17

Zwei Korporale und der Sergeant brachten Abel in einen sechseckigen Raum. Zuerst sah es aus, als bestünde seine ganze Innenauskleidung aus einer einzigen Mattglasscheibe; dann erst erkannte man, daß der Boden, die Decke und drei Wände aus Spiegeln bestanden.

Ein Korporal riß die Arme Abels nach hinten, und ein Ring schloß sich um seine Gelenke. Ein Doppelbügel schnappte auch um seine Beine, unten, knapp über den Knöcheln, und dann klirrte eine Kette – ein Korporal verband beide Fesseln und zog sie zusammen. Abels Kniegelenke beugten sich, er kniete am Boden. Nun steckte einer der Männer von hinten die Arme unter Abels Achseln hindurch, knickte sie ab und verschränkte die Hände hinter Abels Nacken. Abel war bewegungsunfähig. Der andere zog einen Gummipfropfen aus einem Fläschchen, daran steckte ein kleines Pinselchen, und mit diesem strich er eine dicke durchsichtige Flüssigkeit in Abels Augen.

»Halt still«, sagte er, »sonst tut’s sehr weh!«

Mit einem geschickten Griff zog er das Lid von Abels rechtem Auge hoch und zwängte eine Haftscheibe hinein. Dasselbe tat er am linken Auge. Es schmerzte, aber nicht stark.

»Alles in Ordnung?« fragte der Sergeant und bückte sich zu Abel. Abel sah das Gesicht durch die gläsernen Scheibchen deutlich, doch stark vergrößert: eine Hand zuckte auf ihn herab, unwillkürlich wollte er die Augen schließen – aber es ging nicht; die Haftgläser waren so hoch gewölbt, daß sich die Augendeckel nicht über die Augäpfel senken konnten. Er sollte die Augen nicht verschließen können vor dem, was jetzt kam.

»Viel Vergnügen«, spottete der Korporal. Dann verließen die drei Männer den Raum.

Als sich die fugenlos schließende Spiegeltür hinter ihnen geschlossen hatte, erlosch das Licht, das bisher das Milchglas von hinten gleichmäßig erleuchtet hatte. Dann erschienen im Dunkel marschierende Stiefel, plastisch und farbig. Sie kamen von allen Seiten auf Abel zu. Sie waren auch an der Decke und unter dem Boden, auf dem er kniete. Zunächst war es weder schrecklich noch peinigend. Peinigend war nur die Angst vor dem kommenden Schrecklichen, das nicht ausbleiben konnte. Abel wußte nur nicht, was es sein würde.

Die Stiefel verschwanden, und dann trat ein Lichtkreis aus dem Dunkel, wurde heller und heller. Die Helligkeit strahlte durch die Augen in Abels Gehirn. Er drehte sich um, rutschte auf den Knien über den Boden, suchte eine Ecke, in der er geschützt war vor dem grausamen Licht, aber es gab keine, er war ihm überall preisgegeben. Er warf sich auf die glatte Fläche unter seinen Knien, sein Kinn schlug schmerzhaft darauf, aber auch unter ihm war die glühende Sonne. Sie schien rasend zu kreisen, manchmal linksherum, manchmal rechtsherum, oder auch beides zugleich. Er suchte sich zu schützen, indem er in das Spiegelbild seines Gesichtes starrte – eine Fratze mit ungeheuerhaften, vorspringenden Kugelaugen –, aber der Kreis stach von der Seite auf ihn ein.

Und dann bewegte er sich, nicht nur an der Wand, nein, auch im Raum. Er glitt vor und zurück, schlang sich rundherum, spiralte, immer rascher. Die Striche schrieben sich in Abels Gehirn, bildeten ein Netz von verworrenem glühendem Draht – die Skulptur eines Wahnsinnigen. Dann erlosch die Sonne, doch das Bildwerk flirrte noch, veränderte die Farbe, wurde grün, gelb, blau und blieb als tiefvioletter Schimmer zurück.

Die stampfenden Füße waren wieder da, sie bewegten sich hektisch, dazu ertönte Gesang: »Es ist so schön, Soldat zu sein...«, kreischend hinausgeschmettert aus Hunderten von Kehlen gehetzter, überanstrengter Männer.

