Mahlon zeugte Timothy, und Timothy zeugte Nathan, und Nathan zeugte Roger, und ihre Erdentage waren lang. Aber dann zeugte Roger Orville, und Orville war ein Teufel. Er zeugte Augustus, Wayne, Walter, Benjamin und Carl, meinen Vater, und ich finde, das ging zu weit, denn damals tauchte Gideon Upshur auf, um sich einzumischen.
Ich küßte Lucille gerade im Salon, als die Türglocke läutete, und sie war alles andere als erfreut über die Unterbrechung. Er war ein großer alter Mann mit einem sonnengebräunten Gesicht. Er schüttelte den Schnee von seinen Schuhen, starrte mich mit funkelnden blauen Augen an und fragte: »Orvie?«
»Ich heiße George«, sagte ich.
»Wisch dir den Lippenstift vom Gesicht, George«, sagte er und stapfte herein.
Lucille richtete sich hastig auf und steckte die herausgefallenen Haare in ihren Knoten zurück. Er sah sie einmal kurz an, dann zog er ganz gelassen seinen Mantel aus, hängte ihn über eine Stuhllehne und setzte sich vor den Kamin.
»Ich heiße Upshur«, sagte er. »Gideon Upshur. Wo ist Orville Dexter?«
Bis zu diesem Augenblick hatte ich mir überlegt, ob ich ihn hinauswerfen sollte, aber jetzt gab ich es auf. Es war das erstemal seit fast einem Jahr, daß jemand zu uns kam und nach Orville Dexter fragte, und wir hatten schon aufgeatmet.
»Das ist mein Großvater, Mr. Upshur«, sagte ich. »Was hat er denn jetzt wieder angestellt?«
Er sah mich an. »Du bist sein Enkel! Und du weißt nicht, was er angestellt hat?« Er schüttelte den Kopf. »Wo ist er?«
Ich sagte ihm die Wahrheit. »Wir haben Großvater Orville seit fünf Jahren nicht mehr gesehen.«
»Und du weißt auch nicht, wo er ist?« »Nein, Mr. Upshur. Er sagt nie, wohin er geht. Manchmal erzählt er es nicht einmal, wenn er zurückkommt.«
Der alte Mann kräuselte die Lippen. Er beugte sich vor, griff nach der Whiskyflasche, die auf dem Couchtisch stand, goß sich ein Glas voll und starrte Lucille an.
»Ich schwöre Ihnen«, sagte er mit hoher, schriller Stimme, »diese Dexters sind eine Plage. Gehen Sie nach Hause!«
Er redete mit Lucille. Sie sah ihn böse an und öffnete den Mund, aber ich ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Das ist meine Verlobte«, sagte ich.
»Ha!« rief er. »Zweifellos. Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als auf Orvie zu warten. Ist das Bett im Gästezimmer gemacht?«
»Mr. Upshur!« protestierte ich. »Wir freuen uns natürlich sehr, wenn wir Freunde von Großvater kennenlernen - aber nur Gott weiß, wann er heimkommen wird - vielleicht morgen, vielleicht in sechs Monaten oder in sechs Jahren.«
»Ich werde warten«, rief er über die Schulter, als er die Treppe hinaufstieg.
Nach den ersten beiden Wochen fand ich es gar nicht mehr so schlimm, daß er bei uns wohnte. Ich rief Onkel Wayne an und erzählte ihm alles, und er regte sich ziemlich auf.
»Ein großer, kräftig gebauter Mann?« fragte er. »Mit sonnengebräuntem Gesicht?«
»Das ist er«, rief ich. »Er scheint sich hier im Haus sehr gut auszukeimen.«
»Nun, warum auch nicht?« Onkel Wayne schwieg ein paar Sekunden lang. Dann sagte er: »George, du mußt deine Brüder zusammentrommeln und.«
»Das geht nicht, Onkel Wayne«, entgegnete ich. »Harold ist bei der Army, und ich weiß nicht, wo William steckt.«
Er schwieg wieder. »Nun«, sagte er nach einer Weile, »mach dir keine Sorgen. Ich rufe dich an, sobald ich zurückkomme.«
»Willst du verreisen, Onkel Wayne?« wollte ich wissen.
»Allerdings, George«, sagte er und legte auf.
Nun stand ich also da - allein im Haus mit Mr. Upshur.
Lucille wollte nicht mehr zu mir ins Haus kommen. Ich besuchte sie ein paarmal, aber es war zu kalt, um mit dem Jaguar zu fahren, und William hatte die große Limousine mitgenommen, als er verschwunden war, und Lucille weigerte sich, mit mir im Jeep herumzufahren. So konnten wir also nichts weiter tun, als in ihrem Salon zu sitzen, und ihre Mutter saß bei uns, strickte und machte kleine Bemerkungen über Großvater Orville und dieses Mädchen in Eatontown.
Im großen und ganzen war ich also ziemlich froh, als die Küchentür aufging und Großvater Orville hereinkam.
