Die Midas-Seuche

Und so wurden sie getraut.

Sie waren ein schönes Paar - die Braut in zwanzig Yards Rüschen in fleckenlosem Weiß, der Bräutigam in einer grauen, gerafften Bluse und gefältelten Hosen.

Es war eine kleine Hochzeit - aber das Beste, was er sich leisten konnte. Sie hatten nur die engsten Verwandten und ein paar gute Freunde eingeladen. Und als der Priester die Zeremonie beendet hatte, küßte Morey Frey seine junge Frau, und sie fuhren zum Hochzeitsempfang. Der Konvoi bestand aus achtundzwanzig Limousinen - wenn in zwanzig Autos auch nur die Roboter des Partyservice saßen - und zwei Blumenwagen.

»Ich segne euch beide«, sagte der alte Elon gefühlvoll. »Deine Cherry ist ein wunderbares Mädchen, Morey.« Er schneuzte sich in ein zerrissenes Batisttaschentuch.

Morey fand, daß sich die alten Leute sehr gut benahmen. Auf dem Empfang, umgeben von hohen Bergen aus Hochzeitsgeschenken, tranken sie Champagner und aßen eine große Menge von den winzigen, köstlichen Canapes. Sie lauschten höflich dem Fünfzehn-Mann-Orchester, und Cherrys Mutter tanzte sogar einmal mit Morey, aus sentimentalen Gründen, obwohl es offensichtlich war, daß Tanzen nicht zu ihrem Lebensstil gehörte. Sie bemühten sich sehr, inmitten der anderen Gäste nicht aufzufallen, aber in ihren einfachen und vermutlich geliehenen Kleidern, wirkten sie trotzdem erschreckend deplaziert zwischen den Springbrunnen und riesigen Gobelins, die den Ballsaal in Moreys Landhaus schmückten.

Als die Gäste aufbrachen, um die Jungvermählten allein zu lassen, so daß sie ihr gemeinsames Leben beginnen konnten, schüttelte Cherrys Vater Moreys Hand, und ihre Mutter küßte den Schwiegersohn. Aber als sie in ihrem winzigen Sportwagen davonfuhren, lag eine dunkle Angst in ihren Augen.

Natürlich hatten sie nichts gegen Morey persönlich. Aber arme Leute sollten keine reichen heiraten.

Sicher, Morey und Cherry liebten sich, was ihnen vieles erleichterte. Ein dutzendmal pro Stunde sagten sie sich, wie sehr sie sich liebten, in all den vielen Stunden, die sie zusammen waren, in den ersten Monaten ihrer Ehe. Morey nahm sich sogar die Zeit, mit seiner jungen Frau einkaufen zu gehen, wofür sie ihm unendlich dankbar war. Sie fuhren ihre Einkaufswagen durch die riesigen gewölbten Korridore des Supermarkts. Morey hakte die Sachen, die Cherry aus den Regalen nahm, auf der Einkaufsliste ab. Es machte ihnen großen Spaß.

In der ersten Zeit.

Ihr erster Streit begann im Supermarkt, zwischen den »Frühstücksdelikatessen« und den »Möbeln«, in der neueröffneten Schmuckabteilung.

»Diamantenkollier«, las Morey von seiner Liste ab. »Modeschmuckringe, Ohrclips«

»Morey, ich habe ein Kollier«, sagte Cherry rebellisch.

Morey faltete die Liste unsicher zusammen. Tatsächlich sie trug ihr Kollier. Aber es gab ja Alternativen.

»Wie wäre es mit einem Armband?« schmeichelte er. »Schau mal, hier haben sie schöne Rubinarmbänder. Wie wundervoll sie zu deinem Haar passen würden, Liebling!« Er winkte einen Robotverkäufer herbei, der sofort angelaufen kam und Cherry ein Tablett mit Armbändern reichte. »Sehr schön!« rief Morey, als Cherry das breiteste Armband auf ihr Handgelenk streifte.

»Und ich muß kein Kollier nehmen?« fragte sie.

»Natürlich nicht.« Er blickte auf den Preiszettel. »Das kostet ohnehin genausoviel.« Als Cherry ihn zweifelnd ansah, sagte er fröhlich: »Und jetzt gehen wir in die Schuhabteilung. Ich möchte ein Paar Pumps zum Tanzen aussuchen.«

Cherry erhob keine Einwände, weder jetzt noch während des restlichen Einkaufsbummels. Danach saßen sie im Salon, im Erdgeschoß des Supermarkts, und warteten, bis die Robotbuchhalter die Rechnung geschrieben und die Robotkassierer ihre Rationierungsbücher abgestempelt hatten.

Morey veranlaßte, daß alle Waren bis auf das Armband in ihr Haus geliefert wurden.

»Ich möchte, daß du es jetzt gleich trägst, Liebling«, erklärte er. »Ehrlich - ich habe noch kein Schmuckstück gesehen, das besser zu dir passen würde, Liebling.«

Cherry errötete erfreut, und Morey war sehr zufrieden mit sich. Es gab sicher nicht viele Männer, die solche kleinen häuslichen Probleme so bravourös lösen konnten.

Seine Zufriedenheit hielt auch während der Heimfahrt an, als Henry, ihr Begleitroboter, sie mit komischen Geschichten über die Fabrik unterhielt, in der er gebaut und ausgebildet worden war. Cherry hatte sich erst an den Roboter gewöhnen müssen, aber es war unmöglich, Henry nicht sympathisch zu finden. Er erzählte Witze und lustige Stories, wenn man sich amüsieren wollte, er zeigte Mitleid, wenn man deprimiert war, und er war eine nie versiegende Informationsquelle - egal, welches Thema man zur Sprache brachte. O ja, mit Henry kam sie sehr gut zurecht. Sie bat ihn sogar, ihnen während des Dinners Gesellschaft zu leisten, und lachte ebenso herzlich wie Morey über die drolligen Anekdoten des Roboters.

Aber später, im Wintergarten, als Henry sie taktvoll allein gelassen hatte, erstarb das Gelächter.

Morey merkte es nicht. Er widmete sich voller Hingabe seinem Abendritual, schlenderte umher, schaltete den dreidimensionalen Fernseher an, goß die Liköre ein, blätterte in den Abendzeitungen.

Cherry räusperte sich, und Morey hob den Kopf. »Liebling«, begann sie vorsichtig, »ich bin heute abend ein bißchen müde. Könnten wir - ich meine - findest du nicht auch, daß wir mal zu Hause bleiben und uns entspannen sollten?«

Morey sah sie besorgt an. Sie saß zurückgelehnt in ihrem bequemen Sessel, die Augen halb geschlossen. »Fühlst du dich nicht gut?« fragte er.

»Doch. Aber ich möchte heute abend nicht ausgehen, Liebling. Ich habe keine Lust dazu.«

Er setzte sich und zündete sich automatisch eine Zigarette an. »Ich verstehe«, sagte er. Im 3-D-Fernsehen begann gerade eine heitere Show. Er schaltete das Gerät aus und stellte das Magnetophon an. Sanfte Streicherklänge füllten den Raum.

»Aber wir haben für heute abend zwei Plätze im Klub reservieren lassen«, erinnerte er sie.

Cherry rutschte unbehaglich in ihrem Sessel hin und her. »Ich weiß.«

»Und wir haben die Opernkarten, die ich letzte Woche umgetauscht habe. Ich will ja nicht nörgeln, Liebling, aber bisher haben wir alle unsere Opernkarten zurückgegeben.«

»Wir können uns die Aufführungen doch auch im Fernsehen anschauen«, erwiderte sie mit dünner Stimme.

»Daraufkommt es nicht an, Schätzchen. Ich - ich wollte es dir eigentlich nicht erzählen - aber Wainwright sagte mir gestern im Büro, er würde abends in den Zirkus gehen und wir könnten uns dort treffen. Nun, wir waren nicht da. Der Himmel mag wissen, was für eine Ausrede ich ihm nächste Woche auftischen werde.«

Er wartete auf eine Antwort, aber Cherry schwieg.

»Wenn du dich also irgendwie dazu überwinden könntest, heute abend mit mir auszugehen.«, begann er.

Dann brach er ab, und seine Kinnlade klappte nach unten. Cherry weinte, lautlos und tränenreich.

»Liebling!« stieß er hervor.

Er lief zu ihr, aber sie hob abwehrend die Hände. Und so stand er hilflos vor ihr und sah ihr zu, wie sie weinte.

»Liebling, was ist denn los?« fragte er.

Sie wandte den Kopf ab.

Morey trat von einem Fuß auf den anderen. Es war nicht das erstemal, daß er Cherry weinen sah. Da hatte es jene bedeutungsvolle Szene gegeben, als sie beschlossen hatten, aufeinander zu verzichten, da sie von so verschiedener Herkunft waren. Doch sie hatten bald darauf erkannt, daß sie ohne einander nicht leben konnten - egal, was auf sie zukommen mochte.

Aber jetzt erweckten Cherrys Tränen zum erstenmal Schuldgefühle in Morey. Er stand da und starrte sie an.

Und dann wandte er ihr den Rücken zu und ging zur Bar. Er ignorierte die gefüllten Likörgläser, die auf der Theke bereitstanden, und goß zwei Highballs ein, trug sie zum Couchtisch, setzte sich neben seine Frau und nahm einen großen Schluck.

»Liebling, was ist los?« fragte er in sanfterem Ton als zuvor.

Er bekam keine Antwort.

»So sag mir doch endlich, was du hast!«

Sie sah ihn an, dann rieb sie sich die Augen. »Tut mir leid.«

»Ich weiß, daß es dir leid tut. Schau mal - wir lieben uns. Deshalb sollten wir immer über alles sprechen.«

Sie griff nach ihrem Glas, hielt es eine Weile in der Hand, stellte es auf den Tisch zurück, ohne getrunken zu haben. »Was hätte das denn für einen Sinn, Morey?«

»Bitte! Versuchen wir's.«

Sie zuckte mit den Schultern.

Aber er war nicht gewillt, die Flinte so schnell ins Korn zu werfen. »Du bist nicht glücklich, nicht wahr? Deshalb, was?« Mit einer weit ausholenden Geste umfaßte er den kostbar ausgestatteten Wintergarten, den dicken Teppich, die raffinierten Geräte, die nur daraufwarteten, ihre Eigentümer zu unterhalten. Und symbolisch umfaßte diese Geste auch die anderen fünfundzwanzig Räume, die fünf Autos, die neun Roboter. »Du bist nicht daran gewöhnt, nicht wahr?« fragte Morey bedrückt.

»Ich kann nichts dagegen tun«, erwiderte Cherry. »Morey, du weißt, daß ich es versucht habe. Aber zu Hause.«

»Verdammt«, unterbrach er sie, »du bist jetzt hier zu Hause. Du wohnst nicht mehr bei deinen Eltern in einem Fünf-ZimmerHäuschen. Du verbringst deine Abende nicht mehr mit Gartenarbeit, du spielst nicht mehr Karten, um ein paar Streichhölzer zu gewinnen. Du lebst jetzt hier, bei mir - bei deinem Mann! Du hast gewußt, wie es sein würde. Wir haben vor der Hochzeit oft darüber gesprochen.«

Er verstummte, weil Worte sinnlos waren. Cherry weinte wieder. Aber diesmal waren es keine stummen Tränen.

»Liebling, ich habe es versucht«, beteuerte sie schluchzend. »Du weißt doch, wie sehr ich mich bemüht habe. Ich habe alle die dummen Kleider getragen und alle die idiotischen Spiele gespielt. Ich bin mit dir ausgegangen, so oft ich konnte - ich habe dieses schreckliche Essen hinuntergewürgt, bis ich immer dicker geworden bin. Aber ich kann einfach nicht so weiterleben. Ich bin nicht daran gewöhnt. Ich - ich liebe dich, Morey. Aber ich werde verrückt, wenn ich so leben muß. Ich kann nicht anders -ich habe es einfach satt, reich zu sein.«

Irgendwann versiegten die Tränen, und der Streit war vorbei. Sie küßten sich, sie versöhnten sich. Aber in dieser Nacht konnte Morey lange nicht einschlafen. Er lauschte auf die leisen Atemzüge seiner Frau, die aus der Suite nebenan herüberdrangen, und starrte ins Dunkel, fühlte sich so unglücklich wie all die Armen, die vor ihm gelebt hatten.

Selig sind die Armen, denn sie werden das Erdreich besitzen.

Selig war Morey, der mehr weltliche Güter besaß, als er jemals konsumieren konnte.

Morey Frey, der in qualvoller Armut dahinvegetierte, war noch nie in seinem Leben hungrig gewesen. Was immer sein Herz begehrt hatte, sei es eine besondere Mahlzeit, Kleidung oder ein Platz zum Schlafen, er hatte es bekommen. Niemand auf Moreys Welt mußte diese Dinge entbehren. Das war unmöglich.

Malthus verfügte über eine Zivilisation ohne Maschinen, automatische Fabriken, Wasserkulturen und Synthesen, für nukleare Brüter und Meeresminen.

Und es gab einen ständig wachsenden Vorrat an Arbeitsplätzen.

Und eine Architektur, die hoch in den Himmel ragte und sich tief in den Boden hinabgrub und auf Piers und Pontons weit draußen auf dem Wasser schwammen - eine Architektur, die an einem Tag entstand und schon am nächsten bewohnt werden konnte.

Und Roboter.

Überall Roboter - Roboter, die gruben und wühlten und Bodenschätze förderten, die schmolzen und fabrizierten, die bauten und Landwirtschaft betrieben, webten und nähten.

Was dem Land an Reichtum mangelte, spendete das Meer, und die Labors erfanden den Rest - und die Fabriken bildeten eine Pipeline des Überflusses, produzierten genug, um ein Dutzend Welten zu ernähren, zu kleiden und zu beherbergen.

Unbegrenzte Erfindungen, unbegrenzte Atomkraft, Menschen und Roboter, die unermüdlich arbeiteten, eine Mechanisierung, die Dschungel und Sümpfe und Eis von der Erde verbannte und statt dessen Bürogebäude, Fabrikzentren und Raumflughäfen errichtete.

Die Pipeline der Produktion, die zu Malthus' Zeiten kein König gekannt hatte.

Aber eine Pipeline hat zwei Enden. In das eine Ende ergießen sich Erfindungsgeist und Kraft und Arbeit, und das muß am anderen Ende irgendwie wieder herauskommen .

Der glückliche Morey, jene gesegnete ökonomischkonsumierende Einheit, ertrank in der Flut, die aus der Pipeline floß, kämpfte mannhaft, um zu essen und zu trinken und seinen Anteil am unaufhörlichen Überfluß zu verbrauchen.

Aber Morey fühlte sich alles andere als gesegnet, denn die Segnungen der Armut werden immer besser aus sicherer Entfernung gewürdigt.

Quoten geisterten durch seine Träume, bis er am nächsten Morgen um acht Uhr erwachte, bleich und mit roten Augen, aber fest entschlossen. Er würde ein neues Leben beginnen.

Die ersten Probleme tauchten bereits mit der Morgenpost auf. Unter dem Briefkopf des Nationalen Rationierungsbüros stand: Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, daß die folgenden, von Ihnen im Zusammenhang mit Ihren Angstquoten als abgenutzt zurückgegebenen Gegenstände inspiziert und als ungenügend verbraucht betrachtet wurden. Nun folgte die Liste

- eine lange Liste, wie Morey bedrückt feststellen mußte. Deshalb werden Sie keinen Kredit erhalten und werden im laufenden Monat zu einer zusätzlichen Konsumquote von 435 Punkten verpflichtet, wobei mindestens 350 Punkte für Kleidung und Möbel verwendet werden müssen.

Morey warf den Brief auf den Boden. Der Robotkammerdiener hob ihn emotionslos auf, strich ihn glatt und legte ihn auf den Schreibtisch.

Das war nicht fair. Okay, vielleicht waren die Badehosen und Sonnenschirme nicht übermäßig abgenutzt - aber wie zum Teufel sollte man seine Schwimmausrüstung abnützen, wenn man keine Zeit zum Schwimmen hatte, fragte er sich bitter. Und die Wanderhosen hatte er nun wirklich oft angehabt. Er hatte sie drei ganze und einen halben Tag getragen. Was erwarteten die eigentlich von ihm? Daß er in Fetzen herumlief?

Morey starrte kampflustig auf das Tablett mit Kaffee und Toast, das ihm der Robotkammerdiener zusammen mit der Post gebracht hatte, und seine Entschlossenheit wuchs. Ob es nun unfair war oder nicht, er mußte sich bei diesem Spiel an die Regeln halten. Er würde es mehr für Cherry tun als für sich selbst, und er wollte sein neues Leben sofort beginnen.

Morey würde für zwei konsumieren.

»Trag das Zeug wieder hinaus!« befahl er dem Robotkammerdiener. »Ich möchte Sahne und Zucker zum Kaffee - viel Sahne und viel Zucker. Und zum Toast möchte ich noch Spiegeleier -und Bratkartoffeln, Orangensaft - nein, lieber eine halbe Grapefruit. Und Orangensaft, wenn ich's mir recht überlege.«

»Sofort, Sir«, sagte der Kammerdiener. »Dann werden Sie wohl um neun kein zweites Frühstück einnehmen?«

»Oh, doch!« erwiderte Morey und lächelte tugendhaft. »Eine doppelte Portion!« Als der Roboter die Tür schloß, rief er ihm noch nach: »Ich will noch Butter und Marmelade zum Toast haben!«

Dann ging er ins Bad. Er hatte einiges vor und keine Zeit zu verschwenden. Unter der Dusche seifte er sich sorgfaltig dreimal ein, und als er die Seife abgewaschen hatte, drückte er auf alle verfügbaren Knöpfe, worauf aus den Röhren nacheinanander drei Lotions, geruchloser Talkpuder, duftender Talkpuder und dreißig Sekunden lang ultraviolette Strahlen drangen. Dann seifte er sich noch einmal ein, spülte die Seife ab, rieb sich mit einem Handtuch trocken, statt die Heißluftdüse zu benutzen. Natürlich hatte er die diversen Düfte wieder abgewaschen, aber wenn ihn das Rationierungsbüro der Verschwendung beschuldigen sollte, konnte er ja behaupten, er hätte experimentiert.

Tatendurstig verließ er das Badezimmer. Cherry saß bereits im Frühstückszimmer und starrte entsetzt auf das Tablett, das der Kammerdiener gebracht hatte. »Guten Morgen, Liebling«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Uff!«

Morey küßte sie und tätschelte ihre Hand. »Sehr gut!« jubelte er und blickte mit einem breiten Grinsen auf das Tablett. »Endlich was zu essen!«

»Ist das nicht ein bißchen viel für uns beide?«

»Für uns beide? Unsinn, meine Liebe, das esse ich alles allein.«

»O Morey!« rief Cherry atemlos, und der bewundernde Blick, den sie ihm schenkte, genügte vollauf, um ihn für ein Dutzend solcher Mahlzeiten zu entschädigen.

So würde es jetzt immer sein, dachte er, als er seine morgendliche Boxrunde mit einem Roboter als Sparringspartner beendet hatte und sein zweites Frühstück nahm - Tag für Tag, für lange, lange Zeit.

Aber Moreys Entschluß stand fest. Während er mit Räucherhering, Tee und Pfannkuchen kämpfte, besprach er seine Pläne mit Henry. »Du kannst gleich ein paar Termine für mich ausmachen«, sagte er mit vollem Mund. »Drei Gymnastikstunden pro Woche - aber such ein Institut mit Reduktionsgeräten aus. Die werde ich nämlich brauchen. Und dann mußt du mich bei meinem Schneider anmelden. Diese Anzüge trage ich jetzt schon seit Wochen. Laß mal sehen - Arzt, Zahnarzt - sag mal, Henry, hatte ich nicht einen Termin bei den Psychiatern?«

»O ja, Sir«, antwortete der Roboter höflich. »Heute vormittag. Ich habe den Chauffeur bereits verständigt und in Ihrem Büro angerufen.«

»Sehr gut. Dann kannst du dich ja um alles andere kümmern, Henry.«

»Sehr wohl, Sir«, sagte Henry, und sein Gesicht nahm den seltsam abwesenden Ausdruck eines Roboters an, der seinen GZR-Sender benutzte - ein Funkgerät für »Gespräche zwischen Robotern«, mit dessen Hilfe die Automaten Termine für ihre Herren vereinbarten.

