Die Bar hatte keinen Namen. Draußen stand nur: Cafe - Essen - Cocktails, was keinen großen Sinn ergibt. Aber es war eine Bar. Da war ein großer Fernseher, der in drei herrlichen Farben leuchtete und Ja-ta-ta, Ja-ta-ta sagte, und es gab eine Jukebox, die den Fernseher mit lausiger Musik zu übertönen versuchte. Jedenfalls war das nicht gerade ein Stammlokal für Minderjährige. Mir gefiel es dort ganz gut. Aber ich durfte nicht hingehen. Das steht im Vertrag. Ich hätte in New York und in den New England-Staaten bleiben müssen.
Café-Essen-Cocktails lag direkt gegenüber, am anderen Flußufer. Ich glaube, der Ort hieß Hoboken. Ich bin mir nicht sicher. Irgendwie war das alles wie ein Traum. Ich war. Nun ja, ich kann mich nicht einmal erinnern, daß ich dorthin ging. Ich weiß nur noch, daß ich in New York war und über den Fluß blickte. Das tat ich oft. Und dann war ich dort. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, daß ich den Fluß überquert habe.
Ich war betrunken, wissen Sie?
Sie wissen, wie das ist? Doppelte Bourbons, einer nach dem anderen. Und nach einer Weile hört der Barkeeper auf, mir Ginger Ale zu bringen, weil ich immer wieder vergesse, das Zeug mit dem Bourbon zu mixen. Ich war ziemlich voll, als ich New York verließ, das weiß ich. Ich glaube, ich muß wirklich voll gewesen sein, sonst hätte ich niemals die Pension und alles andere aufs Spiel gesetzt.
Früher habe ich nicht so viel getrunken, aber jetzt, ich weiß nicht - kaum habe ich mir einen Drink genehmigt, fange ich an, über Sam und Wally und Chowderhead und Gilvey und den Captain nachzudenken. Wenn ich nicht trinke, denke ich auch an sie, und dann bestelle ich mir einen Drink. Das führt zu einem weiteren Drink, und alles läuft auf das gleiche hinaus. Nun, ich glaube, das habe ich schon gesagt. Ich trinke eine ganze Menge, aber das können Sie mir nicht übelnehmen.
Da war ein Mädchen.
Ich kriege immer irgendwelche Mädchen - überall. Meist sind sie nichts Besonderes, und die da war auch nicht berühmt. Ich meine, sie war wahrscheinlich schon Mutter - um die fünfunddreißig und gar nicht so schlecht, obwohl sie eine lange Narbe unterm Ohr hatte, die sich über den Hals zog, bis zu dem kleinen runden Fleck, wo sie ihren Kehlkopf hatte. Aber die Narbe war nicht häßlich. Das Mädchen roch ganz nett - solange ich noch was riechen konnte, Sie verstehen - und sie redete nicht viel. Das gefiel mir. Nur.
Haben Sie schon mal jemanden mit einem nervösen Husten kennengelernt? Wenn Sie was Komisches sagen - es muß nicht mal ein toller Witz sein -, dann lachen die nicht, sie hören auch nicht auf zu lächeln, aber sie fangen zu husten an. So war sie auch. Ich begann zu zittern. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich bat sie, damit aufzuhören.
Sie verschüttete ihren Drink und sah mich an, fast so, als ob sie Angst hätte. Dabei hatte ich es ihr doch in aller Höflichkeit gesagt. »Tut mir leid«, sagte sie, ein bißchen ärgerlich, ein bißchen verängstigt. »Es tut mir wirklich leid. Aber du mußt nicht.«
»Vergiß es!«
»Natürlich. Aber du hast mir ja gesagt, ich soll mich zu dir setzen. Weißt du das nicht mehr? Wenn du nicht.«
»Vergiß es!« Ich nickte dem Barkeeper zu und hielt zwei Finger hoch. »Du brauchst noch einen Drink. Es ist nur - Gilvey hat das auch immer gemacht.«
»Was?«
»Er hat auch immer gehustet.«
Sie sah mich verwirrt an. »Du meinst - wie.«
»Verdammt, hör auf!« Der Barkeeper blickte zu mir herüber. Nun war sie wirklich wütend, aber ich wollte nicht, daß sie ging. »Gilvey war einer der Jungs, die mit mir zum Mars flogen«, sagte ich. »Pat Gilvey.« »Oh.« Sie setzte sich wieder und beugte sich über den Tisch. »Zum Mars.«
Der Barkeeper brachte uns die Drinks und starrte mich mißtrauisch an.
