Ich hatte mir einen Fensterplatz ganz vorn reservieren lassen, weil man bei diesem besonderen Flug von vorn nach hinten servieren würde. Aber an dem Platz neben dem meinen war ein Schildchen mit dem Namen Gordie MacKenzie befestigt. Ich ging weiter, bis die Stewardeß rief: »Hallo, Dr. Grew! Wie nett, daß Sie wieder mal mit uns fliegen!«
Ich nickte und versperrte ihr den Mittelgang. »Kann ich mit irgend jemandem den Platz tauschen, der weiter hinten sitzt, Clara?«
»Ich glaube schon - lassen Sie mich mal nachsehen.«
»Wie wäre es mit dem da?«
»Nun - das ist kein Fensterplatz.«
»Aber er ist doch frei?«
»Mal sehen.« Sie nahm die Passagierliste aus ihrem Klappschränkchen und schaute nach. »Ja, er ist frei. Soll ich Ihre Tasche holen?«
»Ja, bitte. Ich muß nämlich arbeiten.« Und das mußte ich tatsächlich. Deshalb wollte ich nicht neben MacKenzie sitzen. Ich ließ mich auf den Sitz fallen und warf meinem Nebenmann einen finsteren Blick zu, um ihm klarzumachen, daß ich nicht an einem Gespräch interessiert war. Er starrte ebenso böse zurück und gab mir damit zu verstehen, daß ihm das sehr recht war. Ich sah, daß MacKenzie an Bord kam, aber er entdeckte mich nicht.
Bevor wir starteten, beobachtete ich, wie sich Clara über ihn beugte und seinen Gurt inspizierte. Gleichzeitig entfernte sie das Schildchen mit meinem Namen, das am Nebensitz hing. Kluges Mädchen.
Ich beschloß, ihr einen Drink zu spendieren, wenn ich das nächstemal in ein Motel kam, wo die Crew zwischen zwei Flügen übernachtete.
Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, daß ich ein JetsetTyp bin, der jede Stewardeß der Airline mit dem Vornamen anredet. Die einzigen Mädchen, die ich öfter sehe, sind zwei auf der Strecke New York - Los Angeles und ein paar, die gelegentlich in O'Hare starten - vielleicht auch noch einige Damen, die ich hin und wieder zwischen Huntsville und dem Cape treffe. Oh, und da gibt's natürlich noch das Mädchen von der Air France, mit der ich ein- oder zweimal von Orly abgeflogen bin. Aber an die erinnere ich mich nur, weil sie mich mal in ihrem Citroen mitnahm, als die Metro streikte und kein Taxi zu finden war. Wenn ich mir's so überlege, komme ich eigentlich viel herum. Das sind die Nachteile der Branche. Wenn ich auch atmosphärische Physik studiert habe, so ist es in erster Linie meine Aufgabe, Unterschriften zu leisten - Sie wissen ja, nachdem ich die Instrumente abgelesen oder optische Beobachtungen gemacht habe, aus denen wir dann ersehen, welchen Luftdruck wir haben, wie hoch die Temperatur und wie die chemische Zusammensetzung beschaffen ist. So was ist heutzutage ein richtiger Sexy-Job, und ich werde zu vielen Konferenzen eingeladen. Ich sage »eingeladen«, und das ist durchaus nicht so zu verstehen, daß ich ablehnen könnte. Nicht, wenn ich eine Position im Department behalten will, die es mir hin und wieder erlaubt, meine Arbeit zu tun. Das alles ist ziemlich aufgeplustert und macht Spaß, zumindest wenn ich die Zeit habe, mich zu amüsieren. Und tatsächlich - es ist mir bereits gelungen, anständige Lokale in Cleveland oder Albuquerque aufzustöbern -versuchen Sie mal die mexikanischen Gerichte im Flughafenrestaurant - und einen Geschmack zu entwickeln, der es mir verbietet, minderwertige Weine zu trinken.
Das ist komisch, denn ich habe nicht erwartet, daß ich mal so werden würde - zumindest damals nicht, als ich noch ein junger Mann war und Willy Leys Artikel las und Ginseng in den Wäldern rings um Potsdam suchte - ich meine das New Yorker Potsdam -, um Geld zu verdienen, damit ich aufs Technologische Institut von Massachusetts gehen und Raumschiffe bauen konnte. Ich dachte, ich würde ein dürrer Wissenschaftler in schäbigen Kleidern und mit hungrigen Augen werden. Wahrscheinlich dachte ich auch, daß ich niemals aus den Labors rauskommen -ich war wohl der Meinung, Raumschiffe würden in Labors konstruiert - und meine Gesundheit in langen Nächten über dem Rechenschieber ruinieren würde. Wie sich herausgestellt hat, ruiniere ich meine Gesundheit jetzt mit Truite Amandine und der Desorientiertheit, die durch die diversen Zeitverschiebungen entsteht.