Schweigend beendete Morey sein Frühstück, sonnte sich im Licht seiner Tugend und war mit sich und der Welt zufrieden. Es ist gar nicht so schwierig, ein braver, fleißiger Konsument zu werden, wenn man sich ein bißchen anstrengt, überlegte er. Nur die Unzufriedenen, die Taugenichtse und die Unfähigen schaffen es nicht, sich ihrer Umwelt anzupassen. Nun, dachte er mit vagem Mitgefühl, es muß auch unglückliche Leute geben. Ohne Eier zu zerschlagen, kann man kein Omelett machen. Und es ist nicht meine Aufgabe, mit wildem Blick herumzulaufen, schreiend die gesellschaftliche Ordnung anzuprangern, mich auf die Brust zu schlagen und Gerechtigkeit zu fordern. Nein, es ist meine Pflicht, für meine Frau und mein Heim zu sorgen.

Schade, daß er sich heute nicht sofort in die geplante KonsumOrgie stürzen konnte. Aber heute war der einzige Tag in der Woche, an dem er arbeiten mußte. Vier von den anderen sechs Tagen waren allein für den Konsum bestimmt. Und außerdem hatte er auch noch ein paar Gruppentherapie-Termine. Morey sagte sich, daß seine Analyse von heute an viel besser ausfallen würde - jetzt, wo er sein Problem erkannt hatte und bereit war, ihm zu Leibe zu rücken.

Sein neu erwachtes Selbstbewußtsein umgab ihn wie eine Gloriole, als er Cherry zum Abschied küßte. Sie war ganz verwirrt vor Entzücken über die Wandlung, die in ihm vorgegangen war, und begleitete ihn zum Wagen hinaus. Morey bemerkte den kleinen Mann mit dem großen Schlapphut nicht, der halb verborgen zwischen den Büschen stand.

»He, Kumpel!« Die Stimme des Mannes war nur ein Flüstern.

»Eh? Oh - was ist denn?«

Der Mann blickte sich verstohlen um. »Hören Sie mal, Freund!« stieß er hastig hervor. »Sie schauen wie ein intelligenter Mann aus, der ein bißchen Hilfe brauchen könnte. Die Zeiten sind hart

- Sie helfen mir, ich helfe Ihnen. Wollen Sie ein Geschäft mit Rationsmarken machen? Sechs für eine. Eine von Ihnen für sechs von mir - der beste Handel, den Sie in dieser Stadt abschließen können. Natürlich sind meine Marken keine echten McCoy's, aber sie werden ihren Zweck erfüllen, mein Freund.«

Morey blinzelte ihn an. »Nein!« Hastig stieß er den Mann beiseite. Jetzt sind auch schon Spekulanten am Werk, dachte er erbost. Dieses Elend und der endlose schmutzige Kampf mit den Rationen genügen noch nicht, um Cherry zu quälen. Nein, jetzt müssen auch noch Leute, die auf der Schattenseite des Gesetzes stehen, in der Nachbarschaft herumlungern. Es war natürlich nicht das erstemal, daß ein Rationsmarken-Gangster an ihn herantrat, aber zu seiner Vordertür hatte sich bisher noch keiner gewagt.

Als Morey in sein Auto stieg, überlegte er, ob er die Polizei rufen sollte. Aber wenn die Beamten hier ankamen, würde der Mann längst verschwunden sein. Außerdem war er ja ganz gut mit der Situation fertig geworden.

Sicher, es wäre ganz nett, sechs Marken für eine zu bekommen. Aber wenn man ihn erwischte, würde er nichts zu lachen haben.

»Guten Morgen, Mr. Frey«, klirrte die RobotSprechstundenhilfe, »würden Sie bitte gleich hineingehen?« Sie zeigte niit einem Stahlfinger auf die Tür mit der Aufschrift »Gruppentherapie«.

Als Morey nickte und der Aufforderung folgte, gelobte er sich, daß er eines Tages in der Lage sein würde, sich einen eigenen Analytiker leisten zu können. Natürlich milderte die Gruppentherapie den unaufhörlichen Streß des modernen Lebens, und ohne sie wäre er wahrscheinlich genauso schlimm dran wie der hysterische Mob bei den Rationalisierungsrevolten oder so gefahrlich und asozial wie die Fälscher.

Gleichzeitig aber mangelte es der Gruppentherapie ganz einfach an persönlicher Atmosphäre. Die privatesten Dinge wurden in aller Öffentlichkeit breitgetreten, und das war ebenso entnervend wie der Versuch, in einem Haus, wo man ständig von Robotern umgeben war, ein glückliches Eheleben zu führen.

Morey riß sich in kalter Panik zusammen. Wie war er denn auf diesen Gedanken gekommen? Er war tieferschüttert, als er den Raum betrat und die Gruppe begrüßte, der er zugeteilt war.

Da waren elf Leute - vier Freudianer, vier Reichianer, vier Junianer, ein Gestalter, ein Schocktherapist und der alte ziemlich stille Sullivanist. Auch die Mitglieder der größeren Gruppen hatten ihre individuellen Differenzen, was Technik und Überzeugungen betraf, aber obwohl er nun schon vier Jahre mit dieser Gruppe von Analytikern zusammenarbeitete, konnte er sie immer noch nicht auseinanderhalten. Aber er kannte wenigstens ihre Namen.

»Guten Morgen, Gentlemen«, sagter er. »Was steht denn heute auf dem Programm?«

»Guten Morgen«, sagte Semmelweiss mürrisch. »Heute sehen Sie zum erstenmal so aus, als hätten Sie ernsthafte Probleme -und ausgerechnet für heute ist das Psychodrama anberaumt. Dr. Fairless«, bat er, »könnten wir den Plan nicht abändern? Frey steht offensichtlich unter einer starken Anspannung. Das wäre genau der richtige Zeitpunkt, um nachzuhaken und zu sehen, was dabei herauskommt. Das Psychodrama könnten wir doch auch das nächstemal absolvieren.«

Fairless schüttelte seinen kahlen alten Schädel. »Tut mir leid, Doktor. Wenn es an mir läge - ich hätte nichts dagegen. Aber Sie kennen ja die Regeln.«

»Regeln, Regeln!« stieß Semmelweiss hervor. »Und was haben wir davon? Hier ist ein Patient in einem akuten Angstzustand, und wir ignorieren das, weil wir uns an die Regeln halten müssen. Können Sie das mit Ihrer Berufsehre vereinbaren? Wollen Sie den Patienten auf diese Weise heilen?«

»Wenn ich mir einen Einwand erlauben darf, Dr. Semmelweiss«, sagte der kleine Blaine frostig, »wir haben schon viele Patienten geheilt, ohne von den Regeln abzuweichen. Ich selbst zum Beispiel.«

»Sie selbst!« spottete Semmelweiss. »Sie selbst haben noch nie in Ihrem Leben allein einen Patienten behandelt. Wann werden Sie denn die Gruppe verlassen, Blaine?«

»Dr. Fairless!« rief Blaine wütend. »Ich glaube nicht, daß ich diesen persönlichen Angriff hinnehmen muß. Nur weil Semmelweiss älter ist und an einem Tag pro Woche ein paar Privatpatienten hat, denkt er.«

»Gentlemen!« sagte Fairless sanft. »Wir wollen mt der Arbeit beginnen. Mr. Frey ist zu uns gekommen, weil er Hilfe braucht -und nicht, um unsere Wutanfalle mitzuerleben.«

»Es tut mir leid«, sagte Semmelweiss. »Trotzdem bitte ich um eine Abstimmung.«

Fairless nickte. »Wer ist dagegen, daß wir vom Arbeitsplan abweichen?« Er blickte in die Runde. Neun Hände hatten sich erhoben. »Sie sind überstimmt, Dr. Semmelweiss. Dann wollen wir also mit dem Psychodrama beginnen. Wenn der Protokollführer bitte die Notizen und Kommentare der letzten Sitzung vorlesen würde.«

Der Protokollführer, ein dicker junger Mann namens Sprogue, blätterte in seinem Notizbuch und begann mit sonorer Stimme: »>Sitzung am 24. Mai, Patient - Morey Frey. Behandelnde Ärzte

- Dr. Fairless, Dr. Bileck, Dr. Semmelweiss, Dr. Carrado, Dr. Weber<«

Fairless unterbrach ihn mit milder Stimme. »Bitte nur die letzte Seite, Dr. Sprogue.«

»Hm - o ja.>Nach einer zehnminütigen Pause, in der zusätzliche Rorschachtests und ein Elektro-Enzephalogramm gemacht wurden, trat die Gruppe wieder zusammen und ließ den Patienten Wortassoziationen bilden. Die Resultate wurden in Tabellen eingetragen und mit den StandardAbweichungsschemata verglichen. Dabei wurde festgestellt, daß die vorrangigen Traumata des Patienten.<«

Moreys Aufmerksamkeit ließ nach. Die Therapie war gut. Das wußte jeder. Aber er fand sie manchmal ein bißchen langweilig. Trotzdem - wenn er sich dieser Therapie nicht unterzog, konnte man nicht wissen, was passieren würde.

Natürlich hatte man ihm schon sehr geholfen. Immerhin hatte er sein Haus nicht angezündet und den Feuerwehrroboter nicht angeschrien, wie Newell, der einen Block weiter unten wohnte -damals, als sich seine älteste Tochter scheiden ließ und mitsamt ihren Rationierungsquoten nach Hause zurückkehrte. Morey hatte noch nicht einmal das Bedürfnis verspürt, etwas so Ungeheures und beängstigend Unmoralisches zu tun wie Dinge zu zerstören oder zu verschwenden - nun ja, wenn er ehrlich war, mußte er zugeben, daß er manchmal in Versuchung geraten war. Aber er wurde von keinen Gefühlen heimgesucht, die zur Besorgnis Anlaß geben könnten. Er war gesund - völlig gesund.

Verwirrt hob er den Kopf. »Mr. Frey«, wiederholte Fairless, »würden Sie bitte ihren Platz einnehmen?« »Natürlich«, sagte Morey hastig. »Eh - wo denn?«

Semmelweiss brach in wieherndes Gelächter aus. »Das haben wir Ihnen doch gesagt. Na ja, macht nichts, Morey. Sie haben nicht viel versäumt. Wir spielen jetzt die wichtigsten Szenen Ihres Lebens durch, von denen Sie uns letztesmal erzählt haben. Erinnern Sie sich? Sie waren vierzehn, und es war Weihnachten. Ihre Mutter hatte Ihnen etwas versprochen.«

Morey schluckte. »Ja, ich erinnere mich«, sagte er unglücklich. »Okay. Wo soll ich mich denn hinstellen?«

»Da drüben«, erwiderte Fairless. »Sie sind Sie selber, und Carrado ist Ihre Mutter. Ich bin Ihr Vater. So, der Weihnachtsmorgen ist angebrochen. Fröhliche Weihnachten, Morey!«

»Fröhliche Weihnachten«, sagte Morey halbherzig. »Eh - lieber Vater, wo ist denn das - eh - das Hündchen, das Mutter mir versprochen hat?«

»Ach was, ein Hündchen!« rief Fairless in herzlichem Ton.

»Deine Mutter und ich haben etwas viel Schöneres für dich. Schau doch mal, was da unter dem Baum steht - ein Roboter! Ja, Morey, er gehört dir ganz allein - ein richtiger, vollautomatischer Robot-Kamerad mit achtunddreißig Röhren. Geh doch hin und sprich mit ihm, Morey! Er heißt Henry. Geh nur, mein Junge!«

Morey verspürte ein plötzliches, unbegreifliches Prickeln über seinem Nasenrücken.

»Aber - ich wollte keinen Roboter«, sagte er mit zitternder Stimme.

»Natürlich willst du einen Roboter«, entgegnete Carrado. »Geh nur, Kind, spiel mit deinem schönen Roboter!«

»Ich hasse Roboter!« stieß Morey wütend hervor. Er sah die Ärzte der Reihe nach an, blickte sich um in dem Behandlungsraum mit den graugetäfelten Wänden. »Hört ihr mich? Ich hasse die Roboter immer noch!«

Eine kurze Pause trat ein. Dann begann man ihm Fragen zu stellen.

Eine halbe Stunde später kam die Sprechstundenhilfe herein und verkündete, daß die Zeit um war.

In dieser halben Stunde hatte er sein Zittern und die wilden Emotionen überwunden, aber er hatte sich an etwas erinnert, das er vor dreizehn Jahren vergessen hatte.

Er haßte Roboter.

Das Erstaunliche an der ganzen Sache war nicht der Haß, den der junge Morey gegen die Roboter gehegt hatte, sondern das Faktum, daß die Revolte gegen die Roboter, der letzte heftige Kampf zwischen Fleisch und Metall, die tödliche Schlacht zwischen der Menschheit und ihren Maschinenerben niemals stattgefunden hatte. Ein kleiner Junge hatte die Roboter gehaßt

- aber nachdem er herangewachsen war, arbeitete er mit den Robotern zusammen.

Und doch - der neue Arbeiter, der Berufsrivale, stand unabänderlich außerhalb des Gesetzes. So war es schon immer gewesen. Die Iren, die Neger, die Juden, die Italiener - die wurden in Ghettos abgeschoben, wo sie sich einkapselten, innerlich zu kochen begannen und dann ausbrachen, um sich einen Weg in die etablierte Gesellschaft zu bahnen, mit der sie sich vermischten, bis sie in späteren Generationen nicht mehr von ihr zu unterscheiden waren.

Für die Roboter war dieser genetische Ausweg noch nicht in Sicht. Trotzdem kam es zu keinem Konflikt. Die Rückkoppelungsstromkreise richteten die Flugabwehrgeschütze, fanden in neuer Gestalt, mit neuen Verwendungszielen einen Platz in neuen Maschinen - zusammen mit einer wunderbaren Vielfalt von Nocken und Hebeln, bildeten unzerstörbare, nie versiegende Energiequellen, die aus hunderttausend Teilen und Ergänzungsmontagen bestanden.

Und so sprang der erste Roboter vom Fließband.

Seine Mission war die eigene Vernichtung. Aber aus dem gereinigten Wrack seines Metallkörpers bezogen hundert bessere Roboter ihre Inspirationen. Und die hundert machten sich an die Arbeit, gefolgt von weiteren hundert, bis es unzählige Millionen von Robotern gab.

Und die Menschen rebellierten immer noch nicht.

Denn die Roboter hatten ihnen ein Geschenk gebracht, und dieses Geschenk hieß »Überfluß«.

Und als man die Nachteile dieses Geschenks erkannt hatte, war die Zeit des Aufstands vorüber. Der Überfluß ist eine Droge, die süchtig macht. Man setzt die Dosis nicht herab. Man versucht, die Droge überhaupt nicht mehr zu nehmen. Aber die Krämpfe, die man dann erleidet, können den Körper für immer zerstören.

Der Süchtige sehnt sich nach dem körnigen weißen Pulver. Er haßt es nicht, er haßt auch den Händler nicht, der es ihm verkauft. Und wenn Morey als kleiner Junge den Roboter hassen konnte, der ihn um sein Hündchen gebracht hatte, so war sich der erwachsene Morey voll der Tatsache bewußt, daß die Roboter seine Diener und Freunde waren.

Aber der kleine Junge, der in Morey weiterlebte, hatte sich nie überzeugen lassen.

Normalerweise freute sich Morey auf seine Arbeit. Dieser einzige Tag in der Woche, an dem er wirklich etwas tat, war eine wundervolle Abwechslung, die den zermürbenden Konsumzwang erleichterte. In gehobener Stimmung betrat er den Planungsraum der Bradmoor-Amüsement-Company. Aber als er seinen Straßenanzug mit dem Arbeitskittel vertauschte, kam Rowland von der Vermittlung mit einem wissenden Blick zu ihm. »Wainwright hat schon nach Ihnen gesucht«, flüsterte er. »Gehen Sie lieber gleich rein!«

Morey bedankte sich nervös und machte sich auf den Weg. Wainwrights Büro war so groß wie eine Telefonzelle und so kahl wie das antarktische Eis. Jedesmal, wenn Morey diesen Raum sah, wurde ihm ganz schlecht vor Neid. Wenn man sich das vorstellte - ein Schreibtisch ohne Kalenderuhr, ohne Zwölffarbenkugelschreiber, ohne Diktiergerät.

Er zwängte sich hinein und setzte sich, während Wainwright ein Telefonat beendete. Morey überlegte, warum Wainwright wohl persönlich mit ihm reden wollte, statt das Telefon zu benutzen oder ein paar Worte mit ihm zu wechseln, während er durch den Planungsraum ging.

Und es fielen ihm tatsächlich ein paar gute Gründe ein.

Wainwright legte den Hörer auf die Gabel zurück, und Morey richtete sich auf. »Sie wollten mich sprechen?«

Wainwright wirkte in der Welt, die von lauter Dicken bevölkert war, geradezu aristokratisch schlank. Als Generaldirektor der Bradford-Planungs- und Entwicklungsstelle zählte er zu den ganz großen Tieren. »Allerdings«, stieß er hervor. »Frey, was zum Teufel führen Sie eigentlich im Schilde?«

»Ich - ich weiß nicht, was Sie meinen, Mr. Wainwright«, stammelte Morey.

Wainwright schnaufte verächtlich. »Natürlich nicht. Aber nicht, weil man es Ihnen verschwiegen hat, sondern weil Sie es nicht wissen wollen. Erinnern Sie sich doch mal an die letzte Woche. Warum habe ich Sie da zur Schnecke gemacht?«

»Wegen meines Rationierungsbuchs«, sagte Morey und fühlte sich elend. »Hören Sie mal, Mr. Wainwright, ich weiß, daß ich ein bißchen im Verzug bin, aber.«

»Kein Aber! Was glauben Sie denn, was das für einen Eindruck auf das Komitee macht. Das Rationierungsbüro hat sich über Sie beschwert. Natürlich hat man die Beschwerde an mich weitergegeben. Und ich gebe Sie natürlich an Sie weiter. Die Frage ist jetzt nur - was werden Sie unternehmen? Großer Gott, Mann, schauen Sie sich doch diese Zahlen an - Textilien, einundfünfzig Prozent - Essen, siebenundsechzig Prozent - Vergnügungen, dreißig Prozent. Sie haben ihre Rationen schon seit Monaten nicht mehr erreicht.«

Morey starrte unglücklich auf die Karteikarte. »Nun ja - meine Frau und ich - wir haben gestern abend darüber gesprochen, Mr. Wainwright. Und glauben Sie mir - wir werden uns bessern. Wir werden uns die größte Mühe geben.«

Wainwright nickte, und zum erstenmal lag ein schwaches Mitgefühl in seinen Augen. »Sie sind mit Richter Elons Tochter verheiratet, nicht wahr? Sehr gute Familie. Ich hatte schon oft mit dem Richter zu tun.« Dann fügte er in kühlerem Ton hinzu: »Trotzdem, Frey, ich warne Sie. Es ist mir egal, wie Sie aus diesem Schlamassel herauskommen, aber sorgen Sie dafür, daß das Komitee nicht noch einmal mit einer solchen Klage an mich herantritt!«

»Gewiß, Sir.«

»Okay. Haben Sie die Pläne für das neue K-50-Projekt fertig?«

Moreys Miene erhellte sich.

»Fast, Sir. Ich lasse heute den ersten Teil aufzeichnen. Ich bin sehr damit zufrieden, Mr. Wainwright, wirklich. Bis jetzt habe ich über achtzehntausend bewegliche Teile drin, und das ohne die.«

»Gut, gut.« Wainwright blickte auf seinen Schreibtisch hinab. »Machen Sie nur so weiter. Und sehen Sie zu, daß Sie diese andere Sache in Ordnung bringen. Ich weiß, daß Sie das können, Frey. Es ist unsere allererste Pflicht zu konsumieren. Das dürfen Sie nie vergessen.«

Howland folgte Morey aus dem Planungsraum zu den makellos sauberen Werkstätten hinab. »War's schlimm?« fragte er besorgt.