»Hören Sie mal, Mac«, sagte ich. »Könnten Sie die Klimaanlage ein bißchen runter schalten?«
»Ich heiße nicht Mac. Nein.«
»Haben Sie doch ein Herz! Es ist zu kalt hier drin.«
»Tut mir leid.« Er sah aber nicht so aus, als ob es ihm leid täte. Und mir war kalt. Ich finde, bei so einem Wetter ist es in diesen Kneipen immer kalt. Waren Sie im August schon mal in New York? Achtzig, fünfundachtzig oder neunzig Grad! In allen Lokalen surren Klimaanlagen. Wahrscheinlich, weil die Leute wollen, daß man ein Sakko und eine Krawatte trägt. Aber ich gehe gern spazieren. Das tun Sie doch sicher auch. Und in langen Hosen und Sakko und all dem Zeug kann man nicht so gut herumlaufen. Nicht in dieser Gegend. Nicht im August. Und wenn man dann in eine Bar geht, haben sie dort ein Tiefkühlgerät laufen, für die Gebrauchtwagenhändler, die mit ihren Freundinnen oder Frauen ausgehen, im schicken Anzug mit Krawatte. Wozu? Mir war jedenfalls eiskalt.
»Der Mars«, keuchte das Mächen. »Der Mars.«
Ich wurde wieder nervös und begann zu zittern. »Wollen Sie tanzen?«
»Hier kann man nicht tanzen«, sagte sie. »Byron, ich wußte ja gar nicht, daß du auf dem Mars warst. Bitte, erzähl mir davon!«
»Es war okay«, sagte ich, und das war eine Lüge.
Sie war interessiert und vergaß zu lächeln. Jetzt sah sie viel netter aus. »Ich kannte einen Mann«, sagte sie. »Er war mein Schwager - der Bruder meines Mannes - meines Verflossenen.«
»Ich weiß.«
»Er war bei General Atomic angestellt. In Rockford, Illinois. Weißt du, wo das ist?«
»Klar.« Ich könnte nicht dorthin gehen, aber ich wußte, wo Illinois war.
»Er hat am ersten Marsschiff gearbeitet. Oh, das ist schon fünfzehn Jahre her, nicht wahr? Er wollte immer selber rauffliegen. Aber er hat die Tests nicht bestanden.« Sie brach ab und schaute mich an. Ich wußte, was sie dachte. Aber ich habe nicht immer so ausgesehen, wissen Sie. Ich meine - es ist zwar alles mit mir in Ordnung, aber ich würde die Tests nicht mehr bestehen. Das würde keiner von uns schaffen. Deshalb fliegt jeder nur einmal.
»Ich zittere nur, weil mir kalt ist«, sagte ich. »Das ist der einzige Grund.«
Das stimmte natürlich nicht. Es war so was ähnliches wie Gilveys Husten. Ich wollte nicht an Gilvey denken, auch nicht an Sam oder Chowderhead oder Wally oder den Captain. Ich wollte an keinen von den Jungs denken. Weil ich dann immer zitterte. Wissen Sie, wir durften einander nicht töten. Das war verboten. Bevor wir starteten, hatten sie uns einer Gehirnwäsche unterzogen, um ganz sicherzugehen. Aber so was wirkt nicht bis in alle Ewigkeit. Es hält zwei Jahre an, dann läßt die Wirkung nach. Das ist lang genug, weil man in zwei Jahren zum Mars und zurück fliegen kann. Und wenn man es von einem anderen Standpunkt aus betrachtet, ist es fast zu lange, weil man sich wie in einer Zwangsjacke vorkommt. Wissen Sie, wie man ein Baby zum Schreien bringt? Halten Sie seine Hände fest. Das ist das sicherste Mittel. Und was sie mit uns taten, damit wir einander nicht umbrachten, war genauso, als hätten sie uns gefesselt, als hätten sie uns in Zwangsjacken gesteckt. Es war so, als würde man uns die Hände festhalten, so daß wir uns nicht losreißen konnten. Nun, zwei Jahre, das war lang genug - zu lange.
Der Barkeeper kam zu uns. »Tut mir leid, Kumpel. Ich habe die Klimaanlage schwächer gestellt. Alles okay? Sie sehen so.«
»Klar bin ich okay«, sagte ich. Seine Stimme klang besorgt.