»Großvater!« schrie ich. »Wie schön, daß du wieder da bist! Da ist ein Mann.«
»Pst, George!« sagte er. »Wo ist er?«
»Oben. Er schläft immer, wenn ich ihm das Dinner auf einem Tablett gebracht habe.«
»Du bringst ihm das Dinner rauf? Was ist denn mit den Dienstboten los?«
Ich hüstelte. »Nun ja, Großvater, nach diesem Ärger in Eatontown.«
»Schon gut«, sagte er hastig. »Laß dich nicht bei deiner Arbeit stören.«
Ich leerte die letzten Essensreste in den Mülleimer, dann stellte ich das Geschirr in die Spülmaschine, während Großvater dasaß und mir zusah.
»George«, sagte er schließlich, » ich bin ein alter Mann. Ein sehr alter Mann.«
»Ja, Großvater«, antwortete ich.
»Mein Großvater ist noch älter als ich. Und sein Großvater ist noch älter.«
»Klar«, sagte ich. »Leider habe ich die beiden nicht kennengelernt.«
»Nein, George. Zumindest glaube ich nicht, daß sie in diesen letzten Jahren oft zu Hause waren. Großvater Timothy war im Jahre sechsundachtzig hier, aber damals warst du wohl noch nicht auf der Welt. Wenn ich mir's recht überlege - damals war ja noch nicht einmal dein Dad geboren.«
»Dad ist sechzig«, sagte ich. »Und ich bin einundzwanzig.«
»Natürlich bist du das George. Und dein Dad hält eine ganze Menge von dir. Erst vor zwei Monaten hat er dich erwähnt. Er meinte, du kämst jetzt in das Alter, wo man dir alles über uns Dexters erzählen sollte.«
»Was denn, Großvater Orville?« fragte ich.
»Verdammt, George, darum geht es ja. Kannst du denn nicht sehen, daß ich dir was zu sagen versuche? Es ist nur so schwer in Worte zu fassen - das ist das ganze Problem.«
»Kann ich dir helfen?« fragte Gideon Upshur von der Tür her.
Großvater Orville erhob sich, richtete sich kerzengrade auf und sagte frostig: »Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du dich aus meinen Familienangelegenheiten raushalten würdest, Gideon Upshur.«
»Das ist auch meine Familie, junger Mann«, erwiderte Gideon Upshur. »Und deshalb bin ich hier. Ich habe Vetter Mahlon gewarnt, aber er wollte nicht auf mich hören. Ich habe Timothy gewarnt, aber er lief auf und davon - nach Amerika. Du siehst ja, was daraus geworden ist.«
»Jeder Mann hat das Recht, sich fortzupflanzen und seinen Namen zu erhalten«, sagte Großvater Orville stolz.
»Einmal - ja! Ich habe nie behauptet, daß ein Mann keinen Sohn haben soll - wenn du auch weißt, daß ich nie einen hatte, Orvie. Wie würde denn die Welt dastehen, wenn alle Leute drei oder vier Kinder bekämen, so wie ihr Dexters das betreibt? Erst sind's vier, und wenn die Kinder erwachsen sind, werden sechzehn draus, und wenn die erwachsen sind, vierundsechzig. In fünf Jahrhunderten gibt's Trillionen von uns, Orvie. Die ganze Welt wird überlagert sein von sechs Schichten unsterblicher, zappeliger, aufgekratzter Dexters, und ich.«
»Halt den Mund, Mann!« brüllte Großvater Orville. »Nicht vor dem Jungen!«
Gideon Upshur machte einen Schritt auf ihn zu und brüllte zurück: »Es wird Zeit, daß er draufkommt! Ich warne dich, Orville Dexter! Entweder du besserst dich, oder ich werde gewisse Maßnahmen ergreifen! Ich bin nicht nur gekommen, um mit dir zu reden. Wenn es sein muß, kann ich auch handeln.«
»Was? Du stinkender Mistkerl.«, begann Großvater Orville, aber dann fiel sein Blick auf mich. »Raus mit dir, George! Geh in dein Zimmer und bleib dort, bis ich dich rufe! Und was dich betrifft, du Idiot, ich bin genauso wie du vorbereitet, wenn es dazu kommen sollte.«
Ich ging hinaus. Die Situation war offenbar ziemlich verzwickt, und ich ließ Großvater Orville nur ungern allein, aber Befehl ist Befehl. Das hatte Dad mir beigebracht. Zuerst war der Lärm, der aus der Küche drang, ganz schrecklich, aber dann verstummte er.
Es war still, für eine lange, lange Zeit. Nach zwei Stunden begann ich mir Sorgen zu machen.
Leise stieg ich die Treppe hinunter und öffnete die Küchentür einen Spaltbreit.
Großvater Orville saß am Küchentisch und blickte ins Leere. Mr. Upshur konnte ich nirgends entdecken.
