13

Abel hätte Austin fast übersehen. Er hockte mit angezogenen Beinen, das Kinn auf die Knie gestützt, an der Seitenwand des Vorratsmagazins.

»Was ist los mit dir?« fragte Abel.

Austin wandte ihm das Gesicht zu – ein bleicher Fleck in der Schattenzone; er sagte nichts.

»Ich habe dich gesucht«, sagte Abel. »Wo hast du deinen Sprengstoff?«

Austin zuckte die Schultern.

»Es gibt keinen Sprengstoff. Du hast recht gehabt.«

»Und was hast du jetzt vor?«

»Nichts. Ist der Major tot?«

»Nein«, sagte Abel. »Es hat keinen Sinn mehr.«

»Es hatte nie Sinn.«

»Vielleicht hatte es auch früher keinen Sinn. Aber ich hatte fest daran geglaubt. Und jetzt ... wenn ich es mir überlege: Wie sollen wir überhaupt wissen, was Sinn hat und was nicht.«

Sie schwiegen einige Sekunden. Drüben erschien ein Wachtposten, ging die Straße entlang und bog dann hinter die Ecke einer der gegenüberliegenden Baracken.

»Wir können nicht mehr zurück«, sagte Abel. »Sie haben eine Stubeninspektion gemacht.«

»Wieso weißt du das?«

»Ich weiß es eben.«

»Und was willst du nun tun?«

»Nichts. Wie du.«

Austin stand auf.

»Abel«, bat er, »versuchen wir es noch einmal. Zusammen.«

»Was?« fragte Abel, obwohl er die Antwort schon wußte.

»Ausbrechen. Durch das Loch im Gang. Vielleicht geht es doch, ohne zu sprengen. Es gibt da einen Block ... eine Engstelle. Wenn wir gemeinsam...«

»Schon gut«, unterbrach ihn Abel. »Mir soll’s recht sein. Ich komme mit.«

»Moment«, flüsterte Austin. »Warte!«

Er tauchte in der Dunkelheit unter. Nach einer Weile kam er wieder. Er trug eine schwere Stange. »Es ist der Mittelpfeiler eines Zehnmannzeltes«, erklärte er. »Wir können ihn als Brechstange benutzen. Und zwei Taschenlampen habe ich auch eingesteckt. Wir werden sie brauchen. Komm!«

Sie liefen zum Maschinenhaus, durch das Tor in den Korridor, die Lichterreihe entlang und dann in den dunklen Gang, die Stiegen hinauf, ohne daß sie jemand hinderte.

Austin schlüpfte in das Loch zwischen den Felsen.

»Reich mir die Stange«, rief er.

Abel schob sie nach, und Austin dirigierte sie von innen an die richtige Stelle, dann kam er wieder heraus. Sie legten die Lampen so auf einige Steinbrocken, daß ihre Lichtkegel die Szenerie einigermaßen gut beleuchteten, und stemmten sich dann gegen die Stange. Sie ragte in Kniehöhe, leicht nach oben gerichtet wie eine Wagendeichsel zwischen den Felsen hervor.

»So geht das nicht«, sagte Abel. Er sah sich abwägend um, dann setzte er sich auf die Erde, die Füße gegen die Mauer und gegen die Stange gestemmt. Austin setzte sich in gleicher Haltung daneben.

»Los!«

Das Material der Zeltstange war elastisch und äußerst bruchfest. Sie bog sich, wippte zurück, bog sich wieder ... Knirschen, Gepolter, Staub quoll aus den Felsritzen wie Dampf.

Austin wollte sofort in den Hohlraum tauchen, aber er kam unverzüglich hustend und spuckend wieder zurück.

Sie mußten warten.

Abel hob die Taschenlampe auf und schaute sich ein wenig um.

»Sieht aus wie ein natürliches Gestein«, sagte er und folgte mit dem Lichtschein den braunroten Adern. Vom Boden hob er einen Felssplitter und kratzte damit an der Wand. »Eruptivgestein, kein Sediment«, fügte er hinzu.

»Dieser Gang wurde in die Erde gesprengt«, meinte Austin. »Hier ist die Spur eines Sprengloches.« Mit dem Finger folgte er der glatten, konkaven Rinne.

Abel hatte sich auf einen Felsvorsprung gestellt, um die Wand weiter oben zu betrachten.

»Ich habe den Eindruck, daß es hier wärmer ist«, sagte er. »Spürst du es auch?«

Austin streckte sich und legte die Handflächen auf die rauhe, schwarze, fein kristalline Fläche.