Aber ich glaube, ich weiß jetzt, was ich dagegen tun werde.
Deshalb wollte ich die nächsten viereinhalb Stunden nicht vertun und mit Gordie MacKenzie quatschen - weil, mein Gott, weil ich vielleicht wirklich weiß, was man dagegen tun könnte.
Das ist zwar nicht mein Fachgebiet, aber ich habe mit ein paar Systematikern darüber gesprochen, und die hatten gar nicht diesen höflichen Ausdruck in den Augen, den manche Leute an den Tag legen, wenn man versucht, ihnen was über ihr Wissensgebiet zu erzählen. Ich werde mal sehen, ob ich Ihnen das erklären kann. Da gibt's etwa zwanzig Konferenzen und Symposien und Kolloquien in einem Monat, und zwar in jeder halbwegs wichtigen Branche, und man ist hoffnungslos out, wenn man nicht versucht, an möglichst vielen Veranstaltungen teilzunehmen. Dabei sind die Werkstätten- und Planungsbesprechungen und die Zum-Teufel-komm-sofort-runter-Charlie-sonst-verlieren-wir-die-Konzession-Versammlungen noch nicht mitgezählt. Und diese Zusammenkünfte finden zufällig immer gerade dort statt, wo man nicht ist. Ich habe schon seit dem letzten Weihnachtsfest, als ich Grippe hatte, nie mehr länger als sechs Tage hintereinander in meinem Haus geschlafen.
Die Frage ist jetzt - was wird bei all diesen Konferenzen erreicht? Ich lebte früher mal in dem Wahn, daß das alles geplant wäre - ich meine, die globale Verteilung, die Jet-Reisen und so weiter. Daß wir von einer Art psychischem Energieversorger aufgeputscht würden, während wir irgendwohin Jetten, mit sechshundert Stundenmeilen, um irgend etwas zu tun, was enorm wichtig ist, denn sonst würden wir uns nicht so beeilen. Aber wer könnte so etwas schon planen?
Also gab ich diese Idee auf und konzentrierte mich auf was Besseres. Sie wissen doch sicher, daß es keine stupidere Kommunikationsmethode gibt, als dreitausend Meilen zu fliegen, um dann auf einem vergoldeten Stuhl in einem Hotelballsaal zu sitzen und fünfundzwanzig Leuten zuzuhören, die einem was vorlesen. Dreiundzwanzig von diesen Leuten interessieren einen überhaupt nicht, den vierundzwanzigsten kann man nicht verstehen, weil er einen unmöglichen Akzent hat und weil er alles blitzschnell runterrasselt, um das Flugzeug zu erreichen, das ihn zur nächsten Konferenz bringen wird. Und der fünfundzwanzigste versorgt einen mit Informationen, für die man vier Tage geopfert hat, inklusive der Flugdauer, obwohl man die Kopie des Schriebs in fünfzehn Minuten lesen könnte, daheim im Büro. Und mehr davon hätte. Natürlich gibt's auch interessante Zwischenspiele, wenn man im Cafe neben jemandem sitzt, der einem die neueste Meßmethode erklären kann, weil seine Firma was mit Telemetrie zu tun hat. So was versteht man nicht, wenn man's liest. Aber ich habe festgestellt, daß man immer weniger Zeit für solche Gespräche hat. Und daß man sich auch immer weniger dafür interessiert, weil man es einfach satt hat, neue Freunde zu finden, wenn man ohnehin schon dreihundert hat. Und man beginnt sich vorzustellen, was daheim auf dem Schreibtisch wartet, wenn man zurückkommt, und man erinnert sich voller Bedauern an die Zeit, die man mit einem geschwätzigen Ägypter auf dem Brüsseler Flughafen vertan hat, wo man eineinhalb Stunden lang den Suezkrieg nacherleben mußte.
Sie verstehen also, was ich meine. Die Verschwendung von Zeit und wertvollem Treibstoff, okay?
Und was der Jammer an der Sache ist - man könnte Informationen so einfach und so billig auf elektronische Weise weitergeben und erhalten. Ich weiß nicht, ob Sie schon mal das Fernsehtelefon aus dem Beil-Labor gesehen haben. Es wurde bei einigen Konferenzen vorgestellt, und es ist fast so, als würde man mit seinem Partner von Angesicht zu Angesicht sprechen.
