Der Transportschlitten begann plötzlich zu schwanken, und dann zerplatzte eine Verstrebung auseinander, getroffen von einem weiteren Laserpuls, der eigentlich Harris gegolten hatte.
Charity brachte ihre Waffe in Anschlag und richtete sie dorthin, wo ihrer Erinnerung nach das rote Licht gewesen war - die Ladeanzeige der Laserkanone, so hoffte sie. Dann zog sie dreimal den unteren Auslöser durch. Drei Granaten schlugen dicht übereinander in der Dunkelheit ein, und der dreifache Lichtblitz blendete sie lange genug, damit sie den Erfolg dieser Salve nicht erkennen konnte. Zumindest hatten die anderen das Feuer eingestellt.
In der Finsternis vor ihnen regneten glühende Trümmer herab, die rasch wieder dunkel wurden. Im Infrarot konnte sie erkennen, wie rasch sogar die Trümmerstücke auskühlten. Dann geriet irgend etwas, das hoch und massiv war, ins Schwanken und neigte sich ihr entgegen. Sie ging das Risiko ein und sprang auf, rannte dem kippenden Stahlträger entgegen, auf den unbekannten Gegner zu. Kein Schuß schlug ihr entgegen und verwandelte sie in eine Fackel, aber sie übersah ein Trümmerstück und stürzte, die freie Hand schützend vor den Helm gelegt. Hinter ihr schaltete jemand einen Scheinwerfer ein, und der Lichtkegel zeigte ein gewaltiges Loch in einer Reihe von Schränken und Regalen, die mit Elektronik und Kabeln angefüllt waren. Zwei weitere Löcher gähnten ganz in der Nähe in der Rückwand der Halle. Die Rückwand begann sich vor ihren Augen aufzulösen, die gewaltigen, mehrere Meter messenden Platten fielen in Zeitlupe auseinander.
»Raus hier«, rief sie über Funk und plagte sich auf. Zwei noch zusammenhängende Platten stürzten über die Trümmerlandschaft, die ihre Granaten hinterlassen hatten. Sie sah sich um, lange genug, um sich zu vergewissern, daß die anderen zurechtkamen, und sprintete auf das Portal zu, das etwa dreißig Meter entfernt lag. Ein dickes Bündel Kabel stürzte auf den Betonboden, und Plastiksplitter flogen gemächlich nach allen Seiten. Auf halber Strecke kniete sie sich hinter die Deckung eines leeren Kanisters und spähte durch die Zieloptik auf das Portal.
Es lag verlassen vor ihr. Die Kontrollen der zweiteiligen Tür waren abgeschaltet, und die Tür war geschlossen. Eine mechanische Handbedienung für Notfälle war direkt neben der Konsole angebracht, halb verborgen hinter einer knallroten Abdeckplatte, die lose in einem Scharnier hing.
Sie drehte sich zu den anderen, die geduckt über die freie Fläche hasteten, die Waffen im Anschlag. Keiner der Anzüge zeigte Brandspuren. Anscheinend hatten sie mehr Glück gehabt als Steiner. Skudder und Harris zogen den Schlitten, der etwas lädiert aussah, der aber seine Höhe hielt, obwohl er deutlich nach vorn links abgekippt war.
»Vorsicht«, rief sie und deutete auf das Portal. Sie blieben stehen, kamen dann vorsichtig heran und bezogen neben ihr Position.
»Alles in Ordnung?« fragte Charity.
»Wir sind am Leben«, sagte Skudder nur. »Steiner ist tot.«
»Ich hab's gesehen«, meinte sie. »Hat irgend jemand gesehen, wie viele auf uns geschossen haben?«
»Nur ein Geschütz«, erwiderte Dubois, deren Blick immer wieder die Umgebung nach Zielen absuchte. »Vermutlich eine transportable Laserkanone.«
»Alle zwei Sekunden ein Puls«, ergänzte Harris. »Langsam, aber der Feuerstoß hat Stahlplatten zerschlagen.«
»Was ist mit dem Schlitten?«
Skudder warf ihr einen Blick zu, eine undeutliche Bewegung hinter dem Helmvisier. »Keine Ahnung«, sagte er nur.