»Du kannst recht haben. Und was ist das?« Aus einer Nische zog er ein Kästchen von der Größe und Form eines Mauerziegels. Die Kanten waren mit schwarzem Metall verkleidet, die Seitenflächen mit Kunststoff belegt. Aus einem Ansatzstück lief ein von einer Metallspirale umschlossenes Kabel, das zu einem Tubus führte. Sonst war nichts Auffälliges daran, auch kein Schalter und kein Knopf, nur zwei Vertiefungen, in denen eingesenkte Schrauben steckten.

»Was kann das zu bedeuten haben?« fragte Abel.

»Keine Ahnung«, sagte Austin. »Der Staub hat sich verzogen. Machen wir weiter!«

Wieder versuchte er, in das Schlupfloch einzudringen, doch es war durch Felstrümmer beengt, die er erst entfernen mußte. Er kniete nieder und rollte zuerst die größeren Steine heraus, dann scharrte er den Schutt mit den Händen beiseite. Sobald die Öffnung so weit geworden war, daß sein Körper Platz hatte, drang er ein und schob größere Stücke von vorn seitwärts am Körper vorbei gegen seine Beine, wo sie Abel in Empfang nahm und aus dem Weg räumte. So arbeiteten sie eine halbe Stunde, dann kam Austin ächzend heraus.

»Lös mich ab – ich muß mich etwas erholen.«

Abel nahm seine Taschenlampe und zwängte sich in das Loch. Es war ein enger schmaler Schlauch, in dem er gerade noch Platz hatte. Als er den Kopf heben wollte, um nach vorn zu sehen, schlug er heftig an einen Felsblock der Decke an. Er mußte den Kopf gesenkt halten und konnte nur mühsam dorthin sehen, wo er arbeiten sollte. Es gab noch eine Menge Material wegzuräumen, und er angelte mühsam nach den Steinen, die nur wenige Zentimeter vor seiner Nase lagen.

Er spürte, wie sich am Hinterkopf eine Beule bildete. Zuerst schmerzte sie, es schmerzten die verkrampften Muskeln, es schmerzten die Ellbogen und Knie, in die sich spitze Steine bohrten. Dann ließen die Schmerzen allmählich nach, er kam in Hitze, er wurde zu einer Maschine, die nichts mehr spürte und nichts mehr dachte, die nur scharrte und grub wie ein Bagger oder ein Pflug.

Zentimeter um Zentimeter mußte er sich erkämpfen, aber er kam vorwärts. Als er den Strahl der Taschenlampe, die er, um die Hände frei zu haben, mit dem Mund hielt, nach vorn richtete, befand sich der Deckel schon nahe vor ihm. Er streckte den Arm aus – und seine Finger lagen auf Metall. Dann versagten seine Kräfte, und er blieb einige Sekunden regungslos liegen.

»Was ist mit dir?« fragte Austin.

»Zieh an meinen Beinen«, stöhnte Abel. »Meine Lampe lasse ich für dich hier.«

Austin tat es, und Abel half mit den Händen, so gut es ging. Er mußte erst seinen fliegenden Atem beruhigen, ehe er zu reden vermochte.

»Es fehlt nicht mehr viel. Ich konnte den Verschluß schon berühren ... vielleicht noch zehn Minuten Arbeit.«

Austin war nicht zu halten. Er schob sich in die Öffnung, und Abel hörte ihn rumoren.

Allmählich gewann Abel seine Kräfte wieder. Er kniete an der Pforte nieder und versuchte, innen etwas zu erkennen. Austin steckte schon weit vorn.

»Unmittelbar vor dem Deckel ist eine Erweiterung«, rief er. »Man kann sich aufsetzen. Ich schiebe noch ein paar Brocken hinaus, dann habe ich hier mehr Platz.«

Abel legte sich mit dem Oberkörper in die Öffnung, um die Felstrümmer in Empfang zu nehmen. Von innen hatte Austin bessere Gelegenheit, sie abzuheben, und bald war der Zugang leidlich erweitert.

»Wenn du müde bist, laß mich weitermachen!«

»Ich probiere, den Deckel zu öffnen!« Man hörte seinen keuchenden Atem, dann einen Seufzer der Erleichterung. »Er dreht sich!«

Abel vernahm leises Knirschen, dann wieder Poltern, Kratzen, Schleifen.

