschensöhne und fragte mich, wie ein so unbeholfen formulierter Roman je einen Verleger hatte finden können, warum Hollywood es nur gekauft hatte und warum sie es nicht wollten, jetzt, da sie es hatten.

Ich versuchte, am »Traum des Künstlers« weiterzuschreiben und versagte kläglich. Die Figuren waren erstarrt, schienen unfähig zu atmen, zu agieren, zu sprechen.

Ich ging ins Bad und pinkelte einen lebhaften gelben Strahl ins Porzellanbecken. Ein Kakerlak huschte über die silberne Spiegelfläche.

Ich ging zurück ins Wohnzimmer, öffnete ein neues Dokument und schrieb:

Ich denk an England, Regen früh im März

Das Haus am Pier, ein Varieté, im dunklen Saal

Herrscht Furcht, Magie, Erinnerung und Schmerz

Die Furcht um den Verstand bedrückt das Herz

Doch bannt Magie die Angst, ist nicht real

Ich denk an England, Regen früh im März.

Der Grund der Einsamkeit liegt tief wie Erz

Die Finsternis der Seele ist ein Tal

Von Furcht, Magie, Erinnerung und Schmerz

Der Zauberer macht einen müden Scherz

Und dünn wie Lügen ist dein Seidenschal

Ich denk an England, Regen früh im März …

Es strebt doch keine Seele himmelwärts:

Hier sind ein Schwert, ein Pfand und hier ein Gral

Der Furcht, Magie, Erinnerung und Schmerz

Die Hand des Magiers ist bleich und fahl

die Wahrheit, die er kündet, fad und schal

Ich denk an England, Regen früh im März

an Furcht, Magie, Erinnerung und Schmerz.

Ich wusste nicht, ob es etwas taugte oder nicht, aber das machte nichts. Ich hatte etwas Neues, Frisches geschrieben und es fühlte sich herrlich an.

Ich bestellte ein Frühstück aufs Zimmer und bat um einen Heizlüfter und ein paar Decken.



Am nächsten Tag schrieb ich ein sechsseitiges Treatment für einen Film mit dem Titel When We Were Badd, in dem Jack Badd, ein Serienmörder, der eine riesige kreuzförmige Narbe auf der Stirn trug, auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wurde, in Gestalt eines Videospiels zurückkehrte und von vier jungen Männern Besitz ergriff. Der fünfte junge Mann besiegte Badd, indem er den elektrischen Stuhl verbrannte, auf dem der Killer gestorben war. Der Stuhl, beschloss ich, war inzwischen ein Ausstellungsstück in dem Wachsfigurenmuseum, wo die Freundin des fünften jungen Mannes tagsüber arbeitete. Abends war sie Tänzerin in einem Nachtclub.

Die Rezeption faxte es ans Studio und ich ging zu Bett. Ich schlief mit der Hoffnung ein, dass das Studio es formell ablehnen würde und ich nach Hause fliegen könnte.



Im Theater meiner Träume trug ein Mann mit Bart und Baseballkappe eine Kinoleinwand auf die Bühne und verschwand wieder. Die Silberleinwand schwebte schwerelos im Raum.

Ein flackernder Stummfilm fing an zu laufen, eine Frau verließ die Leinwand und starrte auf mich hinab. Es war June Lincoln, die in dem Flackerfilm zu sehen war, und es war ebenso June Lincoln, die aus dem Film heraustrat und sich auf meine Bettkante setzte.

»Willst du mir jetzt sagen, dass ich nicht aufgeben darf?«, fragte ich sie.

Auf einer Ebene meines Bewusstseins wusste ich, dass es ein Traum war. Ich erinnere mich vage, dass ich erkannte, warum diese Frau ein Star war, und ich bedauerte, dass keiner ihrer Filme mehr existierte.

Sie war wahrhaftig schön in meinem Traum, trotz des feuerroten Henkersmals um ihren Hals.

»Warum in aller Welt sollte ich das tun?«, fragte sie. In meinem Traum roch sie nach Gin und altem Zelluloid, obwohl ich mich nicht entsinne, wann ich je zuvor einen Geruch geträumt hätte. Sie lächelte ein perfektes Schwarzweißlächeln: »Ich bin rausgekommen, oder nicht?«

Dann stand sie auf und ging im Zimmer umher.

»Ich kann nicht fassen, dass dieses Hotel immer noch steht.« Ihre Stimme war voller Knister- und Zischlaute. Sie kam zum Bett zurück und sah mich unverwandt an, wie eine Katze das Mauseloch anstarrt.

