9


Nord Zwei führte als Tangente an dem großen Straßenring um die Zentrale herum. Unter normalen Umständen hätten sie die verbliebene Entfernung in zehn Minuten zurücklegen können, aber sie ließen sich Zeit. Gelegentlich gab es Hindernisse, aber sie stießen auf keinen so ausgeklügelten Hinterhalt wie in der Bahnhofshalle. Schotts waren blockiert, die Beleuchtung ließ sich in gewissen Abschnitten nicht einschalten, und auf hundert Metern Länge waren die Bodenplatten entfernt worden, so daß die elektrische Verkabelung frei lag, aber sie ließen sich davon ebensowenig aufhalten wie von Drahtsperren und den drei Sprengminen, die sie ganz am Ende, vor dem Durchgang zum Ring entdeckten. Eine grimmige Entschlossenheit hatte von Charity Besitz ergriffen. Sie und Dubois hatten nicht ein einziges Wort miteinander gewechselt, und auch die anderen waren sehr wortkarg gewesen. Eine Viertelstunde hatten sie warten müssen, ehe Dubois das Bewußtsein wiedererlangt hatte und auf die Beine gekommen war. Harris und Dubois gingen seitdem immer ein paar Meter vor Skudder und ihr, und Charity hatte keinen Grund gesehen, sie davon abzuhalten. In einem weit entfernten Winkel ihres Bewußtseins wußte sie, daß sie sich in keiner gesunden Verfassung befand und, daß ihr Verhalten einer gefährlichen Verrücktheit entsprang. Die letzten Tage waren zuviel für sie gewesen. Zwischendurch registrierte sie die besorgten und nachdenklichen Blicke, die Skudder ihr zuwarf, wenn er glaubte, sie bemerkte es nicht, aber nicht einmal die Wachsamkeit, die in seinem Blick lag, vermochte sie noch zu erschrecken. Der Indianer entfernte sich nie besonders weit von ihr und achtete auf sie genauso wie auf seine Umgebung.

Der Ring lag offen vor ihnen, aber Harris feuerte sicherheitshalber eine Projektilsalve in die Steuerelektronik der Sicherheitstüren, bevor sie zwischen die tonnenschweren Türflügel hindurchtraten. Seit dem Feuergefecht auf dem Bahnhof konnte ihre Anwesenheit nicht unbemerkt geblieben sein. Keiner von ihnen wollte es riskieren, zwischen Panzerstahlplatten zermalmt zu werden.

Sie betraten vorsichtig den dreigeschossigen Tunnel des Rings, der in einem Radius von einem Kilometer um die Kommandozentrale der MacDonald-Basis herumführte. Die meisten Sicherungsanlagen lagen schon hinter ihnen. Niemand hatte es für notwendig gehalten, auf der Rückseite des Mondes eine hundertprozentige Abschottung der Zentrale einzurichten. In der Basis war fast ausschließlich Militärpersonal stationiert gewesen, und die wirklichen Kontrollen hatten damals auf den Shuttlehäfen und in den Raumstationen stattgefunden, lange bevor man das Basisgelände erreicht hatte.

Die zehn Meter messenden Transportbänder standen still, und die doppelt so breiten Betonpisten der Fahrzeugstraßen lagen völlig verlassen da. Sie benutzten eine abgeschaltete Rolltreppe und erreichten unbehelligt das Zugangsportal auf der Innenseite des Rings. Es war einer der zahlreichen Diensteingänge, die während der Schichtwechsel von den Bedienungsmannschaften benutzt wurden, leicht zu verteidigen, daher auch nicht übermäßig gesichert. Vor der verschlossenen Tür blieben sie stehen.

»Und jetzt?« fragte Skudder und berührte die Tür mit dem Handschuh.

»Wir sprengen die Tür auf«, sagte Charity. »Keine Chance, sie ohne den zulässigen Code zu öffnen.«

»Und was passiert dann?« fragte Harris vorsichtig. »Ich möchte nicht von einer Horde Kaffeemaschinen angefallen werden oder was immer sonst diesen Zugang verteidigt.«

»Keine Kaffeemaschinen«, antwortet Charity humorlos. »Ich habe hier sechs lange und langweilige Monate Dienst geschoben, und ich kenne diese Zugänge wie meine Westentasche. Es gibt eine Menge passiver Kontrollen und viele Warnsysteme, die wir zum größten Teil schon ausgelöst haben, als wir die Treppe hinaufgekommen sind, aber es gibt keine Verteidigungsanlagen.«

»Das ist sechzig Jahre her«, sagte Skudder.