»Vielleicht könnte jemand meine Befestigung überprüfen«, meldete sich eine andere Stimme. Charity hatte die Waffe ein wenig gehoben, als sie sich an den Tonfall erinnerte. Sie sah sich um. An der kleinen Frontkonsole des Würfels blinkte eine gelbe Bereitschaftslampe.
»Funk?« fragte sie Harris erstaunt.
»Bevor ich von der Ladefläche rutsche«, ergänzte der Würfel.
»Harris, das ist Ihr Baby«, sagte Charity, als sie ihre Überraschung überwunden hatte. »Kümmern Sie sich darum. Und bringen Sie ihn zum Schweigen.«
»Wie Sie wünschen«, antwortete er leicht beleidigt. Sie ignorierte ihn und seine Spielzeuge und wandte sich zu Dubois und Estevez um.
»Die Tür ist zu«, sagte sie. »Im Moment haben wir unsere Ruhe, aber das wird nicht lange so bleiben.«
»Wir müssen weiter«, stimmte Skudder zu. »Durch die Tür.«
»Natürlich.« Charity verzog das Gesicht. »Die Frage ist, wie wir das anfangen?«
»Wir schlagen ein Loch in die Tür«, schlug Dubois vor. »Und danach schlagen wir ein Loch in alles, was hinter der Tür herumsteht.«
»Das ist der Hintereingang«, erwiderte sie mißmutig. »Wenn wir uns reinschleichen wollen, sollten wir nicht mal anklopfen, geschweige denn die Tür eintreten.«
»Darauf kommt es wohl nicht mehr an«, warf Skudder ein, »jetzt, nachdem wir sozusagen schon die Mülltonnen umgeworfen haben.«
Charity verdrehte die Augen. »Ich werde mir das abgewöhnen«, murmelte sie und nahm die Waffe in Anschlag.
»Okay«, sagte sie dann und warf der Handbedienung einen bedauernden Blick zu. »Marie, machen Sie ihre verdammten Löcher in die verdammte Tür. Und lassen Sie noch irgend etwas stehen.«
»Verstanden«, versetzte Dubois humorlos und zog durch. Die erste Explosion schleuderte die Türflügel auseinander, und die Leuchtspuren mehrerer Raketen bohrten sich mit erschreckender Präzision zwischen den auseinanderklaffenden Stahlplatten in die Dunkelheit.
Es blieb ruhig. »Los«, sagte Charity, als die Qualmwolken sich als Staub niederschlugen. »Beeilen wir uns, ehe der Hausherr eintrifft.«
Sie liefen gestaffelt los, die einen gaben den anderen Deckung, bis Estevez mit einem Stiefeltritt den verbogenen rechten Türflügel zur Seite schob und sich in den Gang dahinter duckte. Charity folgte ihr hastig, schaltete mit einer Fingerbewegung den kleinen Punktscheinwerfer an ihrer Waffe ein. Ein kleiner Lichtkegel tanzte über den glatten, schwarzen Boden.
»Ein Laufband«, sagte sie enttäuscht und hob die Waffe. Der Lichtfleck verschwand mit rasender Geschwindigkeit in der Ferne. »Mindestens zwei Kilometer. Na großartig.«
»Es funktioniert nicht«, vermutete Estevez.
»Scharf beobachtet«, schnappt Charity. Dubois riß den anderen Türflügel zur Seite und half den beiden Männern, den Transportschlitten in den Gang zu bugsieren, der drei Meter breit und sehr dunkel war. Das Laufband hatte anderthalb Meter Breite und eine leichte Steigung, so daß keiner von ihnen neben dem Schlitten hergehen konnte. Henderson bildete die Nachhut. Sie sah, wie er mit der Waffe in den Trümmern der Tür hängen blieb, und schüttelte stumm den Kopf.
»Geben Sie uns Deckung, Henderson«, sagte sie laut. »Und richten Sie Ihre Waffe nach hinten.«
»Okay«, sagte der Soldat und stolperte über eine Verstrebung.
