9

Beim Morgenappell sagte der Major: »Jeder Tag des Soldaten ist Vorbereitung auf den großen Krieg. Wir wissen nicht, wann der Feind angreift, aber wir sind bereit. Wann immer er zuschlägt, wir werden zurückschlagen. Wir werden kämpfen bis zum Sieg oder bis zum Untergang. Wir werden unsere Pflicht tun, für Freiheit und Vaterland.«

Die Blöcke aus Reihen und Gliedern standen unbeweglich. Die eisernen Gesichter waren dem Major zugewandt. Abel stand neben Austin. Keiner von beiden zuckte mit der Wimper.

»Ununterbrochen müssen wir an uns feilen, um in Höchstform zu bleiben. Ununterbrochen müssen wir gegen den inneren Schweinehund ankämpfen. Wir Soldaten sehen geradeaus – es gibt nichts, was uns hindern könnte, unsere Pflicht zu tun. Hört ihr, Leute: Nichts kann uns hindern.«

Zum erstenmal bewegte sich der Major – er zog die Schultern nach hinten und stand noch gerader da als vorher –, einsam inmitten der geballten Masse seiner Leute.

»Jeden Tag kann der Krieg ausbrechen. Jede Stunde müssen wir damit rechnen. Vielleicht ist er näher, als wir ahnen.«

Er schwieg. Die Mannschaft harrte regungslos auf den nächsten Befehl. – »Zum Tablettenfassen weggetreten!«

Wie etwas Einheitliches, Zusammengewachsenes sprangen die zehn Sergeanten vor, machten kehrt und gaben das Kommando weiter. Die Salven ihrer herausgestoßenen Worte schossen über die Mannschaft hinweg. Die Starre zerschmolz in einem jähen Zusammenknicken, dann kam ein Moment des Chaos, des sinnlosen Aneinanderstoßens, des Drängens und Schiebens, und dann folgte das Gewirr aus pflichtbewußter Zielstrebigkeit und automatischem Laufschritt, das in ein anderes Ordnungssystem überleitete – das Grätenmuster der abmarschbereiten Züge.

Jeder Tag begann wie der andere. Alle Befehle klangen gleich. Es war kein Unterschied zwischen gestern, heute, morgen. Oder doch?

Abel hatte das Tremolieren der Stimme des Majors gehört, als er davon sprach, daß der Krieg nahe bevorstand. Hatte er schon oft davon gesprochen? Abel erinnerte sich nicht. Aus den Augenwinkeln blickte er zum Major...

Es gab einen Unterschied. Der Major stand nicht allein – die zehn Sergeanten waren vor ihm angetreten. Er sprach, doch das Kehlkopfmikrofon war abgeschaltet, der Major hielt es in der Hand.

Es gab einen weiteren Unterschied: Als sie zur Tablettenausgabe angetreten waren, standen neben den zehn kreisrunden Löchern des Vorratsmagazins die Sergeanten.

Als das Plastikpäckchen aus dem Schnabelende der Rinne kam, fühlte Abel den Blick des Sergeanten auf sich ruhen. Langsam, um Zeit zum Überlegen zu gewinnen, riß er das Tütchen auf und steckte eine Tablette nach der anderen in den Mund – auch die schwarze; er hielt sie unter der Zunge, bis er wieder in der Reihe stand. Dann erst spuckte er sie aus.

Sie hatten also Verdacht geschöpft. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Er brauchte auch nicht mehr viel Zeit.

Die Schießstände befanden sich am Rande des Exerzierplatzes. Die Scheiben waren an der Mauer angebracht, sie steckten in den Rahmen einer komplizierten Vorrichtung, die sie nach jedem Schuß hinunterführte und abtastete. Dann erschien an der linken Seite die Zahl des getroffenen Ringes in großen leuchtenden Ziffern auf schwarzem Grund. Fünfzig Meter davor lagen die Holzböcke, von denen aus die Schüsse abgefeuert wurden.

