7


Die Röhre hatte einen Durchmesser von sechs Metern. Sie begann irgendwo an einem Ende der Welt und endete am anderen Ende, und auf dem Weg dorthin zog sie an einem Bahnsteig in der Nähe der Bauhangars vorbei. Die sechs Magnetschienen an den Wänden wandten sich in einer leicht geschwungenen Linie zum Horizont, was in diesem Fall der Reichweite ihrer Scheinwerfer entsprach.

Die Beschriftung an der Wandseite gegenüber dem Bahnsteig war rätselhaft, aber eindeutig menschlichen Ursprungs. Auf dem ersten Kilometer befanden sich zwischen den Magnetschienen in regelmäßigen Abständen kleine Leuchtröhren, die nach beiden Seiten hin einen Abschnitt der Röhre in ein seltsam mattes Licht tauchten. Keine der Leuchtröhren war defekt oder abgeschaltet, und irgendwie war dieser Umstand beunruhigend.

Die Röhre selbst war luftleer, um den Kabinen weniger Reibungswiderstand entgegenzusetzen. Ein Vakuum war auf dem Mond billig zu haben und leicht herzustellen; man mußte nur hin und wieder ein Loch in die oberirdische Röhre stanzen oder einen Schlauch legen, wenn die Transportröhre unterirdisch verlief. Eine dicke Wand mit Fenstern aus Panzerglas trennte den Bahnsteig vom Röhreninneren, und eine Druckschleuse mit einem Ziehharmonikaschlauch stellte die Verbindung zu den Kabinen her, sofern sich welche auf dem Bahnsteig befanden.

Im Moment war der Bahnsteig leer. Charity hatte nach kurzem Zögern auf die Ruftasten gedrückt, und seitdem warteten sie. Es war immerhin schon fünf Minuten her, und langsam kam sie sich ein wenig lächerlich vor. Der Gedanke, in einer seit sechzig Jahren verlassenen Basis auf einen Zug zu warten, der nicht kam, hatte etwas von einem modernen Theaterstück an sich. Was auf die gesamte Basis zuzutreffen schien, die wie die Kulisse einer gewaltigen, absurden Geisterbahn wirkte. Sie hatten keine weiteren Bomben gefunden, aber zahlreiche Türen, die sich nicht öffnen ließen, während andere sich in unpassenden Momenten von allein schlossen. In einigen Abschnitten war die Luft mit Resten von Wasserstoffgas oder Methan versetzt gewesen. In einem anderen Mischungsverhältnis hätte das zu heftigen Explosionen geführt. Rolltreppen bewegten sich in die falsche Richtung, Laufbänder blieben plötzlich stehen, und hin und wieder fanden sie sich in Räumen wieder, die völlig luftleer waren. Sie hatten es nicht gewagt, die Anzüge zu öffnen. Charity hätte es nicht überrascht, wenn plötzlich Nervengas aus der Belüftungsanlage geströmt wäre oder wenn irgend jemand eine hochaktive Säure in die Sprinkleranlage geleitet hätte.

Sie sah zu Estevez hinüber, die einen Sensor an eine Glasscheibe geheftet hatte, der per Kabel mit ihrem Helm verbunden war. »Irgendeine Bewegung?« fragte sie, vermutlich zum fünften Mal.

»Nichts zu hören«, kam die gleichmütige Antwort.

»Großartig«, sagte Skudder. »Nur gut, daß wir nicht auch den Weg bis zum Mond zu Fuß zurücklegen mußten.«

»Kommt noch«, erwiderte Charity ohne Humor. »Was den Rückweg betrifft, werden wir wohl noch einmal darüber nachdenken müssen.«

Darauf hatte niemand eine Antwort, und die Gesichter wirkten plötzlich noch angespannter. Charity bedauerte ihre Bemerkung. Es hatte wenig Sinn, ihren momentanen Problemen noch zukünftige hinzuzufügen.

»Wohin führt uns diese Bahn überhaupt?« fragte Skudder nach einer Weile.

»Direkt in die Zentrale, hoffe ich. Diese Röhren laufen wie die Speichen eines Rades in acht oder zehn Richtungen, aber sie sind verschieden lang.« Sie seufzte. »Wenn die erste Kabine in die falsche Richtung fährt, dann werden wir irgendwo draußen im Tagebau-Gebiet landen. Weiter draußen, wenn wir eine der Ost-Achsen erwischt haben.«

»Können Sie die Bezeichnung nicht klären?« fragte Harris und deutete auf die kryptische Bahnsteig-Beschriftung.

»Tut mir leid, nein.« Charity hob die Hand zu einer Geste der Hilflosigkeit. »Die Codierung ist nicht aus meiner Zeit. Ich habe die Mondbasis drei oder vier Jahre vor der Invasion das letzte Mal betreten.« Der Satz weckte Erinnerungen, auf die sie gerne verzichtet hätte. »Ist nicht gerade die schönste Zeit meines Lebens gewesen. Und dieses Geschmiere da sieht aus, als hätten sie es erst kurz vor Schluß angebracht.«

Skudder sah sie von der Seite an, und ein Gefühl der Wärme stieg in ihr auf, als sie es bemerkte. Sie lächelte ihm zu.

»Hier ist eine Karte«, sagte Dubois, die sich seit einigen Minuten am Fahrkarten-Terminal zu schaffen gemacht hatte. Sie hatte die Verkleidung aus ihren Halterungen gelöst und die Verkabelung freigelegt, und anscheinend hatte sie die Leitungen gefunden, die das Terminal mit dem Zentralcomputer verbunden hatten. Henderson stand daneben und reichte hin und wieder eines der elektronischen Werkzeuge an.

»Haben Sie das Terminal abkoppeln können?« fragte Charity überrascht.

»Ja.« Dubois tippte auf den Bildschirm, der inmitten des freiliegenden Kabelgewirrs hing. »Es funktioniert wieder.«

»Nur Fahrkarten können wir keine mehr kaufen«, murmelte Skudder.

»Witzbold«, versetzte Charity. »Das bedeutet, daß alle Systeme vom Zentralcomputer aus blockiert worden sind, ganz egal, ob Terminals, Schleusenkontrollen, Zugangstüren oder Sicherheitsschotts.«

»Unsere Freunde sind also in der Zentrale«, folgerte Harris.