Morey grunzte. Das ging Howland nichts an.

Howland blickte über seine Schulter, als er die Programmiertafel einstellte. Morey studierte schweigend die Matrizen, dann kontrollierte er die zusammenfassenden Bänder, verglich sie mit seinen Plänen und begann sie auf die Programmiertafel zu übertragen. Rowland hielt den Mund, während Morey die Aufzeichnung beendete und ein Testband ablaufen ließ. Alles war in bester Ordnung. Morey wandte sich von der Schalttafel ab und zündete sich zur Feier des Tages eine Zigarette an, bevor er auf den Startknopf drückte.

»Machen Sie schon!« sagte Howland. »Ich kann erst gehen, wenn Sie das Ding eingestellt haben.«

Morey grinste und drückte auf den Knopf. Das Brett leuchtete auf, und ein Metronom begann leise zu piepsen. Das war alles. Morey wußte, daß die automatischen Sortierer und Förderer am Ende der lange Halle nun in die Kupferspulen und Stahlgußblöcke griffen und Plastikpuder und Farben in die Trichter füllten, um einen komplizierten Weg für die vielen tausend individuellen Komponenten zu bahnen, aus denen sich Bradmoors neues K-50-Wirbelspiel zusammensetzte. Aber hier, im Programmierraum mit den massiven Wänden, war nichts zu sehen. Bradmoor war eine ultramoderne Fabrik. In den Werksräumen hatte man sogar die Roboter durch Maschinen ersetzt, die sich selbst kontrollierten.

Morey blickte auf seine Uhr und notierte die Startzeit, während Howland rasch Moreys Rohmaterialfließbandprogramm gegencheckte.

»Alles okay«, sagte Howland beglückt und schlug ihm auf die Schulter. »Das muß gefeiert werden. Das ist doch Ihr erstes Design, was?«

»Ja, das erste, das ich ganz allein gemacht habe.«

Howland suchte bereits in seinem Privatschrank nach der Flasche, die er dort für besondere Gelegenheiten aufbewahrte. Schwungvoll goß er die Gläser voll. »Auf Morey Frey! Unseren Lieblingsdesigner, der uns so viel Freude bereitet!«

Morey trank. Der Whisky floß mühelos durch seine Kehle hinab. Morey war im Lauf der Jahre immer sehr vorsichtig mit seinen Alkoholrationen umgegangen, und wenn er das Minimum auch nie unterschritten hatte und durchaus ans Trinken gewöhnt war, erwärmte dieser einzige Drink sofort seinen ganzen Körper -seinen Mund, seinen Hals, seinen Magen. Howland war ausnehmend nett, übertraf sich nahezu selbst, lobte Moreys Design über den grünen Klee und goß noch zwei Drinks ein. Morey dachte gar nicht daran zu protestieren.

Howland leerte sein Glas. »Sie werden sich fragen, warum ich so zufrieden mit Ihnen bin, Morey Frey. Nun, ich werde es Ihnen sagen.«

Morey grinste. »Tun Sie das, bitte.«

Howland nickte. »Weil ich mit der ganzen Welt zufrieden bin. Meine Frau hat mich gestern verlassen.«

Morey erschrak so sehr, wie nur ein frischgebackener Ehemann erschrecken kann, wenn er von einer gescheiterten Ehe hört. »Das ist ja furchb. Ich meine - ist es endgültig?«

»Ja. Sie verließ mein Bett, mein Haus und meine fünf Roboter, und ich weine ihr keine Träne nach.« Er füllte die Gläser zum drittenmal. »Frauen! Mit ihnen kann man nicht leben und ohne sie auch nicht. Zuerst seufzt man und keucht und jagt hinter Ihnen her.« Plötzlich unterbrach sich Howland. »Mögen Sie eigentlich Gedichte?«

»Nun-ja - einige«, erwiderte Morey vorsichtig.

»Wie lang, mein Lieb, soll noch die Mauer zwischen unseren Gärten stehen?'« zitierte Rowland. »Zwischen deinen Rosen und meinen schmachtenden Lilien?' Gefällt Ihnen das? Hab ich für Jocylen geschrieben - das ist meine Frau. Kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten.«

»Es ist sehr schön«, sagte Morey.

»Als ich es ihr vorgelesen hatte, weigerte sie sich zwei Tage lang, mit mir zu reden.« Rowland trank sein Glas leer. »Eine intelligente Frau. Nun, ich habe sie wie ein Tiger gejagt - und schließlich erwischte ich sie. Wumm!«

»Was meinen Sie mit - Wumm?«

»Wumm!« Howland zeigte mit einem Finger auf Morey. »Ich meine Wumm! Ich habe sie geheiratet und in mein bescheidenes Heim geholt. Wumm - schon hatte ich ein Kind. Wumm - schon hatte ich Ärger mit dem Rationierungsbüro. Natürlich war es nichts Ernstes - aber ich hatte immerhin Unannehmlichkeiten. Und Wumm - diese Streitereien! Zuerst fing sie nur ab und zu ein bißchen zu nörgeln an, und natürlich habe ich ihr gelegentlich widersprochen, und - peng - schon waren wir mitten im schönsten Streit. Haushaltsplan, Haushaltsplan, Haushaltsplan! Ich möchte sterben, wenn ich das Wort Haushaltsplan noch einmal höre. Morey, Sie sind ein verheirateter Mann. Sie wissen ja, wie das ist. Sagen Sie mir die Wahrheit - waren Sie nicht auch nahe dran, zum erstenmal mit Ihrer Frau zu streiten, als Sie ihr auf diese Betrügereien drauf gekommen sind?«

»Betrügereien?« wiederholte Morey verwirrt. »Wie könnte sie mich denn betrügen?«

»Oh, da gibt's viele Möglichkeiten. Sie nimmt sich kleine Portionen und gibt Ihnen große. Sie kauft Ihnen Hemden von ihren Kleiderrationen. Das wissen Sie doch.«

»Verdammt, das weiß ich nicht!« schrie Morey. »Cherry würde so was nie tun!«

Howland sah ihn ein paar Sekunden lang ausdruckslos an. Dann sagte er: »Natürlich nicht. Trinken wir noch einen.«

Immer noch verärgert, hielt Morey sein Glas hin. Cherry gehörte nicht zu der Sorte von Frauen, die ihren Mann betrogen. Natürlich nicht. Sie war nett und liebevoll und stammte aus einer guten Familie. Sie würde gar nicht wissen, wie man so was machte.

»Kein Haushaltsplan mehr, keine Streitereien mehr!« jubelte Howland. »Keine Klagelieder mehr - >Daddy hat mich niemals so behandelt<.Keine Nörgeleien mehr, keine Extrarationen mehr -gar nichts mehr. Sagen Sie mal, Morey, wollen wir rausgehen und uns noch ein paar Drinks genehmigen? Ich kenne da ein Lokal.«

»Tut mir leid, Howland. Ich muß wieder in den Planungsraum.«

Howland brach in schallendes Gelächter aus und zeigte auf seine Armbanduhr. Als sich Morey leicht schwankend vorbeugte und daraufschaute, stellte er fest, daß das Büro in wenigen Minuten schließen würde.

»Oh, das habe ich ja gar nicht gemerkt«, sagte er. »Nun, trotzdem - vielen Dank, Howland, aber es geht leider nicht. Meine Frau wartet auf mich.«

»Natürlich tut sie das«, spöttelte Howland. »Sie werden sie bestimmt nicht dabei erwischen, wie sie die Rationen ihres lieben Gatten ißt - und dazu noch ihre eigenen.«

»Howland!« stieß Morey hervor.

»Schon gut!« Howard klopfte ihm besänftigend auf die Schulter. »Ich will ja nichts gegen Ihre Frau sagen. Durch meine Erlebnisse mit Jocelyn bin ich wohl etwas voreingenommen. Aber ehrlich, Morey, das Lokal würde ihnen gefallen. Es heißt >Onkel Piggotty< und liegt unten in der Altstadt. Dort hängen ganz verrückte Leute rum. Die würden Ihnen Spaß machen. Letzte Woche haben sie an mehreren Abenden. Sie müssen verstehen, Morey, ich gehe nicht oft da hin, aber ich bin ein paarmal zufällig vorbeigekommen und.«

»Ich muß jetzt gehen, Rowland«, fiel ihm Morey mit fester Stimme ins Wort. »Meine Frau erwartet mich. Aber es war nett von Ihnen, daß Sie mich eingeladen haben. Guten Abend. Bis bald!«

Er ging zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte und sich höflich verbeugte. Als er sich wieder abwandte, stieß er mit dem Gesicht gegen den Türrahmen. Ein angenehmes Gefühl der Betäubung breitete sich auf seiner ganzen Haut aus, und erst als Henry mitfühlend auf ihn einredete, merkte er, daß Blut an seiner Wange her abrann.

»Nur eine kleine Fleischwunde«, sagte er würdevoll. »Du brauchst dir keine Seh - Seh - Schorgen zu machen, Henry. Und jetzt halt deinen häßlichen Mund. Ich will nachdenken.«

Und er verschlief die ganze Heimfahrt.

So einen Kater hatte er noch nie gehabt. Man hat sich ein paar Drinks einverleibt. Man schläft ein bißchen, um wieder nüchtern zu werden. Dann wird von einem verlangt, daß man wach und voll da ist. Aber man hat einen Brummschädel und einen pelzigen Geschmack im Mund, und man ist weit davon entfernt, nüchtern zu sein.

Aber es gibt ein Heilmittel. »Trinken wir einen Cocktail, Liebling«, schlug Morey mit schwerer Zunge vor.

Cherry war entzückt von dieser Idee. Sie ist ja so wunderbar, dachte Morey liebevoll, so wunderbar, so wunderbar.

Er stellte fest, daß sein Kopf im Rhythmus dieser Gedanken nickte, und das tat verteufelt weh. Er stöhnte unwillkürlich auf.

Cherry eilte zu ihm und berührte sanft seine Schläfe. »Hast du starke Schmerzen, Liebling?« fragte sie besorgt. »Warum bist du denn gegen diese Tür gelaufen?«

Morey warf ihr einen scharfen Blick zu, aber in ihren Augen lag keine Spur von Falschheit. Offen, ehrlich und anbetend schauten sie zu ihm auf.

Der Robotkammerdiener servierte die Cocktails und zog sich dann zurück. Cherry prostete ihrem Mann zu, er hob sein Glas und ließ es beinahe fallen, als ihm der Geruch des Alkohols in die Nase stieg. Sein Magen begann sich zu drehen. Aber er riß sich zusammen und zwang sich, einen Schluck zu trinken.

Überrascht und dankbar stellte er fest, daß er sich nicht übergeben mußte. Und einen Augenblick später erlebte er wieder jenes seltsame Phänomen - eine angenehme Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Er leerte das Glas und hielt es, um es nachfüllen zu lassen. Er versuchte sogar zu lächeln. Komisch, daß sein Gesicht dabei nicht auseinanderfiel.

Ein weiterer Drink, und alles war okay. Morey fühlte sich glücklich und entspannt, aber keineswegs betrunken. In bester Laune gingen sie ins Eßzimmer, unterhielten sich vergnügt miteinander und mit Henry, und Morey dachte voller Mitleid an den armen Rowland, dessen Ehe schiefgelaufen war, obwohl es doch so leicht war, eine gute Ehe zu führen, eine Zweierbeziehung herzustellen, die für beide Teile so erfreulich, so herzerwärmend war.

»Was?« fragte er verwirrt.

»Das ist der cleverste Gag, der mir je untergekommen ist, Liebling«, wiederholte Cherry. »So ein ulkiger kleiner Mann! Nervös von den Haar- bis zu den Zehenspitzen. Die ganze Zeit starrte er auf die Tür, als ob er auf jemanden warten würde, aber das war natürlich dumm. Keiner seiner Freunde wäre in unser Haus gekommen, um ihn hier zu treffen.«

»Cherry, bitte!« sagte Morey mit gepreßter Stimme. »Hast du vorhin nicht von Rationsmarken gesprochen?«

»Aber das habe ich dir doch erzählt, Liebling. Er kam gleich, nachdem du heute morgen weggefahren warst. Der Kammerdiener öffnete ihm die Tür und sagte mir, daß der Mann seinen Namen nicht nennen wollte. Ich habe trotzdem mit ihm gesprochen. Ich dachte, es wäre vielleicht ein Nachbar, und ich kann natürlich nicht unhöflich zu unseren Nachbarn sein.«

»Die Rationsmarken!« flehte Morey. »Hast du nicht gesagt, daß er dir gefälschte Rationsmarken andrehen wollte?«

»Nun, in gewisser Weise sind sie wahrscheinlich falsch«, sagte Cherry unsicher. »Als er mir die Sache erklärte, wußte ich natürlich, daß es keine offiziellen Marken sind. Aber er bot mir vier für eine an. Also holte ich unser Haushaltsbuch, riß ein paar Marken heraus und.«

»Wie viele?« brüllte Morey.

Cherry blinzelte. »Nun - etwa zwei Wochenquoten.«

Morey schloß wie betäubt die Augen. »Zwei Wochenquoten«, wiederholte er. »Vier Marken für eine. Du hast sie nicht einmal zum üblichen Kurs bekommen.«

»Wie hätte ich das denn wissen sollen?« jammerte Cherry. »Bei mir zu Hause ist so was nie passiert. Bei uns gab's keine Lebensmittelaufstände und keine Slums und keinen einzigen von diesen schrecklichen kleinen Robotern, und bei uns kamen auch keine schmutzigen, kleinen, widerlichen Männer an die Tür.«

Morey starrte sie mit steinernem Gesicht an. Sie weinte schon wieder. Aber das machte keinen Eindruck auf den stahlharten Panzer, der sich plötzlich um sein Herz gelegt hatte.

Henry gab versuchsweise ein Geräusch von sich, das dem menschlichen Räuspern entsprach, aber Morey ließ ihn mit einem eisigen Blick erstarren und verstummen.

Mit dumpfer, monotoner Stimme, die Cherrys Schluchzen kaum übertönte, sagte er: »Ich will dir mal erzählen, was du getan hast. Angenommen - und das wäre noch der günstigste Fall -, daß diese Marken, die du dir da eingehandelt hast, wenigstens durchschnittliche Fälschungen sind und nicht so miserabel, daß wir sie gleich wegwerfen müßten, bevor man sie bei uns findet. Also, wenn wir das mal annehmen, hast du etwa einen Zweimonatsvorrat von diesen komischen kleinen Marken. Falls du es nicht gewußt haben solltest - diese Rationierungsbücher sind nicht nur zur Zierde da. Wir müssen sie jeden Monat abgeben, um zu beweisen, daß wir unsere Konsumquoten erreicht haben. Bei manchen Büchern macht man nur Stichproben, aber einige werden sehr sorgfaltig geprüft. Ein gewisser Prozentsatz wird mit ultravioletten und infraroten Strahlen durchleuchtet, mit Röntgenapparaten und Radio-Isotopen und chromatographischen Geräten getestet und mit jeder anderen verdammten Methode, die der Mensch bisher erfunden hat.«

Moreys Stimme schwoll zu einem bebenden Crescendo an. »Wenn wir Glück haben und die Marken loskriegen, ohne erwischt zu werden, können wir nicht wagen, mehr als ein oder zwei Fälschungen zusammen mit einem Dutzend echter Marken zu benutzen. Das bedeutet also, daß du keinen Zwei-MonatsVorrat gekauft hast, sondern einen Zwei-Jahres-Vorrat. Und da diese Dinger, wie dir zweifellos entgangen ist, nur für einen gewissen Zeitraum gelten und das Verfallsdatum aufgedruckt ist, werden wir wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte verwenden können.«

Morey war aufgesprungen und stand nun drohend vor seiner Frau. »Was noch schlimmer ist - wir müssen jetzt sofort die Marken verkonsumieren, die du dem Kerl gegeben hast. Das bedeutet also, daß wir uns zwei Wochen lang mit doppelten Rationen abquälen müssen. Vom allerschlimmsten Aspekt habe ich bisher noch nicht gesprochen - gefälschte Marken sind verboten! Ich bin arm, Cherry. Ich lebe in den Slums, und das weiß ich auch. Ich muß noch schwer schuften, bevor ich so reich und respektiert und mächtig wie dein Vater sein werde - von dem ich übrigens bald nichts mehr hören möchte. Aber so arm ich auch bin, Cherry - bis jetzt habe ich noch nie gegen das Gesetz verstoßen!«

Cherrys Tränen waren versiegt. Als Morey alles gesagt hatte, was es zu sagen gab, blickte sie mit bleichem Gesicht und trockenen Augen zu ihm auf. Er hatte sich völlig verausgabt. Sekundenlang erwiderte er Cherrys Blick, dann wandte er sich wortlos ab und stapfte aus dem Haus.

Stundenlang streifte er umher, ohne zu wissen, wohin er ging.

Was ihn schließlich zur Besinnung brachte, war ein Gefühl, das er schon seit einem Dutzend Jahren nicht mehr emfunden hatte. Es waren nicht die schwindenden Spuren seines Katers, die seinen Magen so seltsam quälten. Ganz plötzlich wurde ihm bewußt, daß er hungrig war - richtig hungrig.

Morey blickte sich um. Er war in der Altstadt, meilenweit von zu Hause entfernt, umgeben von zahllosen Menschen niederer Klassen. Die Gasse, in der er sich befand, war der abscheulichste Slum, den er je gesehen hatte. Chinesische Pagoden standen neben Rokokoimitationen der Kapellen rund um Versailles. Schnörkel verunzierten sämtliche Fassaden, an jedem Haus funkelten grelle Lichtreklamen.

Er entdeckte ein grell aufgemachtes Eßlokal namens »Bülie's emsige Budgetbiene«, ging über die Straße darauf zu, drängte sich durch den dichten Verkehr. Es war ein miserabler Abklatsch von einem Restaurant, aber das war Morey egal. Er fand einen Platz unter einer Topfpalme, möglichst weit entfernt von den klingelnden Springbrunnen und dem Robot-Streichorchester, und bestellte, worauf er Lust hatte, ohne auf die Rationspreise zu achten. Als der Robotkellner lautlos davonglitt, gelangt Morey zu einer betrüblichen Erkenntnis - er hatte sein Rationierungsbuch nicht mitgenommen. Er stöhnte laut auf. Jetzt war es zu spät, um noch zu gehen, ohne einen Wirbel heraufzubeschwören.

Aber - so dachte er rebellisch - was machte eine unrationierte Mahlzeit mehr oder weniger schon für einen Unterschied?

Nach dem Essen fühlte er sich etwas besser. Er schob den letzten Bissen seiner Profiterole au Chocolat in den Mund, ohne das traditionelle Drittel der Portion auf dem Teller zurückzulassen, und bezahlte. Der Robotkassierer griff automatisch nach seinem Rationierungsbuch. Morey fühlte sich, zumindest für einen Augenblick, richtig großartig, als er sagte: »Keine Rationierungsmarken.«

Die Roboterkassierer sind nicht so konstruiert, daß sie Überraschung ausdrücken können, aber dieser versuchte es. Der Mann, der hinter Morey in der Schlange der Wartenden stand, hielt den Atem an und flüsterte deutlich hörbar: »Diese Shimmer!« Morey betrachtete es als Kompliment, und als er hinausging, hatte sich seine Laune erheblich gebessert.

Er fühlte sich sogar gut genug, um wieder nach Hause zu Cherry zu gehen. Morey dachte ein paar Minunten lang ernsthaft darüber nach. Nein, er würde ganz gewiß nicht den reuigen Sünder spielen, und Cherry war sicher nicht bereit, zuzugeben, daß sie einen Fehler gemacht hatte.

Außerdem würde sie jetzt schon schlafen, sagte sich Morey grimmig. Das war das Ärgerliche an Cherry - sie konnte immer sofort einschlafen. Sie verbrauchte nicht einmal ihre Schlafmt-telquoten, obwohl Morey schon öfter mit ihr darüber gesprochen hatte. Natürlich war er so höflich und taktvoll gewesen, wie es sich für einen frischgebackenen Ehemann gehörte, und deshalb hatte sie wohl gar nicht begriffen, daß er sich beklagte. Nun, damit war jetzt Schluß.