»Erinnere mich nicht daran«, versetzte sie knapp. »Diese Gänge sind nicht besonders groß, und sie verlaufen schnurgerade bis zur Zentrale. Niemand kann sich dort verstecken, und die Wände sind massiv. Der ganze Komplex ist ein massiver Block, der innerhalb des Verteilerringes schwingungsfrei aufgehängt ist. Wenn irgend etwas hinter dieser Tür ist, das nicht von den Geschossen zerfetzt wird, dann werden wir es sehen können, sobald es uns sieht. Und im Gegensatz zu uns hat es keine Deckung.«

Skudder sah sich vielsagend auf dem Treppenabsatz um, auf dem sie standen. Von ihrer Position aus konnten sie den größten Teil des Ringabschnittes unter ihnen überblicken, aber zum Zugang hin hatten sie keinen nennenswerten Schutz.

Charity nickte ungeduldig. »Wir werden rechts und links von der Tür stehen müssen«, sagte sie. »An der Wand.«

»Direkt neben der Sprengladung«, sprach Skudder seine Befürchtungen aus.

»Direkt daneben«, gab sie widerwillig zu. »Verdammt, es gefällt mir sowenig wie dir, aber hast du einen besseren Vorschlag?«

»Ich bleibe auf der Rolltreppe«, meldete sich Dubois. »Ich kann von dort aus den Gang einsehen, wenn die Zugangstür aufgesprengt ist, nicht wahr?«

»Sie liegen dort wie auf dem Präsentierteller«, sagte Charity warnend und wunderte sich über sich selbst.

Dubois sah sie nur an.

»Wenn die Tür verstärkt worden ist oder wenn eine zusätzliche Barriere dahinter aufgebaut worden ist, reißt der Rückschlag der Hohlladung Sie die Treppe hinunter«, versuchte Charity es noch mal.

»Ich weiß«, erwiderte Dubois beinahe sanft.

»Na schön«, sagte Charity und war plötzlich auf sich und auf Dubois wütend, die offenbar auf alles eine Antwort hatte. »Ihre Beerdigung, Dubois. Bringen Sie die Ladung an, Harris. Bomben sind doch Ihre Spezialität, oder?«

Harris gehorchte wortlos. Sie fing Skudders Blick ein. Er schüttelte leicht den Kopf, und sie wandte sich ab; sie war noch zorniger als zuvor. Mit mechanischen Bewegungen begann sie damit, noch einmal ihre Waffe zu überprüfen. Sie tauschte ein halbvolles gegen ein volles Magazin aus und suchte sich dann einen Platz neben der Tür. Sie hielt sich ziemlich nah an der Kante und beobachtete Harris, der die Hohlladung montierte, bereit, in Deckung zu gehen, falls sich die Tür plötzlich von allein öffnen sollte. Skudder stellte sich hinter sie. Sie sah sich nicht zu ihm um, aber sie wußte, daß er sie anschaute. Plötzlich spürte sie seine Hand, die durch den schweren Anzugstoff hindurch ihre Schulter drückte. Unwillkürlich versteifte sich ihr Körper, aber dann erkannte sie die Berührung als Ermutigung, und sie entspannte sich ein wenig.

»Danke«, sagte sie leise, ohne sich umzudrehen. Harris sah flüchtig in ihre Richtung und blickte dann wieder auf den flachen Behälter, den er mit einem Unterdruckverschluß an die Tür geheftet hatte. Er setzte einen Zylinder in den Behälter ein, der so dick wie sein Handgelenk war und zwanzig Zentimeter lang.

»Fertig«, sagte er und sah Charity an. Sie warf einen Blick auf Dubois, die sich flach auf den Boden preßte, das Gewehr im Anschlag. Ihre Beine hingen die ersten Stufen der Rolltreppe hinaus. Falls sich die Rolltreppe jetzt in Bewegung setzen sollte, würde die Frau einfach mitgerissen werden. Dann würde sie vermutlich den ganzen Treppenabsatz in Schutt und Asche legen, dachte Charity mißmutig.