Die zehn Soldaten des sechsundfünfzigsten Zuges standen davor angetreten.

»Feuerstellung, marsch, marsch!«

Sie stürzten nach vorn und warfen sich auf die Pritschen.

»In Linie angetreten, marsch, marsch!«

Der Korporal stand auf der trockenen Betonstraße. Die Mannschaft stand im zerstampften Lehm. Jeder tief eingedrückte Fußtritt war von Wasser gefüllt.

»Feuerstellung, marsch, marsch!«

Sie stoben auseinander. Das Wasser spritzte. Die Lehmklumpen flogen. Die Hosenbeine waren braun gesprenkelt. Es rollte, wie Kanonenfeuer, als sie sich fast im gleichen Moment auf die Pritschen warfen.

»Das geht zu langsam. In Linie angetreten! Kehrt, marsch, marsch! Fliegerdeckung! Auf, marsch, marsch! Fliegerdeckung! Auf, marsch, marsch! Ganze Abteilung kehrt! Fliegerdeckung!«

Der Boden war weich. Man lag bequem. Aber die Kleidung wurde immer schwerer, während sie sich langsam vollsog. An Knien und Ellbogen war die Nässe längst durchgedrungen. Auf den Gesichtern krustete der Lehm.

»Auf, marsch, marsch! Feuerstellung!«

Im Rennen rissen sie die Pistolen aus den Taschen. Während sie über die Pritschen fielen, brachten sie sie in Anschlag.

»Wir schießen auf Scheiben«, sagte der Korporal. »Ich gebe fünf Schuß frei. Archie 56/1 beginnt. Ich werde zählen: Eins, zwei, drei, los. Auf los geht’s los. Achtung: Eins, zwei, drei, los!«

Der erste Schuß krachte. Die Scheibe senkte sich. Die Leuchtziffer erschien: eine Drei.

Archie versuchte, seinen fliegenden Atem zu beruhigen. Er zog durch, zielte genau und drückte ab. Eine Zwei. Die nächsten Schüsse brachten eine Sieben, eine Vier und noch eine Vier.

Der Korporal brüllte: »Das ist ein Skandal! Sie Knalltüte! Sie Hammel! Archie! Sie melden sich beim Mittagsappell. Verstanden?«

Archie sprang auf: »Jawohl, Herr Korporal!«

»Jawohl, Herr Korporal! heißt das!« Der Korporal brüllte es wie toll in das Megafon. »Warum flüstern Sie mich an? Sind Sie schwach auf der Lunge? Ist Ihnen der Atem ausgegangen? Damit Sie es lernen: hundert Kniebeugen. Arme in Vorhalte. Los!«

Der Korporal sah ihm eine Weile zu. Dann seufzte er:

»Der nächste! Adam 56/2! Sie schießen besser. Haben Sie gehört? Ich befehle Ihnen, besser zu schießen. Unser Zug muß die besten Ergebnisse haben. Das ist ein Befehl. Männer, habt ihr verstanden?«

Wie an unsichtbaren Fäden aufgezogen, fuhren sie empor.

»Jawohl, Herr Korporal!«

»Gut so«, sagte der Korporal. Er musterte seinen Zug. Sein Kinn war vorgeschoben. Ruckartig drehte er den Kopf von einem zum andern.

»Feuerstellung! Wer nicht besser schießt als der da«, er deutete verächtlich auf Archie, »mit dem fahre ich Schlitten. Leute, das verspreche ich euch. Also, Adam! Achtung! Eins, zwei, drei, los!«

Adam schoß besser, wenn auch nicht gut. Der nächste kam dran.

Die Schüsse blafften in kurzen Serien. Langsam näherten sie sich Abel, dem siebenten in der Reihe.

Abel hatte fünf Schüsse im Magazin, doch er hatte nicht die Absicht, sie alle zu verschießen. Er brauchte Munition. Zwei Kugeln mußten genügen.