»Komm nach – die Tür ist offen!«

»Warte!« rief Abel. Hastig nahm er Austins Taschenlampe und kroch in die Passage. Jetzt ging es leidlich bequem. Er erreichte die Luke, eine kreisrunde Öffnung – sie stand offen... Abel leuchtete hinein, ehe er durchstieg ... der abgeschraubte Verschluß lag innen auf dem Boden. Abel stützte die Arme links und rechts auf und stemmte sich in den nächsten Raum, eine enge, vollkommen leere, hohlkugelförmige Kabine, deren Wand zum Unterschied zum zuführenden Gang säuberlich ausbetoniert war.

»Austin! Warte!« rief Abel noch einmal. Eben hatte er ihn noch gehört – jetzt war es still. Austin hatte den Raum durch eine zweite hinaufführende Pforte, die ebenso gebaut war wie die erste, bereits wieder verlassen. Wieder hatte sich der Deckel nach innen abschrauben lassen, und wie der andere lag er jetzt am Boden. An der aufgewölbten Mitte bemerkte Abel ein Zeichen, ein rotes dreiblättriges Gebilde auf hellgrauem Grund.

Schwacher Glanz kam von draußen, kalter, stickiger Hauch wehte herein; er brachte einen schwachen ersterbenden Ruf mit. Abel durchquerte den engen Raum rasch. Er schaute durch die Öffnung und erblickte den unteren Rand einer eisernen Leiter. Gerade als er die Hand ausstreckte, um die tiefste Sprosse zu erfassen, rieselte es oben, Steine prasselten nieder, es polterte, schlug kurz hintereinander mehrmals dumpf an Sprossen an ... der Körper Austins fiel wie ein Sack vor Abel zu Boden. Noch zweimal zuckte er, dann blieb er still liegen. Abel wollte ihn umdrehen, aufrichten, da fiel sein Blick auf das Gesicht – es war eine schwarze, flache, krustige Masse.

Abel vergeudete keine Sekunde mehr. Er wußte genug. Er hob den Deckel auf und drehte ihn in das Gewinde. Die Metallplatte war unglaublich schwer – sicher eine Bleilegierung. Genauso eilig ließ er sich durch die innere Öffnung gleiten; auch hier verschloß er sie sorgfältig.

Er zwängte sich durch den Spalt und richtete sich auf. Ein leises Ticken kam von oben. Er leuchtete hinauf – dort stand das von Austin vorhin entdeckte Gerät.

Abels Körper zitterte, er konnte nicht beurteilen, ob es die Anstrengung, die Aufregung, das Entsetzen oder der Ekel war. Er spürte, wie die Wut sich in ihm ausbreitete, diesmal aber keine sinnlose, blinde, aufpeitschende Wut, sondern eine eiskalte, die einen frieren ließ. Er griff in seine Tasche, nach der Pistole. Sie war noch da. Er ließ das Magazin herausgleiten; die Kugeln saßen noch an der richtigen Stelle. Er drückte mit dem Finger die Nabe der Zündvorrichtung – die Zündfunken sprühten. Er setzte die Pistole wieder zusammen und sprang die Stiegen hinunter. Diesmal würde ihn nichts davon abhalten abzudrücken.

Da traf ihn der Schein einer Taschenlampe.

»Wer da?«

Es war irgendeine Männerstimme, die er nicht kannte; jedenfalls war es nicht die Stimme des Majors.

Abel hielt die Waffe zum Abdrücken bereit – sie gab ihm das Gefühl der Überlegenheit, er fühlte sich so sicher, daß er sie nicht einmal benutzte.

»Wie reden Sie mit mir!« schrie er, wobei er ohne zu stocken weiterschritt. »Nehmen Sie Haltung an, wenn Sie mit mir sprechen!«

Abel rechnete nicht damit, daß ihn der Mann für den Major hielt, aber er baute auf die automatische Reaktion eines Soldaten auf im Befehlston gesprochene Worte.

Der Trick funktionierte. Für einen Moment schwenkte das Licht von ihm ab, der Mann riß sich zusammen ... da war Abel schon neben ihm und versetzte ihm einen rechten Haken, der ihn lautlos zusammensinken ließ. Die Nahkampfausbildung, die alle Soldaten genossen hatten, bewährte sich gut. Abel bückte sich kurz zu ihm hinab und ließ den Strahl seiner Taschenlampe auf ihn fallen. Es war ein Sergeant. Er trug keine Waffe. Abel wandte sich zur Tür.