In männlicher Entschlossenheit marschierte er durch die Straßen der Altstadt.

»He, Joe, willst du was Schönes erleben?«

Morey warf einen ungläubigen Blick auf den Mann. »Sie schon wieder!« schrie er.

Der kleine Mann starrte ihn überrascht an. Dann schien er Morey zu erkennen. »Ach ja! Wir haben uns heute morgen schon mal gesehen, was?« Er schnalzte bedauernd mit der Zunge. »Schade, daß Sie keine Geschäfte mit mir machen wollten! Ihre Frau war viel klüger. Natürlich hatte Sie mich ein bißchen verärgert, und deshalb mußte ich mit dem Preis raufgehen.«

»Sie Stinktier, Sie haben meine arme Frau übers Ohr gehauen! Wir beide werden jetzt mal in die nächste Station gehen und über die ganze Sache sprechen.«

Der kleine Mann kräuselte die Lippen. »So? Werden wir das?«

Morey nickte heftig. »Allerdings! Und ich werde Ihnen was sagen.«

Er brach ab, als sich eine große Hand auf seine Schulter legte.

Der gleichfalls große Mann, dem die Hand gehörte, sagte mit sanfter, kultivierter Stimme: »Belästigt dich der Gentleman, Sam?«

»Bisher nicht«, erwiderte der kleine Mann. »Aber vielleicht hat er das vor. Also bleib bitte hier.«

Morey schüttelte die Hand ab. »Glauben Sie nur ja nicht, daß Sie mich einschüchtern können! Wir gehen jetzt zur Polizei!«

Sam schüttelte verständnislos den Kopf. »Meinen Sie das ernst? Sie wollen sich wegen dieser Bagatelle tatsächlich an die Polizei wenden?«

»Genau.«

Sam seufzte betrübt. »Was hältst du davon, Walter? Wie kann er seine Frau Gemahlin nur so behandeln? So eine reizende Dame!«

»Wovon reden Sie eigentlich?« fragte Morey, den man an einer empfindlichen Stelle getroffen hatte.

»Ich rede von Ihrer Frau«, erklärte Sam. »Ich bin zwar nicht verheiratet, aber wenn ich es wäre, würde ich ganz bestimmt nicht die Polizei verständigen, wenn meine Frau in eine kleine Gaunerei verwickelt wäre. Nein, Sir, ich würde versuchen, das selbst zu regeln. Soll ich Ihnen einen guten Rat geben? Sprechen Sie mal mit Ihrer Frau darüber. Machen Sie ihr klar, daß sie einen Fehler begangen hat.«

»Moment mal!« fiel ihm Morey ins Wort. »Würden Sie meine Frau da reinziehen?«

Der Mann breitete hilflos die Arme aus. »Also - ich würde das nicht tun, Kumpel. Sie hat sich ja selber reingeritten. An einem solchen Verbrechen sind immer zwei Leute beteiligt. Ich habe die Dinger verkauft. Das leugne ich nicht. Aber ich könnte sie nicht verkaufen, wenn ich nicht jemanden fände, der sie kauft. Klar?«

Morey starrte ihn finster an. Dann warf er dem großen Walter einen schnellen, abschätzenden Blick zu. Aber Walter war genauso groß, wie er ihn in Erinnerung hatte, also beschloß er, auf der Hut zu sein. Ein Gewaltakt kam nicht in Frage, die Polizei ebensowenig. Also blieb nur ein einziger, nicht sonderlich attraktiver Ausweg übrig - die Hoffnung, daß er dem Mann nicht mehr begegnen würde.

»Ich merke, daß Sie's begriffen haben«, sagte Sam. »Wie schön! Und nun kehre ich zu meiner ursprünglichen Frage zurück. Wollen Sie nicht was Schönes erleben, mein Freund? Sie sehen so aus, als ob Sie einiges auf dem Kasten hätten. Und Sie sehen so aus, als würden Sie sich für das Lokal interessieren, das ich zufallig kenne. Es ist ganz in der Nähe.«

»Sie sind also auch ein Spelunkenschlepper«, erwiderte Morey bitter. »Ich muß sagen, Sie haben viele Talente.«

Sam nickte. »Ja, das gebe ich zu. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß das Markengeschäft nachts nicht so gut läuft, denn da wollen sich die Leute vor allem amüsieren. Und dabei kann ich ihnen helfen, glauben Sie mir! Zum Beispiel das Lokal, das ich vorhin erwähnte habe - es heißt >Onkel Piggottyc.Ein ungewöhnlicher Schuppen, nicht wahr, Walter?«

»Ich bin ganz deiner Meinung«, murmelte Walter.

Aber Morey hörte kaum zu. »Sagten Sie >Onkel Pigotty

»Genau«, antwortete Sam.

Morey runzelte die Stirn und dachte nach. »Onkel Pigotty« -war dies das Lokal, von dem Rowland im Werk gesprochen hatte? Das könnte ganz interessant sein.

Während er noch überlegte, nahm Sam seinen einen Arm und Walter den anderen, und Morey merkte, daß er unwillkürlich seine Beine in Bewegung gesetzt hatte.

»Das wird Ihnen sicher Spaß machen«, versprach Sam liebenswürdig. »Und wegen heute morgen - nichts für ungut, mein Freund. Wenn Sie erst mal im >Pigotty< sind, werden Sie Ihren Ärger bald vergessen. Das ist ganz was Besonderes. Ich schwöre, wenn ich nicht an den Schuppen glauben würde, ich würde für das Geld, das die mir bezahlen, keine Gäste reinschleppen.«

»Willst du tanzen, Jack?« überschrie die Wirtin den Lärm, der an der Bar herrschte. Sie trat einen Schritt zurück, hob ihre Rüschenröcke auf Knöchelhöhe und führte einen komplizierten Neun-Step vor.

»Ich heiße Morey!« schrie Morey zurück. »Und ich will heute nicht tanzen - danke!«

Die Wirtin zuckte mit den Schultern, runzelte die Stirn und warf Sam einen vielsagenden Blick zu, dann tanzte sie davon.

Sam winkte dem Barkeeper. »Die erste Runde geht auf unsere Rechnung«, erklärte er Morey. »Danach werden wir Ihnen nicht mehr auf den Wecker fallen. Es sei denn, Sie bitten uns darum. Na, gefällt's Ihnen hier?« Morey zögerte, aber Sam erwartete keine Antwort. »Nette Kaschemme!« schrie er und nahm den Drink, den der Barkeeper vor ihn auf die Theke gestellt hatte. »Bis später, Freund.«

Sam und der große Mann gingen davon. Morey blickte ihnen unsicher nach, dann fügte er sich in sein Schicksal. Jetzt war er nun mal hier, also konnte er sich auch ein Gläschen genehmigen

- wenigstens eins. Er griff nach dem Drink, den Sam für ihn bestellt hatte, dann blickte er sich um.

»Onkel Piggotty« war eine drittklassige Spelunke, die sich zumindest teilweise als exklusiver Country Club herausgeputzt hatte. Die Theke sah aus, als wäre sie aus echten, zusammengenagelten Holzbrettern, aber durch die Löcher in der dünnen Holzschicht sah Morey das Plastik durchschimmern. Was auf den ersten Blick wie Leinen vorhänge aussah, war in Wirklichkeit synthetisches Zeug.

Auf der kleinen Bühne lief gerade eine Show, der aber kaum jemand Beachtung schenkte. Morey spitzte eine Zeitlang die Ohren und versuchte den Conferencier zu verstehen, gab es aber sofort wieder auf, als er merkte, daß die Witze unterhalb der Gürtellinie anzusiedeln waren. Ein paar gelangweilte Mädchen hüpften herum, in langen Rüschenhosen und durchsichtigen BHs. Morey war fast sicher, daß eine der Damen die Wirtin war, die ihn vorhin zum Tanzen aufgefordert hatte.

Neben ihm deklamierte ein Mann einer Frau, die ihre erste Jugend bereits hinter sich hatte, mit sonorer Stimme ins Ohr:

Ich zerschmetterte den riesigen Felsen, yahoo!

Ich ließ das ungeheure Gewölbe einstürzen, Bully Boy!

Ich zerriß den zerklüfteten Berg...

»He Morey!« unterbrach sich der Mann. »Was machen Sie denn hier?«

Er drehte sich noch weiter herum, und Morey erkannte ihn. »Hallo, Rowland«, sagte er. »Ich hatte heute abend zufallig Zeit, und - eh - da dachte ich.«

Howland kicherte. »Da ist Ihre Frau aber viel großzügiger als meine Verflossene. Bestellen Sie sich einen Drink auf meine Kosten, Junge!«

»Danke, aber ich hatte schon einen«, erwiderte Morey.

Die Frau warf ihm einen Tigerblick zu und fragte: »Warum hast du denn aufgehört, Everett? Das war eins deiner schönsten Gedichte.«

»Oh, ich glaube, Morey hat meine Werke schon mal gehört. Morey, ich möchte Ihnen eine sehr schöne und sehr talentierte junge Dame vorstellen - Tanaquil Bigelow. Morey arbeitet bei mir im Büro, Tan.«

»Offensichtlich«, sagte Tanaquil Bigelow mit frostiger Stimme, und Morey zog hastig die Hand zurück, die er ausgestreckt hatte.

Das Gespräch stockte. Die Frau war kalt und abweisend, Howland entspannt und geistesabwesend. Morey fragte sich, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, hierherzugehen. Er winkte, um das Elektronenauge des Robot-Barkeepers auf sich zu lenken, bestellte eine Runde für alle drei und nahm höflich die Marken aus Rowlands Rationierungsbuch. Als die Drinks serviert wurden und Morey sich zu der Auffassung durchgerungen hatte, daß es doch keine gute Idee gewesen war, taute die Frau plötzlich auf.

»Sie sehen wie ein Mann aus, der zu denken pflegt, Morey«, sagte sie, »und ich unterhalte mich gern mit solchen Männern. Offengestanden, Morey - Ich habe einfach keine Geduld mit diesen stupiden bornierten Männern, die den ganzen Tag in ihren Büros sitzen und jeden Abend ihr Dinner essen und wie die Wilden konsumieren. Was haben Sie denn davon? Ich sehe Ihnen an, daß Sie mich verstehen. Das ganze ist nichts weiter als ein rrer Konsumrausch - von der Wiege bis zum Grab! Und wer ist schuld daran? Die Roboter!«

Eine schwache Spur von Besorgnis begann sich auf Howlands entspanntem Gesicht zu zeigen. »Tan!« sagte er tadelnd. »Morey interessiert sich nicht besonders für Politik.«

Politik, dachte Morey. Nun das war zumindest ein Anhaltspunkt. Als die Frau gesprochen hatte, war er von dem schwindelerregenden Gefühl erfaßt worden, selbst einer der Bälle in der Spielmaschine zu sein, die er für Bradmoor entworfen hatte. Wenn er ihr noch eine Weile zuhörte, könnte er ein paar wertvolle Anregungen für sein nächstes Design bekommen, was Spielzüge, Kurven und Hindernisse betraf.

»Aber nein, bitte sprechen Sie nur weiter, Miß Bigelow - das interessiert mich sehr«, sagte er, und das war mehr als nur eine Halbwahrheit.

Sie lächelte, dann verwandelte sich ihr Gesicht abrupt in eine furchterregende Grimasse. Morey zuckte zusammen, aber diese Miene war offenbar nicht ihm zugedacht. »Diese Roboter!« zischte sie. »Die sollen doch für uns arbeiten, nicht wahr? Ha! Wir sind ihre Sklaven. Wollen Sie sich nicht unserer Bewegung anschließen und frei sein, Morey?«

Morey verschanzte sich hinter seinem Drink und machte eine ausdrucksvolle Geste mit seiner freien Hand. Was er damit ausdrücken wollte, wußte er allerdings nicht, denn er war völlig verwirrt. Aber die Frau schien sich damit zufriedenzugeben.

»Wußten Sie, daß in den vergangenen fünf Jahren und vier Monaten über drei Viertel der Bevölkerung Nervenzusammenbrüche hatten?« rief sie anklagend. »Daß mehr als die Hälfte in ständiger psychiatrischer Behandlung sind? Dabei geht es nicht um einfache Neurosen, wie sie mein Mann und Howland und Sie haben, sondern um Psychosen. So wie ich eine habe. Wußten Sie das? Wußten Sie, daß zehn Prozent der Bevölkerung manisch depressiv sind, einunddreißig Prozent schizoid - und daß achtunddreißig Prozent an einer Kombination mehrerer psychogener Störungen leiden und vierundzwanzig.«

»Moment mal, Tan!« fiel Howland ihr ins Wort. »Du redest zuviel von Prozenten. Fang noch mal von vorn an.«

»Ach, zum Teufel!« sagte die Frau verdrossen. »Ich wünschte, mein Mann wäre hier. Der kann sich viel besser ausdrücken als ich.« Sie leerte ihr Glas. »Da Sie ja offenbar in Geberlaune sind, könnten Sie uns noch einen Drink spendieren, Morey. Aber diesmal mit meinem Rationierungsbuch!«

Morey gehorchte. Das war das Nächstliegende, was er in seiner Verwirrung tun konnte. Als die Gläser wieder leer waren, gab er noch eine Runde mit Rowlands Buch aus.

Anscheinend gehörten diese Frau und ihr Mann und möglicherweise auch Howland irgendeinem Anti-Roboter-Verein an. Morey hatte schon von diesen Dingen gehört. Diese Gruppen hatten einen quasilegalen Status, sie wurden weder gebilligt noch verboten, aber er war noch nie zuvor mit den Leuten in Berührung gekommen. Er erinnerte sich an seinen Haß, der bei der Psychodrama-Sitzung so qualvoll wiederbelebt worden war, und er dachte, daß er vielleicht auch zu den Anti-RoboterGruppen gehörte. Aber ihre Prinzipien waren ihm unklar, und so stellte er einige Fragen, die Tanaquil bereitwillig beantwortete, ohne daß Morey viel klüger wurde.

Schließlich gab sie es auf und machte sich auf die Suche nach ihrem Mann, während Rowland und Morey weitere Drinks verkonsumierten, wobei es darum ging, wer die nächste Runde ausgeben sollte. Sie befanden sich bereits im Stadium des angehenden Vollrausches und würden es morgen bitter bereuen, denn einer stellte dem anderen sein Rationierungsbuch zur Verfügung. Morey dachte unbehaglich an sein eigenes Buch. Rowland hielt sich auf seine Kosten schadlos, aber es geschah ihm ganz recht. Warum hatte er auch sein Buch vergessen?

Die Frau kam mit dem großen Mann zurück, den Morey bereits als Freund des guten Sam kennengelernt hatte, des Fälschers und Spelunkenschleppers und Altstadthais.

»Wie klein die Welt doch ist!« dröhnte Walter Bigelow und quetschte Morey's Finger nur ganz leicht in seiner großen Pranke. »Meine Frau hat mir erzählt, daß Sie sich für die Philosophie interessieren, die unserer Bewegung zugrundeliegt, Sir. Ich würde sehr gern mit Ihnen darüber diskutieren. Am besten fangen wir gleich an, Sir. Haben Sie schon mal über das Prinzip der Zweiheit nachgedacht?« »Warum.«, begann Morey.

»Sehr schön«, sagte Bigelow höflich, räusperte sich und deklamierte:

Im Taiki hat es begonnen,

Hell wie eine Explosion der Sonnen,

Teilte sich der strahlende Spiralenwirbel in Frau und Mann.

Und damit fing alles an.

Yang Und Yin.

Er zuckte leicht verlegen mit den Schultern. »Das war nur die

erste Strophe. Ich weiß nicht, ob Sie daraus schlau geworden

sind.«

»Hm - nein«, gab Morey zu.

»Jetzt kommt die zweite Strophe«, erklärte Bigelow.

Hegel sah es klar und hell.

Auch Marx erkannte es blitzschnell.

Er blickte über die Schulter, und da war es zu sehen Wie sie sich von oben nach unten drehen:

Yang Und Yin.

Er machte eine erwartungsvolle Pause.

»Ich - eh.«, sagte Morey.

»Sonnenklar, nicht wahr?« rief Bigelows Frau. »Oh, wenn die anderen Leute es doch auch so schnell begreifen würden wie Sie, Morey. Der Untergang durch den Roboter, die Rettung vor dem Roboter. Hunger und Übersättigung. Es geht immer um das Prinzip der Zweiheit.«

Bigelow klopfte Morey auf die Schulter. »Die nächste Strophe wird es Ihnen noch deutlicher vor Augen führen. Sie ist wirklich großartig. Ich sollte das natürlich nicht sagen - aber sie ist ebenso Rowlands Werk wie das meine.« Morey warf Rowland einen kurzen Blick zu, aber der zog es vor, in die andere Richtung zu schauen. »Dritte Strophe!« verkündete Bigelow.

»Das ist eine schwierige Strophe, weil sie so lang ist, also passen Sie bitte gut auf.«

Gerechtigkeit, beweg deine blinden Waagschalen! Die eine erhebt sich, die andere muß fallen...

»Rowland«, unterbrach er sich, »bist du dir auch ganz sicher, daß dieser Reim stimmt? Ich stolpere immer wieder darüber. Nun, machen wir weiter.«

Wird A schwerer, wird B leichter - o weh!

Trotzdem ist A der Partner von B.

Außerdem die Zweiheit besteht In der gleichmäßigen Elektrizität.

Zeichnet den Strom, den reißenden,

In Sinuswellen, in gleißenden.

Wild tanzen die Wellen, fallen und steigen.

Doch sie bilden nur Zahlen, die der Null sind eigen.

Sinuswellen und Waagschalen - alles, was besteht,

Beruht auf Reziprozität.

Männlich und weiblich - dunkel und licht.

Von diesem Prinzip auch Noahs Arche spricht:

Yang und Yin!

»Liebster!« kreischte Bigelows Frau. »So schön hast du das noch nie vorgetragen.«

Applaus klang auf, und Morey merkte erst jetzt, daß die Hälfte der anderen Gäste verstummt war, um Bigelow zu lauschen, der anscheinend in diesem Lokal wohlbekannt war.

»So etwas habe ich noch nie gehört«, sagte Morey mit schwacher Stimme.

Zögernd wandte er sich an Howland, der prompt rief: »Noch einen Drink! Den können wir jetzt alle gut vertragen!«

Sie tranken und bezahlten mit Marken aus Bigelows Buch.

Morey nahm Rowland beiseite und fragte: »Sagen Sie mal, sind diese Leute verrückt?«

Howland war sichtlich pikiert. »Nein. Natürlich nicht.« »Bedeutet dieses Gedicht denn irgendwas? Hat dieses Zweiheitsprinzip irgendeine Bedeutung?«

Howland zuckte mit den Schultern. »Wenn es für die beiden eine Bedeutung hat - dann hat es auch eine Bedeutung. Das sind Philosophen, Morey. Sie sehen tief hinein in das Innerste der Dinge. Ich weiß nicht, womit ich es verdient habe, daß sie mich als Freund betrachten.«

Sie bestellten noch weitere Drinks, die natürlich mit Howlands Marken bezahlt wurden.

Morey zog Walter Bigelow in eine stille Ecke. »Lassen wir die Zweiheit mal für einen Augenblick beiseite. Wie ist das nun mit den Robotern?«

Bigelow sah ihn mit großen, runden Augen an. »Haben Sie das Gedicht denn nicht verstanden?«

»Natürlich habe ich es verstanden. Aber erklären Sie mir's mal in einfachen Worten, damit ich es auch meiner Frau erzählen kann.«

Bigelow strahlte. »Es geht um die Dichotomic der Roboter. Das ist wie bei der kleinen Salzmühle, die sich ein kleiner Junge wünscht - sie spuckt Salz aus und noch mal Salz und immer mehr Salz. Natürlich braucht er Salz - aber so viel Salz auch wieder nicht. Whitehead drückt das glasklar aus.«

Sie bestellten noch eine Runde.