Ich hatte seine Schritte gar nicht gehört, als er an unseren Tisch gekommen war. Das Mädchen sah auch besorgt aus, wahrscheinlich, weil ich so heftig zitterte, daß ich meinen Drink verschüttete. Ich legte ein paar Geldscheine auf den Tisch, ohne sie zu zählen. »Schon gut. Wir wollten gerade gehen.«
»So?« Sie starrte mich verwirrt an. Aber sie ging mit mir. Sie gehen immer mit, wenn sie herausgefunden haben, daß man auf dem Mars war.
In der nächsten Bar sagte sie zwischen zwei Ausflügen auf die Toilette: »Man muß wohl sehr mutig sein, um sich auf so was einzulassen. Warst du schon in der Schule wissenschaftlich interessiert? Muß man nicht furchtbar viel wissen, um Raumfahrer zu werden? Hast du diese kleinen Affentypen gesehen, die angeblich auf dem Mars leben? Ich habe in einem Artikel gelesen, daß sie in kleinen Städten aus Zweimannzelten wohnen
- oder so was ähnliches. Aber sie bauen die Zelte nicht, sondern sie züchten sie. Komisch! Hast du sie gesehen? Der Flug muß schrecklich anstrengend gewesen sein. Wie lange warst du unterwegs? Neun Monate! In der Zeit kann man ja schon ein Baby kriegen! Entschuldige mich mal für einen Augenblick. Und jetzt erzähl mal - wie hast du denn das alles geschafft? Ich meine - mußtest du denn nie aufs - du weißt schon was -gehen?«
»Wir haben's geschafft«, sagte ich. Sie kicherte, und das erinnerte sie wieder daran, und so ging sie erneut auf die Toilette. Ich überlegte, ob ich verschwinden sollte, während sie draußen war, aber was hätte das für einen Sinn gehabt?
Es war schon fast Mitternacht. Aber auf ein paar Minuten kam es nicht an. Ich griff in meine Tasche und nahm die kleine Pillenschachtel heraus, die sie uns gegeben hatten. Man kann sie nicht nachfüllen, aber wir kriegen jeden Monat ein neues Rezept per Post zugeschickt, zusammen mit dem Pensionsscheck. Auf der Schachtel stand: Vorsicht! Nur nach ärztlicher Anweisung einnehmen! Personen mit Herz- und Kreislaufkrankheiten sowie Verdauungsstörungen dürfen das Medikament nicht nehmen. Nicht zusammen mit alkoholischen Getränken schlucken!
Ich nahm drei Pillen. Ich nehme sie nicht gern vor Mitternacht, aber ich hörte wenigstens zu zittern auf.
Ich schloß meine Augen, und dann war ich wieder an Bord des Schiffs. Der Lärm in der Bar verwandelte sich in die ohrenbetäubende Hölle der Raketen, Luftreiniger und Energieschleusen. Ich begann zu schwitzen, obwohl auch hier eine Klimaanlage surrte. Ich hörte Wally vor sich hin pfeifen, so wie er es immer tat, und die Töne drangen gedämpft durch seine Sauerstoffmaske, wurden vom Raketenlärm verschluckt und waren dennoch deutlich zu vernehmen. Er pfiff »Sophisticated Lady«, manchmal auch »Easy to Love« oder »Chasing Shadows«, aber meistens »Sophisticated Lady«. Er war am Juilliard gewesen. Irgend jemand nieste, und es klang so, als würde Showderhead niesen. Wissen Sie, daß jeder Mensch einen ganz individuellen Stil beim Niesen hat? Chowderhead hatte ein damenhaftes, leises Niesen
- »hatschi« - ganz schnell ging das, alles durch den Mund, die Nase wurde nicht in Mitleidenschaft gezogen. Beim Captain hörte es sich an wie »hrrrraschiiii«, bei Wally wie »aschuuu, aschuuu, aschuuu«, bei Gilvey wie »Hutschuuu«. Sam nieste nicht viel, aber er hustete und spuckte dabei, und das war am schlimmsten. Manchmal überlegte ich, ob ich Sam umbringen sollte, indem ich ihn fesselte und Wally und dem Captain auftrug, ihn zu Tode zu niesen. Aber das war natürlich nur ein Spaß, so wie ich gern Spaße machte, wenn ich mich wohl fühlte. Oder halbwegs wohl. Normalerweise malte ich mir aus, daß ein Messer das Beste für Sam wäre. Für Chowderhead eignete sich eine Revolverkugel, direkt in den Bauch. Für Wally war eine Maschinenpistole vorgesehen, die ihn von oben bis unten durchlöchern würde. Den Captain wollte ich in einen Käfig voller hungriger Löwen sperren und Gilvey mit bloßen Händen erwürgen. Wahrscheinlich wegen seines Hustens.