»Machen wir uns auf den Weg«, sagte sie ergeben und blendete den Scheinwerfer auf, bis er die ganze Breite des Gangs ausleuchtete. »Ich glaube nicht, daß die Moroni diesen Weg benutzt haben, um in den Hangar zu kommen. Sie hätten das Transportband nicht abgeschaltet.«
Sie setzten sich in Bewegung, wobei sie den Schlitten mit der inzwischen neu befestigten Bombe und dem Würfel hinter sich herzogen. Der Gang war so luftleer wie der Hangar, was bedeutete, daß am anderen Ende eine Druckschleuse und ein Magazin für Anzüge und Gerät auf sie wartete. Solange sie sich noch im Vakuum befanden, bedeutete ein Treffer den sofortigen Tod, zumindest eine drastische Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Die Druckanzüge hatten an Beinen, Armen und Taille Notfall-Verriegelungen, die den totalen Druckverlust für einige Minuten aufschieben konnten, dabei aber meistens auch die Blutzufuhr abschnitten, und das abgeschnürte Körperteil zu völliger Unbeweglichkeit verdammten.
Das Band vibrierte unter ihren eiligen Schritten, und Charity verfluchte innerlich die Lautlosigkeit des Vakuums. In den Teilen der Basis, die unter Druck standen, würden sie wenigstens einen akustischen Alarm hören können, ganz zu schweigen von dem Lärm, den sie selbst produzierten. Die Moroni waren gründlich, und kleine Taster für Erschütterungen und Licht waren billig und leicht anzubringen. Ihre einzige Chance hatte darin gelegen, daß das Gelände der MacDonald-Basis eigentlich zu groß gewesen war für eine vollständige Absicherung, aber sie hatten wieder einmal vergessen, wie zahlreich die Moroni waren. Beiläufig fragte sie sich, wann sie diese Kanone in dem Hangar montiert hatten und ob sie vielleicht auf den kleinen Trupp gewartet hatte.
»Zu wenig«, murmelte sie.
»Was?« fragte Dubois, die neben ihr ging.
»Es waren zu wenige Moroni im Hangar«, führte Charity aus, »oder zu viele, je nachdem, wie man es sehen möchte.«
»Ich habe keine Moroni gesehen«, warf Skudder ein.
»Ich auch nicht«, stimmte Harris zu. »Ich habe nicht einmal diese Kanone gesehen.«
»Da war eine Lichtanzeige«, entgegnete Skudder.
»Genau«, sagte Charity. »Eine Ladekontrolle. Sobald die Kanone wieder feuerbereit ist, leuchtet sie auf.« Sie versuchte sich zu erinnern, was sie gesehen hatte, bevor die Explosionen sie geblendet hatten. »Ich habe sonst nichts erkennen können«, ergänzte sie nachdenklich.
»Die Salve muß alles in Stücke gerissen haben«, meinte Harris. »Und was die Granaten übriggelassen haben, hat die Wand unter sich begraben.«
»Vielleicht.« Charity wußte, daß ihr Tonfall nicht gerade überzeugt klang. »Wir wissen lediglich, daß da eine Kanone war und daß wir sie getroffen haben. Solche Kanonen sind zu schwer, um sie innerhalb von dreißig Sekunden an einen anderen Standort zu schaffen.«
»Und eine Kanone wird von jemandem bedient«, sagte Skudder.
Das Scheinwerferlicht wurde von einer Wand reflektiert, fünfzig Meter vor ihnen. »Achtung«, sagte Charity und hob die Hand. »Wir gehen besser etwas langsamer.« Die anderen blieben stehen. Einen Moment verharrte die Welt regungslos. Dann setzte sich das Laufband mit einem heftigen Ruck in Bewegung, genau auf die verschlossene Schleusentür zu.