»Abel 56/7, Sie kommen dran. Zeigen Sie, was Sie können!«

Abel war ein guter Schütze, der Korporal erwartete viel von ihm. Heute konnte ihm Abel die Enttäuschung nicht ersparen. Zwei Schüsse neben die Scheibe – das kostete mindestens zwei Stunden Nachexerzieren. Aber er würde es mit Vergnügen tun.

»Achtung! Eins, zwei, drei, los!«

Den ersten Schuß drückte er normal ab. Eine Zehn. Er zog durch und legte wieder an. Der Korporal stand weit genug von ihm entfernt. Jetzt mußte Abel es wagen...

Die Schießbahnen zogen sich weit nach links und rechts. Hundert waren es im ganzen. Hundert Mann übten zugleich, im besten Fall hatten zehn von ihnen zugleich den Schießbefehl. Es knallte unablässig, manchmal näher, manchmal ferner. Das Geprassel der Schüsse hatte sich Abel tief ins Gedächtnis geprägt. Früher, bevor er seinen Willen wiedererlangt hatte, war es eines seiner Vergnügen gewesen, sich in freien Minuten die Staccatomusik der Pistolen vorzustellen; es hatte ihm ebensolches Vergnügen bereitet wie das Dröhnen der marschierenden Kolonnen oder das Durcheinanderrufen der Befehle. Heute konnte er das nicht mehr verstehen.

Aber er kannte das Gesetz des Pistolengeknatters genau. Nur selten fiel ein einzelner Schuß, häufiger waren zwei Schüsse kurz hintereinander, und noch häufiger drei Schüsse. Vier Schüsse in einer ununterbrochenen Abfolge kamen schon wieder seltener vor, und noch seltener waren längere Serien.

Abel wartete einen Einzelschuß ab, und sobald nach einer kurzen Pause wieder ein Schuß knallte, verließ er sich darauf, daß dieser wieder eine kleine Serie einleitete – und er bekam recht. Er tat so, als drücke er ab – er ließ den Arm zurückschnellen, als hätte ihn der Rückstoß getrieben, und zog frisch auf.

Die Scheibe bewegte sich...

Ja, die Scheibe bewegte sich – er konnte es nicht fassen; denn er hatte keinen Schuß abgegeben. Er schielte zum Korporal ... dessen Augen waren zusammengekniffen und hingen an der Zielanzeige.

»Ganz ordentlich, Abel«, sagte er.

Abel sah nach vorn: Dort leuchtete die Zwölf. Hatte er aus Versehen abgedrückt?

Er hatte seinen Trick erst beim zweiten Durchgang wiederholen wollen, aber dafür bestand nun kein Grund mehr. Einen Schuß gab er normal ab und erzielte eine Neun. Die nächsten beiden täuschte er wieder vor – und die Anzeige brachte eine Zehn und eine Acht.

Abel verstand nicht, was geschehen war. Zwar hatte er an sein Täuschungsmanöver geglaubt, er hatte sich auf die Schußserien verlassen und auf den Stecklautsprecher im Ohr des Korporals, der verhinderte, daß dieser richtungshören konnte; dafür hatte er in Kauf genommen, für zwei Fehlschüsse bestraft zu werden. Und nun hatte alles auf unerklärliche Weise besser geklappt, als er gehofft hatte. Er zerbrach sich den Kopf nicht weiter darüber. Hauptsache, es hatte geklappt.

Nach ihm schossen noch drei Kameraden, doch er hörte ihre Schüsse nicht. Er hatte drei unversehrte Patronen aus dem Magazin gleiten lassen, und sie lagen jetzt kalt und hart in seiner Handfläche – kleine Metallzylinder, die die Wunden und den Schmerz brachten. Er hielt den Tod in der Hand. Zum erstenmal, seit er sich zurückerinnern konnte, fühlte er sich glücklich.