Die Beine liefen jetzt nicht mehr auf einer ebenen Fläche, sondern bergauf und bergab, auf senkrechte Wände hinauf, in Abgründe hinein, dann schwenkte der Boden herum, und sie marschierten über die Decke. Schwindel erfaßte Abel. Er hatte das Gefühl, sich selbst mitzudrehen, er stemmte sich dagegen, sein Viagen hob sich, er würgte...

Da war es wieder ruhig ... die Ruhe der brennenden Sonne. Sie schwankte langsam zur Seite, hielt an, pendelte zurück. Dann war da eine zweite Sonne ... die erste war verschwunden ... oder war es die erste, die nur rasch ihren Platz gewechselt hatte? ... die zweite war da ... die erste ... jetzt ging es rasch, es hüpfte, es flimmerte. Zwei Sonnen flimmerten, manchmal im Takt, manchmal im Gegentakt ... ohne Ende. Sie waren keineswegs so hell wie der Feuerball von vorhin, aber jetzt war es das Flimmern, das quälte, unbeschreiblich quälte.

Abel hatte sich lange Zeit gewehrt, doch jetzt gab er es auf. Er lag auf die Seite gestreckt, ohne Denken, ohne Gefühl, ohne Kraft, ohne Willen – vielleicht war er ohnmächtig, aber seine Augen waren offen, und er sah, sah, sah...

Die vibrierende Sonne erlosch.

Die Stiefel kamen wieder, marschierten. Das Lied erklang.

»Es ist so schön, Soldat zu sein...«

Die Stiefel marschierten im Kreis, rundherum. Abel konnte nicht mehr erfassen, was geschah und was es bedeutete.

Die Stiefel marschierten in einem geschlossenen Kreis. An ihnen waren keine Körper; es waren nur Beine, zusammengewachsen zu einem riesigen marschierenden Körper. Ein ungeheurer Tausendfüßler aus Soldatenbeinen marschierte um Abel herum.

Abel lag auf einer Pritsche. Zwei Hände massierten ihn. Er schlug die Augen auf – stechender Schmerz fuhr ihm durch den Kopf, als Licht an sie kam, und unwillkürlich machte er den Versuch einer Bewegung, von der Lampe weg, zur Wand.

Etwas Kaltes traf seinen Körper, Wasser rann über ihn, er lag in einer kalten Lache, ein Schüttelfrost kam und ging.

»Er ist wieder bei Bewußtsein, Herr Major.«

Die Stimme kam von fern. »Gut. Lassen Sie mich allein.«

Abel drehte sich herum.

Durch eine Gallerte hindurch sah er den Major. Der Major stand an der Lampe und hängte ein Taschentuch darüber. Dann breitete er den Bademantel über Abel.

Es waren zwei kleine Gesten, aber Abel fühlte tiefe Dankbarkeit dafür. Der Major war gut.

»Tut mir leid, Abel«, hörte er die Stimme des Majors: leise und sanft. Sie klang in ihm nach: »Tut mir leid, Abel, tut mir leid, Abel, tut mir leid, Abel...«

»Wir mußten dich hart anpacken. Jetzt ist es nicht mehr so schlimm, nicht wahr? Jetzt ist es vorbei. Du brauchst mir nur noch zu sagen, wie du dazu gekommen bist, die Tabletten nicht zu nehmen. Hast du gewußt, daß sie dazu dienen, dem Soldaten den Gehorsam zu erleichtern? Hat es dir jemand gesagt? Ist vielleicht noch jemand da, der... Hat es dir jemand gesagt?«

Abel schüttelte den Kopf.

Der Major fuhr fort: »Es könnte natürlich auch ein Zufall sein. Ein seltsames Zusammentreffen widriger Umstände. Obwohl... Aber ich darf mich nicht mit der Annahme eines Zufalls zufriedengeben. Das siehst du doch ein, Abel. Ich muß sicher sein. Ich muß es aus dir herausbekommen. Es ist so, als ob etwas Böses in dir steckte, irgendwo in dir verborgen, und wir zwei müssen nun zusammen helfen, um es herauszufinden. Habe ich nicht recht?«

Abel nickte. Die Worte des Majors klangen überzeugend. Jetzt wußte Abel, warum er so berührt davon war. Der Major sagte »du« wie ein Vater.

»Das ist für uns beide schwer. Du mußt Schmerzen erleiden, und ich muß dir weh tun. Aber du weißt doch, daß sich das nicht gegen dich richtet, sondern nur gegen den Herd des Bösen, der in dir sitzt wie eine Geschwulst.