Viel besser als das normale Telefon. Man kriegt alles mit - außer der Whiskyfahne, die der Gesprächspartner vielleicht von sich gibt. Und das ist nur eins dieser Geräte - es gibt auch noch Faksimile-, Telemetrie-, Fernlese-Computer und Fernschreiber. Wenn wir das alles haben - warum verwenden wir es nicht? Warum verzichten wir auf die Vorteile dieser Errungenschaften? Sie wissen doch, wie man eine Bandaufzeichnung bearbeiten kann. Man kann die überflüssigen Teile eines Vertrags weglassen, die Pausen streichen, und man kriegt trotzdem alles mit, nur daß man vierhundert Wörter pro Minute serviert bekommt statt sechzig oder siebzig, von denen die Hälfte aus Wiederholungen oder »Was ich damit sagen wollte« besteht.
Nun, das gehört zum System, und es ist nicht mein Bier. Damit müssen sich Experten befassen - nicht ich. Ein paar von den Burschen sind wirklich scharf darauf, und wir werden uns treffen, sobald wir Zeit dazu finden.
Vielleicht werden Sie sich fragen, welchen Beitrag ich zu leisten gedenke. Ich glaube, ich habe da was. Zum Beispiel - wie kann man Diskussionen so lenken, daß man sich der Lösung des jeweiligen Problems nähert? Ich habe ein paar Artikel gelesen, in denen stand, wie man eine Konferenz vereinfachen kann, so daß man wirklich konferiert. Und ich habe auch eine eigene Idee -eine Lieblingsidee. Ich nenne sie Debattenquantum, das nicht reduzierbare Minimum an Argumentation, das jedem Diskussionsteilnehmer zusteht, wenn eine seiner Behauptungen in Frage gestellt oder widerlegt wird, bevor er zum nächsten Programmpunkt übergeht.
Wenn nur die Hälfte meiner Idee verwirklicht werden könnte, würden Leute meinesgleichen ihr Pensum - oh, wir wollen konservativ sein - in einem Viertel der Zeit erledigen, die wir jetzt vergeuden.
Dann hätten wir drei Viertel mehr Zeit als jetzt - und was würden wir damit anfangen? Wir würden natürlich arbeiten, die Dinge tun, die wir tun müßten, die wir aber nicht tun, weil wir keine Zeit dafür haben. Ich meine das wörtlich und völlig ernst. Ich finde wirklich, daß wir viermal so viel arbeiten könnten wie jetzt. Und ich bin auch überzeugt, daß wir dann schon in fünf Jahren auf dem Mars landen könnten statt erst in zwanzig, daß wir die Leukämie in zwölf Jahren heilen könnten statt in fünfzig -und so weiter.
Das wären also meine Pläne - und deshalb wollte ich keine Zeit mit Gordie MacKenzie verschwenden. Ich hatte alle meine Notizen in der Aktentasche mitgenommen, und viereinhalb Stunden würden mir genügen, um sie alle zu ordnen und meinen Systematiker-Freunden und ein paar anderen Leuten, die sich dafür interessierten, einen Entwurf vorlegen zu können.
Sobald wir in der Luft waren, klappte ich den kleinen Tisch hinab und begann meine Papiere zu sortieren.
Aber es funktionierte nicht.
Komisch, wie oft es nicht funktioniert. Ich meine, wenn man etwas tun will und sich auf den Zeitpunkt freut, wo man es endlich tun kann - und wenn die Zeit dann plötzlich verstrichen ist, ohne daß man es getan hat. In meinem Fall lag es daran, daß Clara mit den Cocktails nach hinten kam. Sie wußte, daß ich einen Martini Extra-Dry mit einem Scheibchen Zitrone bevorzuge, und so schob ich die Papiere höflich beiseite, als sie mir das Glas hinstellte. Dann kam sie mit den Hors d'ceuvres, und ich steckte die Papiere in die Taschen zurück, weil ich Hunger hatte. Danach mußte ich entscheiden, wie ich meine Tournedos haben wollte, und das Dinner samt Wein und Kaffee dauerte fast zwei Stunden. Wenn ich mir den Film auch nicht ansehen wollte - es hat schon was für sich, wenn da vorn so eine Leinwand flimmert, wenn der Held auf dem eigenen Fernseher gerade einen Bombenangriff wagt, wenn die Helden auf den Bildschirmen der vorderen Sitze, die man aus den Augenwinkeln sieht, gerade erschossen werden oder in Flammenmeere stürzen oder bei Besprechungen sitzen oder an der Theke stehen. Das kann einen schon sehr ablenken, vor allem von dem Film, der über den eigenen Bildschirm läuft. Es gelang mir, meine Aufmerksamkeit zu konzentrieren, vor allem mit Hilfe meines Drinks. Und als der Film vorbei war, wurde der zweite Kaffee mit Pfefferminzplätzchen serviert, dann wurden wir aufgefordert, uns anzuschnallen, und wir landeten auf der großen Aluminiumfläche über Mount Wilson, und ich hatte keine Zeit gehabt, meine Notizen zu ordnen. Nun, daran war ich gewöhnt. In Potsdam hatte ich ja auch kein einziges Ginseng-Pflänzchen gefunden. Ich hatte um ein Stipendium kämpfen müssen.