Als sie zur Mittagsruhe in die Baracken traten, trafen sie ihre Stube in heillosem Durcheinander an. Alle Schränke waren geöffnet und von den Wänden abgerückt; der Inhalt lag über den Boden verstreut – die Mäntel, die Hosen, Jacken und Mützen der guten Uniform, die sie an den Sonntagen beim Verlesen der Wochenparole und danach beim Vorbeimarsch am Major und den Unteroffizieren anhaben mußten; die Tornister, Gasmasken, Zeltstäbe, Handtücher, Seifenbehälter, das Unterzeug, die Turnhosen und die Pyjamas, kurz all ihr kärgliches, einheitliches Eigentum. Die Schächtelchen mit dem Putzzeug für die Schuhe, für die Kleidung und für die Waffen waren geöffnet, die Bürsten, Lappen und Tuben waren ausgeschüttet. Selbst die Decken, Kissen und Matratzen lagen neben den Betten, deren Stangengerippe leer im Raum standen.

Die Sergeanten hatten inspiziert. In jedem Soldaten konzentrierte sich das Denken auf mögliche Fehler und Unterlassungssünden. Hatte alles auf seinem Platz gestanden? War alles sauber gewesen? Wenn sie auch stets mit einer Inspektion rechneten und sich beim Aufräumen um die vorgeschriebene Ordnung bemühten, so hatte doch jeder das Gefühl der Schuld. Jeder wußte: Die Sergeanten konnten immer und überall etwas finden – ein Quentchen Erde auf den Schuhen, eine Spur Lehm auf der Kleidung, einen Fingerabdruck auf dem Koppelschloß, eine falsch gefaltete Decke, eine quietschende Spindtür – irgend etwas, an das niemand gedacht hatte und das doch entscheidend war: denn der kleinste Fehler zerstört die Ordnung des Ganzen. Der ausgefranste Rand einer Turnhose – er zerstörte nicht bloß die Ordnung des einzelnen, nein, auch die der Züge, die der ganzen Mannschaft, die der gesamten Kaserne. Und er mußte entsprechend geahndet werden.

Die Belegschaft der Stube wirbelte durcheinander. Sie hatte zehn Minuten Zeit, um die Ordnung wiederherzustellen, dann kam der Korporal, sie hatten in den Betten zu liegen, und ihre Kleidungsstücke mußten säuberlich auf den Hockern angeordnet sein.

Auch Abel konnte sich diesem Schreck nicht verschließen. Zwar hatte er alles so eingerichtet, daß kein Verdacht auf ihn fallen konnte, aber als er sich wie alle anderen Stück um Stück seiner Ausrüstung, der ihm anvertrauten Gegenstände durch den Kopf gehen ließ, da verdeutlichten sich seine Vorstellungen unter der Last des Schrecks, der Drohung und der Schuld, und sofort trat die Situation einer Unterlassungssünde überdeutlich in sein Denken: eine aufgetrennte Naht, Glaswolle, die herausquoll – seine Matratze, sein Versteck.

Natürlich war das Versteck leer. Die Teile seiner Pistole befanden sich längst in der Sicherheit des weiten Exerzierfeldes, die gestohlene Seife hatte er breitgequetscht – sie lag als dünner Höcker an der Innenseite seines Stahlhelms, den er aufhatte –, und die drei Schuß Munition hatte er durch das Futter seiner Tasche gebohrt. Er konnte sie am unteren Jackensaum fühlen. Wenn es sein mußte, wenn sich irgendeine weitere Untersuchung andeutete, ein Kleidungs- oder ein Körperappell, dann würde er sie verschlucken. Trotzdem war es bedenklich, wenn sie die offene Stelle in der Matratze gefunden hatten; vielleicht erfaßten sie den Zusammenhang? Abel malte sich ein düsteres Bild aus: Der Korporal verkündete den aufgefundenen Mißstand und verhängte eine strenge Untersuchung, Strafdienst, Gefängnis, vielleicht einen außerordentlichen medizinischen Test durch die Automaten. Dann war alles vorbei, was er sich erhofft und erträumt hatte. Der Major würde triumphieren. Der Gedanke daran krampfte ihm die Eingeweide zusammen. Heftig pulsierte die Halsschlagader in der engen Fessel des Kragens. Die Spannung wurde unerträglich.