»Oder sind zumindest dort gewesen«, stimmte Charity zu. »Ich frage mich, ob Stone den Moroni diese detaillierten Kenntnisse über die MacDonald-Systeme verschafft hat, in der guten alten Zeit, als er noch exklusiv für sie gearbeitet hat.« Sie registriert beiläufig den Blick, den sich Harris und Dubois zuwarfen.

»Achtung«, sagte Estevez in die Pause hinein.

»Was ist?«

Die Frau runzelte die Stirn. Ihre behandschuhten Finger stellten schwerfällig einen Regler nach. »Ich höre etwas«, sagte sie.

»Na endlich«, meinte Skudder erleichtert.

»Moment noch.« Sie hob die Hand, starrte durch die Glasscheibe, während sie einen anderen Drehknopf an der Kinnseite ihres Helms benutzte.

»Es kommt nicht aus der Röhre«, sagte sie dann.

Charity löste ihre Waffe aus der Befestigung hinter der rechten Schulter. Die anderen taten es ihr nach. Je zwei von ihnen blickten in verschiedene Zugangsflure zum Bahnsteig.

»Nichts«, sagte Harris von der einen Tür her. Charity stand neben Skudder und versuchte verzweifelt, ein klares Bild zu bekommen. Das Kabel hatte in der Schleusenkammer etwas abbekommen, und ihre Zielanzeige flackerte von Zeit zu Zeit. Sie konnte nur hoffen, daß der Wackelkontakt nicht gerade in den entscheidenden Sekunden auftrat.

»Ich sehe nichts«, sagte Skudder nach einer Weile. Er zögerte. Die Biegung war nur sechs Meter von ihnen entfernt, und sie konnten den nachfolgenden Abschnitt nicht einsehen.

»Was ist los?« fragte sie.

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte er. »Ich werfe einen Blick um die Ecke. Gib mir Deckung.« Er warf ihr einen Blick zu und tippte mit dem Zeigefinger auf ihre lädierte Waffe.

»Aber paß auf, wohin du zielst.«

Er war schon losgegangen, bevor sie einen Einwand erheben konnte. Während er sich der Biegung näherte, schaltete sie versuchsweise ihre Mikrofonanlage um. Seine Schritte dröhnten in ihren Ohren, unterlegt von ihrem eigenen Herzschlag und Atem und dem sirrenden Geräusch von insgesamt fünf Tornisterpumpen, die auf dem Bahnsteig verteilt waren. Es war ihr rätselhaft, wie Estevez trotz aller Filter in diesem Wirrwarr etwas zu erkennen glaubte.

Skudder erreichte die Biegung. Er ging in die Hocke und nahm die Waffe eng an den Körper, bevor er regungslos verharrte. Sie fragte sich schon, worauf er wartete, als er plötzlich blitzartig nach vorn schnellte. Die Waffe im Anschlag, sah er in den Gang hinein. Sie erkannte noch, daß sich sein Körper etwas entspannte, dann ging alles sehr schnell.

Ein dicker Strahl einer weißlichen Flüssigkeit traf ihn und verklebte seinen Helm. Instinktiv hatte er die Waffe hochgerissen, aber sie entglitt seinen verklebten Fingern. Das Kabel zu seinem Helm spannte sich und riß mit einem hellen Glockenton. Die zähe Masse schäumte auf, sobald sie den Druckanzug berührte, und bildete dampfende Pfützen auf dem Boden.

»NEEEIHNNN«, schrie sie und rannte los. Ein dunkler, schwarzer Schatten glitt um die Biegung, und sie hatte einen flüchtigen Eindruck von schlängelnden, zupackenden Armen und einem dicken, wulstigen Körper. Skudder konnte sich losreißen und taumelte in ihre Richtung, wischte mit den Handschuhen hilflos über die geblendete Sichtscheibe seines Helms. Ein schwarzer Arm traf seine rechte Wade, und das Bein knickte unter ihm zusammen. Charity blieb stehen und brachte die Waffe in Anschlag. Ihre Zielanzeige flackerte kurz in allen Farben und weigerte sich dann, von ihrem Gegner Kenntnis zu nehmen. Mit einem erstickten Fluch löste sie eine Hochgeschwindigkeitssalve von kleinen Wuchtgeschossen aus. Die Projektile rissen große Flocken von Schaum aus der weißen, quellenden Masse, und sie sah noch, wie einer der tentakelartigen Arme einfach abgerissen wurde, dann schlug ihr ein dicker Strahl der weißlichen Flüssigkeit entgegen und riß sie einfach von den Beinen.

Das Zeug war glitschig wie Schmierseife. Sie versuchte mit panischer Hast, wieder auf die Beine zu kommen, und glitt wieder aus. Ihre Stiefel fanden keinen Halt. Sie verzichtete auf den vergeblichen Versuch, ihren Helm von der klebrigen Masse zu befreien, nachdem schon Skudder keinen Erfolg damit gehabt hatte, und versuchte, sich dorthin zu schieben, wo sie Skudder vermutete. Ihre Waffe hatte sie bei dem Sturz verloren, aber diesmal hatte das Kabel gehalten, und als sie wieder ausrutschte, hatte sie plötzlich wieder eine Zielanzeige. Im Infrarot war das widerliche Zeug in einem schönen Dunkelblau dargestellt, entsprechend einer erstaunlich niedrigen Temperatur, und drei rote Gestalten bewegten sich am Rand des Gesichtsfeldes. Sie erkannte eine gelbe Linie, die von einer der Gestalten über sie hinwegzuckte, und ihr verklebtes Mikrofon übertrug die Einschlaggeräusche von weiteren Geschossen. Sie fuhr mit der Hand zu der Buchse herunter und dann an dem Kabel entlang, und es gelang ihr, das Kolbenmagazin der Waffe zu packen. Hastig zog sie das Gewehr zu sich heran und drehte es in die andere Richtung. Skudder war als teils gelb, teils grüne Gestalt zu erkennen, und hinter ihm erhob sich ein grüner, erschreckender Umriß, der auf den ersten Blick an einen Kraken oder eine Spinne erinnerte, wie der Kopf einer riesigen Medusa, mit Schlangenarmen, die wild nach allen Seiten peitschten und sich in Skudders Beine verschlungen hatten.