»Okay«, sagte sie laut. »Nehmen Sie die andere Seite, Harris, und ziehen Sie den Kopf ein.«

»Verstanden«, sagte er.

»Zwanzig Sekunden.« Er betätigte den kleinen Drehschalter an der Bodenfläche des Zylinders und rollte sich hastig an der Wand ab. Der Schalter begann hastig zu blinken.

Zehn, elf, zwölf, zählte Charity stumm mit und rückte dann von der Tür ab, preßte sich mit dem Rücken an die Wand und gegen Skudder, der hinter ihr kaum noch Platz hatte. Falls sie sich verschätzt hatte, würde sie wenigstens den größten Teil von der Explosion von ihm abhalten können. Sechzehn, dachte sie und legte den Kopf in den Nacken. Ihr Blick richtete sich auf Dubois. Die Frau sah sie an.

»Viel Glück«, sagte sie beinahe gegen ihren eigenen Willen. Dann kam der unvermeidliche dumpfe Schlag, und die ganze Wand bäumte sich hinter ihr auf. Die breitstreuende Hohlladung durchschlug die Tür und schmolz sich einen glühendheißen Weg in den Raum dahinter, füllte ihn über mehrere Meter hinweg mit einer Stichflamme und heißem Gas. Im nächsten Moment feuerte Dubois zwei Granaten durch die entstandene Öffnung. Der Rückschlag der zweifachen Explosion riß die Fetzen der Tür auseinander und ließ Dubois rücklings auf die Rolltreppe fallen, und dann folgte eine Kette von kleineren Explosionen, die den ganzen Komplex zu erschüttern schien.

Die neu entfachte Wut machte Charity einen Moment lang blind. Wieder war es Skudders Hand, die sie in die Gegenwart zurückholte.

Es blieb ruhig. Dubois schob sich die Rolltreppe wieder hinauf und brachte ihre Waffe in Anschlag, aber ihre Schüsse wurden nicht erwidert.

»Wenn die Tür gehalten hätte, hätten uns die Granaten in Stücke gerissen«, sagte Charity, und ihre Stimme war eiskalt.

»Die Granaten oder die Hohlladung«, erwiderte Dubois ungerührt. »Das Risiko mußte ich eingehen.« Sie kam auf die Knie. »Sehen Sie sich's an.«

Charity lag eine bittere Entgegnung auf der Zunge, aber sie hielt den Mund. Sie ging in die Hocke und warf einen Blick in den Gang. Durch Rauchschwaden und Qualm hindurch entdeckte sie die zerschmolzenen Umrisse einer automatischen Kanone. Die Explosionen hatten den gesamten Aufbau von dem Dreibein gerissen.

Harris beugte sich vor. Sein Zieldisplay schimmerte wie eine glühende Spielkarte in seinem Helm.

»Marie hätte keine Chance gehabt, wenn sie erst hingesehen hätte«, sagte er nach einer Weile.

»Und wir hätten keine Chance gehabt, wenn sie das verdammte Loch verfehlt hätte«, erwiderte Charity.

Dubois stand auf und näherte sich der Tür. Neben Charity blieb sie stehen.

»Ich habe nicht verfehlt«, sagte sie. »Können wir jetzt gehen?«

Charity sah ihr und Harris nach. »Ich bin zu alt für solche Sachen«, sagte sie erschöpft und warf Skudder einen Blick zu, der ihm riet, sich jedes Kommentares zu enthalten.

Zu alt, wiederholte sie in Gedanken und erkannte, daß es mehr als eine gedankenlos hingesagte Floskel war. Zu viele Erinnerungen.

»Bist du okay?« fragte Skudder besorgt. Sie lächelte ihn an, dunkel hinter ihrem staubbedeckten Helmvisier. Es war das erste Lächeln, seit dieser Wahnsinn begonnen hatte.

»Nein«, sagte sie ehrlich. »Aber ich kann noch aufrecht gehen. Was kannst du noch verlangen?«

»Nichts«, sagte er und erwiderte ihr Lächeln. »Es tut gut, dein Gesicht zu sehen. Ohne diese Gewitterwolken.«

Sie sagte nichts darauf. Er deutete eine Verbeugung an, mühsam genug mit dem stummen Würfel auf dem Rücken, und ließ ihr mit einer absurd höflichen Geste den Vortritt. Sie wand sich zwischen den glühenden Resten der Tür hindurch und folgte Harris. Die beiden Soldaten hatten die zehn Meter entfernten Reste der Laserkanone erreicht und warteten. Der Gang wirkte, als sei er aus den Fugen geraten. Die Explosion der Energiezelle hatte die Plastikdämmung aus den Wänden gerissen. Ein Teil davon schwelte noch. Charity beglückwünschte sich stumm zu ihrem Druckanzug und seiner geschlossenen Luftversorgung.