Einen Augenblick lang ergriff ihn der dringende Wunsch, davonzulaufen, sich irgendwo zu verkriechen und die bevorstehende Entladung in einem entlegenen Winkel des Exerzierplatzes, möglichst weit von ihrem Schauplatz abzuwarten. Mühsam unterdrückte er das Verlangen. Es war sinnlos. Sicher war er nur zwischen den anderen. Er versuchte, die tief in seinem Fühlen sitzende Furcht zu überspielen, indem er sich auf seinen Plan konzentrierte. Nur nicht nachlassen! Er wandte die eiserne Selbstüberwindung, die ihn die Vorgesetzten gelehrt hatten, nun gegen sie an, gegen sie und auch gegen alle, die den Major verehrten. Mit ihm traf er das Ganze.

Die Ordnung war fast wiederhergestellt, die Spinde eingeräumt, die Kleider hingen an den Haken, einige Soldaten hatten schon die Pyjamas angelegt und schichteten ihre Kleidungsstücke auf den Hockern übereinander. Abel ergriff Besen und Kehrichtschaufel und fegte. Es gab nicht viel zu fegen, nur einige frisch hereingetragene Krümel, aber es mußte geschehen, und es gab ihm die Möglichkeit, für kurze Zeit allein zu sein. Er kippte die Schaufel in den Mülleimer und trug ihn hinaus, an die Seitenwand der Baracke, zu den Abfalltonnen. Er öffnete den Deckel ... niemand befand sich in der Nähe ... er bückte sich tief, nahm den Helm ab und drückte gegen die angekittete Seife. Sie löste sich glatt, und er fischte sie zwischen dem Stirnstreifen und den Kopfbinden heraus. Keine fünf Sekunden waren verlaufen, und er hatte den Helm wieder auf dem Kopf und ging zur Stube zurück. Die Seife steckte in seiner Tasche.

Auf dem Rückweg hatte er noch etwas zu besorgen. Er blieb lauschend vor einer Stubentür stehen. An ihr befand sich wie an jeder anderen ein Rahmen, nach oben offen und an den Seitenteilen schienenartig aufgebogen. In jedem steckte eine rechteckige gelbe Kunststoffolie, auf die schwarz die Stubennummer gedruckt war. Abel zog sie in einer raschen Bewegung heraus und klemmte sie innerhalb der Jacke unter den Arm. Er kehrte in die Stube zurück und stellte den Mülleimer an die dafür vorgesehene Stelle. Darauf trat er zu seinem Spind, zog die Schuhe aus, reinigte sie eilig und stellte sie hinein. Die Schuhpasteschachtel behielt er in der Hand, dann nahm er auch noch das gestern erhaltene Seifenstück. Er tat so, als hätte er nun noch etwas an der Matratze seines Bettes zu richten, und stieg hinauf. Er war bloßfüßig, doch die übrige Kleidung hatte er noch anbehalten, und hinter der vor Einsicht geschützten Oberkante seiner Liegestatt ließ er die beiden Stücke Seife, die Schuhpasteschachtel und die Plastikfolie unter die Decke gleiten. Nun war er für seine letzten Vorbereitungen gerüstet.

Der Korporal kam pünktlich. Flüchtig sah er sich in der Stube um. Einer der Männer regte sich unter der Decke, und der Korporal bemerkte es.