Dann tanzten gelbe Lichter über den Medusenkopf, und weitere Arme fielen ab, verharrten reglos oder verkürzten sich plötzlich. Sie rappelte sich mühsam auf die Knie und hob die Waffe an. Der eigentliche Körper des Wesens war ein massiver Block, der halb in der schäumenden blauen Masse verborgen war. Bevor sie abdrücken konnte, peitschten zwei grüne Arme auf sie zu, und das geisterhafte Infrarotbild verschwand. Sie wurde nach vorn gerissen.

»Ich bin's«, rief sie noch, als der Stiefel sie schon an einer Stelle traf, wo es wirklich weh tat. Sie schnappte nach Luft, spürte, wie Skudder sie packte, und erwartete weitere Schläge, aber entweder hatte er begriffen, oder er hatte zu viele eigene Probleme, um sie weiter zu verprügeln. Dann schnürte ihr ein stählerner Arm den Hals ab, und sie hörte, wie der massive Nackenring ihres Helms knirschte. Instinktiv packte sie den glitschigen Arm mit beiden Händen und riß heftig daran. Der Ruck katapultierte sie auf das Wesen zu, und der mörderische Zug ließ nach, bevor der Helm zerbrechen konnte. Sie zog sich weiter, bis sie gegen den Block stieß. Eine schwere Explosion schüttelte sie durch, und irgend etwas, das flach, dünn und schwer war, fiel mit der Kante auf sie und ihren Gegner herab. Dubois, dachte sie wütend, und die Wut verlieh ihr neue Kräfte. Sie hielt sich am Ansatz des Arms fest, der mit einigen anderen zusammen auf sie einpeitschte, ignorierte die Schläge, die ihren Rückentornister trafen, und befreite mühsam ihre Handwaffe aus dem Gürtelholster. Ihre glitschigen Finger glitten dreimal vom Verschluß ab. Ein Stoß traf sie in der Nierengegend, und der neue Schmerz ließ sie aus vollem Halse schreien. Sie trat mit dem Stiefel nach dem Körper des Wesens, traf etwas, das deutlich metallisch widerhallte, und stieß mit der Mündung der Handwaffe in diese Richtung. Die Pistole verschoß Projektile und Laserpulse, und sie zog beide Auslöser durch, verschoß das gesamte Magazin und entleerte die Batterie innerhalb zweier Herzschläge eine Handbreit neben ihren Stiefel.

Die heftigen Zuckungen schleuderten sie gegen die Wand, und die nachfolgende Explosion ließ sie über den verschmierten Boden schlittern, bis sie irgend jemand von den Beinen riß und dadurch selbst zum Halten kam. Etwas, das sie wenig später als einen Wasserschwall erkennen konnte, brandete über sie hinweg, und dann regnete es plötzlich mit schweren, großen Tropfen, die kleine, glasklare Löcher in den dichten Schmierschleier auf ihrem Helm bohrten. Eine Weile war es sehr, sehr ruhig.

»Lebe ich noch?« fragte sie nach einiger Zeit. Sie lag auf dem Rücken, und inzwischen konnte sie über sich an der Decke die Ursache für den heftigen Regenschwall erkennen. Hunderte winziger Düsen der Feuerlöschanlage versprühten Löschwasser in den Flur.

Ein lauter Fluch antwortete ihr. »Natürlich«, sagte Harris. »Könnten Sie Ihren Fuß aus meinem Gesicht nehmen?«

»Rechts oder links?«

Eine Hand berührte sie am linken Fußgelenk. Sie zog vorsichtig das Bein an, während sie zugleich mit den Händen über das Helmvisier rieb. Im ersten Moment verschlimmerte sich ihre Lage damit, aber mit Hilfe der Sprinkleranlage konnte sie den größten Teil des Schaums entfernen.

Harris war wieder auf den Beinen, und Dubois und Estevez waren bei ihm. Sie sah sich hastig nach Skudder um und fand ihn nicht weit entfernt, mit dem Rücken an der Wand, den Kopf im Helm in den Nacken gelegt, so, als wollte er mit offenem Mund den Regen fangen. Sie atmete hörbar auf, und er warf ihr einen belustigten Blick zu und schwenkte eine längliche, schwarze Trophäe.

»Sieh mal«, sagte er und schubste den abgerissenen Arm in ihre Richtung. Das Ding drehte sich auf dem glitschigen Boden zweimal um sich selbst. Sie sah es an, blickte dann den Gang hinunter. Explosivgeschosse hatten Deckenverkleidung und Wandplatten aus ihren Befestigungen gerissen, und die Reste versanken langsam in der riesigen Schaummasse, die inzwischen den gesamten Gang ausfüllte. Es sah aus, als habe jemand einen Lastwagen voller Waschmittel in einen riesigen Küchenmixer gefüllt. Eingerahmt von Schaum und Ruß lag bewegungslos die aufgerissene Hülle einer meterhohen Maschine, deren Greifarme kraftlos zu Boden gesunken waren.

»Eine Reinigungsmaschine«, sagte Harris fassungslos. »Wir haben eine Reinigungsmaschine erlegt.«

»Kapitales Stück«, brachte Charity noch heraus, ehe sie in hysterisches Gelächter ausbrach. Das weiße Zeug auf ihrem Druckanzug erinnerte sie an Schmierseife. Ein paar große Flocken lösten sich von der Masse und schwebten in der niedrigen Schwerkraft, bis sie dort, wo die Sprinkleranlage nicht von Geschossen zertrümmert worden war, von Wasserstrahlen in Stücke gerissen wurden. Charity mußte wieder lachen.

»Was für eine Schaumschlägerei«, sagte Skudder, der in ihr Lachen einstimmte. »Sechs Bewaffnete gegen eine Reinigungsmaschine.«

»Wir haben uns nicht gerade mit Ruhm bekleckert«, stimmte Harris zu.