Du bist doch nicht für Illegalität und Anarchie, Abel?« fragte der Major.

Nein, Abel war nicht für... Nun ja, der Major verstand ihn schon.

»Du siehst doch ein, was es für Folgen haben kann, wenn ich eine Möglichkeit offenlasse, die aus irgendwelchen dunklen versteckten Trieben heraus zu Auflehnung führen könnte. Dies Ganze, was ich mühsam aufgebaut habe, würde zusammenbrechen. Die schwarze Tablette ist ein wichtiger Faktor in meinem System. Ohne sie kann ich eintausendeinhundertvierzehn Menschen nicht allein im Zaum halten. Menschen sind so unberechenbar und so dumm. Sich selbst überlassen, würden sie blind ins Verderben rennen. Sie brauchen pausenlos eine starke Führung, eine Kraft, die sie hält. Wenn sie vernünftig, wenn sie einsichtig wären, wäre kein künstliches Hilfsmittel dazu notwendig.«

Trauer schwang in der Stimme des Majors. Er setzte sich ans Fußende des Bettes.

»Und dann betrifft es vor allem die Zukunft. Es gibt niemand, der mich ablösen könnte. Einst, vor langer Zeit habe ich von einem Nachfolger geträumt – kurze Zeit habe ich sogar dich erwogen. Aber du kamst nicht in Frage; es gibt niemand, der mich verstehen kann. Ich muß das System so eindrillen, daß es von selbst weiterlaufen kann. Es gibt nur eine beschränkte Zahl von Anordnungen, die ich zu geben habe. Ich werde sie auf einer Magnettrommel speichern. Auf jede Meldung gibt es nur einen sinnvollen Befehl, wobei die Umstände zu berücksichtigen sind. Die Reaktionen als sinnvolle Befehle auf Meldungen lassen sich durch ein logisches Programm festhalten. Ich werde es ebenfalls in der Trommel speichern. Das Kommunikationsmittel werden die Sendeanlage, die Mikrofone und Lautsprecher sein. Durch sie wird gemeldet und befohlen. Die Entscheidungen trifft eine einfache elektronische Rechenmaschine. Alles ist genau durchdacht. Sogar meine Sonntagmorgenansprachen beginne ich schon zu sammeln.

Jetzt dürfte es für dich kein Geheimnis mehr sein, warum ich deiner Handlungsweise nachgehen muß. Warum ich dich hart anfassen muß.«

Abel nickte. Der Major hatte vollkommen recht.

»Ist es ein unwillkürliches spontanes Agieren, dessen Ursache in deinem Charakter, in deinem Gehirn sitzt? Ist es irgendeine Nachwirkung aus der Vergangenheit, die ich nicht kupiert habe? Ist es ein Fehler in meinem System, den ich übersehen habe? Ich muß darauf kommen. Wenn es an dir liegt – dich kann ich auslöschen, für alle Ewigkeit. Aber ein Versehen ... nein, das kann es nicht sein. Es darf keinen Spielraum zu einer echten Widersetzlichkeit geben. Eine unvorhergesehene Handlung, vielleicht schon ein wissentlich mißachteter Befehl ... die Folgen wären entsetzlich. Natürlich, ich werde einkalkulieren, alles, was sich voraussehen läßt. Aber kann man das Gesetzlose einkalkulieren, läßt sich das Chaos berechnen? Das ist das einzige, vor dem ich mich fürchte.«

Das Gesicht des Majors sah aus wie ein kantiger Block.

»Ja, ich fürchte mich«, setzte er hinzu. »Gegen die Unordnung kann man sich nicht hundertprozentig sichern. Sie könnte mein Werk vernichten. Ich muß sie für immer und ewig ausschalten.

Also, Abel, wie war das? Wie bist du auf die Idee gekommen, die Tabletten nicht zu nehmen? Nicht irgendeine von den Nähr- oder Vitamintabletten. Nein – sie, die maßgebliche, die entscheidende!«

Abel hätte dem Major gern geholfen. Er sah es jetzt ein: Es war etwas Böses in ihm. Er zermarterte sich den Kopf. In seinen Augen standen Tränen.

»Ich kann mich nicht erinnern«, flüsterte er.

