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Die Zeit des mittäglichen Appells rückte allmählich näher. Elf bis zwölf Uhr – die Stunde der körperlichen Ertüchtigung. Heute war Hindernislauf angesetzt. Alle zehn Kompanien befanden sich auf der Rennbahn des Sportplatzes, die Soldaten marschierten, liefen, robbten über den Boden, kletterten über Hinderniswände und sprangen über die Gräben. Sie trugen volle Ausrüstung, schwere Stiefel, Riemenzeug, Behälter mit Gasmasken, Tornister mit Ballastgewichten, Helme aus Platiniridiumstahl. Die Korporale standen bei den Hindernissen und beobachteten mit dem Notizblock in der Hand. Im Zentrum standen die Sergeanten, sie bewegten sich langsam im Kreis, um ihre Kompanie im Auge zu behalten – es sah aus, als zögen sie diese an unsichtbaren Fäden, doch auch Gängelbänder hätten keine engere Verbindung aufrechterhalten können, als es die Kommandos taten, die aus ihren Megafonen prasselten. So explosiv die einzelnen Schreie auch kamen, so verflossen sie doch alle zu einem stetigen Knattern, verwischt durch den linden Zug der vom Boden aufsteigenden Luft, ergänzt durch die dumpfen rollenden Echos von den Häuserwänden. Aus dieser gewaltigen Melodie aber erklang für jeden der Männer die Stimme seines Sergeanten heraus wie ein Fanfarengeschmetter, und sie alle reagierten einhellig und prompt.

»Auf, marsch, marsch!«

»Achtung!«

»Hinlegen!«

»Vorwärts, marsch!«

»Robben!«

»Halt!«

»Vorwärts, marsch!«

»Vorwärts, marsch!«

Die fünfte Kompanie, die Kompanie, der Abel angehörte, lief mit angelegten Gasmasken. So hatte Abel Gelegenheit, Austin, der sich links neben ihm in der Reihe bewegte, durch die runden Augenöffnungen unauffällig zu beobachten. In jeder winzigen Pause zwischen Minutenfolgen gespannter Aufmerksamkeit blickte er nach links hinüber, begierig auf jedes Anzeichen, das das Gelingen seines Versuches angezeigt und ihm einen Gefährten verheißen hätte.

»Gasmasken ab!«

Im Laufen nestelten sie an den Kautschukriemen, zogen sie aus den Spangen, zerrten sie durch die Laschen, lösten die Kontaktstreifen von den schweißtriefenden Gesichtern, stülpten den Gesichtsteil über das Ventil, schoben die nun in ein unauffälliges Gummiknäuel verwandelte Maske in die zylindrische Schachtel.

»Zugführer Kommando übernehmen.«

Die Ertüchtigungsrunde war beendet. Die Blöcke der Kompanien teilten sich in je zehn Reihen, die aus der Bahn scherten und einzeln über die Wege ihren Unterkünften entgegengingen. Sie zogen Spuren von Lehm, Schlamm und Wasser hinter sich her, die sie abends, in der Reinigungsstunde, beseitigen mußten.

Abel war des Wartens müde. Austin benahm sich wie immer. Entweder war er zu schlau, um sich etwas anmerken zu lassen – oder Abel hatte sich getäuscht.

Singend marschierten sie dahin, bis ein Befehl des Korporals den Gesang jäh abreißen lassen würde. Dann müßte jeder trachten, möglichst schnell in die Stube zu kommen, möglichst schnell ausgezogen zu sein, möglichst schnell...

»Lied aus!«

Das kurze Zwischenspiel nach der beendeten und vor der folgenden Dienststunde hatte begonnen.

»Abteilung halt!«

Sie hielten vier Meter vom Tor entfernt.

»Wegtreten, marsch, marsch!«

Sie stürzten auf das dunkle Rechteck zu, der Flur verschluckte sie. Der Korporal folgte nicht gerade schnell und nicht gerade langsam – doch langsam genug, um die Männer für acht Sekunden unbeaufsichtigt zu lassen.

Abel packte Austin am Arm und sagte leise, aber drängend:

»Du darfst die schwarze Tablette nicht nehmen. Verstehst du? Die schwarze Tablette nicht nehmen!«

Austin blickte ihn den Bruchteil einer Sekunde lang an. Die Lichter in seinen Augen flackerten. Dann zischte er:

»Halt’s Maul.«

Er sagte es wütend und aggressiv, doch Abel merkte nur, daß er etwas sagte, und nicht, was oder wie er es sagte. Zwar bestand auch jetzt noch keine Gewähr dafür, daß ihn Austin nicht anzeigen würde, dafür aber war Abel sicher, daß er richtig kombiniert hatte: Die schwarze Pille war daran schuld, daß sie in einem ununterbrochenen Dämmerzustand dahinvegetierten, in einer stumpfsinnigen Euphorie, die ihnen den Dienst als Belohnung, die Befehle als Quelle der Freude, die Kaserne als Heimat, den Major als Gott erscheinen ließ, daß sie empfindungslos waren gegenüber Recht und Unrecht, daß sie das Vermögen der Kritik verloren hatten, daß sie keinen Willen besaßen und keine Fähigkeit der Entscheidung. Die schwarze Kugel – ein chemisches Präparat, das das Gehirn vergiftet oder die Drüsen lähmt, das hormonale Gleichgewicht stört oder die Nervenbahnen blockiert. Das mit den Nährmitteln in den Körper eingeschmuggelt wird. Die schwarze Kugel war schuld – daß sie Soldaten waren.