»Nein«, lachte Charity, »Ruhm kann man das wirklich nicht nennen.« Sie wischte mit dem Zeigefinger durch die seifige Schicht und pustete den entstehenden Schaum von der Fingerspitze.

»Hattest du nicht ein Bad nehmen wollen?« fragte Skudder, der sich vorbeugte und seine Waffe aus der aufquellenden Schaumlandschaft rettete.

»Hmmm«, machte sie und kam vorsichtig auf die Beine. Das Wasser bildete inzwischen große, zusammenhängende Pfützen. »Packen wir unsere Sachen und verziehen uns, bevor jemand einen Heizlüfter ins Badewasser wirft.«

Sie nahm die Pistole. Harris hatte ihr Gewehr gefunden und reichte es ihr wortlos. Sie wandte sich nach einem letzten Blick auf die Reste des Reinigungsroboters kopfschüttelnd ab und beeilte sich, aus dem bewässerten Teil des Gangs zu verschwinden. Der Bahnsteig war noch unversehrt und trocken, und sie wollte nicht in der Nähe sein, wenn das Wasser irgendwelche Teile der Stromversorgung erreichte. Sie war versucht, Dubois wegen des Feuerzaubers zu maßregeln, aber nachdem sie selbst auch nicht gerade Präzisionsarbeit geleistet hatte, war dies wohl weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt.

»Hoffentlich bekommen wir eines Tages nicht noch richtigen Ärger«, sagte sie zu Skudder, der neben ihr stehengeblieben war. Sie hinkte leicht. Dort, wo er sie getreten hatte, würde sie einen prachtvollen blauen Fleck bekommen.

Skudder schien es nicht viel besser zu gehen. »Wir haben jedenfalls alle Chancen dazu«, sagte er müde und deutete mit der Hand auf etwas hinter ihrem Rücken. Sie sah sich um und erkannte einen dunklen Schatten hinter den Glasscheiben. Die Schleuse des Bahnsteigs hatte sich unbemerkt geöffnet.

»Die Kabine ist da«, sagte Harris überflüssigerweise. In diesem Moment gab es einen lauten Knall, und der Transportschlitten sackte mit der vorderen Ecke bis auf den Boden herab.

Wer immer Reinigungsroboter umprogrammiert und Schleusen vermint hatte, die Autorisierungscodes für das Transportsystem hatten sich nicht verändert. Es gelang Charity, die Kabine mit einer sechzig Jahre alten Priorität auf Handkontrolle umzuschalten. Sie wählte einen Bahnsteig in der Nähe der Zentrale, genau eine Haltestelle vor dem Zentralterminal selbst. Wenn es weitere Fallen gab, dann auf jeden Fall dort.

Die Kabine bewegte sich völlig lautlos im Röhrenvakuum, gehalten und angetrieben von starken Magnetfelder, die sogar die kleinen Displays in ihrem Helm verzerrten. Die Frontseite hatte zwei Fenster, und die Röhrenbeleuchtung wanderte wie eine geisterhafte Bugwelle vor ihnen her und zeigte ihnen einen immer gleich langen, unveränderlich wirkenden Ausschnitt der Röhre. Charity hätte jedes Gefühl für die Bewegung verloren, hätte es nicht immer wieder ausgefallene oder flackernde Leuchtkörper gegeben, die es gestatteten, einen Röhrenabschnitt vom nächsten zu unterscheiden. Die Kabine konnte dreifache Schallgeschwindigkeit erreichen, aber sie hatte die Höchstgeschwindigkeit sicherheitshalber auf zwanzig Kilometer pro Stunde begrenzt. Der Vorfall mit der Reinigungsmaschine steckte ihnen allen in den Knochen.

»Paranoia«, sagte sie halblaut zu Skudder, der neben ihr stand, den Blick wie in Trance auf die aufeinanderzulaufenden Linien von Leuchtkörpern gerichtet.

Er riß sich von dem eintönigen Anblick los. »Du traust der Ruhe nicht.«

»Und warte auf eine Mauer, die plötzlich vor uns auftaucht, oder eine Tretmine, die jemand in die Röhre gelegt hat.« Sie lachte sarkastisch. »Oder acht Kubikmeter Schlagsahne, die uns die Frontscheibe verklebt. Das alles hier ist total verrückt. Improvisierte Bomben, verrückt gewordene Maschinen ... Ich frage mich, was als nächstes kommt.« Bei diesen Worten fiel ihr der Würfel ein, der nicht weit von ihnen zwischen zwei Sitzreihen abgestellt worden war. Die kleine Lampe an der Frontseite wirkte wie ein böses kleines Auge. Charity zweifelte nicht daran, daß sie nur aus psychologischen Gründen an dem Computer angebracht worden war, um die Menschen daran zu erinnern, daß er ständig mithörte und daß er vermutlich erstklassige Ohren besaß. Die besten Ohren, die man bauen konnte.

»Es ergibt überhaupt keinen Sinn«, sagte Charity.

»Ganz genau.« Sie tippte sich mit dem Finger an das Helmvisier. Solange sie in der Vakuumröhre waren, wollte keiner von ihnen riskieren, mit einem offenen Anzug von einem Leck überrascht zu werden. Dekompression brachte keinen schönen Tod, und das Ende kam längst nicht so schnell wie der Druckverlust selbst. »Es ergibt keinen Sinn, und wir ziehen den Kopf ein, soweit wir können.«

»Wieviel haben wir noch vor uns?« fragte der Indianer. Sie warf einen Blick zu den Kontrollen neben der Zugangstür. Harris, Henderson und Dubois behielten die Bildschirme im Auge, während Estevez vor den Fenstern am anderen Ende der Kabine stand. Der Blick nach hinten hatte Charity seekrank werden lassen, aber der Frau machte er anscheinend nichts aus. Sie fragte sich, ob es überhaupt irgend etwas gab, das Estevez aus der Ruhe bringen konnte. Die Bombe, die Harris und sie dort hinten abgestellt hatten, vermochte es jedenfalls nicht.