»Hinlegen«, schrie Charity, die ohnehin das Gleichgewicht verloren hatte, und wünschte sich verzweifelt höhere Schwerkraft. Die Scheinwerfer tanzten wild durcheinander und beleuchteten wahllos Stellen an Decke, Boden und Wand an, die sich rasch an ihnen vorbeibewegten. Skudder und Harris wurden in ihren Riemen von den Beinen gerissen, da der Schlitten hinter ihnen zurückblieb. Henderson, der erstaunlicherweise nicht das Gleichgewicht verloren hatte, prallte gegen den Schlitten und hielt sich daran fest. Das Laufband wurde immer schneller, hatte sie schon über die ersten fünf, zehn Meter getragen und beschleunigte immer mehr. Sie waren schon zu nahe an der Schleuse, um das Tor mit panzerbrechenden Granaten aufzusprengen. Der Rückschlag der Explosion hätte sie alle getötet. Charity rollte sich herum und drückte Dubois' Waffe sicherheitshalber zur Seite. Die Dunkelheit vor ihnen teilte sich plötzlich und hellweißes Licht schlug ihnen entgegen, zunächst nur eine dünne Linie, die quälend langsam immer breiter wurde, während sich die Entfernung mit rasender Geschwindigkeit immer mehr verringerte.
Im nächsten Moment wurden sie in eine große Schleusenkammer geschleudert. Charity schützte ihren Helm mit dem linken Arm und preßte die entsicherte Waffe mit dem rechten Arm eng an ihren Körper. Sie rollte hilflos über den glatten Boden, bis eine harte Metallkante gegen ihren Rücken schlug und ihre Bewegung schmerzhaft stoppte. Estevez, die sich irgendwie auf den Beinen hatte halten können, stolperte in den Raum und kam über Dubois zu Fall. Bevor irgendeine von ihnen reagieren konnte, folgten die beiden Männer, die sich verzweifelt an dem Band festgekrallt hatten. Diesmal wirkte sich die Masse des Schlittens in der anderen Richtung aus, und der Schlitten glitt über Skudder und Harris hinweg und zog sie ein Stück mit sich, ehe er gegen die andere Tür der Druckschleuse prallte und dabei Henderson abwarf.
Dabei kippte er eine Halterung um, die vor der inneren Tür gestanden hatte, und ein zylindrischer Behälter sprang aus seiner Befestigung und rollte auf Charity zu, die ihn instinktiv mit der Hand stoppte. Dann sah sie die Aufschrift, riß ihn hoch und schob ihn über den Boden auf den Gang zu, den sie gerade erst verlassen hatte. Estevez die alles mitangesehen hatte, starrte sie mit schreckgeweiteten Augen an.
»Die Tür zu«, schrie sie. »Da drüben, die rote Taste.« Harris war aufgesprungen und blickte in die Richtung, in die sie deutete, dann schlug er mehrmals mit der flachen Hand auf die Taste. Nichts geschah.
»Weg von der Tür«, rief Charity und kam auf die Knie. Harris sah sie verwirrt an, zog sich dann hastig zur Seite, als sie an ihm vorbei auf die innere Schleusentür zielte. Die Explosivgeschosse stanzten acht faustgroße Löcher in den blanken Stahl, und gleich darauf wirbelte Luft in die Kammer und schlug sich sofort in weißem Nebel nieder. Ein gelbrotes Warnlicht links über der Tür drehte sich plötzlich. Im nächsten Moment schlugen die äußeren Türflügel zusammen, als die Notautomatik die Druckschleuse nach außen verriegelte.
»Was war das für ein Ding?« fragte Skudder. Charity ließ die Waffe fallen und griff nach dem Stellrad, mit dem sich die innere Tür von Hand öffnen ließ.
»Das war eine Bombe«, erklärte sie keuchend. »Wenn die Außentür nicht hält, sind wir geliefert.« Sie setzte das Rad in Bewegung. »Hilf mir, los, mach schon.«
Er faßte das Rad und drängte sie unsanft beiseite. Sie machte Platz, nahm ihm den Riemen vom Schlitten ab, während er sich mit aller Kraft an dem Rad zu schaffen machte. Ein Türflügel der Innentür öffnete sich langsam. Weitere Luft strömte ein, diesmal ohne Niederschlag.
