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Phil fühlte sich wohl, wie es ihm Dr. Myer angekündigt hatte. Er fühlte sich gesunden. Tag für Tag merkte er, wie er Gewalt über die eine und die andere Muskelgruppe gewann. Dann kam die Stunde der großen Operation – er sank in eine lange Ohnmacht, und als er aufwachte, spürte er etwas, was er lange entbehrt hatte: seinen eigenen Körper, das Zucken in den Muskeln, wenn er zu einer Bewegung ansetzte, obschon er seinen Oberkörper noch nicht bewegen konnte. Aber auch ohne eine wirkliche oder auch nur beabsichtigte Bewegung spürte er einfach das Vorhandensein seines vollständigen Selbst. Noch immer glitt der Kolben auf und ab, Herz und Lunge arbeiteten nicht, obwohl sie schon eingebettet lagen in den Brustkasten mit den Kunststoffrippen, in das Gewebe der Muskelstränge und Sehnen, ins Netz der Adern und Nerven. Noch immer blähte sich der rote Ball. Noch ragten neben dem Brustbein und aus der Magengrube transparente, elastische Schläuche und Platindrähte heraus, aber schon wuchsen die Organe ein, legten sich zurecht, reagierten, lebten.

Phil Abelsen war zufrieden. Er achtete und bewunderte Dr. Myer als den Meister über sein Leben – mit einer Ergebenheit, in die sich nur manchmal ein kalter Hauch einer unbestimmten Angst mischte. Die Schwester Chris empfand er als Verheißung eines wundersamen Geschenks. Andere Menschen brauchte er nicht, und es zeigten sich auch keine. Er verbrachte seine Zeit zwischen Wachträumen und Schlaf. Er kam weder dazu, sich mit seiner Vergangenheit noch mit seiner Zukunft zu beschäftigen – er hatte nichts vergessen, aber er wollte über nichts nachdenken und schob jede Erinnerung weit von sich. Sein ermatteter Zustand half ihm dabei – jede kleinste Gefühlswallung ermüdete ihn ungemein. Bevor ein Gedanke die Oberfläche seines Bewußtseins kräuselte, war er schon eingeschlafen. Nur im Traum schien manches lebendig zu werden – aber sobald er aufwachte, war es ausgelöscht.

Sein ungewöhnlicher Zustand der Zufriedenheit und Interesselosigkeit hielt lange an. Es brauchte einen besonderen Anstoß, um jene Kräfte in ihm zu wecken, die den Willen anstacheln und das Tun auslösen: die Aufmerksamkeit, die Unzufriedenheit, das Mißtrauen, die stete wache Bereitschaft, zu entscheiden, auch gegen andere, sich zu entschließen, auch für Unangenehmes, einen Weg zu gehen, den andere nicht zu gehen bereit waren. Der Anstoß kam, als Dr. Myer den entscheidenden Eingriff an Phils Herz vornahm.

Dr. Myer kam zur festgesetzten Stunde.

»Wie geht’s?« fragte er.

»Danke, Herr Doktor«, sagte Phil. Seine neue Lunge war noch nicht ans Blutsystem angeschlossen, aber die Atemtätigkeit funktionierte schon, wenn auch schwach und vorderhand nur zu dem einzigen Zweck, die Muskeln des Brustkorbs zu stärken. Aber es reichte zum kurzen und leisen Sprechen.

Der Arzt schob einen Drehschemel zum Schaltpult heran und beobachtete die Instrumente.

»Auf dem Leuchtschirm können Sie Ihre eigenen Körperfunktionen kontrollieren«, sagte er. »Diese Kurve zum Beispiel gibt Ihre Gehirnströme wieder. Sehen Sie das Ausschlagen der Zacken? Rechnen Sie schnell 17 mal 2,9... Sehen Sie – Sie brauchen nicht mehr weiterzurechnen – da ist schon die verstärkte Reaktion, die Ausschläge reichen fast dreimal so hoch wie vorher.« Er wandte sich einem anderen Instrument zu. »Das ist die Anzeige für die beförderte Blutmenge – ein einfacher Strömungszähler, wie man ihn auch bei den Tankstellen verwendet. Er ist an der Hauptleitung unserer Pumpe angeschlossen. Und hier wird dann das Elektrokardiogramm erscheinen!«

Er drückte ein Hebelchen hinunter, und ein schwaches grünes Leuchten huschte über die Scheibe. Dann erschien ein einzelner Punkt, hellte sich rasch auf, langsam zitternd, wobei er sich zu einem horizontalen Strich auseinanderzog.