Der Mittagsappell kam heran und ging vorbei. Austin sagte nichts. Tagsüber hatte Abel keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen; er hoffte auf die Nacht. Um sechzehn Uhr fünfundvierzig, bei der zweiten Tablettenausgabe, beobachtete er, wie Austin die schwarze Kugel zum Mund führte, aber nur so tat, als ob er sie nähme. Auch er ließ sie heimlich in die Tasche gleiten. Das war weniger gefährlich, als sie fallen zu lassen.

Die beiden Unterrichtsstunden liefen ab, das Stubenreinigen und das Bad im Waschhaus. Es wurde zwanzig Uhr zwanzig, und sie gingen zu Bett. Um zwanzig Uhr dreißig verlöschte das Licht. Tiefe Atemzüge zeigten an, daß einige schon eingeschlafen waren, obwohl der Korporal noch nicht zur Inspektion gekommen war. Abel spürte keine Müdigkeit. Er lag still unter der grauen, kratzenden Decke und konnte es kaum erwarten, bis der Korporal zum Gute-Nacht-Zauber erschien.

Er ließ nicht lange auf sich warten. Weiß flammte das Licht auf, und die Männer in den Betten hörten seine Schritte. Sie hörten ihn an den Hockern rücken, hörten, wie er da einen Schrank öffnete, dort einen Stiefel unter dem Bett hervorholte. Er prüfte das Schweißband des Helms von Albert und das Kopfkissen Abrahams. Eine knisternde Spannung hatte sich in der Stube verbreitet. Der Korporal ließ sich heute Zeit...

Diesmal traf es Anton. Er mußte die Beine vorweisen, und seine Zehennägel waren schmutzig.

»Raus aus dem Bett, Sie Dreckfink!«

Anton schnellte von seinem Lager auf und nahm Haltung an. Der Korporal fixierte ihn.

»Sie sind wohl müde, he? Rein ins Bett!

Raus! –

Rein! –

Raus! –

Rein! –

Nanu! Das klappt nicht? Ich bringe es euch bei! Alles aus den Betten, marsch marsch!

Ihr braucht eine Auffrischung. Auf den Hof, marsch, marsch!«

Draußen herrschte trübes Dunkel. Einige weit voneinander entfernte Lampen brannten. Der Himmel war schwarzgrau mit einem Anflug von Schwefelgelb.

»In Linie angetreten, marsch, marsch!«

Es war kühl, mit ihren bloßen Füßen und in den dünnen Schlafanzügen froren sie und hatten Mühe, ruhig zu stehen und nicht vor Kälte zu zittern.

»Zum Waschhaus, ohne Tritt, marsch!«

Gespenstisch leise bewegte sich die Schlange aus grauen Schatten zur langgestreckten Baracke mit den Duschen, den Wasserhähnen, Schläuchen und Eimern.

»Unter den Duschen angetreten, marsch, marsch!«

Der Korporal drehte selbst den Hahn auf. Die Männer standen in einem Regen dünner Wasserfäden. Um diese Zeit war die Heizung längst abgedreht.

»Einer für alle, alle für einen.«

Das Wasser rieselte auf die kahlgeschorenen Schädel, rann über Stirn, Hinterkopf und Schläfen, drang in und unter die Jacken und Hosen, legte sich wie Gummi auf die klamme Haut von Rücken, Brust und Bauch, strich über die Schenkel abwärts und bei den Hosenbeinen hinaus. Die Füße standen in schwellenden Lachen.

»Ein Lied!«

Sie sangen ein Lied, eines der Lieder von der Ehre, von der Treue und vom Gehorsam.

»Ein neues Lied!«

Sie sangen, zitternd vor Kälte, ein anderes Lied von der Ehre, von der Treue und vom Gehorsam.

»Seid ihr jetzt sauber?«

»Jawohl, Herr Korporal.«

»Abtreten. In die Betten, marsch, marsch!«

Sie rannten: über die Steinkacheln und über die rohe Erde; von der scharfen Kälte gepeitscht, in den dunklen Flur; stolpernd, stoßend, in die Stube. Sie sprangen in die Betten, naß, wie sie waren, und zogen die Decken bis an die Ohren. Das Licht brannte noch. Die Schritte des Korporals klangen dumpf.

»Unter euch ist ein Dreckschwein, das sich die Klauen nicht wäscht. Dem es nichts ausmacht, daß die ganze Stube dafür bezahlen muß. Kerle!« Er brüllte auf. »Ihr müßt selbst dafür sorgen, daß so etwas nicht vorkommt! Ich hoffe, ihr wißt, was ihr zu tun habt! Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Herr Korporal!«

Die Tür schlug zu, das Licht erlosch. Einen Augenblick war kein Ton zu vernehmen. Dann ging ein Huschen und Stampfen, ein Trampeln und Schleifen durch den Raum, und dann klatschten Schläge, schlugen Fußtritte; es seufzte, stöhnte und keuchte, es ächzte und würgte, es tobte sich aus, bis sich der Eifer legte, weil es nichts mehr gab, was sich wehrte. Es wurde ruhig. Die Nachtruhe hatte begonnen.

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