»Estevez, Dubois, aufpassen.« Der Adrenalinstoß ließ alle Bewegungen, die in der niedrigen Mondschwerkraft ohnehin verzögert waren, wie in Zeitlupe erscheinen. Sie drängte die beiden Frauen durch die entstandene Öffnung, überließ es ihnen, sich um eventuelle Schwierigkeiten auf der anderen Seite zu kümmern. Dann traf sie ein furchtbarer Schlag in den Rücken, und da die Schleusenkammer inzwischen auf Normaldruck war, konnten sie die Explosion auch hören. Der Boden bäumte sich unter ihren Füßen auf. Sie stolperte gegen den Türflügel, der sich nicht bewegt hatte, und der ausgezackte Rand eines der Einschußlöcher zerriß ihren Schutzanzug an der Schulter, ein Unfall, der sie vor wenigen Sekunden noch das Leben gekostet hätte.
Charity fand das Gleichgewicht wieder und drehte sich hastig um. Die schwere Außentür war plötzlich ausgebeult; sie wölbte sich jetzt in die Kammer hinein, und der Rahmen, in dem die beiden Türflügel aufgehängt waren, wies Risse auf, aber die Tür hatte gehalten.
»Wir haben Glück gehabt«, sagte sie und schob den völlig verwirrten Skudder aus der Schleusenkammer. »Irgend jemand hat aus einer Wasserstoff-Druckflasche und einer Granate eine niedliche kleine Bombe gebastelt, die hier in der Schleuse auf uns gewartet hat.« Sie half Harris auf die Beine. »Der Schlitten«, sagte sie, nahm ihre Waffe vom Boden, blickte auf und sah zum ersten Mal flüchtig, was hinter der Tür lag. Die Halle war groß, aber recht niedrig. Die Beleuchtung war eingeschaltet. »Als wir hereinkamen, wurde die Bombe scharfgemacht. Die Explosion hätte uns getötet, und die Reste wären in den Gang hinausgeblasen worden oder direkt auf die Mondoberfläche.«
Sie bugsierten den Schlitten aus der Schleusenkammer. Anschließend zerrte sie Henderson mit sich hinaus. Draußen angekommen, blickte Charity noch einmal auf die lädierten Türflügel der äußeren Schleusentür.
»Die Röhre draußen ist bestimmt zerfetzt worden. Wenn die Tür nicht gehalten hätte ...« Sie hob die Schultern. »Ich bin nur froh, daß ich das Ding gerollt und nicht geworfen habe. Das sind entscheidende Sekunden gewesen.« Sie deutete auf das Bedienungspult, das auf dieser Seite der Tür grüne und rote Lichter zeigte. »Machen Sie die Tür zu, Harris. Für den Fall, daß die Außentür doch noch nachgibt.«
»Die rote Taste, richtig?« Diesmal gehorchte die Tür sofort.
»Das Pult auf der Innenseite ist zerstört worden«, sagte sie grimmig. »Jemand hat die Kabel durchschnitten oder den Computer benutzt.«
»Derselbe jemand, der die Bombe aufgebaut hat«, meinte Skudder.
»Deshalb das hier«, sagte Harris und deutete auf die Löcher in der Innentür, die auf dieser Seite kleiner waren. »Und ich hatte schon gedacht, Sie wollten mich unehrenhaft entlassen.« Skudder gab einen verächtlichen Laut von sich. »Was machen wir mit den Löchern?« fragte er ruhig.
»Flicken«, sagte Charity und öffnete eine Oberschenkeltasche. »Genauso wie meinen Anzug.«
Skudder nahm das kleine Päckchen in die Hand und machte sich an dem fingerlangen Riß an ihrer Schulter zu schaffen, während sich Dubois und Estevez um die Löcher kümmerten.
»Halten die Flicken das aus?« fragte Skudder zweifelnd, als er mit Charitys Anzug fertig war.