»Zwei Kilometer«, sagte sie dann. »Den Rest könnten wir fast zu Fuß gehen.«

»Kein guter Gedanke.«

»Ja, vermutlich nicht.« Sie dachte an den Transportschlitten, der gerade lange genug durchgehalten hatte, und an den Weg, den sie hinter sich hatten. Dann murmelte sie einen halblauten Fluch. »Ich würde wirklich gerne wissen, wieviel gemeingefährlicher Blödsinn uns auf dem Weg noch begegnet wäre«, fügte sie dann hinzu.

»Deine Neugier wird dich noch mal den Kopf kosten«, versetzte Skudder. »Oder zumindest ein paar Barthaare.«

»Wie bitte?« fragte Harris, der zu ihnen herübersah.

»Eine Redewendung«, erklärte Charity müde. »Neugier war der Katze Tod.«

»Ach so.«

Sie warf einen mißmutigen Blick auf ihn und die anderen Soldaten. »Baseballfans haben anscheinend einen kleinen Wortschatz«, sagte sie boshaft.

»Wahrscheinlich, weil die Schach-Eröffnungen soviel Platz im Kopf beanspruchen«, meinte Skudder leichthin und trat ihr unbemerkt gegen das Schienbein. Sie warf ihm einen entrüsteten Blick zu, hielt aber den Mund, als er sie warnend anblickte. In der Reflexion seines Helmvisiers erkannte sie Dubois, die noch immer zu ihnen herübersah, und unwillkürlich stellten sich ihre Nackenhaare auf. Von einem Augenblick zum anderen wußte sie, daß sie Dubois in Zukunft nicht mehr den Rücken zuwenden würde.

»Paranoia«, sagte sie. »Ich glaube, wir sollten wirklich eine Spielunterbrechung beantragen.«

»Ich sehe keinen Schiedsrichter«, erwiderte Skudder, und das war eine deutliche Warnung.

Im nächsten Moment stand abrupt die Kabine still, und sie stürzten übereinander.

»Verdammt«, stieß Charity hervor, als sie wieder atmen konnte. »Ich hab's gewußt.«

»Großartig«, ächzte Skudder, der das Pech hatte, zwischen ihr und der Frontscheibe eingeklemmt worden zu sein. »Könntest du bitte deinen Ellenbogen aus meinen Eingeweiden ziehen?«

Sie plagte sich wortlos auf. Ihr linkes Knie knickte ein, und nachdem sie es vorsichtig wieder belastet hatte, hatte sie die traurige Gewißheit, daß zu ihren übrigen Blessuren noch eine gründliche Verstauchung hinzugekommen war.

Skudders Gesicht wirkte trotz der getönten Helmscheibe ziemlich farblos.

»Ist irgendwas gebrochen?« erkundigte sie sich erschrocken. Er schüttelte langsam den Kopf. Sie sah sich nach Dubois um, entdeckte sie zwischen zwei Sitzreihen. Harris hing halb bewußtlos an der Konsole, die unter seinem Aufprall die Frontverkleidung verloren hatte. Estevez hatte den weitesten Weg zurückgelegt, über die hinteren drei Sitzreihen hinweg, und die Bombe war ihr ein gutes Stück weit gefolgt. Der einzige, dem anscheinend nichts zugestoßen war, schien Henderson zu sein. Vermutlich hatte er Übung in solchen Dingen.

»Alles in Ordnung?« fragte Charity laut und humpelte an der ersten Sitzreihe vorbei.

»Bei mir schon«, sagte Dubois, die inzwischen wieder auf den Beinen war.

»Kümmern Sie sich um Harris«, sagte Charity und beugte sich über Estevez. Die Augen der Frau waren weit geöffnet, und im ersten Moment dachte sie, Estevez habe sich das Genick gebrochen, aber als Charity sie an der Schulter berührte, blinzelte sie plötzlich und richtete den Blick auf Charitys Gesicht. Es war, als habe man eine Maschine wieder eingeschaltet, die sich sekundenlang selbst blockiert hatte. Unwillkürlich fuhr Charity zurück. Estevez ignorierte ihre Reaktion. Sie kam ohne Hilfe auf die Beine.

»Die Bombe«, sagte sie dann.

Charity begegnete ihrem beunruhigenden Blick und nickte. Sie fühlte sich regelrecht erleichtert, als Estevez sich umdrehte und zu dem Behälter ging, der wie ein großes Geschoß in die Sitzreihe eingeschlagen war.

»Wo sind wir?« fragte Skudder. Er lehnte mit dem Rücken an der Frontscheibe, und seine Stimme klang noch immer ziemlich gepreßt.

»Hundert Meter vor unserer Haltestelle«, antwortete sie grimmig und deutete an ihm vorbei. Vor ihnen in der Röhre leuchtete ein Bahnsteig. Die Ausstiegröhre ragte einen Meter weit in die Vakuumröhre hinein, und das rote Licht an der geschlossenen Türschleuse blinkte regelmäßig.

»Warum haben wir gehalten?« fragte Dubois.

»Keine Ahnung«, sagte Charity unhöflich. »Es war nicht meine Idee.«

»Irgendeine Fangschaltung«, sagte Harris, der sich auf Dubois stützten mußte. »Die Konsole hat nichts angezeigt, also muß es draußen passiert sein.«

»Direkt in die Magnetschienen verdrahtet«, stimmte Charity zu. »Wenn wir schneller gewesen wären, dann würden unsere Überreste da vorne liegen, vom Bahnsteig aus zur Besichtigung freigegeben.«

»Du bist vielleicht paranoid, aber deshalb mußt du dich noch lange nicht irren«, scherzte Skudder mühsam.

»Das ist wirklich sehr witzig«, sagte sie, und der harsche Tonfall in ihrer Stimme überdeckte ihre Sorge. Skudder wirkte ziemlich angeschlagen. Sie trat an die Konsole heran, die erstaunlicherweise noch funktionierte, obwohl sie sich unter Harris' Aufprall verformt hatte.

»Versuchen wir, ob wir die letzten Meter auch noch schaffen«, sagte sie.

»Ich komme mir vor wie in einer riesigen Kanone«, murmelte Henderson, der durch die Frontscheiben in die taghell erleuchtete Vakuumröhre starrte. Der Vergleich war unglaublich ermutigend.