Ich ging ins Hotel, wusch mir das Gesicht, dann ging ich hinunter in den Versammlungsraum, gerade rechtzeitig, um einen langweiligen Vortrag über die Klarluftturbulenzen in planetaren Atmosphären zu hören. Ziemlich viele Leute saßen im Saal, vielleicht siebzig oder achtzig, aber was sie sich von diesem Vortrag versprachen, konnte ich mir nicht vorstellen, und so nahm ich mir ein Programm und schlich hinaus.
Irgend jemand, der neben der Kaffeemaschine lehnte, rief mir zu: »Hallo, Chip!«
Ich ging hinüber und schüttelte ihm die Hand. Es war ein junger Bursche namens Resnik von dem kleinen College, wo ich meinen Bakkalaureus gemacht hatte. Jetzt wandte er sich an den Mann, der neben ihm stand - ein großer, grauhaariger Banker-Typ, den ich nicht kannte. »Dr. Ramos, das ist Dr. Chesley Grew. Chip, das ist Dr. Ramos. Er ist bei der NASA. Es war doch die NASA, nicht war?«
»Nein, ich bin Mitglied einer Stiftung. Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Dr. Grew.«
»Danke. Vielen Dank.« Ich hätte gern eine Tasse Kaffee getrunken, aber ich wollte dabei nicht hier herumstehen und mich mit diesen Leuten unterhalten. Deshalb sagte ich: »Nun, ich werde mal fragen, ob noch ein Zimmer frei ist. Wenn Sie mich entschuldigen würden.«
»Laß das doch, Chip!« entgegnete Larry Resnik. »Ich habe vor einer halben Stunde gesehen, wie du dir den Zimmerschlüssel geholt hast. Du willst nur in dein Zimmer gehen und arbeiten.«
Das war mir ein bißchen peinlich. Was Resnik betraf, so war es mir egal, aber den anderen Mann kannte ich nicht. Er grinste und sagte: »Larry hat mir schon erzählt, daß Sie so einer sind.
Übrigens, als Sie in den Saal gingen, meinte er, Sie würden in dreißig Sekunden wieder rauskommen. Er hat recht behalten.«
»Nun ja, Klarluftturbulenzen reizen mich nicht besonders.«
»Das kann Ihnen weiß Gott niemand übelnehmen. Haben Sie Lust auf einen Kaffee?«
Da ich nicht unhöflich sein wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als zu antworten: »Ja, bitte - danke.« Ich schaute zu, wie er einen Becher nahm und aus der großen silbernen Maschine Kaffee hineinfließen ließ. Irgendwie kam er mir bekannt vor, aber ich wußte nicht, wo ich ihn schon mal gesehen hatte. »Haben wir uns nicht in Dallas bei den Doppel-A-Sitzungen gesehen?«
»Leider nicht. Zucker? Nein, ich nehme nur selten an diesen Konferenzen teil, aber ich habe ein paar von Ihren Abhandlungen gelesen.«
Ich rührte in meinem Kaffee. »Danke, Dr. Ramos.« Ich habe schon vor langer Zeit gelernt, daß man einen Namen möglichst oft wiederholen muß, denn dann wird man ihn nicht so bald vergessen. Aber die meisten Namen vergesse ich trotzdem.
»Ich werde morgen meinen Vortrag halten, Dr. Ramos. Über eine fotometrische Technik, Richtungskoeffizienten aus planetaren Flugobjekten abzuleiten. Leider ist nicht viel dabei, was man nicht ohnehin schon in Langley entwickelt hat.«
»Hm - ich habe diese Abhandlung gelesen.«
»Aber du kriegst trotzdem deine kleinen Scheinchen dafür?« fragte Larry. Er atmete schwer. »Wie viele sind's denn in diesem Jahr?«
»Oh, eine ganze Menge.« Ich versuchte meinen Kaffee möglichst schnell und trotzdem unauffällig auszutrinken. Larry schien sich in einer unglückseligen Stimmung zu befinden.
»Davon haben wir gerade geredet, als du rausgekommen bist. Dreißig Abhandlungen pro Jahr und zwischen den Konferenzen Komitee-Berichte. Wann hast du eigentlich zum letztenmal einen vollen Monat an deinem Schreibtisch verbracht? Also, in meiner Abteilung.«
Ich spürte, wie mein Interesse geweckt wurde, obwohl ich das nicht wollte. Ich wollte zu meinen Notizen zurückkehren.