»Der Luftdruck wird sie festhalten«, meinte Charity. »Auf der anderen Seite der Tür hätten wir damit keine Chance.« Ihr Blick wanderte über Schränke und Arbeitstische. Druckanzüge hingen in Metallgerüsten von der Decke herab. Die Käfige waren an Schienen aufgehängt und beweglich. Man konnte die verschiedensten Druckanzüge sehen, von leichten Ausführungen aus dünnem Plastik bis hin zu schweren Rüstungen, wie sie die militärischen Bautrupps getragen hatten. Weiter hinten im Schatten standen zwei Kraftverstärker, Ektoskelette aus Stahlgelenken, Motoren und Hydraulik, in denen ein leichter Druckanzug befestigt war, an der Taille aufgeklappt, damit der Träger über eine kleine Leiter von oben hineinsteigen konnte. Sensoren auf dem Druckanzug und vor den Handschuhen übertrugen die Bewegungen und den Kraftaufwand des Trägers an die Motorsteuerung. In Halterungen an den Wänden sah man tragbare Baumaschinen, wie sie von ein oder zwei Leuten bedient werden konnten, Bohrmaschinen und Schneidgeräte, teils mit Klingen, teils mit Laser. Die Wartungshalle sah aus, als sei sie erst vor Momenten verlassen worden. Hinter dem Durcheinander erkannte Charity einen Durchgang.
»Gehen wir«, sagte sie. »Passen Sie auf Ihre Füße auf, Henderson.«
»Wie Sie meinen«, kam die beleidigte Antwort.
»Irgendwo drinnen müssen die Liftanlagen sein.« Charity lachte grimmig. »Und die Laufbänder funktionieren ja anscheinend auch wieder.«
»Was sich in unmittelbarer Zukunft als sehr nützlich erweisen wird«, maulte der Würfel, diesmal nicht über Funk, sondern über seinen Lautsprecher. Da sie alle ihre Helme vorsichtshalber noch geschlossen hatten, klang der Tonfall stark gedämpft. Vermutlich hatte der Computer beinahe gebrüllt. Er hing noch immer auf dem lädierten Transportschlitten fest, der sich inzwischen noch stärker zum Boden neigte. Die Bombe war in der Halterung verrutscht, und mit ein wenig mehr Schlagseite würde das ganze Gebilde umkippen.
»Wie lange hält das Ding noch durch?« fragte Charity besorgt.
»Keine Ahnung«, sagte Harris. »Wenn Sie den Schlitten meinen. Der TACCOM ist ziemlich robust.«
»Ich entspreche der Schutzklasse zwei entsprechend der internationalen Norm ...«
»Ausgabe unterbrechen«, rief Charity.
»Wie Sie wünschen«, antwortete der Würfel verstimmt.
Sie ignorierte ihn und warf einen letzten sorgenvollen Blick auf den Schlitten, der sie stark an ein kenterndes Schiff erinnerte. Er schien an Höhe verloren zu haben, denn die vordere linke Kante hing nur noch zwanzig Zentimeter über dem Boden. Vermutlich war auch der Energiespeicher getroffen worden.
»Gehen wir«, sagte sie noch einmal. »Vielleicht finden wir ja eine Mitfahrgelegenheit für unseren kubischen Freund hier.«
Skudder lachte grimmig. »Oder noch eine Bombe.«
*
Das Schiffswrack schimmerte im Sonnenlicht wie eine deformierte Perle. Jede Schramme, jeder tiefe Riß der mattglänzenden Panzerung warf scharfe Lichtreflexe, und die winzigen Scherben der Panzerglaskuppeln glitzerten und tanzten bei jedem Blickwechsel. Gelegentlich sah es so aus, als wären Tausende von Sternen aus dem dunklen Himmel auf die Mondoberfläche herabgefallen.
Die diskusförmigen Gleiter duckten sich in einer Ringanordnung um das Schiff herum, und ein Teil ihrer Bordkanonen war auf das Wrack gerichtet, als könnte von dem Haufen zerschundenen, geborstenen Metalls noch irgendeine Bedrohung ausgehen. Die Moroni hatten in ihren Fahrzeugen abgewartet, bis die Sonne Kälte und Dunkelheit vertrieben und den Schauplatz in intensives, grelles Licht getaucht hatte, und dabei aufmerksam auf jedes Anzeichen von Bewegung geachtet. Nun setzte jeder der acht gelandeten Gleiter zehn Krieger aus, die sich vorsichtig von allen Seiten dem Wrack näherten. Aus der Entfernung sahen sie aus wie eine Schar Ameisen, die auf die Schale eines toten Käfers zukrabbelten.