Sie kam zurück. »Bitte, erzähl mir davon!« bettelte sie. »Ich bin ja so neugierig!«
Ich öffnete die Augen. »Du willst, daß ich dir davon erzähle?«
»O ja, bitte!«
»Du möchtest also wissen, wie es ist, mit einer Rakete zum Mars zu fliegen?«
»Ja!«
»Okay«, sagte ich. Es ist wundervoll, was drei so kleine Pillen bewirken können. Ich zitterte nicht mehr. »Man ist zu sechst - in einem Raum, der etwa so groß ist wie ein Buick. Zwei Mann müssen immer in den Kojen liegen, vier haben Dienst. Natürlich wollen alle zehn Minuten länger als vorgesehen in der Koje bleiben, weil das der einzige Platz ist, wo man die Ellbogen des Nebenmanns nicht in den Rippen spürt. Aber das geht nicht. Weil dann Wachablöse ist. Vielleicht hat man gar keinen Ellbogen in den Rippen, wenn man gerade Dienst hat - aber neben den Steuerbordkojen ist die Hauptschleuse des Luftregenerators eingebaut. Ich könnte dir zeigen, was die in meiner Nierengegend angerichtet hat. Neben den Backbordkojen ist der Griff des Notausgangs angebracht. Wenn man den Kopf zu schnell dreht, schlägt man sich die Stirn an. Und wegen des Lärms kann man gar nicht richtig schlafen - das heißt, wenn die Raketen in Betrieb sind. Wenn sie nicht laufen, ist man schwerelos, und das ist auch schlimm, denn man träumt immer, daß man irgendwo runterfällt. Aber ich glaube, es ist noch schlimmer, wenn die Raketen krachen. Das ist verdammt laut. Und wenn der Lärm nicht wäre - wenn man zu tief schläft, könnte man sich auf die Sauerstoffleitung legen. Dann träumt man, daß man ertrinkt. Kannst du dir das vorstellen? Man windet sich und würgt und kriegt keine Luft. Aber ich glaube, es ist nicht gefahrlich. Ich bin jedenfalls immer rechtzeitig aufgewacht. Obwohl ich mal gehört habe, daß ein Raumfahrer vor sechs Jahren.
Nun, man hat also ständig diese Sauerstoffmaske vor dem Gesicht, wenn man sie nicht für ein paar Sekunden runternimmt, um was zu sagen. Das tut man nicht oft, denn was gibt es schon zu sagen? Oh, vielleicht in den ersten beiden Wochen - da sind alle dicke Freunde. Da braucht man die Maske gar nicht -zumindest nicht oft. Alle sind noch herrlich sauber. Der Raum riecht wie - na, sagen wir mal, wie die Garderobe eines Turnsaals, verstehst du? Man kann es ertragen. Natürlich nur, wenn keiner raumkrank wird. In der Beziehung hatten wir Glück. Ich habe mal von einem Flug gehört, wo zwei Mann von der Crew die Raumkrankheit bekamen, schon nach der ersten Kurskorrektur. Die haben zwei Tage lang alles vollgekotzt. O Mann! Aber mit der Zeit wird's auch ohne Raumkrankheit recht übel. Außerhalb der Maske ist alles voller Nebelsuppe. Man riecht es gar nicht so sehr, aber man schmeckt es, tief unten im Kehlkopf, und es sticht in den Augen. So ist das nach den ersten zwei, drei Monaten. Später wird es schlimmer. Wenn man die Maske trägt, gelangt die Sauerstoffmixtur mit Hochdruck in die Atemwege. Das ist komisch, wenn man's nicht gewöhnt ist. Die Lungen müssen ein bißchen kräftiger arbeiten, um den Sauerstoff wieder loszuwerden, besonders, wenn man schläft, und nach einer Weile beginnen die Muskeln zu schmerzen. Die Schmerzen werden immer stärker. Und dann.