»Du kannst dich nicht erinnern«, sagte der Major. Er sprang auf und schrie: »Du kannst dich nicht erinnern! Du willst dich nicht erinnern! Du Heuchler, du Schmutzstück, du Schweinskerl! Heraus mit der Sprache!« Er schnallte sein Koppel ab und ließ es klatschend auf den Körper Abels niedersausen. »Heraus damit! Wer hat dich angestiftet? Wie bist du dazu gekommen?«

Der Bademantel hatte sich geöffnet, das Koppel klatschte auf die nackte Haut. Im Takt der Schläge schrie der Major:

»Her – aus, da – mit, her – aus, da – mit...«

Abel rührte sich nicht. Er lag halb zur Wand gedreht. Er war ohnmächtig.

Der Major reckte das Kinn vor und sah den schmächtigen Körper Abels an. Dann schnallte er das Koppel an. Wieder setzte er sich aufs Fußende des Bettes. Er schloß die Augen und blieb dort einige Zeit hindurch unbewegt sitzen.

Draußen klangen Schritte.

Der Major ging zur Tür, riß sie auf.

Ein Sergeant meldete stramm:

»Ganze Belegschaft angetreten zur Parade!«

»Ist gut«, sagte der Major. »Ich komme.«

Er zog die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel im Schloß.

Der Gesang der wartenden Soldaten drang leise bis in die Gefängniszelle.

Abel kam zum Bewußtsein, als er merkte, wie er fror. Die Kälte stieg von der nassen Matratze auf und fraß sich tief in ihn hinein. Er tastete mit der Hand nach seinem Rücken und fühlte, daß die Haut abschnittweise eiskalt war. Er fühlte Striemen quer über seine Seite laufen, und als er sie berührte, begannen sie zu brennen.

Sein Kopf war nicht ganz klar. Manchmal erfaßte er, wo er war, manchmal entglitt es ihm, und er machte schwache Versuche, darüber nachzudenken. Am Hintergrund seiner Augen standen Bilder, die nicht aus dieser Welt stammen konnten, und auch die Laute, die manchmal in seinen Ohren schwangen, waren Klänge aus einem unbegreiflichen Land.

Er merkte, daß die Bilder und Geräusche, der Schmerz und das Übelsein am schwächsten auf ihn eindrangen, wenn er sich nicht bewegte. Und so blieb er still liegen, wenn auch die Kälte in ihm immer höher stieg. Er hörte Stampfen von Stiefeln, Kommandos und Gesang, aber er unterschied nicht, ob es Illusion oder Wirklichkeit war.

Dann umfing ihn ein goldener Schleier, etwas Samtenes strich über sein Gesicht, etwas Warmes liebkoste seinen Körper.

»Steh auf!« rief eine helle Glocke. »Steh auf, komm mit! Rasch, beeile dich, sonst erwischt mich jemand hier.«

Es war keine Glocke, die da sang, sondern die Stimme eines Menschen, der etwas von ihm wollte, der schon wieder etwas von ihm wollte.

Er versteifte sich und wandte sich ab.

»So wach doch schon auf! Willst du denn nicht aus diesem kalten Loch hinaus?«

Jetzt spürte er wieder die Nässe in seinem Rücken. Er zog hastig den Bademantel eng um sich, und diese Bewegung führte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück. Seine Augen waren noch verschleiert, aber sie erkannten ein Gesicht, Augen, die ihn ansahen, einen Mund...

»Bitte, komm mit mir!«

Er hätte keinem Befehl folgen können, es war die Bitte, von der jene Fäden ausgingen, die ihn von seinem Lager emporzogen. Er saß am Bettrand, und schwarze Wellen verfinsterten in Schwallen sein Denken. Hände schoben ihm die Pantoffeln an die Füße, ein Arm hakte sich ein.

»Komm, bitte, komm!«

Die Frau führte ihn durch ein kurzes Stück Gang, um eine Ecke, eine Stufe hinunter, wieder durch einen Gangabschnitt. Die Sessel, der Aktenschrank ... hier mußte er schon einmal gewesen sein. Vier Türen nebeneinander in der Wand.

Er taumelte auf eine Couch. Es war wohlig warm. Das Licht angenehm gedämpft. Ein gefalteter rosa Lampenschirm. Ein Berg Kissen. Papierblumen in einem Bilderrahmen: das Farbfoto eines Hauses, eines kleinen Hauses in einer Reihe anderer, gleich aussehender kleiner Häuser. Zwei alte Menschen, die von einem Balkon heruntersehen.