Die Krieger trugen keine Druckanzüge, nur enganliegende Atemmasken, die auch die Augen schützten und deren Tanks sie auf dem Rücken trugen. Die Chitin-Panzerung war hart und widerstandsfähig genug, um ihnen einen kurzen Aufenthalt im Vakuum zu gestatten, und alles andere hatte keine Bedeutung für die, die diesen Trupp ausgerüstet hatten. Das Sonnenlicht gab ihnen genug Wärme, um sie vor der tödlichen Kälte zu schützen. Keiner von ihnen konnte jedoch hoffen, diese Mission zu überleben.
Sie erreichten das Wrack und näherten sich mit erhobenen Waffen den Löchern, die in der Hülle klafften. Einige von ihnen gingen hinter Felsen und Trümmerstücken in Deckung, während andere weitermarschierten. Es gab keine Absprachen und keine Handzeichen, jeder von ihnen dachte und handelte gleich, und die Entscheidung, wer in Deckung ging und wer nicht, ergab sich logisch aus der Anordnung der Trümmer und dem Weg, dem sie alle folgten. Dann verschwanden die ersten Ameisen im Schatten und betraten das Wrack, und die, die am weitesten entfernt in Deckung gegangen waren, erhoben sich und folgten ihnen langsam.
Im Inneren des Wracks war die Temperatur erträglich, und statt des blendenden Sonnenlichts erwartete sie Dunkelheit, die angenehme Erinnerungen weckte. Sie benutzten Suchgeräte, denn ihre empfindlichen Fühler hätten die wenigen Minuten ungemildertes Sonnenlicht nicht aushalten können, aber im Inneren gab es keine Spur von Leben. Langsam verteilten sie sich und begannen damit, das Wrack systematisch zu durchsuchen.
Es dauerte nicht lange, dann entdeckten sie den ersten Toten. Er lag halb unter Maschinenteilen begraben und trug einen roten Druckanzug. Es war ein Mensch, und obwohl ihre Anweisungen sie darauf vorbereitet hatten, breitete sich Unruhe unter den Moroni-Kriegern aus. Das Lastschiff konnte nur aus den Beständen der Schwarzen Festung stammen, und es in Menschenhand zu wissen war ein deutliches Zeichen dafür, wie der Krieg auf der Erde verlaufen war.
Sie begannen damit, diesen und die beiden anderen Toten freizulegen. Die Verstrebungen und Kabel konnten ihren Zangen wenig Widerstand entgegensetzen, aber für die Maschinenteile mußten sie Werkzeug benutzten. Diejenigen Krieger, die auf der Erde ausgebrütet worden waren, empfanden vage Verwunderung bei der Erkenntnis, daß sich die Menschen der Moroni-Technologie bedient hatten. Es war beinahe Ironie, daß andererseits menschliche Technologie den Absturz des Lastschiffes bewirkt hatte.
Die Trümmer boten wenig Aufschluß darüber, wie groß die Besatzung des Lastschiffes gewesen war und ob es Überlebende gegeben hatte. Dieser Teil der Moroni-Macht war seit Wochen abgeschnitten gewesen von den Moroni, die auf der Erde zurückgeblieben waren, oder den versprengten Resten der Raumflotte, die der Vernichtung bei der Orbit-Station entgangen waren. Es gab keinen Kontakt mehr dorthin, genauso wie die Gleiter keinen Kontakt zu ihrem Herrn hatten, bis sie wieder zu ihm zurückkehrten. Seit dem Angriff auf die Schwarze Festung hielten sich die Moroni verborgen, und die ungewohnten Anweisungen stürzten die Ameisen-Krieger in zunehmende Verunsicherung, soweit sie von der Erde stammten. Die mondgeborenen Moroni zeigten andere Reaktionen. Keiner von ihnen war zu bewußten Gedanken fähig, denn sie entstammten einem früheren Entwicklungsstadium, das weit davon entfernt war, selbständig handelnde Krieger oder gar Inspektoren hervorzubringen. Ohne erdgeborene Krieger in ihrer Begleitung wären die anderen Ameisen trotz körperlicher Überlegenheit zu keiner sinnvollen Handlung in der Lage gewesen.