Der Korridor war leer wie immer – ein in der Ferne zusammenlaufender Keil aus kreidigem Dämmerlicht. Die Glimmlampen oben huschten an Abel vorbei. Im Rennen zählte er die Türen und stieß jene auf, die in den Raum mit der Maschine führte, die Träume verlieh.

Ein Mann fuhr herum, Abels Hand mit der Pistole zuckte, aber er verbot sich auch jetzt, die Kugeln zu vergeuden.

Er steckte die Pistole in die Tasche und stürzte sich auf den andern. Einen Moment sah er ein fassungsloses Gesicht – einen Mund, der sich in einem Ruf öffnen wollte –, da hatte er schon seine linke offene Hand über die Lippen des Mannes geschlagen, die rechte Faust landete im Magen des Gegners. Im Anprall flogen sie beide an die Wand ... fielen übereinander, ein Dutzend aufgetürmter Kunststoffbehälter stürzte zur Seite ... einer platzte auf. Abel lag über seinem Gegner, ohne die Hand von dessen Mund zu nehmen, inmitten von Tausenden schwarzer Kügelchen, die sich wie Käfer über den Boden verbreiteten. Abel spürte die verzweifelten Versuche seines Gegners, Atem zu holen, und diese Situation nützte er, indem er die zweite Hand zu Hilfe nahm, um dem anderen auch die Nase zuzuhalten; den sich windenden Körper klemmte er mit den Beinen fest; mit den Knien nahm er die Arme in die Zange.

Am Jackenärmel blinkte der silberne Winkel – der Mann war ein Korporal. Er bäumte sich noch ein paarmal auf, dann gab er unvermittelt nach.

Abel stand auf und brachte seine Kleider in Ordnung. Mit ein paar Schritten war er bei der Tür zum Nebenraum. Sie war geschlossen. Abel zog sie ein wenig auf ... nun hörte er Stimmen:

»... und Sie kämmen mit Ihren Leuten das Waschhaus durch... Verstanden?«

»Jawohl, Herr Sergeant.«

»Also dann – ab durch die Mitte!«

Eine Tür ging. Wieder sprach jemand, doch leiser als vorhin, und Abel konnte die Worte nicht verstehen. Dann hörte er das Stampfen von Stiefeln ... sie kamen auf ihn zu. Blitzschnell faßte er einen Entschluß. Er steckte die Pistole mit dem Lauf nach unten in den Stiefel und klopfte laut an die Tür.

Das Geräusch der Schritte verstummte.

»Herein!«

Abel machte die Tür auf. Ein Sergeant musterte ihn überrascht.

»Mensch, was tun Sie hier?«

Abel klappte die Haken zusammen und rief:

»Ich bitte, dem Herrn Major eine Meldung abstatten zu dürfen!«

»Mann! Bei Ihnen piept’s wohl! Kommen Sie rein!«

Er deutete in den Gang, Abel ging vor ... der Sergeant folgte ihm. Zwei Korporale in voller Marschausrüstung erschienen im Gang und schauten ihn an wie ein seltsames Tier.

»Na, sprechen Sie! Wissen Sie nicht, daß Sie Ihre Unterkunft während der Nachtruhe nicht verlassen dürfen? Und daß der Zutritt zu diesen Räumen verboten ist? Also?«

Abel versuchte abzuschätzen, wie lange der Korporal im Nebenraum ohne Besinnung bleiben würde. Er mußte sich beeilen. Er sagte:

»Ich habe eine wichtige Meldung für den Herrn Major. Ich bitte, den Herrn Major aufsuchen zu dürfen!«

»Zum Major wollen Sie!« schrie einer der Korporale. »In den Bau werden Sie wandern, das ist...« Der Sergeant unterbrach.

»Der Mann wird bestraft werden, das ist klar.« Er wandte sich wieder an Abel. »Machen Sie Ihre Meldung mir – los!«

»Ich kann sie nur dem Major selbst machen, es ist eilig!«

Der Sergeant gab den Korporalen ein Zeichen. »Nehmt ihn in die Arbeit. Ein wenig Strafexerzieren wird ihn Gehorsam lehren.«

»Es dreht sich um die Taschenlampe, Herr Sergeant«, rief Abel. »Austin 56/8 hat sie genommen. Er ist desertiert, und ich habe ihn verfolgt. Der Major hat Straffreiheit zugesichert ... wer etwas über den Fall herausbringt, darf nicht bestraft werden. Ich habe nur meine Pflicht getan!«

Der Sergeant überlegte kurz.