»Halten Sie den Mund«, versetzte Charity knapp.

Die Kabine setzte sich mit einem merklichen Ruck wieder in Bewegung. Der Zylinder schob sich wie eine überdimensionale Konservendose in die Station hinein. Das Licht aus dem luftgefüllten Bereich auf der anderen Seite der großen Panoramascheiben glitt durch die Kabine, deren Innenbeleuchtung bei der Notbremsung zu schwachem Rot gewechselt hatte. Charitys rechte Hand schwebte dicht über dem Notschalter, und sie beobachtete aufmerksam die Geschwindigkeitsanzeige. Die anderen sammelten schweigend die herumliegende Ausrüstung und die Waffen ein. Harris schnallte sich mit Estevez' Hilfe die Bombe auf den Rücken, eine Last, die er nur aufgrund der niedrigen Mondschwerkraft bewältigen konnte, und Skudder nahm den Taktikcomputer.

Der Koppelschlauch der Schleuse passierte das vordere Ende der Kabine. Charity überließ der automatischen Kontrolle das Andockmanöver, aber sie hielt sich bereit, den Vorgang jederzeit zu unterbrechen. Instinktiv überprüfte sie Helm und Anzug. Wenn sich die Schleuse statt auf den Bahnsteig ins Vakuum öffnen sollte, würde die Kabine innerhalb von Sekundenbruchteilen luftleer sein. Ohne Druckanzug hätte keiner von ihnen den Hauch einer Chance. Die Kabine hielt an, und außen am Zylinder scharrten mechanische Kontakte und schlossen sich. Die Lichtanzeige über der Tür wechselte auf Grün.

Charity legte das System mit dem Notschalter still. »Das war's«, sagte sie überflüssigerweise. »Dubois, machen Sie die Tür auf.«

Die Frau gehorchte wortlos, ihr Gewehr entsichert und im Anschlag. Vor ein paar Stunden noch hätte Charity sie deshalb gestoppt, aber nach dem Zwischenfall mit der Reinigungsmaschine sah sie keinen Grund mehr dazu. Sie selbst ertappte sich immer wieder dabei, sich an ihrer ramponierten Waffe festzuhalten, als böte sie irgendeine Sicherheit.

Die Kabinentür glitt auf, und gleich darauf öffnete sich die Schleusentür zum Bahnsteig, der hell, großräumig und völlig verlassen vor ihnen lag. Charity trat neben Dubois und musterte mißtrauisch Boden, Decke und Wände. Die Plastikverkleidung hatte in den vergangenen sechzig Jahren weniger gelitten als in den fünf Jahren, die die Basis in menschlicher Hand gewesen waren, aber die früher weiße Farbe hatte inzwischen einen deutlich gelben Ton angenommen.

»Achten Sie auf Schaumspuren«, sagte Charity, bevor sie an Dubois vorbei in die Schleuse trat. Die Frau hatte den scherzhaften Unterton offensichtlich nicht mitbekommen und sah irritiert hinter ihr her, und Charity hatte die Mündung von Dubois' Waffe nicht mehr im Rücken, bevor diese die Fassung wiedergefunden hatte.

Sie hörte Skudders Lachen über Funk und lächelte flüchtig, während sie im geisterhaften Licht ihrer Infrarot-Zielanzeige den Bahnsteig absuchte. Das kleine rechteckige Display war wie ein kleines Fenster in eine gefährlichere, fremdartige Welt, aber es zeigte nicht mehr als ein beruhigend gleichmäßiges, kaltes Blau. Neben ihr scharrten Stiefel über den Bahnsteig, und Dubois schloß zu ihr auf.

Der Bahnsteig war nicht so groß wie der Terminal an der Kommandozentrale der MacDonald-Basis, aber er hatte die Ausmaße einer kleineren Sporthalle, und es gab auf der gegenüberliegenden Seite noch eine weitere Vakuumröhre. Mehrere Rolltreppen führten zu höhergelegenen und tieferen Ebenen, drei offene Fahrstühle mit fast vollständig verglasten Aufzugkabinen ragten in der Mitte der Halle wie eine tragende Säule zur Decke empor, die sich in zehn Meter Höhe öffnete. Laufbänder führten zu den sternförmig auseinanderlaufenden Gängen, die neben den Transportbändern auch noch vier Meter breite Gehsteige für Fußgänger und eine abgeteilte Bahn für die kleinen sechsrädrigen Elektrofahrzeuge aufwiesen. Trotzdem waren die Bahnsteige während der Schichtwechsel vor sechzig Jahren ständig überlastet gewesen. Es erinnerte sie daran, wie viele Menschen es hier einmal gegeben hatte, die große Hoffnungen auf die unwirtliche Rückseite des Mondes geführt hatten. Charity dachte an ihre eigenen Hoffnungen, die sie veranlaßt hatten, mehrere Jahre ihres Lebens in diesem Getriebe zu verbringen, und spürte plötzlich einen schalen Geschmack auf der Zunge.

»Alles in Ordnung«, sagte sie laut und bedeutete Dubois mit der Hand, auf die andere Seite der Halle zu wechseln. »Beeilt euch. Ich will hier nicht zu lange bleiben. Schließlich hat uns irgend jemand hier angehalten, und ich nehme an, daß er sich dabei etwas gedacht hat.«

»Verstanden«, antwortete Harris geschäftsmäßig und duckte sich hinter ihr durch die Schleuse, seine Schritte ein wenig schwankend unter der Masse der Bombe. Er trug seinen Tornister mit der Luftversorgung in der Hand, weil er seine tödliche Last direkt an die Tragegurte seines Anzugs hatte hängen müssen. Estevez folgte direkt hinter ihm.

Charity versuchte, die verblichenen Beschriftungen an den Wänden zu identifizieren. Eine dieser Röhren führte direkt zum Zentralbereich und die beiden angrenzenden in die unmittelbare Nähe. Ihr Instinkt sagte ihr, daß es keine gute Idee sein dürfte, es mit dem direkten Weg zu versuchen. Sie erkannte einen der Boulevards parallel zur Vakuumröhre und gleich darauf den anderen, den sie gesucht hatte.