Er schrie: »Mensch, es ist Mittagsruhe! Sie haben den Befehl, zu schlafen! Sie sind wohl nicht müde, was? Raus aus dem Bett, Allan! Da Sie noch so munter sind, muß ich Ihnen Bewegung verschaffen. Sie drehen fünfzig Runden um das Haus. Spritzen Sie los, Sie Trantüte!«

Mit dröhnenden Schritten ging er zwischen den Betten umher.

»Wie haben Sie Ihre Kleider aufgebaut, Adam! Raus aus der Kiste! Sehen Sie sich das mal an!« Mit dem Fuß streifte er die Kleider vom Hocker. »Bauen Sie Ihre Klamotten richtig auf! Na, wird’s bald!«

Adam gehorchte.

»Männer, herhören!« sagte der Unteroffizier. »Heute war Stubeninspektion. Der Major hat sie selbst vorgenommen. Wißt ihr, was er gefunden hat?« Er klappte ein Notizbuch auf. »Archie 56/1, Sie ... Sie...! Unter Ihrem Spind war eine Menge Staub. Außerdem fehlte ein Stück Sohle an Ihrem Stiefel. Bleiben Sie liegen, wir sprechen uns später!

Adam! Wo ist er? Ach, der läuft seine Runden. Anton! Wenn man Ihre Gasmaske sieht, wird einem speiübel. Sie blödes Rindvieh! Sie haben sie seit Wochen nicht gereinigt. Die Augenfenster sind verklebt. Der Filter stinkt. Außerdem fehlt ein Knopf an Ihrem Mantel. Albert...«

Es war schlimm, aber Abel fühlte sich sicherer, je näher ihm das Unheil rückte. Der Major war übergenau gewesen. Nichts war ihm entgangen. Hatte er Angst? Ahnte er Unheil? In der Menge des Beanstandeten mußte Abels Fehler untergehen.

»Abel 56/7. Sie Trottel bewahren Ihre Seife im Stiefel auf! Sind Sie wahnsinnig geworden? Wozu benützten Sie Ihre Seifenschachtel? Sie Flasche! Ihre Kleiderbürste ist vor Dreck nicht zu sehen. In Ihrer Matratze ist ein Loch. Warum melden Sie das nicht? Austin...«

Es war vorbeigegangen. Das Loch in der Matratze – eine Lappalie. Aber die Seife in den Ersatzstiefeln! Er hatte sie vergessen, völlig vergessen. Es war eine erschütternde Erkenntnis für ihn, daß er etwas vergessen konnte. Daß er nicht unfehlbar war. Der Mensch, der aus ihm geworden war, seit er kein Betäubungsmittel mehr nahm, machte Fehler. In Zukunft mußte er sich nicht nur vor den anderen schützen, sondern auch vor sich selbst.

»Ich bin noch nicht fertig«, sagte der Korporal. »Ich habe noch eine Mitteilung zu machen. Im Magazin wurde eine Taschenlampe entwendet. Sie wurde hinter der Nachbarbaracke, im Mündungsstutzen des Dachrinnenabflusses eingeklemmt, gefunden. Weiß jemand, wie diese Taschenlampe dorthin gekommen ist? Hat jemand etwas beobachtet?«

Es war still. Keiner wagte sich zu rühren. Etwas Ungeheuerliches war geschehen. Sabotage. Jede Regung, jetzt nach der Mitteilung des Unteroffiziers, hätte Verdacht erwecken können.

»Niemand etwas beobachtet?«

Austin. Das war Austin gewesen. Abel hatte seine Taschenlampe in den Müllschacht geworfen, diese mit einem Deckel versehene Grube, in die die Abfälle geschüttet wurden; in der Tiefe fielen sie klatschend auf. Abel hatte beim Leeren der Tonnen einmal hineingesehen – die Flüssigkeit löste alle Materialien in ein paar Sekunden auf. Es zischte und sprudelte, dann war keine Spur mehr davon da. Er hatte Austin geraten, dasselbe zu tun, aber dieser Narr war nicht mit ihm gekommen, bevor sie in die Baracke zurückgekehrt waren. Nun erst wußte Abel, was er getan hatte.