Morey stand schwankend vor Tanaquil Bigelow und lallte: »Hören Sie mal, Mrs. Walter Tanaquil Bulldozer Bigelow - hören Sie mir mal zu.«

Sie grinste ihn zutraulich an. »Braunes Haar«, sagte sie träumerisch.

Morey schüttelte heftig den Kopf. »Kümmern Sie sich nicht um mein Haar - kümmern Sie sich nicht um das Gedicht. Hören Sie mal - können Sie mir bitte in prä-zi-sen, simplen Worten erklären, was mit unserer Welt nicht stimmt.« »Es gibt nicht genug braune Haare«, erwiderte sie prompt.

»Lassen Sie doch meine Haare aus dem Spiel!«

»Okay«, sägte sie gutmütig. »Es gibt zu viele Roboter. Zu viele Roboter, die zu viele Sachen machen.«

»Ha! Jetzt hab ich's verstanden!« rief Morey triumphierend. »Wir müssen also die Roboter loswerden.«

»O nein! Nein! Nein! Nein! Dann hätten wir nichts mehr zu essen! Heutzutage ist alles mechanisiert. Wir können die Roboter nicht abschaffen, wir können auch die Produktion nicht verringern, denn dann würden wir sterben. Ein Produktionsstop würde einen schnellen Tod bedeuten, eine Produktionsverringerung einen langsamen. Das Prinzip der Zweiheit ist das Konzept, das alle diese Probleme.«

»Nein!« unterbrach er sie hastig. »Was sollen wir also tun?«

»Was wir tun sollen? Das kann ich Ihnen sagen, wenn Sie es hören wollen.«

»Dann sagen Sie's!«

»Wir sollten. Hick!« Tanaquil sah ihn leicht vorwurfsvoll an. »Wir sollten - hick! - endlich wieder was trinken.«

Er bestellte zwei Drinks und ließ sie natürlich galant bezahlen. Und sie stritt ganz undamenhaft mit dem Barkeeper, der nach ihrer Meinung zu wenig Marken verlangte.

Morey versuchte es, obwohl er kein standfester Trinker war. Er bemühte sich wirklich sehr.

Und er bezahlte auch den Preis dafür. Denn eine ganze Weile, bevor seine Gliedmaßen aufhörten, sich zu bewegen, begann sein Verstand zu streiken. Blackout. Oder fast ein Blackout, denn später konnte er sich immerhin an ein Kaleidoskop aus Leuten und Räumen und Dingen erinnern. Howland war da, betrunken wie ein Stinktier, ganz schamlos betrunken, hatte Morey sich gedacht, als er vom Boden aus zu ihm hinaufgeblickt hatte. Daran konnte er sich später sogar noch erinnern. Die Bigelows waren da. Seine Frau Cherry war da, besorgt und amüsiert zugleich. Und seltsamerweise war auch Henry da.

Es war sehr, sehr schwer, das alles zu rekonstruieren. Morey opferte diesem Bemühen einen ganzen verkaterten Vormittag. Aus irgendeinem Grund war es wichtig, alles zu rekonstruieren. Aber Morey konnte sich nicht einmal mehr erinnern, was das für ein Grund war. Und schließlich gab er es auf und vermutete, daß er weder das Rätsel der Zweiheit gelöst noch herausgefunden hatte, ob Tanaquil Bigelows bemerkenswerte Figur echt war oder nicht.

Aber er wußte wenigstens, daß er am Morgen in seinem eigenen Bett erwacht war, ohne auch nur zu ahnen, wie er hineingekommen war. Seine Erinnerungen waren ziemlich lückenhaft. Zumindest wußte er nichts, was in die richtige chronologische Reihenfolge oder zu dem Ereignis gepaßt hätte, das nach dem elften Drink passiert war, als er Armin Arm mit Howard eine neue Strophe auf die Zweiheit gedichtet, die Melodie eines alten Marschliedes plagiiert und lauthals in den vollen Barraum gebrüllt hatte:

Auch im Kühlschrank unserer heutigen Zeit Erblicken Sie eine Zweiheit.

Sie müssen Ihr Haus heizen und isolieren.

Und dann müssen Sie Ihr Essen einfrieren.

Die Elektrospulen werden feucht durch das Eis.

Durch Nickelchrom wird der Kasten wieder heiß.

Haben Sie's begriffen? Heiß und Kalt!

Diese Story ist uralt. Riesengroß steht es im All geschrieben:

O Zweiheit, du bist stets gleich geblieben!

Yang Und Yin!

Jedenfalls hatte er gestern geglaubt, daß das irgendeine Bedeutung hatte.

Wenn der Alkohol Moreys Augen geöffnet und ihm klargemacht hatte, daß es eine Zweiheit gab, dann war der Alkohol vielleicht genau das, was er brauchte.

Man konnte es ja auch Dichotomic nennen, wenn dieses Wort hübscher klang. Es war eine Art Kampf zwischen zwei Gegenteilen, ein Kampf zweier unermüdlicher Läufer in einem ewigen Wettrennen. Da gab es den Kühlschrank im Haus, die kalte Luft, das Blubbern der warmen Luft im geheizten Haus, das Blubbern der kalten Luft im Kühlschrank, das kurze Blubbern der heißen Luft, die den ganzen Kram abtaut. Man könnte die Hitze Yang nennen und die Kälte Yin - wenn man so wollte. Yang überwältigt Yin, dann wird Yang von Yin überwältigt, dann Yin von Yang, dann.

Man könnte auch andere Namen verwenden. Man könnte Yin als Mund bezeichnen und Yang als Hand.

Wenn die Hand ruht, wird der Mund verhungern. Wenn der Mund nicht ißt, wird die Hand sterben. Yang, die Hand, bewegt sich schneller.

Yin will nicht zurückstehen.

Und dann könnte man Yang mit einem Roboter gleichsetzen.

Und sich daran erinnern, daß eine Pipeline zwei Enden hat.

Wie jeder Amateurtrinker wappnete sich Morey, um den Konsequenzen seines Tuns gewachsen zu sein - und stellte verwirrt fest, daß es gar keine Konsequenzen gab.

Cherry setzte ihn in höchstes Erstaunen. »Du warst so komisch«, sagte sie kichernd. »Und so romantisch - also, ehrlich.«

Zitternd trank er seinen Frühstückskaffee.

Die Mitarbeiter im Büro kreischten und schlugen ihm auf die Schulter. »Rowland hat uns erzählt, daß Sie einen draufgemacht haben, Junge!« schrien sie alle im mehr oder weniger gleichen Wortlaut. »He, hört mal, was Morey gemacht hat! Er ist in die Stadt gegangen, um einen draufzumachen, und hat nicht einmal sein Rationierungsbuch mitgenommen!«

Sie fanden das wahnsinnig lustig.

Aber seltsamerweise klappte alles großartig. Cherry war offenbar in sich gegangen und hatte beschlossen, sich zu bessern. Sicher, sie haßte es immer noch, abends auszugehen, und Morey konnte niemals beobachten, daß sie sich zwang, mehr Essen in sich hineinzuschlingen, als sie verkraften konnte, oder ungeliebte Spiele zu spielen. Aber als er eines Nachmittags die Vorratskammer inspizierte, stellte er zu seinem ungläubigen Entzücken fest, daß sie mit ihren Rationsquoten gut im Rennen waren. Manche Lebensmittel waren ihüen schon ausgegangen, und da standen sogar einige Sachen, die sie erst im nächsten Monat kaufen müßten.

Cherry hatte die gefälschten Marken nicht angerührt, denn die hatte er hinter einer Wärmeplatte gefunden und stillschweigend verbrannt. Er überlegte, aufweiche Weise er ihr Komplimente machen sollte, dann beschloß er, zunächst noch vorsichtig zu sein. Sie war sehr empfindlich, was dieses Thema betraf, also wollte er es vorerst dabei bewenden lassen.

Und seine Tugend wurde reichlich belohnt.

Wainwright bat ihn mit strahlendem Lächeln in sein Büro. »Morey, es gibt wunderbare Neuigkeiten! Wir alle haben Ihre Arbeit zu schätzen gewußt und waren auch in der Lage, das aufgreifbarere Weise zu zeigen als durch Komplimente. Ich wollte Ihnen nichts sagen, solange ich nichts Definitives wußte, aber - Ihr Status wurde vom Klassifikationsbüro und vom Rationierungsbüro überprüft. Morey - Sie haben die vierte Subklasse verlassen!«

Morey, der sein Glück kaum fassen konnte, fragte mit bebenden Lippen: »Dann bin ich jetzt also ein Vollmitglied der vierten Klasse?«

»Sie gehören der fünften an, Morey, der fünften! Wenn wir was machen, dann machen wir's gleich richtig. Wir baten um eine Sondergenehmigung, und die haben wir bekommen. Wir dürfen Ihnen gestatten, eine ganze Klasse zu überspringen.« In schöner Ehrlichkeit fügte Wainwright hinzu: »Natürlich ist das nicht nur unser Verdienst. Mit ihrem beispielhaften Konsumverhalten haben Sie auch eine Menge dazu beigetragen. Ich habe Ihnen ja gesagt, daß Sie es schaffen würden.«

Morey mußte sich setzen. Was Wainwright sonst noch sagte, entging ihm, aber es war sicher nicht besonders wichtig. Er floh aus dem Büro, wich ein paar Mitarbeitern aus, die ihm gratulieren wollten, und stürzte zum Telefon.

Cherry war ebenso aus dem Häuschen wie Morey. »O Liebling!« war alles, was sie hervorbrachte.

»Ohne dich hätte ich das nie geschafft!« sprudelte er hervor. »Das hat Wainwright auch gesagt - er hat gesagt, wenn wir nicht so phantastisch konsumiert hätten, wäre das Klassifikationsbüro nie auf uns aufmerksam geworden. Ichwollte dir das schon lange sagen - aber ich fand einfach nicht die richtigen Worte. Jedenfalls wußte ich es zu würdigen und. Hallo?« Am anderen Ende der Leitung war es seltsam still. »Hallo?« wiederholte er besorgt.

Cherrys Stimme war leise und gepreßt. »Morey Frey, du bist niederträchtig. Ich wünschte, du hättest diesen schönen Tag nicht so verdorben.« Und damit legte sie auf.

Morey starrte mit offenem Mund auf den Apparat.

Howland tauchte kichernd hinter ihm auf. »Frauen!« sagte er. »Versuchen Sie nur ja nie, die Frauen zu verstehen! Aber wie dem auch sei - herzlichen Glückwunsch, Morey.«

»Danke«, murmelte Morey.

Howland hüstelte. »Eh - übrigens, Morey - da Sie jetzt sozusagen ein großes Tier sind - Sie werden sich doch nicht verpflichtet fühlen, Wainwright irgendwas von dem Unsinn zu erzählen, den ich vielleicht verzapft habe, als.«

»Entschuldigen Sie mich«, sagte Morey, der ihm gar nicht zugehört hatte, und schob sich an ihm vorbei. Verzweifelt überlegte er, ob er Cherry noch einmal anrufen oder ob er nach Hause fahren und sie fragen sollte, was er denn Falsches gesagt hatte. Natürlich wußte er es ohnehin. Er hatte ihren wunden Punkt berührt.

Außerdem erinnerte ihn das diskrete Ticken seiner Armbanduhr an den wöchentlichen Termin bei den Psychiatern, der immer näherrückte.

Morey seufzte. Gott gibt und Gott nimmt. Gesegnet sei der Tag, wo einem nur schöne Dinge widerfahren.

Würde so ein Tag jemals anbrechen?

Die Sitzung war eine Katastrophe. Aber er hatte schon viele üble Sitzungen erlebt. In letzter Zeit flüsterten die Ärzte immer öfter miteinander, unterbrachen die Therapie mit Diskussionen, von denen er ausgeschlossen wurde, stocherten und tasteten im dunkeln herum, statt sich der präzisen psychischen Behandlungsmethode zu bedienen, an die er gewöhnt war. Irgendwas stimmt da nicht, dachte er.

Und er sollte recht behalten. Semmelweiss bestätigte es ihm, als er zur Gruppensitzung kam. Nachdem die anderen Ärzte hinausgegangen waren, führte Semmelweiss ein privates Gespräch mit Morey, opferte ihm seine kostbare Zeit, ohne ein Extrahonorar zu verlangen. Und daraus ersah Morey, wie wichtig das Problem war.

»Morey, Sie verschweigen uns irgend etwas«, sagte Semmelweiss.

»Aber nicht mit Absicht, Doktor«, erwiderte Morey ernsthaft.

»Wer weiß schon, was Sie Beabsichtigen'? Irgendein Teil von Ihnen beabsichtigt jedenfalls, irgend etwas zu verheimlichen. Wir sind ziemlich tief in Ihre Seele eingedrungen, und dabei haben wir ein paar wichtige Dinge gefunden. Die Erforschung des menschlichen Geistes verläuft ungefähr so, als würde man Kundschafter in ein Kannibalenland schicken. Man kann die Kannibalen nicht sehen, Morey - erst wenn es zu spät ist. Aber wenn man einen Kundschafter in den Dschungel schickt und wenn er am anderen Ende nicht herauskommt, kann man annehmen, das ihm irgend etwas den Weg versperrt hat. In unserem Beispiel würden wir das Hindernis als >Kannibale< bezeichnen. Im menschlichen Gehirn ist das Hindernis ein sogenanntes Trauma. Wir müssen herausfinden, was das für ein Trauma ist und welche Wirkung es auf das Verhalten des Patienten ausübt.«

Morey nickte. Das war ihm alles geläufig, aber er hatte keine Ahnung, worauf Semmelweiss hinauswollte.

Der Doktor seufzte. »Wenn man Traumata heilen, die psychischen Sperren durchdringen und die Hemmungen abbauen will, stehen wir vor dem Problem, das uns Psychiatern immer wieder die Arbeit erschwert - wir können es uns nicht erlauben, unsere Sache zu gut zu machen. Ein gehemmter Mensch ist einer starken Belastung ausgesetzt. Wir versuchen, ihm die Last zu erleichtern. Aber wenn wir einen vollkommenen Erfolg erzielen, wenn der Mensch überhaupt keine Hemmungen mehr hat, wird er zum Verbrecher, Morey. Hemmungen sind oft eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Nehmen wir einmal an, ein Durchschnittsmensch hätte nicht die geringsten Hemmungen, irgend etwas sinnlos zu verschwenden. Sie wissen, daß so etwas passieren kann. Angenommen, er weigert sich, seine Rationsquoten auf gesetzliche, verantwortungsbewußte Weise zu konsumieren, und steckt statt dessen sein Haus in Brand oder wirft sein Essen in den Fluß. Wenn sich nur ein paar Individuen so verhalten, können wir sie individuell behandeln. Aber wenn eine Seuche daraus wird, wäre dies das Ende unserer Gesellschaftsordnung. Denken Sie doch einmal an die Berichte über asoziales Verhalten, die Sie täglich in den Zeitungen finden. Ein Mann schlägt seine Frau. Eine Frau verwandelt sich in eine Harpye. Ein junger Bursche zertrümmert Fensterscheiben. Ein Ehemann verkauft gefälschte Marken auf dem Schwarzmarkt. Alle diese Fälle weisen auf eine grundlegende Hemmungsschwäche hin, die das wichtigste asoziale Phänomen begünstigt - das Konsumversagen.«

»Das ist nicht fair, Doktor!« stieß Morey entrüstet hervor. »Das ist schon viele Wochen her! Klar, wir waren ein bißchen in Verzug geraten. Aber heute bin ich vom Klassifikationsbüro.« »Warum denn so heftig, Morey?« unterbrach ihn der Doktor mit sanfter Stimme. »Ich habe doch nur eine ganz allgemeine Bemerkung gemacht.«

»Es ist doch wohl verständlich, daß ich mich wehre, wenn ich beschuldigt werde.«

Semmelweiss zuckte mit den Schultern. »Wir beschuldigen unsere Patienten nicht. Wir versuchen ihnen zu helfen, mit ihrem Seelenleben klarzukommen.« Er zündete sich eine Zigarette an und gab Morey damit zu verstehen, daß die Sitzung beendet war. »Denken Sie bitte darüber nach. Wir sehen uns nächste Woche wieder.«

Cherry war beherrscht und unnahbar. Sie küßte ihn nur flüchtig, als er nach Hause kam. »Ich habe Mutter angerufen und ihr die erfreulichen Neuigkeiten mitgeteilt. Sie will mit Dad herkommen. Dann können wir das Ereignis gemeinsam feiern.«

»Hm - ja«, sagte Morey. »Liebling, warum warst du denn so sauer am Telefon?«

»Sie werden gegen sechs hier sein.«

»Ja, ja... Was habe ich denn gesagt? Bist du böse, weil ich von den Rationen gesprochen habe? Wenn du in diesem Punkt so empfindlich bist. Ich schwöre dir, daß ich nie mehr davon sprechen werde.«

»Ich bin sehr empfindlich, Morey.«

»Es tut mir leid«, sagte er verzweifelt. »Ich wollte doch nur.«

Dann hatte er eine bessere Idee. Er küßte sie.

Cherry war zuerst passiv, aber nicht lange. Als er aufhörte, sie zu küssen, stieß sie ihn weg, und dabei kicherte sie doch tatsächlich. »Ich muß mich fürs Dinner umziehen.«

»Natürlich. Aber ich wollte nur.«

Sie legte einen Finger auf seine Lippen.

Er ließ sie gehen und fühlte sich etwas besser, als er in die Bibliothek schlenderte. Die Nachmittagszeitungen lagen bereit.

Morey setzte sich und begann sie gewissenhaft zu lesen, eine nach der anderen. Als er in der Mitte der World-Telegramm-Sun-Post-and-News angelangt war, läutete er nach Henry.

Morey hatte bereits das Feuilleton des Times-Herald-Tribune-Mirror gelesen, als der Roboter erschien.

»Warum hast du so lange gebraucht?« fragte Morey. »Wo sind denn die ganzen Roboter?«

Roboter stammeln und stottern nicht, aber es entstand eine deutlich erkennbare Pause, bevor Henry sagte: »Unten, Sir. Brauchen Sie die Roboter?«

»Nun, eigentlich nicht. Ich habe mich nur gewundert, weil ich sie nirgends gesehen habe. Bring mir was zu trinken.«

Henry zögerte. »Scotch, Sir?«

»Vor dem Dinner? Bring mir einen Manhattan!«

»Der Vermouth ist uns ausgegangen, Sir.«

»Ausgegangen? Würdest du mir bitte sagen, wie das möglich ist?«

»Er wurde getrunken, Sir.«

»Aber das ist doch lächerlich!« stieß Morey hervor. »Der Alkohol ist uns noch nie im Leben ausgegangen - das weißt du sehr gut. Großer Gott, wir haben doch erst gestern eine neue Ration gekauft, und ich habe sicher nicht.«

Er brach ab, und als er Henry anstarrte, lag plötzlich nacktes Entsetzen in seinen Augen.

»Was haben Sie sicher nicht, Sir?« fragte der Roboter.

Morey schluckte. »Henry - habe ich etwas - etwas getan, was ich nicht tun sollte?«

»Wenn es so wäre, würde ich es bestimmt nicht wissen, Sir. Es steht mir nicht zu, Ihnen zu sagen, was Sie tun und lassen sollen.«

»Natürlich nicht«, stimmte Morey beklommen zu.

Er saß stocksteif da, starrte hoffnungslos ins Leere und erinnerte sich. Die Erinnerung war ihm keineswegs angenehm.

»Henry«, sagte er, »komm, wir gehen hinunter. Jetzt gleich.«

Es war Tanaquil Bigelows Bemerkung über die Roboter gewesen. Es gibt zu viele Roboter - sie machen zu viele Sachen...

Das hatte ihn auf eine Idee gebracht. Und diese Idee trug in seinem Haus Früchte. Als er betrunken und nicht so gehemmt gewesen war wie sonst, hatte er das Problem klar erkannt, und auch die Lösung war ihm offensichtlich erschienen.

Traurig und besorgt blickte er sich um. Sein eigener Roboter, der Befehle befolgte, die er ihm vor Wochen gegeben hatte.