»Computergesteuert«, sagte Harris, als sie die Überreste erreicht hatte. »Irgendein automatisches Zielsystem.«

»Genau wie die Kanonen in der Bahnhofshalle«, stimmte Charity zu.

»Aber wie?« fragte Skudder hinter ihr.

»Bewegungssensoren, Schallsensoren, was weiß ich.« Sie fühlte sich müde. »Oder Infrarot. Ich schätze, man hat irgendeine einfache Elektronik an die Waffe angeschlossen und ein simples Programm installiert.« Sie ging in die Hocke und tastete mit dem Handschuh zwischen den heißen Trümmern herum. »Sobald sich irgend etwas verändert, schießt ihr.«

»Ziemlich konservativ«, sagte Skudder.

»Primitiv, aber wirksam«, erwiderte sie ohne Humor. Sie blickte über die zertrümmerte Waffe hinweg zum Ende des Gangs. Das Schott war offen, dahinter lag nur Dunkelheit. »Sieht so aus, als hätten wir es geschafft.«

Dubois warf ihr einen Blick zu, gelbschimmernd durch das Infrarot-Display.

»Gehen Sie ruhig vor«, sagte Charity. »Ich kenne den Weg.«

»Okay«, sagte Harris. Er folgte Dubois. Charity nahm eine Zange aus einer Tasche ihres Druckanzuges und zerrte eine Strebe aus dem Trümmerhaufen.

»Du kennst diese Waffen«, sagte Skudder. Es war keine Frage.

»Ich kenne die Handschrift«, korrigierte sie. »Die Space Force hat mit solchen Schaltungen experimentiert. Automatische Waffen mit Infrarot und Radar als unfehlbare Wachposten, die nicht schlafen, nicht rauchen und sich nicht mit irgendwelchen Zivilisten einlassen.«

»Und wo war das Problem?«

»Mangelndes Unterscheidungsvermögen«, sagte Charity sarkastisch. »Sie konnten nicht unterscheiden zwischen Angreifern, Bedienungspersonal, Katzen, Hunden und vom Wind herangetragenem Abfall. Wenn sie einmal angefangen hatten zu schießen, dann hörten sie nicht wieder auf. Die ersten Modelle haben sogar auf die eigenen Geschosse gezielt. Oder auf Wolken. Oder auf den Mond.«

»Geschosse?« fragte er verwirrt.

»Ich habe nur von Projektilwaffen gehört«, sagte sie. »Sonst wäre ich schon früher dahintergekommen, was es mit diesen Laserkanonen auf sich hat. Ich glaube, wir sind bis jetzt nicht einem einzigen Moroni begegnet. Sogar die Kanone im Hangar war mit Sicherheit selbstgesteuert.« Sie reichte ihm die Strebe, die sie in der Hand hielt. »Sieh es dir an«, sagte sie. »Inventarisierungsnummern. Das hier ist Militäreigentum gewesen.«

»Diese Moroni sind die größten Diebe, die man sich denken kann«, erwiderte Skudder und drehte die Metallstrebe in der Hand, um die eingestanzten Ziffern und Buchstaben besser erkennen zu können.

»Ja«, bemerkte sie vielsagend und blickte in die Richtung, in die Dubois und Harris verschwunden waren. »Sehen wir mal nach, was unsere tapferen Zinnsoldaten inzwischen alles gefunden haben.«

Er folgte ihr mit einem Gesichtsausdruck, der wenig Begeisterung und viel Verwirrung verriet. Sie verzichtete auf ihren Helmscheinwerfer. Als sie am Ende der Zugangsröhre angekommen war, wurde ihr bewußt, daß sie sich gegen die Beleuchtung wie eine Zielscheibe abzeichnete, und sie schob sich hastig nach links in die Dunkelheit. Skudder tat es ihr nach.