Bevor wir starten, stellen die Psychologen alles mögliche mit uns an, damit wir uns nicht gegenseitig umbringen. Aber sie können nicht verhindern, daß man daran denkt. Und danach, wenn wir wieder auf der Erde sind, passen sie auf, daß wir nicht mehr zusammenkommen - davon hast du sicher nichts in deinem Artikel gelesen. Weißt du, wie sie das machen? Wir kriegen natürlich eine Pension. Man muß ganz einfach eine Pension kriegen, denn sonst würde kein Mensch auf den Mars fliegen. Die müßten den Jungs so horrende Summen zahlen, so viel Geld gab's gar nicht auf der Welt. In unseren Pensionsverträgen steht, daß jeder in seinem Territorium bleiben muß. Das Land wird in sechs Sektoren aufgeteilt. In jedem gibt es wenigstens eine große Stadt. Ich hatte Glück. Ich habe viele Städte. Sie versuchen das so einzuteilen, daß jeder in seiner Heimatstadt leben kann. Aber bei uns war das schwierig. Chowderhead und der Captain kommen zufallig beide aus Santa Monica. Ich glaube, es war Chowderhead, der Kalifornien und Nevada gekriegt hat - das ganze Südwestgebiet. Sie haben die beiden losen lassen. Gott weiß, wohin es den Captain verschlagen hat. Vielleicht nach New Jersey«, fügte ich hinzu.
Wir gingen in eine andere Bar.
Plötzlich sagte sie: »Ich habe was herausgefunden. Jetzt weiß ich, warum du dich immer nach allen Seiten umsiehst.«
»Was hast du denn rausgefunden?«
»Du hast gesagt, daß der andere Mann in New Jersey ist. Das hier ist New Jersey. Du gehörst nicht in diesen Sektor, was?«
»Stimmt«, sagte ich nach einer Minute.
»Warum bist du dann hier? Ich weiß, warum. Du suchst jemanden.«
»Genau.«
»Du willst diesen anderen Mann aus deiner Crew finden«, sagte sie triumphierend. »Du willst dich mit ihm prügeln.«
Ich konnte nicht verhindern, daß ich wieder zu zittern anfing, trotz der weißen Pillen. Aber ich mußte sie korrigieren.
»Nein. Ich will ihn töten.«
»Wieso weißt du, daß er hier ist? Er hat doch viele Staaten, wo er sich rumtreiben kann.«
»Sechs, New Jersey, Pennsylvania, Delaware, Maryland - alles bis nach Washington runter.«
»Wieso weißt du dann.«
»Er ist hier.« Ich brauchte ihr nicht zu sagen, warum ich es wußte. Aber ich wußte es.
Ich war nicht der einzige, der seine Zeit an der Grenze seines Sektors zubrachte und über einen Fluß oder eine andere Demarkationslinie starrte und wußte, daß jemand auf der anderen Seite war. Ich wußte es auch. Wenn man Krieg führt, braucht man nicht lange zu raten, um zu wissen, daß der Feind seine Truppen tausend Meilen hinter der Kampffront postiert hat. Man weiß, wo seine Truppen stehen. Und man weiß, daß auch er kämpfen will.
Hatschi! Hatschi!
Ich verschüttete meinen Drink.
Dann sah ich sie an. »Hast du - hast du.«
Sie blinzelte verängstigt. »Was ist denn?«
»Hast du gerade geniest?«
»Geniest? Ich?«
Ich stieß irgendeinen häßlichen Fluch aus. Ich weiß nicht mehr, welchen. Nein! Sie war es nicht gewesen. Ich wußte es.
Das war Chowderheads Niesen.
Chowderhead.
Er hieß Marvin T. Roebuck, war fünf Fuß und acht Zoll groß, hatte eine dunkle Haut und schielte auf einem Auge. Er sprach mit irgendeinem mittelwestlichen Akzent, obwohl er aus Kalifornien kam, und damit hatte er mich nach einiger Zeit halb wahnsinnig gemacht. Er sagte nicht »brüllen«, sondern »brullen«, und nicht »Schrecken«, sondern »Schracken«. Vielleicht können Sie sich jetzt so ungefähr vorstellen, wovon er die ganze Zeit geredet hat. Ein Stinktier vom Scheitel bis zur Sohle. Ein unverbesserliches, widerwärtiges Stinktier.
Ich stieß meinen Stuhl um und schrie. »Roebuck! Verdammt, wo bist du?«
In der Bar war es plötzlich totenstill. Nur die Jukebox plärrte weiter.