»Sie haben gesagt, daß wir es tun sollen, Sir«, erklärte Henry.

Morey stöhnte. Er beobachtete eine Szene von unvergleichlicher Aktivität, die ihm Schauer über den Rücken jagten.

Da war der Robot-Kammerdiener, emsig beschäftigt, mit ausdruckslosem Kupfergesicht. In Moreys Sport-Knickers und Moreys Golfschuhen drosch er feierlich einen Ball gegen die Wand, hob ihn auf, brachte ihn in die Ausgangsstellung, schlug ihn wieder an die Wand. Immer wieder. Mit Moreys Golfschläger. Bis der Ball zerfetzt war und durch einen neuen ersetzt werden mußte. Der Griff des Schlägers war schon verbogen, der Sportdress platzte aus allen Nähten.

»Mein Gott!« sagte Morey mit hohler Stimme.

Da waren die Robot-Hausmädchen, exquisit gekleidet, in Cherrys besten Roben, gingen auf und ab in zierlichen, schmalen Schuhen, setzten sich, standen wieder auf, bückten sich und drehten sich. Die Küchen- und Bedienungsroboter bereiteten dionysische Mahlzeiten zu.

Morey schluckte. »Ihr - ihr macht das schon die ganze Zeit, nicht wahr?« sagte er zu Henry. »Nur deshalb sind wir auf das erforderliche Quotenquantum gekommen.«

»O ja, Sir. Wir haben alle Ihre Befehle befolgt.«

Morey mußte sich setzen. Einer der Bedienungsroboter rückte ihm höflich einen Stuhl zurecht, den sie von oben heruntergeholt hatten, um ihren Aufgaben gerecht werden zu können.

Verschwendung.

Morey schmeckte das Wort auf den Lippen.

Verschwendung.

Man darf keine Dinge verschwenden. Man muß sie aufbrauchen. Und wenn es nötig ist, muß man sich selber an den Rand des Zusammenbruchs treiben - aber man muß alles aufbrauchen. Jeder Atemzug muß eine Last sein und jede Stunde, die dem hemmungslosen Verbrauch geweiht ist, eine Qual - bis man durch fleißiges Konsumieren und/oder beruflichen Erfolg in die nächsthöhere Klasse aufrückt, wo man dann nicht mehr so krampfhaft konsumieren muß.

Wenn das Rationierungsbüro das alles herausfindet.. dachte Morey voller Angst.

Aber man hatte es noch nicht herausgefunden, und es würde vielleicht noch einige Zeit dauern, bis man es merkte, denn die Menschen gehen niemals in die Robotquartiere. Das war zwar nicht gesetzlich verboten und auch kein Tabu, aber es bestand kein Grund dazu. Wenn irgendwelche Defekte auftauchten, was nur selten geschah, kamen die Robot-Instandhaltungs- oder -Reparaturteams ins Haus und brachten alles wieder in Ordnung. Meist wußten die Menschen gar nicht, daß etwas kaputt gewesen war, denn die Roboter benutzten ihre GZR-Funkgeräte, um sich untereinander zu verständigen, und alles Weitere lief dann automatisch.

»Henry, du hättest es mir erzählen sollen«, sagte Morey vorwurfsvoll.

»Aber Sir!« protestierte Henry. »Sie haben mir doch befohlen, es niemandem zu erzählen.«

»Hm. Nun ja, dann macht erst mal so weiter. Ich - eh - gehe wieder hinauf. Sag den restlichen Robotern, daß sie mit dem Dinner anfangen sollen.«

Morey kehrte nach oben zurück und fühlte sich sehr unbehaglich.

Das Dinner, das zur Feier von Moreys Beförderung stattfand, war entnervend. Morey mochte Cherrys Eltern. Nachdem der alte Elon kurz vor der Hochzeit eingesehen hatte, daß sich der Verehrer seiner Tochter durch nichts und niemanden abwimmeln ließ, hatte er nachgegeben und sich der neuen Situation angepaßt. Die alten Leute mischten sich nicht ein, wiesen nicht ständig auf ihren besseren gesellschaftlichen Status hin, halfen bei der Haushaltsplanung. Mindestens einmal in der Woche konnte man sich darauf verlassen, daß sie zu Besuch kamen und ein herzhaftes Mahl verzehrten. Und Mrs. Elon hatte schon einige von Cherrys Kleidern für sich selbst umgenäht und sich sogar dazu durchgerungen, den auffallenden Schmuck ihrer Tochter zu tragen.

Und was die Hochzeitsgeschenke anging, hatten sie sich großartig verhalten. Die meisten Mitglieder von Moreys Familie waren nur bereit gewesen, ein bißchen Tafelsilber und Kristallgläser mitzunehmen. Aber die Elons hatten Morey mit dem Versprechen überrascht, ein Auto als Geschenk anzunehmen -dazu noch einen Ententeich für ihren Garten und eine komplette Wohnzimmereinrichtung. Natürlich konnten sie sich das leisten. Sie mußten ja nicht viel konsumieren, also war es keine große Belastung für sie, so aufwendige Geschenke zu bekommen. Morey wußte, daß der Konsum in den ersten Ehemonaten ohne die Hilfe seiner Schwiegereltern noch viel schwieriger gewesen wäre.

Aber an diesem Abend fiel es Morey sehr schwer, überhaupt jemanden zu mögen. Er gab nur einsilbige Antworten und grunzte kaum, als Elon einen Toast auf die Beförderung und brillante Zukunft seines Schwiegersohnes ausbrachte. Morey war mit seinen Gedanken woanders.

Und das war verständlich. So sehr er sich auch den Kopf zerbrach, er konnte sich an keinen Präzedenzfall erinnern, und deshalb hatte er auch keine Ahnung, wie man ihn für sein Vergehen bestrafen würde. Aber er spürte voller Verzweiflung, daß ihm Unheil drohte.

Morey überdachte das Problem so oft, daß er nach einiger Zeit ganz betäubt war. Als er mit seinem Schwiegervater nach dem Essen in die Bibliothek ging, um Zigarren zu rauchen und Brandy zu trinken, begann sein Gehirn halbwegs wieder zu funktionieren.

Elon bot ihm eine von seinen Zigarren an - zum erstenmal, seit Morey ihn kannte. »Du bist jetzt in der fünften Klasse, also kannst du es dir doch leisten, Zigarren von anderen Leuten zu rauchen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Morey düster.

Ein kurzes Schweigen entstand. Dann räusperte sich Elon, höflich und taktvoll wie ein Robot-Gesellschafter, und versuchte noch einmal, ein Gespräch in Gang zu bringen. »Ich kann mich noch gut erinnern, wie elend ich mich fühlte, bevor ich die fünfte Klasse erreichte«, sagte er. »Dieser Konsumzwang hält einen ganz schön in Trab. In der Anwaltskanzlei stapelten sich die Akten, und ich hatte kaum Zeit, mich um meine Fälle zu kümmern, während sich die Rationierungsakten ständig zu vermehren schienen. Der Konsum war natürlich immer wichtiger als meine Arbeit - das ist die allererste Staatsbürgerpflicht. Mutter und ich hatten es oft sehr schwer - aber wenn man eine gute Ehe führen und seine Aufgaben als Staatsbürger erfüllen will, muß man sich eben reinknien, was?«

Morey unterdrückte ein Schaudern und nickte krampfhaft.

»Das Beste an der Beförderung«, fuhr Elon fort, als hätte er eine befriedigende Antwort erhalten, »ist der Zeitgewinn. Man braucht nicht mehr soviel Zeit zu verschwenden, um zu konsumieren, und kann sich endlich seiner Arbeit widmen. Arbeit - das ist der größte Luxus auf der Welt. Ich wünschte, meine Konstitution wäre noch ebenso gut wie in meiner Jugendzeit. Ich kann nur noch an fünf Tagen pro Woche aufs Gericht gehen. Früher habe ich sechs geschafft - das war wirklich erholsam. Aber mein Arzt hat mir gesagt, daß ich kürzer treten muß. Man darf das Vergnügen nicht übertreiben. Du wirst jetzt wohl zwei Tage pro Woche arbeiten, was?«

Morey brachte ein zweites Nicken zustande.

Elon sog kräftig an seiner Zigarre und beobachtete seinen Schwiegersohn. Und obwohl Morey immer noch halb betäubt war, ahnte er, daß der alte Mann die falschen Schlüsse zog. Und da fragte Elon auch schon: »Zwischen Cherry und dir ist doch alles in Ordnung?«

»Aber klar!« rief Morey. »Es könnte gar nicht besser sein.«

»Sehr schön.« Dann wechselte Elon das Thema, mit sichtlichem Widerstreben. »Da wir gerade vom Gericht gesprochen haben - gestern hatte ich einen interessanten Fall. Ein junger Bursche kam zu uns - ein oder zwei Jahre jünger als du. Er hatte gegen den Paragraph siebenundneunzig verstoßen. Weißt du, was das ist? Einbruch und unbefugtes Eindringen.«

»Einbruch und unbefugtes Eindringen«, wiederholte Morey, von unwillkürlichem Interesse erfaßt. »Worin ist er denn eingebrochen und eingedrungen?«

»In Häuser. Das ist ein uraltes Verbrechen, das in der Geschichte der Rechtssprechung sehr oft vorkommt. Ursprünglich hat man es begangen, um Dinge zu stehlen. Und wie ich herausgefunden habe, macht man das immer noch.«

»Du meinst - er hat etwas gestohlen?« fragte Morey verwirrt.

»Genau - er hat gestohlen. Das ist das Seltsamste, was ich je erlebt habe. Später sprach ich mit einem seiner Anwälte darüber. Dem ist so was auch zum erstenmal untergekommen. Offenbar hat der Junge eine Freundin - er ist ein netter Kerl, aber ein bißchen dick. Also, er hat eine Freundin, und die interessiert sich für Malerei.«

»Das ist doch nicht schlimm.« »Natürlich nicht. Mit dem Mädchen ist ja auch alles okay. Die hat nichts Unrechtes getan. Sie mochte den Jungen nicht sonderlich und wollte ihn nicht heiraten. Er überlegte, wie er sie herumkriegen könnte, und. Kennst du den großen Mondrian im Museum?«

»Ich war noch nie da«, sagte Morey leicht verlegen.

»Hm - da solltest du aber mal hingehen. Nun, der Junge schlich sich gestern kurz vor der Sperrstunde ins Museum. Er stahl das Bild, um es dem Mädchen zu schenken.«

»So was habe ich noch nie gehört.«

»Ich auch nicht. Das Mädchen wollte das Bild übrigens nicht annehmen. Sie erschrak furchtbar, als er ihr das Ding brachte. Ich vermute, daß sie die Polizei verständigt hat. Irgend jemand hat das jedenfalls getan. Es dauerte drei Stunden, bis sie das Bild fanden, obwohl sie wußten, daß es an einer Wand hing. Der arme Junge wohnt in einem Haus mit zweiundvierzig Zimmern. Er wurde um zwei Klassen zurückversetzt. Die Strafe hätte eigentlich noch höher ausfallen müssen, aber er war erst in der dritten Klasse.«

»Hm.« Morey fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Sag mal, Dad.«

»Ja?«

Morey räusperte sich. »Eh - ich frage mich - ich meine - wie wird denn der Mißbrauch von Rationen bestraft?«

Elon hob die Brauen. »Der Mißbrauch von Rationen?«

»Angenommen, man hat eine Alkoholration - und statt das Zeug zu trinken, schüttet man es in die Toilette oder so.«

Seine Stimme erstarb, und Elon runzelte die Stirn. »Seltsam. Anscheinend bin ich doch nicht so tolerant, wie ich dachte. Aus irgendeinem Grunde finde ich das gar nicht komisch.«

»Tut mir leid«, flüsterte Morey.

Es war zwar unehrlich, aber er zog einen ungeheuren Nutzen daraus, denn die Tage vergingen, ohne daß ihm jemand auf die Schliche kam. Cherry war zufrieden. Wainwright fand immer wieder eine Gelegenheit, Morey auf die Schulter zu klopfen. Der Lohn der Sünde war ein glücklicher Wohlstand.

Eines Abends erlebte Morey einen schlimmen Augenblick, als er nach Hause kam und sah, daß Cherry gerade ein Team von Packrobotern beaufsichtigte. Morgen sollten sie das neue Haus beziehen, das seiner höheren Klasse angemessen war. Aber Cherry war nicht unten gewesen, und Morey befahl seinen Haushaltsrobotern, alle Spuren ihrer geheimen Aktivität zu beseitigen, bevor die Packroboter hinunterkamen.

Das neue Haus war, von Morey's Standpunkt aus betrachtet, purer Luxus.

Es hatte nur fünfzehn Zimmer. Schlauerweise hatte sich Morey einen Roboter mehr angeschafft, als in der fünften Klasse verlangt wurde, und als Ausgleich durfte er ein kleineres Haus beziehen, als es seiner Klasse entsprochen hätte.

Aber die Roboterquartiere des neuen Hauses waren nicht mehr so isoliert wie im alten, und das war natürlich ein Nachteil.

Immer wieder schmiegte sich Cherry im Ehebett an ihn, genoß die Intimität des gemeinsamen Schlafzimmers und sagte in milder Neugier: »Wenn sie nur endlich mit diesem Lärm aufhören würden.« Und Morey versprach jedesmal, am nächsten Morgen mit Henry zu reden. Aber er konnte Henry natürlich nichts sagen - solange er ihm nicht befehlen wollte, den unermüdlichen Konsum von vierundzwanzig Stunden pro Tag zu beenden.

Aber wenn Cherry auch manchmal eine gemäßigte Neugier bezüglich der Roboteraktivitäten zeigte, so war es doch unwahrscheinlich, daß sie herausfinden würde, was da unten geschah. Ihre Erziehung kam Morey endlich einmal zugute, denn sie wußte nicht viel von der ewigen Tretmühle des Konsums, unter der die niederen Klassen litten, und so bemerkte sie kaum, daß sie verhältnismäßig wenig verbrauchten.

Hin und wieder gelang es Morey sogar, sein Leben zu genießen. Er ersann immer neue originelle Aufgaben für die Roboter, und sie gehorchten höflich und emotionslos.

Morey hatte Erfolg.

Doch es herrschte keineswegs eitel Sonnenschein. Morey war ziemlich nervös, als ihm die Ankündigung der vierteljährlichen Inspektion per Post zugestellt wurde. Und als der Tag anbrach, an dem das Rationierungsbüro die ausrangierten Sachen überprüfen würde, kam er ins Schwitzen. Die Kleider und Möbel und Haushaltsgeräte, die seine Roboter verkonsumiert hatten, waren zerrissen beziehungsweise auseinandergefallen. Das alles mußte plausibel aussehen - das war der springende Punkt. Kein normaler Mann würde seine Hose so lang tragen, bis sie Löcher an den Knien aufwies, wie es bei Henrys Trainingsanzug der Fall war. Würde das Büro unangenehme Fragen stellen?

Und was noch schlimmer war - würde die Konsummethode der Roboter irgend etwas verraten? War aufgrund der Roboteranatomie irgendwo ein Loch entstanden, das niemals entstanden wäre, wenn ein Mensch das betreffende Kleidungsstück getragen hätte? War eine Naht geplatzt, die normalerweise keiner Belastung ausgesetzt wäre?

Er machte sich völlig unbegründete Sorgen. Als Morey den Inspektionsbericht las, stieß er einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Das Büro hatte nichts auszusetzen. Moreys Aktion war ein voller Erfolg.

Und mit dem Erfolg kam auch der Lohn des Erfolgs. Eines Abends fuhr Morey nach einem harten Arbeitstag nach Hause. Erschrocken sah er, daß ein fremdes Auto vor den Eingangsstufen parkte. Es war ein winziger Zweisitzer, wie ihn Spitzenbeamte und reiche Leute bevorzugten.

In diesem Augenblick lernte Morey die erste Lektion des Veruntreuers - jede Veränderung bedeutet Gefahr. Unbehaglich betrat er sein Haus, voller Angst, daß irgendein hoher Beamter des Rationierungsbüros gekommen war, um ihm Fragen zu stellen.

Aber Cherry strahlte über das ganze Gesicht. »Mr. Porfirio ist Zeitungsreporter. Er möchte einen Artikel über dich schreiben -für die Serie >Distinguierte Konsumenten^ O Morey, ich bin ja so stolz auf dich!«

»Danke«, sagte Morey mit belegter Stimme. »Hallo!«

Mr. Porfirio schüttelte ihm liebenswürdig die Hand. »Eigentlich komme ich nicht von einer Zeitung, sondern vom Trans-Video-Press. Das ist ein neuer Nachrichtendienst. Wir versorgen siebenundvierzig Blätter mit Nachrichten und Artikeln. Alle stehen auf der Konsumliste, die von der ersten bis zur sechsten Klasse verlangt wird. Sonntags bringen wir eine eigene Zeitung heraus, die sich mit Konsumproblemen befaßt, und wir würden gern - nun ja, Ehre, wem Ehre gebührt - Sie haben einen beneidenswert guten Ruf, Mr. Frey, und davon möchten wir unseren Lesern berichten.«

»Hm«, sagte Morey. »Kommen Sie, wir gehen in den Salon.«

»O nein!« widersprach Cherry energisch, »ich möchte dabei sein. Er ist ja so bescheiden, Mr. Porfirio. Wenn Sie nur auf ihn hören, werden Sie nie herausfinden, was für ein Mensch er ist. Ich bin seine Frau, und ich schwöre, ich habe keine Ahnung, wie er es schafft, das ganze Zeug zu konsumieren. Er ist ganz einfach.«

»Möchten Sie was trinken?« fiel Morey ihr unter Mißachtung jeglicher Etikette ins Wort. »Rye? Scotch? Bourbon? Gin Tonic? Brandy Alexander? Dry Manha? Ich meine. Was hätten Sie denn gern?« Er merkte plötzlich, daß er wie ein Narr quasselte.

»Irgendwas«, erwiderte der Reporter. »Vielleicht einen Rye. Nun, kommen wir zur Sache, Mr. Frey. Wie ich sehe, haben Sie Ihr Haus sehr hübsch eingerichtet, und Ihre Frau hat mir schon erzählt, daß Ihr Landhaus ebenso komfortabel ist. Kaum kam ich hier rein, als ich mir auch schon sagte: >Was für ein schönes Haus! Kaum ein Möbelstück, das nicht unabdingbar notwendig ist. Müßte Klasse sechs oder sieben sein.< Und Mrs. Frey hat mir mitgeteilt, daß das andere Haus noch spärlicher möbliert ist.«

»So, hat sie das?« entgegnete Morey scharf. »Dann will ich Ihnen mal was erzählen, Mr. Porfirio. Ich habe jede einzelne Marke meiner Möbelration konsumiert - ich selbst! Dafür habe ich Belege. Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, aber.«

»Oh, so etwas wollte ich ganz bestimmt nicht andeuten. Ich möchte Sie nur um ein paar Informationen bitten, die wir an unsere Leser weitergeben können. Sie verstehen doch - es ist uns ein Anliegen, den Leuten zu helfen, damit sie es ebenso schaffen wie Sie. Wie haben Sie das nur gemacht?«

Morey schluckte. »Wir - eh - wir haben uns eben angestrengt. Es war ein hartes Stück Arbeit.«

Porfirio nickte bewundernd. »Ein hartes Stück Arbeit«, wiederholte er und zog ein dreifach gefaltetes Blatt Papier aus seiner Tasche, um sich Notizen zu machen. »Würden Sie sagen, daß das jeder könnte, indem er zum Beispiel einen Konsumplan aufstellt und sich streng daran hält?«

»O ja«, antwortete Morey.