Großvater Orville sah auf und sagte mit müder Stimme: »Komm herein, George. Ich habe nur grade mal nach Luft geschnappt.«
»Wo ist denn Mr. Upshur?« fragte ich.
»Es war Notwehr«, sagte er hastig. »Außerdem war er ohnehin zu nichts mehr nütze.«
Ich starrte ihn an. »Ist Mr. Upshur etwas zugestoßen?«
Er seufzte. »George, manchmal glaube ich, daß das alte Blut immer dünner wird. Und jetzt darfst du mich nicht mit Fragen belästigen. Ich muß mich erst ein bißchen ausruhen.«
Befehl ist Befehl, wie ich bereits sagte. Ich merkte, daß die Müllbeseitigungsmaschine surrte und ging hinüber, um sie abzustellen.
»Komisch«, sagte ich. »Anscheinend habe ich vergessen, sie auszuschalten.«
»Mach dir keine Gedanken drüber«, murmelte Großvater Orville nervös. »Sag mal, George - die haben da doch keine Abzugsrohre eingebaut, während ich weg war?«
»Nein, Großvater«, antwortete ich. »Wir haben immer noch den alten trockenen Brunnen und die stinkende Zisterne.«
»Wie dumm!« meinte er. »Nun, aber das ist ja nicht so wichtig.«
Ich hatte ihm nicht so genau zugehört, denn ich merkte, daß der Boden glatt war und seltsam glänzte.
»Großvater«, sagte ich, »du hättest den Boden nicht aufwaschen müssen. Ich komme schon zurecht - obwohl das Personal weggelaufen ist, als.«
»Laß mich mit dem Personal zufrieden!« stieß er mürrisch hervor. »George, ich habe nachgedacht. Ich muß dir eine ganze Menge erklären, aber jetzt ist nicht der geeignete Zeitpunkt dazu, und vielleicht kann dir das dein Dad auch besser erklären. Er kennt dich ja auch viel besser als ich. Ehrlich gesagt, George, ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken müßte - so daß du mich verstehen würdest. Hast du jemals bemerkt, daß wir Dexters ein bißchen anders sind als der Rest der Menschheit?«
»Nun, wir sind ziemlich reich.«
»Das meine ich nicht. Zum Beispiel damals, als du noch ein kleiner Junge warst und von einem Laster überfahren wurdest -ist dir da nichts aufgefallen? th meine - wie schnell du wieder auf den Beinen warst?«
»Eigentlich nicht, Großvater«, sagte ich und dachte an jene Zeit zurück. »Dad erzählte mir, daß alle Dexters schnell gesund werden, wenn ihnen mal was fehlt.« Ich bückte mich und sah unter den Tisch, an dem Großvater Orville saß.
»Oh, da liegen ja alte Kleider! Ist das nicht der gleiche Anzug, den auch Mr. Upshur getragen hat?«
Großvater Orville zuckte müde mit den Schultern. »Er hat ihn für dich liegengelassen«, erklärte er. »Und jetzt stell mir keine Fragen mehr, denn ich muß für eine Weile weggehen und bin schon spät dran. Wenn dein Onkel Wayne zurückkommt, sag ihm, ich möchte mich vielmals bedanken, weil er mir mitgeteilt hat, daß Mr. Upshur hier war. Ich werde deinem Dad Grüße von dir ausrichten, wenn wir uns zufällig treffen.«
Nun, das war im letzten Winter. Ich wünschte, Großvater würde bald zurückkommen, damit ich aufhören könnte, mir über das Problem Sorgen zu machen, das er mir aufgehalst hat.
Lucille war über ihre Wut damals nicht hinweggekommen, und so heiratete ich Mitte Februar Alice. Ich hätte gern ein paar Verwandte bei der Hochzeit dabei gehabt, aber damals war niemand in der Stadt - seither übrigens auch nicht, aber das spielte keine Rolle, weil ich ja volljährig war.
Ich war mit Alice von Anfang an glücklich, und was noch wichtiger war - jetzt weiß ich auch, was Großvater und Mr. Upshur mir zu erklären versucht hatten - ich meine, was uns Dexters betrifft.
Alice ist sehr hübsch und eine wunderbare Hausfrau. Das ist ein großer Vorteil, denn es ist mir nicht gelungen, auch nur einen einzigen von unseren Dienstboten zurückzuholen. In gewisser Weise ist das gut so, denn Alice ist im Haushalt vollauf beschäftigt und kommt nicht auf dumme Gedanken.
Aber jetzt wird das Wetter besser, und ich muß höllisch aufpassen, daß sie nicht auf die dritte Terrasse geht - zum trockenen Brunnen und zur Zisterne. Wenn sie dorthin geht, wird sie den Lärm hören. Er will unbedingt raus, und deshalb macht er sehr viel Lärm.
Ich weiß nicht. Vielleicht wäre es das beste, den steinernen Deckel von der Zisterne zu schieben und ihn rauszulassen.
Aber ich fürchte, er wird verdammt böse sein.