Er fühlte sich warm zugedeckt, sein Kopf war in weichen, nachgiebigen Massen vergraben, es roch nach trockenen Blättern und Staub. Er schloß die Augen. Um ihn herum waren Bewegungen, leise Geräusche, Getrappel von raschen, eiligen Schritten, Rascheln von Stoff, Klirren von Tassen, Klappern von Besteck, leise gemurmelte Worte.

»Gleich ist’s soweit, hab noch ein wenig Geduld!«

Aber ja, er hatte Geduld. Er könnte für immer so daliegen, halb in wohliger Dämmerung, halb im Schlaf und dazu dem Wohlwollen hingegeben, das ihm von außen zuströmte.

Eine Hand glitt sanft unter seinen Hinterkopf, eine Tasse erschien vor seinem Mund, es roch würzig, und er trank in kleinen Schlucken das Heiße in sich hinein, das Wärme um sich ausbreitete und letzte Reste von Eis zerschmolz, die noch versteckt in seinem Körper saßen.

Er lag wieder in den Kissen, den Kopf leicht geneigt, und aus seiner Perspektive heraus sah er die Umgebung seltsam und äußerst anheimelnd. Die Zipfel des Polsters und daneben das Sternmuster eines Tischtuchs, die Fransen der gestreiften Decke, die sich mit den Streifen bunter Bucheinbände kreuzten, den eigenen Nasenrücken, und darüber gelagert eine bauchige Teekanne, eine Berg- und Tallandschaft aus dem gebauschten und gefalteten Mantel, der über seine Beine gebreitet war.

In dieser Wunderlandschaft hantierte die Frau mit schmalen weißen Händen, drehte sich dahin und dorthin, streckte sich zu einem Wandbrett, bückte sich zum Boden nach etwas, was von seinem Aussichtspunkt nicht zu sehen war.

Nun erschien das Gesicht wieder vor ihm. Der Schleier, durch den er noch immer schaute, machte es jung – er verwischte die bitteren Linien, glättete die Falten, ließ den Mund voll und weich erscheinen und brachte eine versunkene, längst vergessen geglaubte Schönheit ans Licht.

»Hast du noch Schmerzen?« fragte der Mund.

Abel schüttelte den Kopf. Er hatte keine Schmerzen mehr.

»Bleib bei mir«, bat er.

»Sei nur ruhig. Alles ist gut. Ich bleibe bei dir.«

Nicht nur der Mund sprach, auch die Augen sprachen, die Hände.

Abel ließ sich in die Kissen zurücksinken, die große Ruhe erfüllte ihn. Er war nicht allein. Bisher hatte er es nicht empfunden – das Alleinsein. Vielleicht hatte es tief in ihm gezehrt, ohne daß er es aussprechen oder auch nur denken konnte. Aber es war ja vorbei. Er spürte einen anderen Menschen bei sich, ganz nahe. Er brauchte ihn nicht zu sehen – das Fühlen ließ ihn die Nähe, die Zuneigung, die Zärtlichkeit viel unmittelbarer empfinden als das Sehen oder das Hören. Er schlief ein, und er erwachte – beides war gleich schön, das Sicheinsinkenlassen in die Geborgenheit oder das Sichaufschließen gegenüber dem ihn Umgebenden, ihm Dargebrachten.

Vielleicht war die Unruhe um ihn herum nur davon gekommen, daß er zuwenig gewußt hatte, daß er noch nicht bei den Engeln gewesen war? Was war demgegenüber noch wünschenswert, erstrebenswert, erkämpfenswert? Ganz leise regten sich Fragen – nach den Gründen dafür, warum das nicht ewig sein konnte – das, was jetzt war – früher, später, immer? Warum Umwege notwendig sind, bevor sich alles löst? Fragen nach früher oder später verdüstern die Stunde des Glücks. Fragen können Abgründe aufreißen und Wege verschütten, Fragen entzaubern.

Denn es war ein Zauber. Er versuchte die Gedanken zu verdrängen, die es ihm zuraunten, aber er hörte es: ein Zauber. Ein Zauber, der verhaucht wie eine Nebelwolke ... ein Windhauch, ein Atemzug ... verflogen ... vorbei.