»Mit anderen Worten - man braucht nur jeden Tag zu tun, was man tun muß?«

»Genau. Ich mache unsern Haushaltsplan, weil ich mehr Erfahrung habe als meine Frau, verstehen Sie? Aber es gibt keinen Grund, warum eine Frau das nicht auch könnte.«

»Gute Planung«, sagte Porfirio anerkennend. »Das ist auch unsere Devise.«

Das Interview war nicht so schlimm, wie es anfangs ausgesehen hatte, auch nicht, als Porfirio das Gespräch taktvoll auf Cherrys schlanke Taille lenkte (»Wissen Sie, Mrs. Frey, viele Hausfrauen haben Probleme mit ihrer Linie.«) Morey erfand endlose Stunden, die er mit den Übungsgeräten in seinem Trainingsraum zubrachte, wobei Cherry leicht verwundert dreinschaute, ihm aber nicht ins Wort fiel.

Mit Hilfe dieses Interviews lernte er die zweite Lektion des Veruntreuers. Nachdem Porfirio gegangen war, wandte sich Morey an seine Frau und sagte mit strenger Stimme: »Wir müssen wirklich ernsthaft Sport betreiben, Cherry. Ich weiß nicht, ob du es bemerkt hast - aber du hast ein bißchen zugenommen. Und wir wollen doch nicht, daß du dick wirst.«

Während Morey mühsame und unnötige Stunden auf dem Heimfahrrad verbrachte, hatte er genügend Zeit, um über die Lektionen nachzudenken, die er gelernt hatte. Gestohlene Schätze sind weniger schön, als man es gern hätte, wenn man nicht wagen kann, sie in aller Öffentlichkeit zu genießen.

Aber einige von Moreys Schätzen waren ehrlich verdient.

Das neue Bradmoor-K-50-Wirbelspiel war zum Beispiel einzig und allein sein Werk. Er war Designer und in der glücklichen Lage, sich einer Arbeit widmen zu dürfen, die von größtem gesellschaftlichem Nutzen war - er half mit, den Konsum zu steigern.

Das Wirbelspiel war für diesen Zweck geradezu perfekt geeignet. »Brillant!« sagte Wainwright strahlend, als die Maschine die ersten Tests absolviert hatte. »Ich darf wohl behaupten, daß ich nicht umsonst als Entdecker junger Talente gepriesen werden. Ich wußte ja, daß Sie es schaffen würden, mein Junge.«

Sogar Howland war des Lobes voll. Er saß mampfend vor einer Petit-Fours-Platte, während die Tests liefen - er gehörte immer noch der Klasse drei an -, und danach sagte er enthusiastisch: »Herrlich, Morey! Dieser Serienverführer - sensationell! Ich habe noch nie eine so schöne Maschine gesehen.«

Morey errötete dankbar.

Wainwright verließ die Werkstätten, wobei er immer noch Lobeshymnen von sich gab, und Morey tätschelte liebevoll seine Maschine und bewunderte den Polychromglanz. Das Aussehen einer Maschine war, wie Wainwright oftmals doziert hatte, ebenso wichtig wie ihre Funktion. »Sie müssen die Leute dazu bringen, daß sie unbedingt mit diesem Gerät spielen wollen, mein Junge. Und sie werden nicht damit spielen wollen, wenn sie es nicht sehen.« Und so erstrahlte die ganze K-Serie in bunten Regenbogenlichtern, ließ provokative Melodien ertönen und strömte verlockende Düfte aus, die den Passanten mit zwingender Aggression in die Nasen stiegen.

Morey hatte sich stark von alten Meisterwerken wie dem einarmigen Banditen, dem Spielautomaten und der Music Box inspirieren lassen. Man steckte seine Rationsmarken in den Trichter und drehte die Räder, bis man das Spiel ausgesucht hatte, das man mit der Maschine spielen wollte. Dann drückte man auf Knöpfe oder drehte Wählscheiben, auf dreihundertfünfundzwanzig verschiedene Arten, und setzte sein menschliches Geschick gegen das auf Magnetband gespeicherte Geschick der Maschine ein.

Man verlor natürlich. Man hatte zwar Gewinnchancen, aber die unerbittlichen Daten der Maschine sorgten dafür, daß man verlor, wenn man nur lange genug spielte.

Wenn man zum Beispiel zehn Rationierungsgutscheine riskierte, die etwa drei konsumierten sechsgängigen Mahlzeiten entsprachen, bekam man acht Marken zurück, die man wieder ausgeben mußte. Man konnte natürlich auch einen Glückstreffer landen und tausend Gutscheine bekommen, was einer Riesengefriertruhe voller Steaks und Tiefkühlgemüse gleichkäme. Aber so etwas passierte nur selten. Meistens verlor man und bekam gar nichts.

Gar nichts - das bedeutete, daß man Marken bekam, die man wieder verkonsumieren mußte. Aber der besondere Reiz der Maschine und Moreys Geniestreich bestanden darin, daß man, ob man nun verlor oder gewann, immer ein Kügelchen aus Vitamin-Antibiotika-Hormonkaugummi mit Zuckerguß im Trichter fand. Man spielte, gewann oder verlor, steckte sein Kaugummikügelchen in den Mund und spielte weiter. Wenn das nächste Spiel zu Ende ging, war der Kaugummi verbraucht, man warf ihn weg und konsumierte einen weiteren.

»Das hat dem Mann vom Rationierungsbüro besonders gut gefallen«, verriet Rowland. »Er hat die Pläne für das Kaugummisystem mitgenommen. Vielleicht verwenden sie das jetzt bei allen neuen Maschinen. Was sind Sie doch für ein Glückspilz, Frey!«

Morey hörte zum erstenmal, daß ein Mann vom Rationierungsbüro im Werk gewesen war. Das waren gute Neuigkeiten. Er entschuldigte sich bei Rowland, rannte zum Telefon und rief Cherry an, um ihr von seinem jüngsten Erfolg zu erzählen. Er erreichte sie bei ihrer Mutter, wo sie den Abend verbrachte, und sie war gebührend beeindruckt und liebevoll. In strahlender Laune kehrte er zu Howland zurück.

»Gehen wir was trinken?« fragte Howland schüchtern.

»Klar«, sagte Morey. Er konnte es sich leisten, so viele von Howlands Marken zu versaufen, wie der arme Kerl nur wollte. Der bedauernswerte Kollege steckte ja immer noch in der Konsumzwangsjacke der dritten Klasse. Es war nur fair, wenn ein erfolgreicherer Mann ihm hin und wieder unter die Arme griff.

Und als Rowland erfuhr, daß Cherry heute abend ihre Eltern besuchte, und vorschlug, zu »Onkel Pigotty« zu gehen, zögerte Morey nur einen Sekundenbruchteil.

Die Bigelows waren entzückt. Morey fragte sich, ob die beiden überhaupt ein Zuhause besaßen. Jedenfalls schienen sie dort nur wenig Zeit zu verbringen.

Es stellte sich heraus, daß sie trotz allem ein Heim hatten. Denn als er tugendhaft erklärte, er wollte nur einen einzigen Drink vor dem Dinner zu sich nehmen, und Rowland verkündete, daß er für diesen Abend nichts vorhatte, schleppten sie Morey zu dritt in die Bigelow-Villa.

Tanaquil Bigelow lächelte entsagungsvoll. »Ich glaube nicht, daß unser Haus dem Standard entspricht, den Mr. Frey gewohnt ist«, sagte sie zu ihrem Mann, während Morey zwischen den beiden stand. »Aber wir nennen es trotzdem unser Heim.«

Morey machte eine passende höfliche Bemerkung. Aber in Wirklichkeit drehte ihm der Anblick des Bigelow-Domizils den Magen um. Es war ein auffalliges, nagelneues Haus, viel größer als Moreys ehemalige Villa, vollgestopft mit ausladenden Sofas und Klavieren und massiven Mahagonistühlen und mehreren dreidimensionalen Fernsehern. Es gab zahllose Salons und Schlafzimmer und Frühstückszimmer und Kinderzimmer.

Die Kinderzimmer waren ein Schock für Morey. Er wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß die Bigelows Kinder hatten. Aber sie hatten welche, und obwohl sie erst fünf und acht Jahre waren, hatten es die Heerscharen von Robotkindermädchen noch immer nicht geschafft, sie ins Bett zu bringen. Hartnäckig kauerten sie auf dem Boden und spielten mit ausgestopften Tieren und Miniatureisenbahnen.

»Sie ahnen ja nicht, wieviel Freude uns Tony und Dick machen«, sagte Tanaquil Bigelow zu Morey. »Sie konsumieren viel mehr, als es ihren Rationen entspräche. Walter meint, daß jede Familie mindestens drei Kinder haben müßte. Dann würde sie besser über die Runden kommen. Walter ist so intelligent, was diese Dinge betrifft, und es ist ein reines Vergnügen, ihm zuzuhören. Kennen Sie schon sein Gedicht, Morey? >Die Zweiheit des.<«

Morey erklärte hastig, daß er es kannte, und bereitete sich auf einen tristen Abend vor. Bei »Onkel Piggotty« waren die Bigelows exzentrisch und amüsant gewesen. Daheim waren sie genauso exzentrisch, aber entnervend langweilig.

Sie tranken mehrere Cocktails, und danach waren die Bigelows nicht mehr ganz so langweilig. Das Dinner war natürlich katastrophal. Morey war noch neureich genug, um sich snobistisch an seiner spartanischen Tafel zu delektieren. Doch er besann sich auf seine Manieren und kostete in grimmiger Konzentration von jedem massigen, proteinreichen Gang. Mit Hilfe der endlosen Folge von Tischweinen und Likören überstand er das Dinner ohne ernsthafte Verdauungsschwierigkeiten.

Danach saßen sie einträchtig im opulenten Salon der Bigelows beisammen. Tanaquil sah die Rationierungsbücher der Kinder durch und besprach mit den beiden, was als nächstes angeschafft werden sollte. Danach kündigte sie die Darbietungen eines Robottanzpaars an und die anschließende Aufführung eines Streichquartetts, von Robotmusikern interpretiert. Morey machte sich auf das Schlimmste gefaßt, aber noch bevor die Tänzer ihr Programm absolviert hatten, mußte er sich eingestehen, daß er sich sehr gut unterhielt. Das war eine sehr seltsame Lektion für Morey - wenn man den Robotentertainern nicht zuschauen mußte, konnten sie sehr amüsant sein.

»Gute Nacht, ihr Lieben«, sagte Tanaquil Bigelow energisch zu ihren Kindern, als der Tanz beendet war. Natürlich rebellierten die beiden Jungen, aber sie verschwanden. Es dauerte jedoch nur wenige Minuten, bis der eine zurückkam und sich mit einer klebrigen Hand an Moreys Ärmel klammerte.

Morey sah unbehaglich auf den Kleinen hinab. Er hatte kaum Erfahrung im Umgang mit Kindern. »Eh - nun - was ist denn los, Tony?«

»Ich bin Dick«, sagte der Junge. »Geben Sie mir ein Autogramm.« Er hielt Morey ein kleines Buch, dessen Einband mit vulgären Juwelen besetzt war, und einen Kugelschreiber hin.

Verwirrt schrieb Morey seinen Namen auf eins der leeren Blätter, und als das Kind davonlief, starrte er ihm leicht benommen nach. Tanaquil Bigelow lachte. »Er hat Ihren Namen in Porfirios Kolumne gelesen. Dick liebt Porfirio. Er liest ihn jeden Tag. Er ist ja so ein intelligenter Junge, wirklich. Ständig würde er seine Nase in ein Buch stecken, wenn ich ihn nicht zwänge, mit seinen Eisenbahnen zu spielen und fernzusehen.«

»Das war ein sehr hübscher Artikel«, sagte Walter Bigelow -ein wenig nervös, wie Morey fand. »Ich wette, Sie werden zum Konsumenten des Jahres gewählt.« Er seufzte. »Ich wünschte, wir könnten unseren Rationen auch so davongaloppieren wie Sie. Aber bei uns funktioniert das nicht. Wir essen und spielen und konsumieren wie die Verrückten, aber am Ende des Monats sind wir immer rettungslos im Hintertreffen. Da gibt's immer irgendeine Sparte, in der wir unser Soll nicht erfüllt haben, und dann schickt uns das Rationierungsbüro eine Verwarnung. Ich muß hingehen, und dann brummen sie mir hundert Strafpunkte auf - und wir sind noch schlimmer dran als zuvor.«

Tanaquil lächelte ihm beruhigend zu. »Mach dir nichts draus! Konsum ist nicht alles im Leben. Du hast ja auch noch deine Arbeit.«

Bigelow nickte und bot Morey noch einen Drink an. Aber der brauchte keinen. Er saß neben Howland in rosigem Glanz, der weniger vom Alkohol herrührte als von seinem wunschlosen Glück. Noch nie war er mit sich und der Welt so zufrieden gewesen.

»Hören Sie mal!« rief er plötzlich.

Bigelow sah von seinem Glas auf. »Eh?«

»Wenn ich Ihnen ein Geheimnis verrate - können Sie es für sich behalten?«

Bigelow blinzelte. »Ich denke schon, Morey.«

Aber seine Frau unterbrach ihn mit scharfer Stimme: »Natürlich können wir das, Morey! Was ist es denn für ein Geheimnis?« Morey sah, daß ein seltsamer Glanz in ihren Augen lag, der ihn leicht irritierte. Aber er beschloß, das zu ignorieren.

»Was diesen Artikel betrifft - so ein toller Konsument bin ich gar nicht«, sagte er. »In Wirklichkeit.« Auf einmal hatte er das Gefühl, daß die Augen der ganzen Welt auf ihn gerichtet waren. Ein paar qualvolle Sekunden lang überlegte er, ob er jetzt vielleicht einen Fehler begehen würde. Ein Geheimnis, das zwei Leute kannten, war nicht gefährdet. Aber wenn vier Leute davon wußten, war es kein Geheimnis mehr.

Trotzdem.

»Ich will es Ihnen erklären«, sagte er mit fester Stimme. »Sie erinnern sich doch an jenen Abend, als wir uns im >Onkel Piggotty< unterhalten haben? Nun, als ich zu Hause war, ging ich in die Roboterquartiere und.« Er berichtete in allen Einzelheiten, was sich seither zugetragen hatte.

»Ich wußte es ja!« rief Tanaquil Bigelow triumphierend.

Walter Bigelow warf seiner Frau einen sanft tadelnden Blick zu. »Sie haben da etwas Großartiges getan, Morey«, sagte er ernsthaft. »Etwas ganz Großartiges. Sie haben den Willen Gottes erfüllt und unserer Gesellschaft die Todesstrafe zuerkannt. Die künftigen Generationen werden den Namen Morey Frey verehren.« Feierlich schüttelte er Morey die Hand.

»Was - habe ich getan?« stammelte Morey verstört.

Walter nickte. Die Geste wirkte wie ein Fanal. Dann wandte er sich an seine Frau. »Wir müssen sofort eine Versammlung einberufen, Tanaquil.«

»Natürlich, Walter«, sagte sie unterwürfig.

»Morey muß daran teilnehmen. Ja, das müssen Sie, Morey -keine Widerrede! Wir möchten, daß die Bruderschaft Sie kennenlernt. Habe ich nicht recht, Howland?«

Rowland hüstelte unbehaglich. Dann nickte er und goß sich noch einen Drink ein.

»Wovon reden Sie eigentlich?« fragte Morey verzweifelt. »Howland. Sie müssen es mir sagen!«

Rowland spielte mit seinem Glas. »Nun ja - das hat Tan Ihnen doch an jenem Abend erklärt. Ein paar politisch reife Leute haben eine kleine Gruppe gegründet. Wir.«

»Kleine Gruppe!« unterbrach ihn Tanaquil Bigelow verächtlich. »Rowland, manchmal frage ich mich wirklich, ob du überhaupt begreifst, worum es da geht. Unsere Bewegung ist auf der ganzen Welt verbreitet. Allein hier in der Altstadt leben achtzehn Mitglieder - und wenn man die Splittergruppen auf der ganzen Welt zusammenzählt, kommen wir auf mehrere tausend. Ich wußte, daß Sie so etwas vorhatten, Morey. Das habe ich Walter gesagt - an dem Morgen, nachdem wir Sie kennengelernt hatten. >Walter, dieser Morey führt etwas im Schilde<, sagte ich. >Du wirst es schon noch sehen.< Aber ich muß gestehen«, fügte sie mit einem bewundernden Lächeln hinzu, »ich hätte nicht erwartet, daß Sie eine Tat von solcher Tragweite vollbringen und daß Sie mit einem so großartigen Beispiel vorangehen würden. Stellen Sie sich das einmal vor - eine ganze Welt von Konsumenten wird wie ein Mann aufstehen und den Namen Morey Frey schreien, den Namen des Mannes, der das Rationalisierungsbüro mit dessen Waffen bekämpft - mit den Robotern!«

Bigelow nickte enthusiastisch. »Ruf im >Onkel Piggotty< an, Liebling!« befahl er. »Sieh zu, daß du alle zusammentrommeln kannst. Morey und ich gehen jetzt hinunter. Kommen Sie, Morey - wir wollen das neue Leben beginnen!«

Morey saß mit offenem Mund da. Nach einer Weile klappte er ihn zu. »Bigelow«, flüsterte er. »Wollen Sie etwa damit sagen, daß Sie mein Geheimnis irgendeiner subversiven Organisation verraten werden?«

»Subversiv?« wiederholte Bigelow pikiert. »Mein lieber Mann -alle kreativen Geister sind subversiv, ob sie nun einzeln operieren oder innerhalb einer Gruppe wie unserer Bruderschaft Freier Menschen. Es gefallt mir nicht, daß.«

»Es ist mir egal, was Ihnen gefällt«, fiel Morey ihm ins Wort. »Sie wollen also eine Versammlung dieser Bruderschaft einberufen, und ich soll allen erzählen, was ich Ihnen soeben erzählt habe. Ist das richtig?«

»Nun, ja.«

Morey stand auf. »Ich wünschte, ich könnte jetzt sagen: >Es war sehr nett bei Ihnen.< Aber das war es nicht. Gute Nacht!«

Und er stürmte hinaus, bevor sie ihn zurückhalten konnten.

Aber draußen auf der Straße verließ ihn seine Entschlossenheit. Er winkte ein Robot-Taxi heran und trug dem Chauffeur auf, die traditionelle Vergnügungsrundfahrt durch den Park zu machen, um in Ruhe nachdenken zu können.

Die Tatsache, daß er davongelaufen war, würde Bigelow natürlich nicht daran hindern, vor der Versammlung die angekündigte Mitteilung zu machen. Morey erinnerte sich nun an Fragmente des Gesprächs, das er mit Tanaquil und Walter Bigelow im »Onkel Piggotty« geführt hatte, und er verfluchte sich selbst. Sie hatten genug über ihre politischen Absichten gesprochen, offen oder andeutungsweise, um jedem vernünftigen Menschen klarzumachen, daß hier Vorsicht geboten war. Dieser ganze Unsinn von der Zweiheit hatte Morey von der Tatsache abgelenkt, die er auf Anhieb hätte erkennen müssen -sie verfolgten subversive Ziele.

Er sah auf seine Uhr. Es war spät - aber noch nicht zu spät. Cherry würde noch bei ihren Eltern sein.

Er beugte sich vor und nannte dem Fahrer Richter Elons Adresse. Es war wie der Nadelstich der ersten von hundert Injektionen. Man wußte, daß sie einen heilen würden - aber es tat trotzdem weh.

»Und das ist alles«, sagte Morey mannhaft. »Ich weiß, daß ich ein Narr war, und ich bin bereit, die Konsequenzen zu tragen.«

Der alte Elon rieb sich nachdenklich das Kinn. »Hm.«

Cherry und ihre Mutter wußten schon längst nicht mehr, was sie dazu sagen sollten. Sie saßen nebeneinander auf einer Couch, auf der anderen Seite des Zimmers, und hörten mit angespannten, ungläubigen Gesichtern zu.

»Entschuldigt mich mal!« rief Elon abrupt. »Ich muß jemanden anrufen.« Er verließ den Raum, telefonierte kurz und kam dann zurück. »Mach uns einen Kaffee!« sagte er über die Schulter zu seiner Frau. »Wir werden ihn alle brauchen. Es gibt da ein Problem.«

»Glaubst du, ich meine - was soll ich jetzt tun?« stammelte Morey.