»Wohin?« fragte Skudder, der die anderen überholt hatte und neben ihr stehengeblieben war, während Henderson als letzter die Kabine verließ.

»Nord Zwei«, sagte sie und deutete mit dem Gewehr in die Richtung. »Lassen wir es langsam angehen.«

Sie gingen in einer weit auseinandergezogenen Reihe über den verlassenen Bahnsteig, Estevez ein paar Schritte vor den Panoramascheiben zur Transportröhre, dann Harris und Skudder; Charity und Dubois schritten auf der Außenseite. Zwei Leuchtkörper irgendwo vor ihnen flackerten unregelmäßig, und die Beleuchtung in mehreren der kleineren abzweigenden Gänge war ganz angeschaltet worden. Der Klang ihrer Stiefel hallte weit die leeren Gangröhren hinunter und kehrte abgeschwächt wieder zu ihnen zurück, wenn er von einem geschlossenen Schott reflektiert wurde.

Charity schaltete wieder auf Infrarot. Sie hatte sich während der Fahrt die Zeit genommen, die Kabelverbindung vom Gewehr und die Buchse am Helm zu überprüfen, und nach ein paar Minuten hatte sie den Anschluß wiederherstellen und den Wackelkontakt beheben können. Sie konzentrierte sich auf den breiten Weg vor ihnen. Der Gang beschrieb einen leichten Bogen und verschwand nach hundert Metern außer Sicht. Sie waren noch zwanzig Meter vom Eingang entfernt. In diesem Teil des Bahnhofs stand eine Menge Gerümpel herum, große Transportkisten, die offenbar gewaltsam geöffnet worden waren, und Kabeltrommeln. Anscheinend hatte das Personal noch irgendwelche Installationen vornehmen wollen und war durch die Invasion mitten in den Bauarbeiten unterbrochen worden. Werkzeugkisten standen an der Wand neben einem der kleinen Fahrzeuge, die für weitere Strecken benutzt worden waren, und eine große Platte war aus der Wandverkleidung gelöst worden. Im Infrarot war der Kabelschacht nur eine dunkelblaue Höhle mit ein paar hellblau glühenden Kabelbündeln und einem einzelnen blauen Lichtfleck.

Sie blieb stehen und schaltete auf Normalsicht zurück. Noch bevor das kleine blaue Licht in der Dunkelheit des Kabelschachtes sich in seiner echten, roten Farbe zeigte, stieß sie schon einen Warnschrei aus und ging in die Hocke. Neben ihr warf sich Skudder zu Boden, ein falscher Reflex, der ihn sekundenlang waagerecht in der Luft dahinsegeln ließ, während Harris sich unter dem Gewicht der Bombe einfach auf die Knie fallen ließ.

Ein paar Sekunden lang war es ruhig.

»Was ist los, verdammt?« fragte Skudder, der hinter eine der Ersatzteilkisten gerobbt war.

»Neben Nord Drei«, sagte Charity und spähte vorsichtig über den Rand der Rolltreppe hinweg, die ihr Deckung bot. »Der offene Schacht, auf der linken Seite.«

»Ich sehe es«, sagte Skudder. »Und weiter?«

»Das rote Licht«, sagte Charity. »Ich habe so ein Blinklicht schon einmal in dem Hangar gesehen. Als wir Steiner verloren haben.«

Die nächsten Sekunden erschienen ihr seltsam unwirklich. Aus den Augenwinkeln sah sie fast wie in Zeitlupe Dubois, die hinter einer Gruppe von Plastikcontainern kniete, ihr Gewehr ansetzte und mit tödlicher Gelassenheit auf den offenen Kabelschacht zielte. Sie öffnete noch den Mund und holte tief Luft, aber ihre Muskeln reagierten träge, gleichsam wie gelähmt, während sie hilflos mitansehen mußte, wie Dubois Maß nahm. Sie glaubte noch zu sehen, wie sich Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger gegen die Auslöser krümmten, und bevor sie noch ein Wort herauspressen konnte, schlug die Geschoßgarbe in die Wand ein, und die Kette von Explosionen übertönte brüllend jeden weiteren Laut. Splitter der Wandverkleidung und Teile der dahinterliegenden Verstrebung wirbelten durch die Luft. Dann folgte eine viel größere Explosion, vermutlich die Energiezellen der Anlage, die dort im Kabelschacht installiert gewesen war, und der größte Teil der Beleuchtung im Bahnhof fiel aus. Nur der Gang vor ihnen, der Eingang halb blockiert von qualmenden Trümmern, schimmerte noch in gleichmäßig weißgelbem Halogenlicht.

»Dubois!« schrie Charity ihre Wut hinaus. Die Frau wandte in ihrem Helm halb den Kopf, und ihre Blicke begegneten sich. Einen Moment lang dachte Charity, die andere würde auf sie schießen, und unwillkürlich richtete sie ihre eigene Waffe auf Dubois, aber der Moment ging vorbei, und bevor eine von ihnen die Gelegenheit bekam, irgend etwas zu sagen oder zu tun, eröffneten die drei anderen Laserkanonen, die über den Bahnsteig verteilt waren, aus ihren getarnten Positionen das Feuer.

Zehn Sekunden lang tobte ein Inferno aus schmelzendem Metall und berstendem Glas, und drei große Flächen des Bahnsteiges verwandelten sich in rauchende Wunden. Harris kam mühsam auf die Beine und hastete los, nutzte die Ladezeit der Kanonen, um sich in Sicherheit zu bringen. Zwei der Laserpulse hatten ihn nur knapp verfehlt. Skudder schob sich über eine Kante hinter ein Laufband, und Dubois löste sich von den zerschmolzenen Überresten der Plastikbehälter, die ihre Deckung gewesen waren. Ihre Stiefel zogen lange, schwarze Fäden, als sie die in der Hitze flüssig gewordenen Bodenplatten hinter sich ließ.