Die Kommandozentrale war unbeleuchtet, aber es war nicht vollkommen dunkel um sie herum. Irgendein seit sechzig Jahren wartender Servomechanismus hatte registriert, daß alle Personen, die die Zugangsröhre betreten hatten, inzwischen das andere Ende erreicht hatten, und schloß gehorsam die Tür. Charity grinste in ihrem Helm. Maschinenlogik, dachte sie fröhlich. Für die beschränkte Welt der Türkontrolle war alles in Ordnung, auch wenn die äußere Zugangstür in Fetzen lag und die Gangröhre einer Schutthalde glich. Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Sie machte zahlreiche Lichtpunkte in Rot, Orange und Gelb aus, die sich vor ihr verteilten, waagerechte und senkrechte Linien bildeten, Ringe und Wolken und Flächen. Hier und da blinkten ein paar Lichter, und andere wechselten die Farbe. Alles geschah in völliger Lautlosigkeit. Nach einer Weile konnte sie die Umrisse von Schaltpulten und Konsolen erahnen.

»Harris«, sagte sie in den offenen Funkkanal. Als keine Antwort kam, faßte sie Skudder an der Schulter und tastete nach ihrem Gewehr.

»Harris?« fragte sie noch einmal. Sie schaltete die Infrarotsicht ein, und die ganze Welt schimmerte in blassem Rot. Zwei weiße, entfernt menschenähnliche Silhouetten standen fünfzig Meter von ihnen entfernt.

»Wir sind hier unten«, kam die Antwort, und Charity entspannte sich.

»Wir kommen«, sagte sie laut. »Wir treffen uns bei der Kommandokontrolle. Dort, wo der helle Ring zu sehen ist.«

»Verstanden«, sagte Dubois. Von der Zugangstür führte eine breite Treppe herab. Charity fragte sich, ob die anderen die Ausmaße der dunklen Halle überhaupt erfassen konnten. Die beiden Soldaten standen bereits an dem zehn Meter messenden Ring, der im Infrarot ein helles, intensives Rot zeigte. Die Konsolen bildeten das Zentrum der Aktivität.

»Laden Sie Ihren Blechkumpel ab«, sagte Charity zu Harris, als sie und Skudder aufgeschlossen hatten. »Hier gibt es mindestens ein Dutzend Interface-Buchsen. Schließen Sie ihn an.« Sie verzog das Gesicht, unsichtbar in der Dunkelheit ihres unbeleuchteten Helms. »Wenn er keine Einwände hat.«

»Kann er nicht«, versetzte Harris, der sich aus den Transportriemen befreite. »Sie wollten doch, daß ich ihn ruhigstelle.«

»Sie haben ihn abgeschaltet?« fragte Charity verblüfft.

»Nur die Sprachausgabe.«

»Also deshalb«, murmelte sie. Sie ließ den Blick über die im Infrarot nur schemenhaft erkennbaren Pultreihen wandern und versuchte, das substanzlose Bild mit ihrer Erinnerung zur Deckung zu bringen. »Wir können Scheinwerfer benutzen«, sagte sie dann und schaltete ihre Helmlampe ein. Der Lichtkegel wanderte über leere Konsolen und abgeschaltete Bildschirme. Sie erinnerte sich an die verwirrende Geschäftigkeit, die vor sechzig Jahren an diesem Ort geherrscht hatte, und irgendein sentimentaler Impuls ließ sie nach dem Pult suchen, an dem sie während ihrer Ausbildung Dienst getan hatte. Nach einer Weile wurde ihr klar, daß sie es so nicht wiederfinden würde. Der Gedanke war enttäuschend und erleichternd zugleich.

»Was heißt also deshalb!« schnarrte eine neugierige Stimme in ihre Betrachtungen hinein. Sie sah sich verwirrt um und entdeckte die vorwitzig flackernde Bereitschaftslampe an dem Würfel. Harris hatte den Taktikcomputer auf eine der Arbeitsflächen vor den Pulten abgestellt und war mit der Verkabelung beschäftigt.

»Ihrem Spielzeug scheint die Zwangspause nicht geschadet zu haben«, bemerkte sie spöttisch zu Harris. »Herzlichen Glückwunsch.«

»Danke«, antwortete der Würfel würdevoll. »Sie könnten direkt mit mir sprechen, wissen Sie.«

»Was?« fragte sie verblüfft.