»Betest du mich an?«, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf. Sie kam noch näher und nahm meine Hand aus Fleisch und Blut in ihre silbrige.

»Niemand erinnert sich mehr an irgendetwas«, sagte sie. »Es ist eine Dreißig-Minuten-Stadt.«

Es gab etwas, das ich sie unbedingt fragen musste: »Wo sind die Sterne? Ich sehe immerzu zum Himmel auf, aber sie sind nicht da.«

Sie wies auf den Fußboden meines Chalets. »Du hast in die falsche Richtung geschaut«, sagte sie. Bislang war mir nie aufgefallen, dass der Boden des Chalets ein Bürgersteig war, und jeder Pflasterstein enthielt einen Stern mit einem Namen – Namen, die ich nicht kannte: Clara Kimball Young, Linda Arvidson, Vivian Martin, Norma Talmadge, Olive Thomas, Mary Miles Minter, Seena Owen …

June Lincoln wies zum Fenster. »Und da draußen.«

Das Fenster stand offen und ich konnte ganz Hollywood sehen, das sich dort unten erstreckte – ein Blick von den Höhen der Hügel herab: ein unendlicher Teppich flackernder, vielfarbiger Lichter.

»Ist das nicht viel besser als die Sterne?«, fragte sie.

Und das war es tatsächlich. Ich stellte fest, dass ich Konstellationen in den Straßenlaternen und Autoscheinwerfern erkennen konnte.

Ich nickte.

Ihre Lippen berührten meine.

»Vergiss mich nicht«, flüsterte sie, aber ihre Stimme war voller Trauer, so als wisse sie, dass ich es doch tun würde.

Ich erwachte vom Schrillen des Telefons. Ich nahm ab und brummelte in den Hörer.

»Hier ist Gerry Quoint vom Studio. Wir wollen mit Ihnen zu Mittag essen und reden.«

Brummelbrummel.

»Wir schicken Ihnen einen Wagen«, sagte er. »Die Fahrt zum Restaurant dauert etwa eine halbe Stunde.«



Das Restaurant war luftig und großzügig und grün und sie warteten schon auf mich.

Inzwischen wäre ich überrascht gewesen, irgendwen wiederzuerkennen. John Ray, erfuhr ich während der Hors d’oeuvres, hatte sich wegen »Differenzen über die Einzelheiten seines Vertrages« vom Studio getrennt und Donna war »selbstverständlich« mit ihm gegangen.

Beide Männer hatten Bärte, einer hatte ziemlich unreine Haut. Die Frau war dünn und wirkte sympathisch.

Sie fragten mich, wo ich wohnte, und als ich es ihnen sagte, vertraute einer der Bärte uns an (nachdem er uns das Versprechen, absolutes Stillschweigen zu wahren, abgenommen hatte), dass ein Politiker namens Gary Hart und einer der Eagles mit Belushi eine kleine Drogenparty gefeiert hatten, ehe er starb.

Danach versicherten sie mir, wie sehr sie sich auf die Story freuten.

Ich stellte meine Frage. »Reden Sie von Menschensöhne oder von When We Were Badd? Mit Letzterem habe ich nämlich ein Problem.«

Sie wirkten verdutzt.

Es gehe um I Knew the Bride When She Used to Rock and Roll, klärten sie mich auf. Denn das habe ein anspruchsvolles Konzept und gebe ihnen ein richtig gutes Gefühl. Außerdem sei es in hohem Maß »aktuell« und das sei besonders wichtig in einer Stadt, wo alles, was vor einer Stunde passiert ist, schon Steinzeitgeschichte sei.

Sie eröffneten mir, dass sie es gut fänden, wenn unser Held die junge Dame aus ihrer unglücklichen Ehe erretten könnte, sodass sie »glücklich bis ans Ende ihrer Tage« werden konnten.

Ich wies sie darauf hin, dass sie die Filmrechte von Nick Lowe kaufen müssten, der den Song geschrieben habe, und nein, ich wisse nicht, wer sein Agent war.

Sie grinsten und versicherten mir, dass das kein Problem darstellte.

Sie schlugen vor, ich solle mir das Projekt durch den Kopf gehen lassen, ehe ich mit dem Treatment anfing und jeder nannte ein Paar junger Stars, deren Namen ich im Hinterkopf behalten sollte, wenn ich dann die Story konzipierte.