»Ich weiß, daß du hier bist!« kreischte ich. »Komm heraus, damit ich dir's heimzahlen kann, du verdammter Kerl! Du miese Wanze, ich habe dir ja gesagt, ich würde dich schon noch kriegen, weil du mich damals einen Lügner genannt hast - an dem Tag, als Wally seine Maske zerriß!«
Stille. Alle starrten mich an.
Dann öffnete sich die Tür der Herrentoilette.
Er kam heraus.
Er sah lausig aus. Rote Augen - und die Haare fielen ihm aus. Der arme Teufel konnte nicht älter als neunundzwanzig sein. »Du!« brüllte er und gab mir ein paar Millionen Namen. »Du diebische Ratte! Dir werde ich's schon noch zeigen! Mir meine Schokoladeration zu klauen!«
Er hatte ein Messer.
Das war mir egal. Ich hatte gar nichts, und das war dumm, aber es spielte keine Rolle. Ich nahm eine Bierflasche vom Nebentisch, zertrümmerte sie an einem Stuhl. Das war eine gute Waffe. Damit würde ich jederzeit gegen ein Messer kämpfen. Und das tat ich auch. Ich lief auf ihn zu, und er taumelte mir entgegen, sah verrückt und verzweifelt aus und murmelte und stotterte. Ich konnte nicht hören, was er sagte, weil auch ich ununterbrochen redete. Niemand versuchte uns zurückzuhalten. Irgend jemand lief hinaus, vermutlich, um die Polizei zu holen, aber das war okay. Wenn ich mit Chowderhead abgerechnet hatte, würde es mir egal sein, was die Bullen mit mir machten.
Ich schlug mit der zerbrochenen Flasche nach seinem Gesicht.
Er traf mich zuerst. Ich spürte, wie das Messer meinen linken Arm zerschnitt, aber es tat gar nicht richtig weh, wissen Sie. Es stach nur ein bißchen. Und dann traf ich sein Gesicht und zog die Flasche zurück. Es sah aus wie grauweißes Gelee, und jetzt quoll Blut heraus. Er schrie. Oh, dieser Schrei! Nie zuvor hatte ich so etwas wie diesen Schrei gehört. Das war es, worauf ich gewartet hatte. Ich trat nach ihm, als er nach hinten torkelte, und er stürzte. Und ich warf mich auf ihn, mit der Flasche und paßte auf, daß ich ihn nicht in den Hals oder ins Herz traf, denn das wäre zu schnell gegangen. Aber ich bearbeitete sein Gesicht und spürte, wie sich sein Messer mehrmals in mein Fleisch bohrte, und.
Und dann wachte ich auf, wissen Sie? Und da beugte sich Dr. Santly über mich, mit einer Injektionsspritze in der Hand, deren Nadel er soeben aus meinem Arm gezogen hatte. Vier Krankenpfleger hielten mich mühsam fest. Ich war schweißüberströmt.
Zuerst wußte ich nicht, wo ich war. Ich hatte das schreckliche, schwindelerregende Gefühl zu fallen, als hätten sich die Bar und der Kampfund die ganze Welt ringsum in Rauch aufgelöst.
Dann wußte ich, wo ich war.
Und das war noch schlimmer.
Ich hörte zu schreien auf, lag nur ruhig da und sah sie an.
Dr. Santly versuchte ein freundliches, unbefangenes Gesicht zu machen. »So ist es schon viel besser, Byron, viel besser.«
Ich sagte nichts.
»Sie haben es in zwei Stunden und acht Minuten geschafft«, fuhr er fort. »Erinnern Sie sich noch an das erstemal? Damals haben sie ihn sechzehn Stunden lang getötet. Das war Captain Van Wyck, wissen Sie das noch? Wer war es denn diesmal?«
»Chowderhead.« Ich blickte zu den Krankenpflegern auf. Offenbar hatten sie meine Arme und Beine losgelassen.
»Chowderhead«, sagte Dr. Santly. »Ach ja - Roebuck! Der Junge«, fügte er mit klagender Stimme hinzu. »Nicht einmal halb so gut. Er kann einen Zyklus einfach nicht in weniger als fünf Stunden durchlaufen. Und was das Komische ist - immer sind es Sie, den er. Aber das will ich Ihnen lieber nicht sagen. Es hätte ja keinen Sinn, einen Gegendruck zu erzeugen, wenn Ihre Poren sozusagen alle geöffnet sind.« Er lächelte mich an, aber hinter diesem Lächeln war er ziemlich besorgt.