»Der Major befiehlt, jede kleinste Beobachtung zu melden!«

Der Korporal machte eine Pause. Dann sagte er:

»Wer sich irgendwie mitschuldig gemacht hat und die Sache jetzt meldet, geht straffrei aus. Fällt jemand etwas ein?«

Stille.

»Der Major ist großzügig. Wenn jemand etwas aufgefallen ist, hätte er es längst melden müssen. Und er wird trotzdem nicht bestraft.«

Er machte wieder eine Pause.

»Wer etwas meldet, das zur Aufklärung dient, darf einmal zu den Engeln.«

Die Worte klangen im Raum und in den Hirnen nach. Sie waren nicht sofort erfaßbar.

Der Korporal drehte sich auf seinem Absatz um und ging hinaus.

Heute konnte wohl kein Mann der Belegschaft gleich einschlafen. Abel mußte ungeheuer leise zu Werke gehen. Glücklicherweise hatte er nichts, was Lärm machte. Er feuchtete die beiden kleinen Seifenziegel mit Spucke an und knetete sie unter der Decke, einen nach dem anderen, bis sie genügend elastisch waren, um sich zu einem Stück vereinigen zu lassen. Das war genug für den Lauf.

Nun fügte er noch etwas schwarze Schuhpaste hinzu. Verstohlen holte er den Klumpen ab und zu hervor, um sich zu überzeugen, ob die Farbe gleichmäßig verteilt und schon dicht genug war. Allmählich erhielt die Masse jenes Aussehen, das Abel sich wünschte, den stumpfen Glanz von Metall.

Als das zur Zufriedenheit gelungen war, wälzte er das Material zwischen den Händen zu einem wurstartigen Gebilde, um das er hierauf die Plastikfolie wickelte. Mit raschen geschickten Bewegungen rollte er das Ganze weiter, wobei er die Hände kräftig zusammendrückte, so daß sich der Durchmesser allmählich verkleinerte, bis er das richtige Maß hatte – jenen des Pistolenlaufs.

Wieder schob Abel die Decke zurück und sah sein Werk prüfend an. Es war noch zu lang. Er biß die beiden Enden ab und polierte sie dann an der Betteinfassung glatt. Noch einmal prüfte er das Ergebnis: Von der Seite war das Gebilde von einem Pistolenlauf nicht zu unterscheiden.

Der letzte Akt der Vorbereitungen lief beim Pistolenreinigen ab. Die paar Handgriffe waren leichter auszuführen als der nun schon fast zur Routine gewordene Aktionsablauf, durch den er an jedem der vorangegangenen Tage um einen Pistolenteil reicher geworden war. Es war nicht nötig, die Attrappe besonders zu verbergen. Von der Hand auch nur teilweise bedeckt, konnte sie irgendeines der Stücke sein. Die äußere Ähnlichkeit mit dem Lauf wurde vollkommen, als Abel mit dem Stab, der mit dem herumgewundenen Putzlappen zum Reinigen und Schmieren des Laufes diente, eine Öffnung in die Seifenmasse bohrte – das Mündungsloch. Ohne am Gelingen seines Vorhabens zu zweifeln, steckte Abel die Attrappe in die Tasche und wartete die abschließende Prüfung ab. Diesmal war es nicht einmal nötig gewesen, einen Kameraden hereinzulegen, um ein Ablenkungsmanöver zu inszenieren. Während er hinter dem Rücken die Schraube lockerte, zog er den richtigen Lauf von der Pistole ab, steckte den falschen hinein, zog die Schraube wieder zu; die Seifenmasse bot keinen Widerstand.

Dem Korporal fiel nichts auf, als er Abel die Pistole abnahm. Ahnungslos schob er sie in die Wandklappe des Magazins. Der echte Lauf steckte in Abels Rockfutter.

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