Und ich schüttelte einem jeden die Hand und versprach, dass ich das ganz sicher tun würde.

Ich erwähnte, dass ich das Gefühl habe, zu Hause in England am besten arbeiten zu können.

Das sei völlig in Ordnung, meinten sie.



Ein paar Tage zuvor hatte ich Pious Dundas gefragt, ob irgendwer mit Belushi in dessen Chalet gewesen sei in der Nacht, als er starb.

Wenn irgendwer es wusste, dachte ich mir, dann er.

»Er ist allein gestorben«, sagte Pious Dundas, alt wie Methusalem, und sah mir unverwandt in die Augen. »Es ist vollkommen egal, ob jemand bei ihm war oder nicht. Er ist allein gestorben.«



Es war ein seltsames Gefühl, das Hotel zu verlassen.

Ich ging zur Rezeption.

»Ich werde heute Nachmittag abreisen.«

»Wie Sie wünschen, Sir.«

»Könnten Sie vielleicht … ähm, der Gärtner. Mister Dundas. Ein älterer Mann. Ich weiß nicht. Ich habe ihn seit ein paar Tagen nicht gesehen. Ich würde mich gern von ihm verabschieden.«

»Von einem der Gärtner?«

»Ja.«

Sie starrte mich verblüfft an. Sie war sehr schön und ihr Lippenstift war brombeerfarben. Ich fragte mich, ob sie wohl darauf wartete, entdeckt zu werden.

Sie griff zum Telefon und sprach leise hinein. Dann: »Es tut mir Leid, Sir, Mister Dundas ist in den letzten Tagen nicht zur Arbeit gekommen.«

»Könnten Sie mir seine Telefonnummer geben?«

»Bedaure, aber das ist nicht zulässig.« Sie sah mir dabei in die Augen, wollte mir klarmachen, dass sie es wirklich bedauerte …

»Was macht Ihr Drehbuch?«, fragte ich.

»Woher wissen Sie davon?«

»Na ja …«

»Es liegt auf Joel Silvers Schreibtisch«, sagte sie. »Mein Freund und Co-Autor Arnie, er ist Kurier, hat es in Joel Silvers Büro abgegeben, so als käme es von einer richtigen Agentur oder so.«

»Viel Glück«, sagte ich.

»Danke.« Die Brombeerlippen lächelten.



Die Auskunft hatte zwei Dundas, P., was ich nicht für möglich gehalten hätte, und ich dachte, dass es allerhand über Amerika aussagte oder zumindest über Los Angeles.

Die erste Nummer erwies sich als die einer gewissen Ms. Persephone Dundas.

Als ich die zweite Nummer anrief und fragte, ob ich Pious Dundas sprechen könne, fragte eine Männerstimme: »Wer spricht da?«

Ich nannte ihm meinen Namen, erklärte, dass ich im Hotel wohnte und etwas habe, das Mr. Dundas gehöre.

»Mister. Mein Großvater ist tot. Letzte Nacht ist er gestorben.«

Der Schock macht aus Klischees Realität: Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Mein Atem stockte.

»Es tut mir Leid. Ich mochte ihn gern.«

»Tja.«

»Das muss ziemlich plötzlich gekommen sein.«

»Er war alt. Er hatte einen schlimmen Husten.« Jemand im Hintergrund fragte, wer denn da am Telefon sei, und er antwortete: niemand. Dann sagte er: »Danke für den Anruf.«

Ich war wie gelähmt.

»Hören Sie, ich habe sein Sammelalbum. Er hat es mir geliehen.«

»Das alte Filmzeug?«

»Ja.«

Ein kurzes Schweigen.

»Behalten Sie’s. Keiner kann mit dem Krempel irgendwas anfangen. Also dann, Mister, ich muss Schluss machen.«

Ein Klicken und die Leitung war tot.

Ich packte das Album in meine Reisetasche und war verblüfft, als eine Träne auf den alten Ledereinband fiel.



Ich ging ein letztes Mal zum Teich, um mich von Pious Dundas zu verabschieden und von Hollywood.

Drei geisterhafte weiße Zierkarpfen dümpelten mit beinah unmerklich bebenden Flossen in der ewigen Gegenwart ihres Teichs.

Ich erinnerte mich an ihre Namen: Buster, Ghost und Princess, aber jetzt gab es niemanden mehr, der sie unterscheiden konnte.

Der Wagen wartete vor dem Hotel auf mich. Die Fahrt zum Flughafen dauerte dreißig Minuten und schon fing ich an zu vergessen.




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