Es war kein Zauber, es war Wirklichkeit, wenn auch zauberische Wirklichkeit. Das Wunderbare daran war eben das, daß es wahr war, daß er es wahrhaftig erlebte. Er fühlte die Weiche und Wärme der Kissen und Decken. Er fühlte die Frau neben sich. Er machte die Augen auf. Er sah die Frau. Ja, sie war noch da. Und sie war schön. Ein Engel. Es war Wirklichkeit. Kein Zauber. Gegenwart. Gegenwart mit einem Vorher, einem Gleichzeitig, einem Nachher.

»Warum hast du mich hierhergebracht?« fragte Abel.

Die Frau stützte sich ein wenig empor und sah ihn besorgt an.

»Sei still. Sprich nicht!«

»Bitte, ich muß es wissen. Warum hast du das getan?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe nicht darüber nachgedacht. Ich habe dich immer vor mir gesehen – seit jener Nacht... Wie lange ist es her?«

»Lange. Unermeßlich lange.«

Sie schwiegen. Dann sagte die Frau:

»Vielleicht war es Mitleid.«

»Mitleid«, wiederholte Abel flüsternd; es hörte sich an, als müßte er darüber nachsinnen. »Mitleid.«

»Als ich dich damals im Gang draußen traf, da wußte ich zwar nicht, wie es weitergehen würde, aber ich wußte, daß etwas geschehen würde. Aber ich sah auch das Ende voraus. Das Ende stand von vornherein fest.«

»Ist denn das Ende nahe?«

»Es hat schon begonnen.«

»Wie wird es aussehen ... ich meine: Wie ist es – das Ende?«

»Bitte, frag mich das nicht.«

»Gehört das ... jetzt ... ich meine diese Stunde, auch zum Ende?«

»Nein«, sagte die Frau. »Sie liegt außerhalb, außerhalb alles Voraussehbaren. Niemand hat sie vorausgesehen. Ich nicht, du nicht. Selbst der Major konnte sie nicht einkalkulieren. Wahrscheinlich war es das, was mich dazu veranlaßt hat – etwas außerhalb alles Berechenbaren zu tun. Wir können nicht wissen, was für Folgen etwas hat, aber alles hat Folgen, das ist sicher. Es sind Folgen, die wieder unberechenbar sind und selbst unberechenbare Folgen haben, und so geht das ewig weiter.«

»Und das willst du?«

»Das will ich. Wahrscheinlich bin ich so wie du. Denn auch du wolltest es – wenn auch anders als ich. Du wolltest den Major töten. Im Grunde genommen ist es dasselbe.«

»Kann es verhindern, daß das Ende kommt?«

»Nein, das ist unmöglich.«

»Hat es denn dann noch Sinn?«

»Das Ende betrifft nur einzelne – dich, mich und jeden. Das, was erhalten bleibt, ist etwas anderes – es ist die Hoffnung.«

Sie schwiegen lange, nur ihre Atemzüge waren zu hören. Ganz allmählich verrann die alles silbrig verschleiernde Benommenheit in Abels Gehirn. Sein Blickfeld wurde weiter – er sah nun nicht mehr nur das, was vor seinen Augen lag. Es gab auch das Außerhalb, das Beängstigende, das Üble. Er faßte das Handgelenk der Frau und hob es ein wenig auf – die Armbanduhr zeigte auf 11.45.

»Die Parade ist vorüber«, sagte er. Mit einemmal fühlte er sich wieder müde, trostlos, verloren. Seine Muskeln schmerzten, im Kopf hämmerte etwas monoton. Die Fragen waren nun wieder deutlich, er hätte sie formulieren können, aber das stetig klarer werdende Bewußtsein der Sinnlosigkeit der Fragen, die er hätte fragen können, aller Antworten, die er hätte bekommen können, aller Taten, die er noch tun könnte, errichtete eine Mauer um das matte Aufflackern seines Wünschens. Er stand an einem schwarzen Schacht bodenloser Hoffnungslosigkeit.

»Die Parade ist bald vorüber«, sagte er noch einmal. »Ich gehe in meine Zelle zurück. Du weißt, daß es das beste ist.«

Er streifte die Decke zurück und ließ sich nicht anmerken, wieviel Entschlußkraft ihn diese einfache Bewegung kostete.

»Bleib ruhig«, sagte er.

Er spürte, daß er jetzt trotz allem der Stärkere war. Er band den Gürtel seines Bademantels fest, zog die Pantoffeln an. Die Frau lag auf der Couch. Sie hatte sich zur Wand gedreht und hielt die Fäuste vor den Mund gepreßt.