»Wir werden sehen«, sagte er. »Kommen Sie mit!«

Vor Abel ging er an den vier Türen der Mädchenzimmer vorbei. Dann blieb er stehen. Noch einmal sah er Abel prüfend an.

»Mensch, wie Sie aussehen!« sagte er mißbilligend. Dann klopfte er an die Tür des Majors. Die Stille nach den dumpfen Lauten dauerte nur Augenblicke, aber für Abel dehnte sie sich ins Unerträgliche. »Was gibt’s?« erklang es von innen.

»Herr Major, hier ist ein Soldat, der im Zusammenhang mit den jüngsten Vorfällen eine Meldung zu erstatten hat.«

»Soll reinkommen!«

Der Sergeant öffnete die Tür und schob Abel vor sich hinein. Beide nahmen Haltung an und salutierten.

Der Major stand vor der Landkarte. Er wandte ihnen den Rücken zu. Sie sahen seine Hand, die ein Stück Fettkreide hielt und blaue Bogen aufs Papier des Planes über seinem Bett zeichnete – einen kurzen, der eine Gruppe von Rechtecken als Viertelkreis umschloß, und einen größeren, der sich gegen sie von der anderen Seite als flache Klammer öffnete.

Nun ließ er die Hand sinken.

»Die Schlacht bei Waterloo«, sagte er. »Klassisches Beispiel vorbildlicher Kriegstechnik. Unübertroffen. Wellington – ein Genie.« Er tippte mit der Kreide auf einen Bogen. »Hier – die erste Armee unter General Blücher, und hier die zweite. Selbst wenn der Gegenstoß von hier erfolgt wäre...« Abrupt drehte er sich um. »Was gibt es also?«

»Herr Major«, meldete der Sergeant. »Hier ist der Mann...«

»Gut, Sergeant«, sagte der Major. Zum erstenmal faßte er Abel ins Auge. Sein Gesicht hatte den gewohnten harten Ausdruck, das ungesunde Rot war verschwunden. Seine Zähne blitzten. »Was haben Sie zu sagen?«

»Ich kann es Ihnen nur allein mitteilen«, antwortete Abel.

Leichte Belustigung glitt über das Gesicht des Majors. Er sah Abel unverwandt an. »Gehen Sie raus, Sergeant. Schließen Sie die Tür!«

»Jawohl, Herr Major.«

Der Sergeant verließ das Zimmer. Abel hörte die Tür zufallen. Der Major hob befehlend die Hand mit der Kreide. Die andere hatte er in die Jackentasche gesteckt. In aufrechtet Haltung stand er vor Abel, als wollte er ihn herausfordern. Er bot ihm die volle Vorderseite seines Körpers.

Abels Hand schoß zum Fuß hinunter. Er zog die Pistole heraus, legte an. Der Zeigefinger schloß den Kontakt. Der Schuß krachte, und sofort darauf jagte Abel auch die beiden weiteren Schüsse heraus. Eine feine, durchsichtige Rauchsträhne kräuselte sich vom Lauf der Pistole aufwärts.

Der Major stand noch immer vor Abel, der die Waffe langsam sinken ließ. Wie lange dauerte es, bis die Kugeln wirken? Er hatte genau auf die Brust des Majors gezielt, und es machte ihn nun etwas unsicher, daß er die Einschußlöcher nicht sah.

Die Tür schlug auf.

»Herr Major, was ist geschehen?«

»Sind Sie des Teufels, Mann?« brüllte der Major. »Wie können Sie es wagen, ohne zu klopfen bei mir einzudringen. Hinaus!«

Die Tür schlug wieder zu. Abel hatte sich nicht umgesehen. Ungläubig starrte er dem Major ins Gesicht.

»Sehen Sie«, sagte der Major. Er war ganz ruhig. »Das mit der Pistole ... ist ganz einfach.« Er legte die Kreide auf den schwarzen Tisch, trat auf Abel zu und nahm ihm die Waffe sanft aus der Hand. Aus der Munitionstasche im Gürtel holte er eine Kugel.