»Weißt du, was Fred Hoyle gesagt hat?«
»Ich glaube nicht, Larry.«
»Er hat gesagt, in der Minute, wo ein Mann irgendwas tut, würde sich die ganze Welt gegen ihn verschwören, um zu verhindern, daß er das jemals wieder tut. Die Vorsitzenden der Programmkomitees laden ihn ein, Vorträge zu halten. Die Kuratoren fordern ihn auf, bei irgendwelchen Komitees Mitglied zu werden. Die Zeitungsreporter bitten ihn, in einer Show aufzutreten, zusammen mit einem Komiker, einer Sängerin und einem Bandleader, und dem Publikum zu erzählen, ob es Lebewesen auf dem Mars gibt.«
»Und die Leute, die mit ihm sympathisieren, halten ihn auf Konferenzen von der Arbeit ab«, sagte Dr. Ramos und kicherte. »Wirklich, Mr. Grew, wir könnten es verstehen, wenn Sie sich in Ihrem Zimmer verkriechen würden.«
»Ich bin nicht einmal sicher, ob es diese Welt ist«, erklärte Larry. Er war nicht nur ein Ärgernis, er redete auch sinnloses Zeug. »Übrigens, ich habe bisher noch nichts Richtiges getan -nicht so wie du, Chip. Aber eines Tages werde ich was tun.«
»Seien Sie doch nicht so bescheiden!« entgegnete Dr. Ramos. »Hören Sie mal - wir machen hier ziemlich viel Lärm. Suchen wir uns doch ein gemütliches Eckchen, wo wir uns in Ruhe unterhalten können - es sei denn, Sie wollen wirklich arbeiten, Dr. Grew.«
Aber ich war bereits halb davon überzeugt, daß es auch zu meiner Arbeit gehörte, mich mit Larry und Dr. Ramos zu unterhalten. Und so gingen wir in mein Zimmer und dann in Larrys, wo ein Bericht über die Rand Corporation in seiner Tasche lag, zusammen mit ein paar Notizen, die ich ihm einmal geschickt hatte. Der Konferenzsaal sah uns nicht wieder. Um zehn ließen wir uns was zu essen raufschicken, blieben sitzen, tranken kalten Kaffee und in mäßigen Mengen Bourbon, aus einer Flasche, die Larry mitgebracht hatte, und ich erzählte ihnen alles, was ich mir jemals über die Transmission technologischer Informationen ausgedacht hatte. Und was man damit anfangen könnte. Dr. Ramos kriegte alles mit und war der beste Zuhörer, den Larry und ich je gehabt hatten, wenn er auch nicht viel mehr sagte als »Ja, natürlich« und »Ich verstehe«. Damit drückte er eine ganze Menge aus. Und wie ein Kind kurz vor Weihnachten saß ich da und stellte mir vor, wie viel ich n zwei Jahren für die Amortisierung von Systemen und für die hohen Tiere tun könnte. Und die beiden bestärkten mich in meiner Euphorie. Es war ein schwindelerregender Abend. Kurz vor dem Ende unseres Gesprächs rechneten wir auf, wie schnell wir den Mars kolonialisieren und eine Flotte interstellarer Raumlinienschiffe starten würden, wenn die gesamte Arbeitszeit aller existierenden Menschen mit Arbeit ausgefüllt werden könnte. Danach entstand eine Pause, und Larry stand auf, öffnete die französischen Türen md trat auf den Balkon hinaus, zwanzig Stockwerke hoch oben. Unter uns lag Los Angeles, und über den südlichen Bergen braute sich ein Gewitter zusammen. Die frische Luft verhalf mir für wenige Augenblick zu einem klaren Kopf, und mir wurde erstens bewußt, daß ich müde war, und zweitens, daß ich in sieben Stunden diesen verdammten Vortrag halten mußte.
»Machen wir lieber Schluß«, sagte Dr. Ramos.
Larry wollte erst widersprechen, dann grinste er. »Okay, ihr alten Knaben. Übrigens würde ich mir deine Notizen gern ansehen, wenn es dich nicht stört, Chip.«
»Okay, aber verschlamp sie nicht«, sagte ich, ging in mein Zimmer zurück und in mein Bett, und dann lag ich da mit weit geöffneten Augen und lächelte, bevor ich einschlief und träumte, daß ich fünfzig Wochen im Jahr Zeit hatte, um meine eigentliche Arbeit zu tun.
Ich war erstaunlich schnell wach, nachdem der Hotelwecker geklingelt hatte. Wir hatten vereinbart, in Larrys Zimmer zu frühstücken, damit ich meine Notizen holen und mich mit den anderen vielleicht noch ein bißchen unterhalten konnte, bevor die Vormittagssitzung begann. Als ich in Larrys Etage ankam, sah ich Dr. Ramos auf Zehenspitzen den Flur entlangschleichen.