Abel sah nicht hin. Er konnte nicht hinsehen. Er öffnete die Tür und ging.

Niemand befand sich im Vorraum. Er trat auf den Korridor hinaus. Rechts die erste Tür – das war der Eingang zu seiner Zelle. Er öffnete sie nicht. Ein klirrendes Fenster fesselte seine Aufmerksamkeit. Er trat vor und blickte durch die Scheiben.

Die grauen Gebäude lagen wie Felsen unter dem gelben Dunst des Himmels. Die Fenster sahen aus wie Eingänge zu Höhlen. Die grau zementierten Wege schnitten Rechtecke aus dem gelben Boden. Drüben am großen Appellplatz vor dem Waffenmagazin bewegte sich das ganze Bataillon wie ein einheitlicher Körper – ein Tausendfüßler marschierte auf den bebenden Zementwegen in einem geschlossenen Kreis um das Waffenmagazin herum.

Er marschierte an den hundert Korporalen, den zehn Sergeanten und dem Major vorbei. Der Major stand etwas über allen auf einem Postament. Er sah einen endlosen Zug Soldaten an sich vorbeiziehen. Sah er sie wirklich, oder blickte er durch sie hindurch, in irgendein aufregendes Geschehen: voll von Mannesmut und Soldatentum? Niemand konnte es wissen. Er stand zu fern von den andern. Er hielt seine Hand grüßend an die Mütze, unbewegt, ein Standbild aus Stein gemeißelt.

Der Boden zitterte. Abel spürte es bis hierher. Abwechselnd stießen tausend linke und tausend rechte Füße mit harten Stiefelabsätzen wie Hämmer auf die Erde nieder. Tausend. Abel fiel es jetzt erst auf: nicht tausend, sondern neunhundertachtundneunzig. Zwei fehlten. Austin und er.

Ein leises Zittern lag in Abels Augenwinkeln, das Zittern eines nicht bis zur Oberfläche durchdringenden Sichregens von Erschütterung. Zwei fehlten – und doch war das Ganze betroffen. Es war nicht mehr vollständig, nicht mehr makellos, es saß etwas in ihm, das weiterwirken würde, über Generationen hinweg, unausrottbar. War das die Hoffnung? Es mußte die Hoffnung sein, von der die Frau gesprochen hatte. Aber es war keine Hoffnung für den einzelnen.

Abel wandte sich um und ging rasch vor, an der Tür zur Zelle vorbei, durch den Vorraum mit den Stahlrohrsesseln, in die Halle mit der Maschinerie. Er trat auf den Platz vor das Pult und legte die Hand auf den Hebel.

»Versinken in der Dämmerung. Bunte Kissen. Die gestreifte Decke. Das Bild an der Wand...« Er sprach tonlos, aber laut und deutlich. Der Lochstreifen schlängelte sich summend aus dem Schlitz.

»... die Wärme. Der Geruch von Tee ... der Geschmack. Das blonde Haar, das Gesicht. Die Augen, der Mund, die Hände. Ihre Hände, ihre Augen, ihr Mund.«

Relais klickten, ein Lochstreifen lief. Dann war es still.

Abels Hand umklammerte den Griff des Hebels. Es blieb still. Er wartete. Jäh packte ihn Angst, die Maschine könnte ihn im Stich lassen...

Schließlich heulte die Maschine auf. Eine Klappe öffnete sich, und dann raschelte etwas – das Plastiktütchen. Hastig griff er danach und steckte es ein. Dann ging er zurück, durch den Vorraum, in den Korridor. Er sah nicht mehr nach dem Fenster. Er öffnete die Tür zu seiner Zelle und schloß sie. Geistesabwesend sah er sekundenlang das einzige Möbelstück, das eiserne Bettgestell, an. Dann schob er das Kissen zurecht. Es fühlte sich kalt an. Er setzte sich auf den Bettrand, streckte sich lang aus.

Seine Finger zerrten am durchsichtigen Plastikstoff des kleinen Behälters, rissen ein Loch hinein. Fünf Tabletten rollten in seine Hand. Er steckte sie alle fünf in den Mund und schluckte sie. Langsam spürte er sie in den Magen hinuntergleiten. Er hob einen Arm über das Kissen, bettete den Kopf hinein und schloß die Augen.

Jetzt konnten sie kommen. Er war bereit.

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