»Das ist eine echte Kugel.« Er drehte sie zwischen den Fingern und reichte sie Abel. »Sie unterscheidet sich von der Übungsmunition dadurch, daß sie kompakt ist. Das gilt einerseits für den feinen Kanal – wie Ihnen bekannt ist, weisen die Übungskugeln eine Durchbohrung auf, die der Achse von der Spitze bis zur hinteren Abplattung folgt; seine Bedeutung werde ich Ihnen gleich erläutern. Zunächst zum wichtigsten Punkt, dem des Materials. Auch das Material ist nicht kompakt, jedenfalls nicht so kompakt, wie man es bei einer richtigen Kugel fordern muß. Es besteht aus einer Legierung aus Quecksilber, Antimon und einigen anderen Metallen, die bei der Erhitzung durch die Explosionswärme des Sprengstoffes schmilzt und sofort nach dem Austritt verdampft. Das ist eine naheliegende Sicherheitsmaßregel, nicht nur zu meiner Sicherheit, auch zu jener meiner Leute. Wie leicht kann sich eine Kugel verirren! Jeder meiner Soldaten ist mir teuer.«

Der Major holte einige weitere Projektile aus dem Täschchen an seinem Gürtel, ließ das Magazin aus der Pistole schnappen und füllte es bedächtig. Dann steckte er es wieder zurück. Er wog sie in der Hand und lachte leise.

»Wie drückt man hier los?« fragte er. »Traurig anzusehen, das Ding, ohne Abzug und ohne Griff. Aha, so geht es!« Er zielte kurz und drückte ab. Klirrend fiel ein Bajonett von der Wand. Die Kordel, an der es gehangen hatte, war durchschossen.

Der Major blickte Abel an. Sein Blick war freundlich.

»Das nur, damit Sie mich besser verstehen«, bemerkte er. »Wo war ich stehengeblieben?« Er überlegte. Dann sagte er leise, doch mit drohendem Unterton:

»Soldat Abel 56/7, ich habe Sie etwas gefragt! Wo war ich also stehengeblieben?«

Abel schwieg.

»Aha, Sie wollen nicht. Na ja. Auch gut. Ich muß Ihnen noch die Bedeutung des Kanals erklären – das war es. Sie sind ja ein Schlaumeier, und Sie werden sich natürlich jetzt den Kopf darüber zerbrechen, wieso man mit Blindgeschossen Treffer erzielen kann – beim Übungsschießen, nicht wahr? Nun, die Sache ist ganz einfach zu lösen: Das Detonieren des Schießpulvers, eine komplizierte chemische Reaktion, ist von einer Leuchterscheinung begleitet. Die Strahlen dringen geradewegs durch den feinen Kanal und treffen, wenn Sie einigermaßen richtig gezielt haben, die Zielscheibe. Natürlich ist der Effekt sehr schwach, aber nicht so schwach, daß er sich nicht durch fotoelektrische Zellen registrieren ließe. Jeder Ring der Zielscheibe ist als Fotozelle ausgebildet. Der durch das Aufblitzen ausgelöste Impuls wird als Potential gespeichert, von Bürsten abgetastet und auf das Zählwerk weitergeleitet. Ist das jetzt klar? Sonst noch Fragen?«

Abel gab keine Antwort.

Der Major betrachtete ihn eine Weile.

»Ich werde mich wohl noch etwas mit Ihnen unterhalten müssen. Eigentlich unglaublich, daß Sie aus meinem System herausgefunden haben!«

Er drückte auf einen Knopf in der Wand am Kopfende seines Bettes. Nach wenigen Sekunden klopfte es.

»Herein!«

Ein Sergeant trat ein und stellte sich der Vorschrift gemäß mit angelegten Armen, zurückgezogenen Schultern und parallel aneinandergerückten Füßen vor dem Major auf. Abel stand gebückt, seine Hände hingen schlaff hinunter.

»Stecken Sie ihn in das Musikzimmer!«

»Jawohl, Herr Major! Herr Major, darf ich melden? Es ist Zeit zum Morgenappell.«

»Gut, Sergeant, ich komme.«

Aus einem Fach seines Nachttisches nahm er den Bügel seines Kehlkopfmikrofons.

»Drehen Sie im Musikzimmer den Lautsprecher auf. Er soll den Wochenaufruf hören!«

»Jawohl, Herr Major!« rief der Sergeant.

Der Major holte seine Mütze vom Kleiderhaken an der Tür. Grüßend hob er die Hand und ging hinaus.

Der Sergeant stand noch einen Moment lang salutierend da. Dann drehte er sich zu Abel herum und sagte:

»Ohne Tritt, marsch!«

Загрузка...