»Guten Morgen«, sagte er. »Ich habe gerade zwei Flitterwöchner geweckt, die das nicht zu schätzen wußten. Wohnt Larry nicht in Nummer 2051?«
»Nein, in 2052, in der anderen Richtung.«
Er grinste und folgte mir, und dabei erzählte er mir einen recht komischen Flitterwochenwitz, der gerade noch oberhalb der Gürtellinie war.
Larry rührte sich nicht, als ich an seine Tür klopfte. Immer noch lachend sagte ich: »Versuchen Sie's mal!« Aber Dr. Ramos hatte ebenso wenig Erfolg wie ich.
Da hörte ich zu lachen auf. »Er kann doch nicht vergessen haben, daß wir zu ihm kommen wollten.«
»Vielleicht hat er nicht abgeschlossen.«
Ich drückte auf die Klinge, die Tür ließ sich mühelos öffnen.
Aber Larry war nicht in seinem Zimmer. Die Tür zum Bad stand offen, ebenso die Balkontür. Larry war nicht da. Das Bett war zerwühlt, aber leer.
»Ich glaube nicht, daß er weggegangen ist«, sagte ich. »Schauen Sie, seine Schuhe stehen immer noch da.«
Der Balkon war nicht so groß, daß man sich darauf verstecken konnte, aber ich ging trotzdem hinaus. Er war schmal und regennaß, und ich fand nichts weiter als feuchte Liegestühle und ein paar Zigarettenstummel.
»Offenbar war er hier draußen«, sagte ich, und dann kam ich mir ziemlich melodramatisch vor, als ich mich über das Geländer beugte. Es war eigentlich gar nicht melodramatisch, denn vor der geschwungenen Hotelfassade, am Rand des Springbrunnens, lag irgend etwas Verkrümmtes, und ein Mann stand daneben und schrie den Portier an. Es war so früh am Morgen, daß noch kein Straßenlärm herrschte, und so hörte ich seine Stimme schwach heraufdringen, über die zweihundert vertikalen Fuß hinweg, die uns von dem trennten, was von Larry übriggeblieben war.
Sie sagten die Vormittagssitzung ab, aber sie beschlossen, am Nachmittag weiterzumachen, und ich focht einen langen, entnervenden Kampf mit Gordie MacKenzie aus, der seinen Vortrag unbedingt zum geplanten Termin halten wollte, um drei Uhr nachmittags. Aber zu diesem Zeitpunkt sollte mein Vortrag eingeschoben werden, und ich war einfach nicht gut genug gelaunt, um nachzugeben - nicht, nachdem ich zwei Stunden mit dem Leichenbeschauer und dem Hotelpersonal verbracht und den Leuten bei dem Versuch geholfen hatte, herauszufinden, warum Larry vom Balkon gesprungen oder gefallen war. Und schon gar nicht, nachdem es feststand, daß er alle meine Notizen in der Hand gehalten hatte, als er runtergesprungen war und daß sie nun als feuchte Papierfetzen über dem ganzen Los Angeles County verstreut waren.
Ich war also ziemlich sauer. Da ich mal gehört hatte, Krafft Ehricke hätte einen Zwölf-Minuten-Vortrag in drei Minuten und fünfundvierzig Sekunden vorbereitet, versuchte ich diesen Rekord zu brechen und schaffte es beinahe. Dann warf ich alles, was ich besaß, in meinen Koffer und bezahlte meine Rechnung, in der Absicht, das Hotel zu verlassen, zum Flughafen zu fahren und mit der ersten Maschine nach Hause zu fliegen.
Aber der Empfangschef sagte: »Ich habe eine Nachricht für Sie, Dr. Grew. Dr. Ramos läßt Sie bitten, nicht zu gehen, bevor Sie mit ihm gesprochen haben.«
»Danke.« Ich überlegte, ob ich ihm den Gefallen tun sollte, aber es stellte sich heraus, daß ich keine Entscheidung zu treffen brauchte. Ramos kam durch die Halle auf mich zugelaufen, mit besorgtem Gesicht.