Elon zuckte mit den Achseln, und dann grinste er überraschenderweise. »Was kannst du denn schon tun?« fragte er fröhlich. »Du hast schon genug getan, würde ich sagen. Trink erst mal einen Kaffee. Ich habe gerade Jim angerufen, meinen Rechtsberater. Er wird in einer Minute hier sein. Laß dir von Jim einen Rat geben, danach werden wir klüger sein.«

Cherry kam zu Morey und setzte sich neben ihn. Sie sagte nur: »Mach dir keine Sorgen.« Aber für Morey bedeuteten diese wenigen Worte eine ganze Welt. Mit einem Gefühl abgrundtiefer Erleichterung erwiderte er den Druck ihrer Hand. Zum Teufel, warum sollte ich mir auch Sorgen machen, fragte er sich. Schlimmstenfalls würden sie ihn um ein paar Klassen zurückversetzen, und das konnte er bestimmt verkraften.

Unwillkürlich schnitt er eine Grimasse, als er sich an seine Kämpfe in der Klasse eins erinnerte - und an die Dinge, die er nur mühsam verkraftet hatte.

Der Rechtsgelehrte kam herein, ein kleiner Roboter mit einer verbeulten, fleckenlosen Stahlhaut und einem verdrossenen Kupfergesicht. Elon nahm den Roboter beiseite und führte ein kurzes Gespräch mit ihm, bevor er zu Morey zurückkam.

»Es ist genau so, wie ich es mir gedacht habe«, sagte er zufrieden. »Kein Präzedenzfall, kein gesetzliches Verbot -deshalb kein Verbrechen.«

»Gott sei Dank!« rief Morey glücklich.

Elon schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich werden sie eine Gehirnwäsche mit dir machen, und du kannst nicht erwarten, daß du in der Klasse fünf bleibst. Ich nehme an, sie werden dir asoziales Verhalten vorwerfen. Und das war es ja auch.«

»Oh.« sagte Morey geknickt. Er runzelte die Stirn, dann blickte er auf. »Okay, Dad. Ich habe mir die Suppe eingebrockt, also muß ich sie auch auslöffeln.«

»Eine tapfere Haltung«, meinte Elon anerkennend. »Und jetzt fahr nach Hause. Schlaf dich richtig aus, und morgen früh gehst du gleich ins Rationierungsbüro. Erzähl ihnen die ganze Geschichte, vom Anfang bis zum Ende. Sie werden dir keine Schwierigkeiten machen.« Elon zögerte. »Zumindest keine großen Schwierigkeiten«, verbesserte er sich. »Hoffen wir das Beste.«

Der Mann, der seiner Verurteilung entgegensah, aß ein herzhaftes Frühstück.

Das mußte er auch. Am Morgen war Morey mit der betrüblichen Gewißheit erwacht, daß er von heute an für lange, lange Zeit wieder dreifache Rationen konsumieren mußte.

Er küßte Cherry zum Abschied und legte schweigend die lange Fahrt zum Rationierungsbüro zurück. Er hatte nicht einmal Henry mitgenommen.

Im Bürogebäude redete er stotternd auf eine Reihe von RobotSekretärinnen ein und wurde schließlich zu einem arroganten jungen Mann namens Hachette geführt.

»Ich heiße Morey Frey«, begann er. »Ich - bin gekommen, um Ihnen etwas mitzuteilen - was ich gemacht habe - mit den.«

»Gewiß, Mr. Frey«, sagte Hachette. »Ich werde Sie sofort zu Mr. Newman bringen.«

»Wollen Sie nicht wissen, was ich gemacht habe?« fragte Morey.

Hachette lächelte.

»Wieso kommen Sie darauf, daß wir das nicht wissen?« erkundigte er sich und ging davon.

Das war die Überraschung Nummer eins.

Newman erklärte ihm alles. Er grinste Morey an und schüttelte wehmütig den Kopf. »Das erleben wir immer wieder«, jammerte er. »Die Leute machen sich einfach nicht die Mühe, etwas über die Welt zu lernen, von der sie umgeben sind. Mein Sohn, was glauben Sie denn, was ein Roboter ist?«

»Eh?« fragte Morey.

»Ich meine - was glauben Sie, wie er funktioniert? Glauben Sie, das ist einfach nur ein Mensch mit Metallhaut und Drahtnerven?«

»Warum - nein. Er ist natürlich eine Maschine. Er ist kein Mensch.«

Newman strahlte. »Sehr schön! Ein Roboter ist also eine Maschine. Er hat kein Fleisch, kein Blut und keine Eingeweide.

Auch kein Gehirn. Oh.« Er hob eine Hand, als Morey etwas sagen wollte. »Die Roboter sind sehr klug. Das habe ich nicht gemeint. Aber eine elektronische Denkmaschine würde viel Platz brauchen. Sie würde gerade in das Haus hineinpassen, in dem Sie wohnen. Roboter tragen keine Gehirne mit sich herum. Sie wären viel zu schwer und zu umfangreich.«

»Aber wie können sie denn dann denken?«

»Mit ihren Gehirnen natürlich.«

»Aber Sie sagten doch gerade.«

»Ich sagte, daß sie ihre Gehirne nicht mit sich herumschleppen. Jeder Roboter ist in ständiger Funkverbindung mit der Hauptkontrolle des GZR-Systems, des Funksystems für die gesamten >Gespräche zwischen Robotern<. Die Hauptkontrolle gibt Antwort auf alle Fragen, der Roboter agiert.«

»Ich verstehe«, sagte Morey.

»Nein, Sie verstehen es immer noch nicht«, unterbrach ihn Newman. »Denken Sie doch mal nach! Wenn ein Roboter Informationen von der Hauptkontrolle bekommt, dann muß doch die Hauptkontrolle auch Informationen von dem Roboter erhalten.«

»Oh«, sagte Morey. Dann sagte er mit lauterer Stimme: »Oh! Sie meinen - alle meine Roboter.« Er brachte die Worte nicht über die Lippen.

Newman nickte zufrieden. »Solche Informationen erreichen uns immer. Das ist unvermeidlich. Wenn Sie heute nicht zu uns gekommen wären, hätten wir Sie in absehbarer Zeit zu uns beordert, Mr. Frey.«

Das war die zweite Überraschung. Morey trug sie mit Fassung.

Das alles würde nichts an der Sache an sich ändern, sagte er sich.

»Nun, jedenfalls bin ich hier, Sir«, sagte er. »Ich bin freiwillig zu Ihnen gekommen. Ich habe meine Roboter benutzt, um meine Rationsquoten zu konsumieren.«

»Ja, das haben Sie.«

».und ich bin bereit, ein schriftliches Geständnis zu unterschreiben, wann immer Sie wollen. Ich weiß nicht, wie hoch die Strafe für dieses Vergehen ist, aber ich werde sie hinnehmen. Ich bin schuldig - und ich gebe meine Schuld zu.«

Newman machte große Augen. »Schuldig?« wiederholte er. »Strafe?«

»Ja, natürlich«, entgegnete Morey verwirrt. »Ich leugne ja gar nichts ab.«

»Strafe«, sagte Newman noch einmal und runzelte nachdenklich die Stirn. Dann begann er schallend zu lachen. Morey fand die Situation keineswegs komisch. Aber er mußte sich eingestehen, daß ihm die Situation immer unbegreiflicher wurde.

»Tut mir leid«, sagte Newman schließlich und wischte sich die Augen trocken. »Aber ich konnte einfach nicht anders. Strafe! Da können Sie ganz beruhigt sein, Mr. Frey. An Ihrer Stelle würde ich mir keine Sorgen wegen einer Bestrafung machen. Sobald wir den Bericht über die Befehle erhielten, die Sie Ihren Robotern gegeben hatten, beauftragten wir ein Spezialteam, Sie ständig zu beobachten, und dann schickten wir einen Bericht ins Nationale Hauptquartier. Wir haben uns darin - eh - sehr wohlwollend über Sie geäußert. Nun - um eine lange Geschichte kurz zu machen - gestern bekamen wir die Antwort. Mr. Frey, das Nationale Rationierungsbüro war begeistert über Ihren Beitrag zur Verbesserung des Verteilersystems. Man hat bereits ein Testprogramm für den Einsatz von konsumierenden Robotereinheiten im ganzen Land ausgearbeitet. Strafe? Mr. Frey, Sie sind ein Held!«

Ein Held hatte eine gewisse Verantwortung. Das wurde Morey sehr schnell klargemacht. Man ließ ihm gerade so viel Zeit, daß er zu Cherry fahren und sie beruhigen und dann einen triumphalen Rundgang durch sein altes Büro machen konnte. Danach wurde er nach Washington verfrachtet, wo man ihm einige Fragen stellen wollte. Im Nationalen Rationierungsbüro herrschte hektische Betriebsamkeit.

»Der wichtigste Job, den wir je erledigt haben«, erzählte ihm einer der hohen Beamten. »Es würde mich nicht überraschen, wenn das unser letzter Job für alle Zeiten wäre. Ja, Sir, wir versuchen uns aus dem Berufsleben zurückzuziehen, für immer, und wir wollen nicht, daß vorher noch was schiefgeht.«

»Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann.« begann Morey schüchtern.

»Sie haben eine großartige Leistung vollbracht, Mr. Frey. Sie haben uns den Impuls gegeben, den wir brauchten. Diese Möglichkeit bestand ja schon die ganze Zeit - aber wir entdeckten sie nicht, weil wir den Wald vor lauter Bäumen nicht sahen -wenn Sie verstehen, was ich damit meine.

Wissen Sie, ich kann nicht so gut reden, aber das ist der größte Schritt, den die Menschheit seit Jahrhunderten getan hat. Ach, ich kann das einfach nicht in Worten ausdrücken. Ich werde Ihnen zeigen, was wir machen.«

Er führte seinen Gast zusammen mit einer Delegation anderer Beamten, deren Namen Morey schon oft in den Zeitungen gelesen hatte, durch die ganze Fabrik.

»Der Kreis hat sich geschlossen, verstehen Sie?« erklärte man Morey, als sie in eine Halle hinabblickten, in der Konsumroboter fleißig umhermarschierten, um Schuhe zu ruinieren. »Nichts wird verschwendet. Wenn Sie ein Auto wollen, kaufen Sie sich das neueste und beste. Wenn nicht, wird Ihr Auto von einem Roboter gefahren, bis es verschrottet werden kann und Sie sich ein neues anschaffen dürfen. Das Metall des alten Autos wird natürlich weiterverwendet. Nichts geht verloren - nur ein bißchen Energie und Arbeit. Die Sonne und die Atome schenken uns alle Energie, die wir brauchen, und die Roboter stellen uns mehr Arbeitskraft zur Verfügung, als wir nutzen können. Das gleiche gilt natürlich auch für alle anderen Produkte.«

»Aber was haben denn die Roboter davon?« fragte Morey.

»Verzeihen Sie.«, sagte einer der wichtigsten Männer im ganzen Land verständnislos.

Das war eine schwierige Situation für Morey. Seine Psychoanalyse hatte ihn so programmiert, daß er gegen Verschwendung in jeder Form eingestellt war, und das hier war eindeutig eine Zerstörung von Produkten, egal, mit welchem wissenschaftlichen Jargon es umschrieben wurde.

»Wenn der Konsument die Sachen nur abnutzt, um sie abzunutzen«, sagte er und wußte, in welche Gefahr er sich begab, »könnten wir doch Vernichtungsmaschinen verwenden statt der Roboter. Warum verschwenden wir die Roboter?«

Sie blickten einander besorgt an.

»Aber das haben Sie doch auch getan«, erwiderte einer der Beamten mit einem drohenden Unterton in der Stimme.

»O nein«, widersprach Morey. »Ich habe den Robotern Befriedigungsschaltsysteme eingebaut - ich bin ja technischer Designer, wissen Sie? Natürlich sind diese Systeme regulierbar.«

»Klar. Wenn es den Roboter nicht befriedigt, diese Sachen zu benutzen.«

»Reden Sie doch keinen Unsinn!« stieß einer der Beamten hervor. »Roboter sind keine Menschen. Wie können sie Befriedigung empfinden? Noch dazu regulierbare Befriedigung?«

Morey erklärte ihnen alles. Es war eine komplizierte technische Erklärung, wobei er viel Papier verbrauchte und mehrere Skizzen anfertigte. Aber zu der Delegation gehörten auch technisch ausgebildete Beamte, die nun in noch größere Erregung gerieten.

»Herrlich!« schrie einer der Männer in wissenschaftlicher Verzückung. »Natürlich, damit können wir alle moralischen, psychologischen und legalen Bedenken ausräumen!«

»Was?« fragte der Beamte, der Morey vorhin über den Mund gefahren war. »Wie denn?«

»Sagen Sie es ihm, Mr. Frey.«

Morey versuchte es, aber er konnte es nicht mit einfachen Worten erklären. Statt dessen demonstrierte er, wie sein Prinzip funktionierte. Man stellte ihm das Labor des Rationierungsbüros zur Verfügung, mit unzähligen Assistenten, so daß er gar nicht wußte, was er ihnen alles auftragen sollte. Sie konstruierten Befriedigungsschaltsysteme für eine Schwadron von Robotern, die in einer Hutfabrik arbeiteten.

Dann fand Moreys Demonstration statt. Die Roboter stellten Hüte in allen Größen und Stilarten her. Morey installierte am Ende des Tages die Schaltsysteme, und die Roboter begannen die Hüte zu probieren, unterhielten sich fröhlich und zeigten einander triumphierend, welche Auswahl sie getroffen hatten. Ihre Metallgesichter waren unfähig, Stolz oder Freude zu zeigen, aber beide Gefühle kamen in der Art zum Ausdruck, wie sie ihre Hüte trugen, in ihrer wilden Raffgier - und in ihrer noch hingebungsvolleren Arbeit, als sie immer mehr Hüte produzierten, die sie ebenfalls tragen durften.

»Sehen Sie?« rief ein Ingenieur begeistert. »Man kann sie so einstellen, daß sie ganz verrückt nach Hüten sind und daß sie die Dinger tragen, bis sie in Fetzen gehen. Und nicht nur das - die Hüte sind auch ein Ansporn für die Roboter.«

»Aber wir können doch nicht immer mehr Hüte produzieren«, sagte ein hoher Beamter verwirrt. »Die Zivilisation lebt ja nicht nur von Hüten.«

»Das ist ja das Wunderbare«, sagte Morey bescheiden. »Schauen Sie mal!«

Er stellte das Befriedigungsschaltsystem neu ein, nachdem mehrere Transportroboter ein paar Kisten mit Handschuhen hereingeschleppt hatten. Die Roboter aus der Hutfabrik kämpften um die Handschuhe, mit der gleichen mechanischen Leidenschaft wie vorhin um die Hüte.

»Man kann das System auf alles anwenden, was wir - oder die Roboter - produzieren«, erklärte Morey. »Auf alles - von Stecknadeln bis zu Segeljachten. Es kommt nur darauf an, daß ihnen der Besitz der Dinge Befriedigung verschafft, und die Bedürfnisse kann man regulieren und der Überproduktion der diversen Industrien anpassen. Und die Roboter beweisen, daß sie die Sachen zu schätzen wissen, indem sie noch mehr arbeiten.« Er zögerte. »Das habe ich auch mit meinen Bedienungsrobotern gemacht. Es ist eine Rückkoppelung, verstehen Sie? Die Befriedigung führt zu verstärkter Arbeit. Das bedeutet noch mehr Produkte, die sie aufgrund des Befriedigungsschaltsystems haben wollen, woraufhin sie noch fleißiger arbeiten -und so geht das immer weiter.«

»Ein geschlossener Kreis«, flüsterte der hohe Beamte ehrfürchtig. »Diesmal ist es wirklich ein geschlossener Kreis.« Und so wurden die unerbittlichen Gesetze von Angebot und Nachfrage endgültig außer Kraft gesetzt. Die Menschheit wurde nicht mehr vom Überfluß gequält, ertrank nicht mehr in der Überproduktion. Die Menschen nahmen sich, was sie brauchten - und was sie nicht brauchten, bekamen die unersättlichen und regulierbaren Roboter. Nichts wurde verschwendet.

Denn eine Pipeline hat zwei Enden.

Man dankte Morey, überhäufte ihn mit Komplimenten, belohnte ihn reichlich, veranstaltete ihm zu Ehren eine Luftschlangenparade durch die ganze Stadt und stellte ihm ein Privatflugzeug zur Verfügung, das ihn nach Hause brachte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Rationierungsbüro bereits aufgelöst.

Cherry holte ihn vom Flughafen ab. Auf der Heimfahrt redeten sie vor Aufregung alle beide gleichzeitig. Und in ihrem Wohnzimmer holten sie den Begrüßungskuß nach, der zwischen den vielen Leuten in der Flughalle etwas dürftig ausgefallen war. Schließlich befreite sich Cherry lachend aus den Armen ihres Mannes.

»Habe ich dir schon erzählt, daß ich nicht mehr für Bradmoor arbeite?« fragte Morey. »Ich arbeite jetzt für die Regierung - als Rechtsberater. Und.«, fügte er mit erhobener Stimme hinzu, ».gehöre jetzt der Klasse acht an.«

»Du lieber Himmel!« rief Cherry atemlos und so hingerissen, daß Morey beinahe ein schlechtes Gewissen bekam.

»Natürlich haben sie in Washington gesagt, daß die Klassen bald keine Bedeutung mehr haben«, erklärte er. »Aber es ist trotzdem eine Ehre.«

»Natürlich«, sagte Cherry stolzgeschwellt. »Auch Dad gehört nur der Klasse acht an, und er ist schon seit unzähligen Jahren Richter.«

Morey kräuselte die Lippen. »Es könnte uns gar nicht besser gehen. Natürlich werden die Klassen nach wie vor eine gewisse Geltung haben. In der Klasse eins wird man innerhalb eines Jahres so und soviel konsumieren müssen, in der Klasse zwei etwas weniger - und so weiter. Aber man wird in jeder Klasse Roboter zur Verfügung haben, die einen beim Konsum unterstützen. Und zwar wird das folgendermaßen gemacht: Man stellt bereits Faksimile-Roboter her, die.«

»Ich weiß«, unterbrach ihn Cherry. »Jede Person bekommt ein Robotduplikat.«

»Oh«, sagte Morey leicht verärgert. »Wieso weißt du das?«

»Unsere Faksimile-Roboter sind schon gestern geliefert worden. Der Mann vom Amt sagte, daß wir die ersten in dieser Gegend sind, die diese Dinger kriegen - weil es ja deine Idee war. Ich habe sie noch nicht eingeschaltet. Sie stehen im grünen Zimmer. Willst du sie sehen?«

»Klar!« sagte Morey erfreut. Er rannte vor Cherry her, um das Resultat seines verrückten Geistesblitzes zu inspizieren. Da lehnten sie an der Wand, unbewegt wie Statuen, und warteten darauf, mit Energie versorgt zu werden, damit sie ihre nimmermüden Gliedmaßen regen konnten.

»Deiner ist wirklich hübsch«, sagte Morey galant. »Aber - hör mal, soll mir dieses Ding da etwa ähnlich sehen?« Mißbilligend starrte er in das Chromgesicht des Robotmannes.

»Der Beamte hat gesagt, daß die Hersteller nur eine oberflächliche Ähnlichkeit angestrebt haben.« Cherry stand dicht hinter ihm. »Fällt dir sonst nichts auf?«

Morey beugte sich vor, um die Gesichter der Faksimile-Roboter aus der Nähe zu betrachten. »Nein - meiner schielt, und das gefällt mir gar nicht, aber. Oh, du meinst das da!« Er bückte sich, um einen kleineren Roboter zu inspizieren, der halb versteckt zwischen den beiden anderen stand. Er war nur zwei Fuß hoch, hatte einen großen Kopf, runde Glieder und ein dickes Bäuchlein. Er sieht fast so aus wie.. dachte Morey verwundert.

»Mein Gott!« Er wirbelte herum und starrte seine Frau fassungslos an. »Du meinst.«

»Ich meine«, sagte Cherry und errötete.

Morey nahm sie in die Arme.

»Liebling!« schrie er. »Warum hast du mir das denn nicht gesagt?«

Загрузка...