Dann kam die zweite Lasersalve, und das Rolltreppengeländer neben Charity zerplatzte. Die Hitzewelle ließ ihre Anzug-Kontrollen in warnendem Gelb aufleuchten, und eine kleine Leuchtschrift im Display informierte sie darüber, daß der Druckanzug unter allen Umständen sofort einer umfassenden Wartung unterzogen werden müßte. Sie ignorierte die Aufforderung, feuerte zwei Granaten auf die einzige Kanone, deren Standort sie in der Eile hatte erkennen können. Der Laserpuls hatte für einen winzigen Sekundenbruchteil eine glühende Bahn in die dichter werdenden Rauchschwaden geschnitten, die ihr die Richtung angezeigt hatte. Die Geschosse verfehlten die Kanone, die wie eine klobige, schwere Kamera auf einem niedrigen, massiven Dreibein kauerte, halb verborgen in den Resten ihrer Plastiktarnung. Der Doppelschlag der Explosion erschütterte die Aufzugsäulen in der Bahnhofsmitte und verteilte eine riesige Wolke feiner, glitzernder Glassplitter von einer Liftkabine in der Luft. Kabel lösten sich und fielen majestätisch langsam von der Decke herab, während Estevez auf dasselbe Ziel feuerte, trotz der größeren Entfernung mit größerem Erfolg. Die automatische Kanone verschwand in einem Feuerball, der sich schlagartig noch einmal aufhellte, als auch hier die Energiezelle barst. Die Druckwelle riß Charity einfach von den Beinen.

Als sie wieder hochkam, feuerten die beiden anderen Kanonen zum dritten Mal, brachen der Rolltreppe das stählerne Rückgrat und ließen das untere Drittel auseinanderfallen. Splitter wirbelten um Charity herum, während sie auf den Gang mit der Bezeichnung Nord Zwei lief, den Harris und Skudder bereits erreicht hatten. Irgend jemand, vermutete Henderson, schrie über Funk, ein Schrei, der plötzlich abgeschnitten wurde, als sein Funkgerät in einem knisternden Kurzschluß verbrannte. Dubois stand ein paar Meter entfernt, verteilte ihre gesamte Munition über die Plattform, auf der eine der beiden verbliebenen Kanonen stand, und dann feuerte die andere Kanone einen Puls, der Dubois verfehlte und statt dessen eine der Panoramascheiben an der Vakuumröhre traf.

Irgendwie schaffte Charity es, sich an einer der aus dem geborstenen Boden ragenden Trägerstreben festzuhalten. Der Sog riß schmerzhaft an Handgelenk, Ellenbogen und Schultergelenk, und sie spürte, daß ihr das Gelenk fast ausgekugelt worden wäre, und dann prallte irgend etwas, das die entweichende Luft mitgerissen hatte, schwer gegen ihre linke Seite und trieb ihr die Tränen in die Augen. Charity hörte ein hohes, unterirdisches Pfeifen, das sich in Frequenz und Lautstärke immer mehr steigerte, und als es an die Grenze ihres Hörvermögens gelangte und wieder leiser wurde, weil die verbleibende Luft immer dünner wurde, riskierte sie es, den Kopf zu heben. Der Bahnsteig sah aus, als würde er von einer Orkanböe leergefegt. Leere Behälter und Platten aus der Wandverkleidung bewegten sich wie von einem heftigen Wind erfaßt an ihr vorbei, auf die Panoramascheibe zu, die auf voller Länge zerborsten war. Sie hörte die dumpfen, grollenden Schläge, mit denen sich in der Vakuumröhre des Magnetbahnsystems die schweren Druckschotts schlössen, und die weniger lauten Geräusche der zufallenden Sicherheitstüren in den verschiedenen Gängen. Mühsam plagte sie sich auf die Knie. Dubois wankte ein paar Meter vor ihr auf den Gang zu, dessen Doppeltür sich wegen der von der Explosion verbogenen Bodenplatten nur schwerfällig bewegen konnte. Sie sah Henderson auf dem Rücken liegen. Der Druckanzug war brandgeschwärzt und qualmte noch immer. Charity stützte sich auf, aber die Knie gaben unter ihr nach. Sie sah sich vergeblich nach Estevez um, erinnerte sich schließlich daran, daß die Frau nur wenige Meter vor der geborstenen Panoramascheibe gestanden hatte. Sie entdeckte Fetzen des Druckanzuges zwischen den Trümmern der Transportkabine, die unter der Wucht der Explosion aufgerissen worden war. Estevez war so gestorben, wie sie gelebt hatte, unbemerkt und ohne Worte. Charity wandte sich ab und kämpfte die Übelkeit nieder. Der Anblick von Dubois, die inzwischen den Gang erreicht hatte, machte sie wütend, und die Wut verlieh ihr neue Kraft, ließ sie auf die Beine kommen und der allmählich schwächer werdenden Gewalt des Windes widerstehen. Die Wand halbrechts von ihr zerbarst plötzlich wie unter dem Faustschlag eines unsichtbaren Riesen, und sie begriff beiläufig, daß die letzte Kanone noch intakt war. Dann hatte sie die Doppeltür erreicht. Skudder zog sie in den Gang, durch den sich immer rascher schließenden Spalt hindurch.

Auf der anderen Seite fiel sie auf die Knie und rang nach Luft. Ihr Herzschlag übertönte alles andere, löschte jeden Gedanken aus. Irgendwie kam sie wieder auf die Beine, faßte ihr Gewehr mit beiden Händen und stolperte auf Dubois zu, die sie erst im letzten Moment bemerkte. Der Kolben traf die völlig überraschte Frau mitten in den Rücken und ließ sie vorwärts taumeln, wobei sie ihre eigene Waffe verlor, und als sie sich halb herumgedreht hatte, die Hände zur Abwehr gehoben, traf Charity sie ein zweites Mal brutal in den Bauch, bevor jemand sie mit eiserner Kraft an den Oberarmen packte und unnachgiebig festhielt, obwohl sie sich heftig wehrte. Dubois fiel langsam auf den Rücken und stand nicht wieder auf, und nach einer Weile hörte Charity auf, sich zu winden und nach Skudder zu treten. Sie ließ das Gewehr fallen und wehrte sich nicht, als er sie stumm in die Arme schloß. Hinter ihnen schloß sich die Doppeltür mit einem dumpfen Laut, und plötzlich wirkten alle Geräusche wie in Watte gepackt.

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