Ich setzte mich auf. »Hat irgend jemand eine Zigarette?«
»Geben Sie ihm eine Zigarette, Johnson«, befahl der Doktor dem Krankenpfleger, der neben meinem rechten Fuß stand. Johnson gehorchte wortlos. Ich zündete mir die Zigarette an.
»Sie halten sich wirklich großartig«, sagte Dr. Santly. Er war einer von diesen Psychologen, die glauben, wenn sie sagen, daß was so ist, dann ist es auch so. Kennen Sie diese Typen?
»Am Wochenende werden wir Sie bis zu einer Stunde runtergekriegt haben. Das ist ein wunderbarer Fortschritt. Dann können wir auf der Bewußtseinsebene arbeiten. Sie sind verdammt gut, mein Junge, ob Sie es nun wissen oder nicht. In sechs Monaten - na, sagen wir lieber, in acht Monaten, weil ich ziemlich konservativ bin.« Er zwinkerte mir zu. »In acht Monaten können Sie hier raus. Sie werden der erste von der Crew sein, den wir entlassen, wissen Sie das?«
»Wie nett!« sagte ich. »Die anderen machen sich nicht so gut?«
»Nein, ganz und gar nicht. Vor allem der arme Dr. Gilvey ist immer in einem schrecklichen Zustand, wenn er einen Test absolviert hat. Ich gebe ehrlich zu, daß ich mir Sorgen um ihn mache.«
»Wie nett!« sagte ich, und diesmal meinte ich es ernst.
Er sah mich nachdenklich an, aber er enthielt sich seines Kommentars, wandte sich an die Krankenpfleger und sagte: »Er ist okay. Helft ihm vom Tisch runter.«
Es war schwer, auf den Beinen zu stehen. Ich mußte mich eine Minute lang an das Geländer klammern, das rings um den Tisch angebracht war. Und dann hielt ich die kleine Rede, die ich vorbereitet hatte.
»Dr. Santly, ich möchte Ihnen sagen, wie dankbar ich Ihnen für das alles bin. Ich hatte schon befürchtet, daß ich den Rest meines Lebens in einem Teil des Landes eingesperrt sein würde, wie die Jungs von den Ex-Crews. Aber so ist es viel besser, und ich weiß es zu schätzen. Ich bin sicher, daß Ihnen auch die anderen sehr dankbar sind.«
»Natürlich, mein Junge, natürlich.« Er zog einen Füllfederhalter hervor und machte eine Notiz auf meinem Krankenblatt. Ich konnte nicht sehen, was er schrieb, aber er sah zufrieden aus.
»Das alles hat bereits in Ihnen gesteckt, Byron. Ich habe Ihnen nur geholfen, es an die Oberfläche zu befördern.«
Er warf den Krankenpflegern einen verschwörerischen Blick zu. »Sie wissen, wie wichtig das für mich ist. Es ist der Triumph einer völlig neuen psychischen Rehabilitationsmethode. Ich finde, unsere heroischen Raumfahrer haben doch das Recht auf Freiheit, wenn sie auf die Erde zurückkommen, nicht wahr?«
»Genau«, sagte ich und rieb mir mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.
»Und so werden wir das System der Sektoren abschaffen. Wir können nicht verhindern, daß während eines Raumflugs Spannungen entstehen. Aber wenn wir Ihnen mit unserer Behandlung helfen können, die Spannungen abzubauen - nun, dieser Preis ist doch nicht zu hoch, oder?«
»Aber nein«
Er erwärmte sich immer mehr für das Thema. »Jetzt können Sie sich schon auf ein Wiedersehen mit ihren alten Raketenfreunden freuen. Sie werden sich völlig unbefangen mit den Jungs unterhalten, ohne Ressentiments. Ist das nicht wunderbar?«
»Klar«, sagte ich. »Sie ahnen ja gar nicht, wie sehr ich mich schon darauf freue. Und ich weiß genau, was ich tun werde, wenn ich zum erstenmal einen von den Jungs treffe - ich meine, ohne Ressentiments und so, wie Sie es ausgedrückt haben.« Und das war die reine Wahrheit. Ich freute mich wirklich darauf. Aber ich würde es nicht mit einer zerbrochenen Bierflasche machen.
Ich hatte mir was viel Raffinierteres ausgedacht.