»Ich habe mir gedacht, daß Sie abreisen würden«, sagte er. »Bitte, schenken Sie mir zwanzig Minuten von Ihrer Zeit.«
Ich zögerte, und er winkte einen Pagen heran. »Er soll sich um Ihr Gepäck kümmern, und dann gehen wir hinunter und trinken einen Kaffee.« Ich ließ mich auf die Terrasse vor dem Cafe führen, wo es nach dem Regen warm und sauber war, und ich fragte mich, ob Dr. Ramos die Stelle wiedererkennen würde, wo Larry aufgeschlagen war. Aber ich bin nicht besonders feinfühlig in solchen Dingen, und er war es offenbar auch nicht. Wenn er wollte, konnte er ziemlich autoritär wirken. Kaum hatten wir uns an einen Tisch gesetzt, hatte er auch schon eine Kellnerin zu sich beordert und Kaffee und Sandwichs bestellt, ohne mich vorher zu fragen. Dann begann er ohne Umschweife: »Chip, geben Sie's nicht auf. Es tut mir leid wegen Ihrer Notizen - aber ich möchte nicht, daß Sie aufgeben.«
Ich lehnte mich in meinem Sessel zurück und fühlte mich sehr müde. »Ich werde nicht aufgeben, Dr. Ramos.«
»Nennen Sie mich Laszlo.«
»Ich werde nicht aufgeben, Laszlo. Übrigens - ich habe schon die ganze Zeit darüber nachgedacht.«
»Das wußte ich.«
»Wenn ich nächste Woche ein paar Konferenzen ausfallen lasse und Larrys Tod als Entschuldigungsgrund angebe - ich würde jeden Grund angeben, der mir nur irgendwie von Nutzen wäre -, könnte ich den Großteil der Notizen aus dem Gedächtnis rekonstruieren. Vielleicht würde ich es in einer Woche nicht schaffen. Ich müßte mir einige Unterlagen noch einmal kopieren und schicken lassen.«
»Sehr gut. Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.« Die Kellnerin servierte den Kaffee und die Sandwichs, und er verscheuchte sie, sobald sie alles auf den Tisch gestellt hatte. »Sehen Sie, Chip - ich bin nur Ihretwegen hierhergekommen.«
Ich sah ihn an. »Interessieren Sie sich für Fotometrie?« »Nein - nicht für Ihren Vortrag, aber für Ihre Idee. Worüber wir da die halbe Nacht geredet haben. Ich wußte nicht, daß Sie mein Mann sind, bevor Resnik Sie gestern erwähnt hat. Und nach der letzten Nacht war ich mir ganz sicher.«
»Ich habe schon einen Job, Dr.. Laszlo.«
»Ich biete Ihnen keinen Job an.«
»Was wollen Sie dann von mir?«
»Ich biete Ihnen die Chance, Ihre Idee zu verwirklichen. Ich habe Geld, Chip - das Geld der Stiftung, das für etwas Sinnvolles ausgegeben werden soll. Nicht für Raum- oder Krebsforschung oder höhere Mathematik. Das wird ohnehin alles hinreichend finanziert. Meine Stiftung sucht nach Projekten, die nicht in das übliche Schema passen. Nach großen Projekten -wie dem Ihren.«
Nun, ich war natürlich ziemlich aufgeregt. Und es tat mir richtig gut, so ernst genommen zu werden.
»Ich habe den Sekretär unseres Aufsichtsrats in Washington angerufen, sobald das Büro geöffnet war. Natürlich konnte ich ihm am Telefon nicht genug mitteilen, um ihn dazu zu bewegen, Ihnen schon jetzt einen offiziellen Auftrag zu erteilen. Aber er ist interessiert. Und der Aufsichtsrat wird uns sicher keine Schwierigkeiten machen. Nächste Woche findet eine Versammlung statt, und ich möchte, daß Sie daran teilnehmen.«
»In Washington? Ich weiß nicht, ob ich.«
»Aber nein«, unterbrach mich Dr. Ramos. »Unsere Stiftung ist international, Chip. Wir werden uns am Corner See treffen. Dort können Sie in Ruhe arbeiten und werden nicht ständig von Ihrem Büro angerufen.«
»Aber - ich bin mir nicht sicher.«
»Wir werden Sie unterstützen. Sie bekommen alles, was Sie brauchen, einen Mitarbeiterstab, ein Büro. Wir bauen gerade ein Werk in Ames, Iowa. Dort wird man Sie natürlich ebenfalls brauchen - aber höchstens zwei Tage im Monat. Und.« Er grinste entschuldigend. »Ich weiß, es wird Ihnen nichts bedeuten. Wenn Sie erst mal eine Medaille auf der Brust haben, ist der Rest nicht mehr so aufregend. Aber es wird sich ganz gut in Ihrem Who's Who-Eintrag machen. Und, wie dem auch sei, der Sekretär hat mich bereits dazu ermächtigt, Ihnen zu sagen, daß man Ihnen ein Amt in unserem Kuratorium anbietet.«
Ich begann den Kaffee zu brauchen und trank einen großen Schluck. »Das geht mir alles ein bißchen zu schnell, Laszlo«, sagte ich.