Drei Inspektoren begleiteten den kleinen Trupp, und einer von ihnen war den Kriegern in das Wrack gefolgt. Im Gegensatz zu ihnen begriff er in einem Winkel seines zweckgerichteten Verstandes, welcher Gefahr er sich im Sonnenlicht aussetzte, aber gegen die Anweisungen, die ihn leiteten, war er machtlos. In fünfzehn Stunden würden die Gleiter wieder den Rückflug antreten, und bis zu diesem Zeitpunkt würden seine Körperfunktionen nicht erkennbar beeinträchtigt werden. Trotzdem verspürte der Inspektor so etwas wie Angst, nicht um seine eigene Unversehrtheit, sondern angesichts der Erkenntnis, daß die Situation verzweifelt genug war, um sogar ihn und die anderen beiden Inspektoren der Gefahr auszusetzen. Es würde lange Zeit dauern, bis das Moronivolk hier wieder Inspektoren hervorbringen konnte, und solange sie abgeschnitten waren von der Erde und vom Transmitternetz, gab es keinen Ersatz für die wenigen von ihnen, die aus der schwarzen Festung entkommen waren.
Eine stumme Warnung des Unterbewußtseins brachte den Inspektor dazu, sich aus seinen halbbewußten Überlegungen zu lösen. Er schwenkte den mächtigen Kopf und starrte auf zwei Ameisenkrieger, die regungslos zwischen den Trümmerstücken standen. Sie verharrten schon eine Weile dort. Er näherte sich vorsichtig und erkannte an der kräftigen Statur der Ameisen, daß es sich um mondgeborene Krieger handelte, die gebannt auf etwas am Boden vor ihnen starrten. Dann umrundete er den Haufen von Maschinenteilen, der ihm den Blick versperrte.
Die Heftigkeit seiner eigenen Reaktion überraschte den Inspektor noch mehr als der Anblick. Er drängte die beiden Krieger beiseite und beugte sich über das Ei, das in seiner farblos gewordenen, abgestorbenen Hülle zwischen Stahlstangen und Verstrebungen lag. Ein hastiger Blick zeigte ihm, daß noch mindestens zwei weitere Eier zwischen den Trümmern lagen. Seine Klauenhand berührte das Ei, und als er die Bewegung unter der kaltgewordenen Haut spürte, übernahmen uralte, tief verborgene Programme die Kontrolle über seine Handlungen. Die beiden Krieger lösten sich aus ihrer Erstarrung, in die ihr überforderter Verstand verfallen war, und halfen ihm, die Trümmer beiseite zu räumen. Er entdeckte eine zerplatzte Schale, zerquetscht zwischen zwei Energiezellen, und die Schutzreaktion ließ ihn hilflos die Klauen entblößen. Die Zangen schnappten leer zusammen. Weitere Krieger waren aufmerksam geworden und näherten sich, und gleich darauf bargen sie die ersten beiden Eier und trugen sie beiseite.
Während der Inspektor fieberhaft weiterarbeitete, völlig machtlos gegen die Instinkte, die seinen Körper übernommen hatten, reihten sich zusammenhanglos Gedanken aneinander, Überlegungen, wieso sich Moroni-Eier in einem von Menschen geflogenen Lastschiff befinden konnten, ob sie vielleicht auch Ameisen in den Trümmern finden würden oder ob es Jared gewesen waren, in deren Hand sich das Schiff befunden hatte. Und während er ein viertes Ei intakt aus dem spröde gewordenen Gewebe löste, mit dem es geschützt und befestigt worden war, empfand der logische Teil seines Bewußtseins plötzlich eine tiefe Furcht vor dem, was er in den Händen hielt.