Chris stand wieder im Hintergrund. Wie immer verschwand sie nahezu, wenn ihr Vorgesetzter im Raum war, doch jetzt fragte sie:

»Narkose, Herr Oberarzt?«

»Nein, wozu?« entgegnete er. Er griff nach Phils Oberkörper, der nun nicht mehr im Lösungsbad lag, und rollte zwei Drähte auf, die aus der Haut hervorliefen. Die Bananenstecker an ihren Enden stöpselte er in zwei Löcher an ein Elektroimpulsgerät: einen Schrittmacher. Der Arzt schob den Zeiger einer Schaltung auf 20 Mikrovolt und drückte dann einen an einem Kabel befestigten Knopf hinunter.

Etwas zuckte kurz in Phils Körper, dann war es wieder still.

»In Ordnung«, sagte Dr. Myer. Mit dem Fuß schob er den ›Schrittmacher‹ ein wenig vom Bett ab.

»Stellen Sie auf 30«, befahl er.

Chris verschob den Zeiger – 30 Mikrovolt.

Der Arzt drückte den Knopf kurz hinunter und hierauf in Sekundenabständen, immer wieder. Er schaute nicht auf Phil, sondern auf die Leuchtscheibe, auf der der Strich bei jedem Niederdrücken zu zersprühen schien. Die Schläge hieben in Phils Brust hinein, wie die Scheide einer Axt. Dann hielt der Arzt inne. Der grüne Lichtstrich zitterte noch einmal, dann war er still.

»50 Mikrovolt«, sagte der Arzt.

Wieder drückte sein Finger im Takt auf den Knopf. Die Schläge wühlten in Phils Körper. Sein vormals ruhiger Atem ging in lautes Keuchen über. Der Finger ließ los, und der grüne Strich fiel in sich zusammen.

»Ich muß es anders versuchen«, murmelte der Arzt. Laut fügte er hinzu:

»200 Mikrovolt!«

Chris drehte die Dezimalstellung und schob den Zeiger auf den zweiten Teilstrich zurück.

Der Finger fuhr hinunter.

Phil bäumte sich auf. Muskeln, die lange tot gewesen waren, erwachten, spannten sich im Krampf. Die Riemen, die ihn an das Bett fesselten, schnitten tief in seine Haut. Sein Atem flog. Der Finger hatte den Kopf schon losgelassen, aber in Phil zuckte und flimmerte es, es wand sich und schüttelte ihn... Dann fiel er zurück. Es war vorbei.

»Fast!« sagte der Arzt. »400 Mikrovolt.«

Chris verschob den Zeiger auf 4.

Der Finger drückte kurz, aber entschlossen.

Ein Blitz zuckte durch Phil. Etwas explodierte, ein Riese stieß um sich, dann lief etwas, ungestüm, wild, sich überschlagend, aber es lief und hielt nicht an, schlug zuerst dröhnend, dann dumpfer...

Phils Augen hingen an der Leuchtscheibe. Der Punkt durchlief eine Berg- und Talbahn, hüpfte zuerst über kleine Erhebungen, stieg dann über einen sich jäh aufbäumenden Hang, fiel jenseits des Gipfels wieder hinunter, sprang an seinen Ausgangspunkt zurück, begann seinen Weg von neuem. Es war sein Herz, das da schlug. Nun erst war es sein Herz.

Er lag tief erschöpft auf seinen Luftkissen, den Kopf zur Seite gedreht; Schweiß rann von seiner Stirn, die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Durch das verwaschene Grau und Beige lief eine Lichtschlange wie eine Leuchtreklame.

»Gut gelungen«, sagte die Stimme des Arztes. »Es schlägt! Geben Sie eine Spritze Revital! Lassen Sie ihn vorderhand nicht aus den Augen. Wenn der Herzschlag nachläßt, rufen Sie mich. Morgen sehe ich wieder nach ihm. Auf Wiedersehen!«

Phil spürte eine Hand an seiner Wange, dann flatterte der weiße Kittel durch die Schleier vor seinen Augen.

Der Arzt hatte das Zimmer verlassen.

Er hatte Phil wieder in Ordnung gebracht – er war tüchtig, tüchtig wie vielleicht kein zweiter. Dieser Mann hatte alles getan, um Phil wieder zu einem Menschen zu machen.

Trotzdem mochte ihn Phil nicht mehr. Mit einemmal wurde es ihm klar: Jetzt haßte er ihn.

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