»Die Mitglieder unserer Organisation treffen sich in Flagstaff. Sie besitzen dort einen Country Club. Es wird Ihnen gefallen. Dort treffen wir uns natürlich nur sechsmal im Jahr. Aber es lohnt sich. Natürlich sind wir wie jede andere Körperschaft auch politisch orientiert, und als Mitglied unseres Kuratoriums werden Sie großen Einfluß gewinnen.«
Und so redete er weiter, und ich saß da und hörte zu, und alles, was ich mir jemals erhofft hatte, wurde Wirklichkeit. Eine Woche später saß ich an einem riesengroßen Fenster, blickte auf den Corner See hinaus und war Projektdirektor mit allen Vollmachten, war Kurator und hochgeehrtes Mitglied der Organisation und hatte einen Mitarbeiterstab von einundvierzig Mann.
Nächste Woche werden wir das Lawrence Resnik-Gedenkhaus in Ames einweihen. Es war meine Idee gewesen, es so zu nennen, und alle hatten zugestimmt. Und wenn es auch ein teuflisches Jahr war, so kann ich doch sehen, daß wir Fortschritte gemacht haben. Es erscheint mir immer noch unvernünftig, daß ich so viel Zeit mit Verwaltungskram und Konferenzen verschwende. Aber als ich gestern in Montreal mit Laszlo darüber sprach, grinste er mich anerkennend an. »Ich habe mich schon gefragt, wie lange es dauern würde, bis Ihnen das auffällt. Aber man soll nichts überstürzen, und Sie sehen ja selber, daß es sich lohnt. Habe ich Ihnen schon erzählt, was für einen guten Eindruck Ihre Vortragsreise gemacht hat?«
»Ja, das haben Sie schon getan - danke. Aber wenn das Resnik-Werk erst einmal läuft, werden wir mehr Zeit haben.«
»Klar! Sagen Sie nicht, daß ich es Ihnen erzählt habe.«
Er zwinkerte mir zu. »Aber vergessen Sie nicht, daß ich schon mal was von dem Auftrag des Präsidenten bezüglich der interdisziplinarischen Angelegenheiten angedeutet habe. Nun ja, das ist noch nicht offiziell. Aber definitiv. Wir haben in Shoreham schon eine Suite für Sie gemietet, die werden Sie oft bewohnen. Wir haben sogar einen Raum als Büro einrichten lassen. Dort können Sie Ihre Notizen aufbewahren und zwischen den einzelnen Trips ein bißchen was arbeiten.«
Nun, ich sagte ihm natürlich, falls er die Notizen meinte, die ich zu rekonstruieren versucht hatte - die würden nicht soviel Platz brauchen.
Eigentlich brauchten sie überhaupt keinen Platz, denn bisher war ich noch gar nicht dazu gekommen, daran zu arbeiten.
Ich hatte gedacht, mit ein bißchen Glück würde ich es schaffen. Aber ich hatte nicht viel Glück gehabt. Der arme Honeyman zum Beispiel - ich hatte ihm bereits geschrieben und ihn um eine Kopie des Berichts gebeten, den er mir schon mal geschickt hatte, als ich hörte, daß seine Jolle in einem Sturm gekentert war. Man fand seine Leiche erst eine Woche später. Und kein Mensch scheint zu wissen, wo er die Kopie des Berichts aufbewahrt hat. Wenn er sie überhaupt angefertigt hat. Und.
Nun, da war diese komische Bemerkung, die Resnik am Tag vor seinem Tod machte - daß sich die ganze Welt gegen jeden Mann verschwören würde, der irgendwas zu tun versucht. Und dann hatte er noch hinzugefügt: »Ich bin nicht einmal sicher, ob es diese Welt ist.«
Ich fand heraus, was dieser Scherz zu bedeuten hatte - das heißt, wenn es überhaupt als Scherz gemeint war. Angenommen, irgend jemand wollte nicht, daß wir so schnelle Fortschritte machten - irgend jemand von einer anderen Welt Das ist natürlich dumm. Das heißt - ich glaube, daß es dumm ist.
Aber wenn diese Gedankengänge nicht dumm sind, dann muß die ganze Sache alles andere als dumm sein. Und damit meine ich, daß sie gefahrlich sein muß. Kürzlich bin ich vor meinem Haus zweimal fast überfahren worden - von irgendwelchen verrückten Leuten. Und dann verpaßte ich den Bus zum Flughafen und sah, wie die Maschine gleich nach dem Start abstürzte.
Zwei Dinge würde ich gern wissen - nur spaßeshalber. Erstens
- woher kriegt die Stiftung ihr Geld und warum? Zweitens, und ich werde versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu bekommen, wenn ich das nächstemal in Los Angeles bin - war da wirklich ein Hochzeitspaar in Zimmer 2051, das Laszlo Ramos an jenem Morgen irrtümlich weckte - etwa um die Zeit, als Larry zwanzig Stockwerke tief abstürzte?