»Eine Frage der Etikette«, verdeutlichte der Computer. »Ich nehme an, Höflichkeit gehört nicht zu Ihren Vorzügen.«

Ihre Antwort gab ihm recht. Harris richtete sich unwillkürlich auf und warf ihr einen Blick zu, den sie nicht zu deuten vermochte, und sogar Skudder wirkte leicht schockiert.

»Ich habe den Eindruck, daß Sie etwas Ruhe vertragen könnten«, versetzte der Würfel ungerührt.

Charity holte tief Luft und schloß die Augen. »Harris, sagen Sie Ihrem Spielzeug, er soll sich um sein eigenes Innenleben kümmern, okay?«

»Du hast es gehört«, sagte der Mann und koppelte das Kabel an das Pult. »Ausgabe unterbrechen.«

»Zu Befehl.«

Charity atmete hörbar auf. »Wie weit sind Sie gekommen?«

»Gleich fertig«, antwortete Harris geistesabwesend und sicherte die letzten Kabel. »Die Verbindung steht.« Er zog einen der freischwingenden Sitze zu sich heran und setzte sich neben dem Würfel an eines der Pulte.

»Kommunikation«, sagte er dann. »Status?«

»Nominal«, antwortete der Würfel geschäftsmäßig. »TACCOM 370/98 in Standby, Internet-Verbindung geschlossen.«

»Verbindung hochfahren«, befahl Harris und warf Charity einen Blick zu. »Selbst wenn man uns bis jetzt noch nicht bemerkt hat, damit sind wir fällig.«

Sie dachte an den verwüsteten Zugang. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, meinte sie seltsam heiter.

»Verbindung hochgefahren«, meldete der Würfel. »Das Netz ist intakt.«

»Was ist mit den Zentralcomputern?«

»Ich habe vier 390/96 und zwei 420/97 vorgefunden«, sagte der Würfel ehrfürchtig. »Die Anlagen sind in passiver Bereitschaft.«

»Kontakt herstellen.«

»Mit welchem Autorisierungs-Code?« fragte der Würfel pikiert.

Harris sah Charity fragend an. Sie zuckte die Achseln.

»Nimm irgendeinen«, sagte Harris.

»Wie bitte?« fragte der Taktikcomputer empört.

Charity beugte sich vor. »Wo liegt das Problem?«

»Wenn wir den falschen Code verwenden, wird wahrscheinlich die Leitung stillgelegt«, erklärte Harris. »Oder 370/98 bekommt elektronische Prügel.«

»Wir haben keinen gültigen Code«, erwiderte sie kurz.

»Probieren Sie aus, ob das System überhaupt eine Reaktion zeigt.«

»Mit welchem Code?« beharrte der Würfel.

»Magermilch«, sagte Charity ungeduldig und ignorierte Harris' erstaunten Blick.

»Wie Sie wünschen«, sagte der Würfel in einem Tonfall, der zeigte, daß er an ihrem Verstand zweifelte. »Magermilch.«

Sie warteten. Die Lampe an der Würfelfront flackerte unregelmäßig.

»Kein Autorisierungscode«, sagte er dann, und diesmal war der Tonfall lupenreine Überraschung.

»Natürlich ist Magermilch kein gültiger Code«, versetzte Charity mit beißender Stimme.

»Korrektur«, sagte der Würfel. »Es ist ein gültiger Code.«

»Was?«

»Um genau zu sein, jede Eingabe ist ein gültiger Autorisierungscode.« Der Würfel machte eine Pause, und seine Lampe wurde heller. »Das System ist offen«, platzte er heraus. »Alle Kontrollen sind heruntergefahren.«

»Das kann nicht sein«, sagte Charity und sah sich hilflos nach Skudder um. »Das hat es nie gegeben. Ich wußte gar nicht, daß so etwas überhaupt gehen könnte.«

»Wir leben in ungewöhnlichen Zeiten«, antwortete Skudder - was die Untertreibung des Jahrhunderts darstellte.

»Okay«, sagte Charity. »Das System ist offen. Was ist das, eine Falle?«

»Keine Aussicht«, erwiderte der Würfel selbstsicher. »Ich habe direkten Zugriff.«

»Irgendwelche Reaktionen?«

»Man hat uns erwartet«, kam die zögernde Antwort.

»Das habe ich gemerkt«, sagte Skudder bitter.

Charity warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. »Was heißt das?«

»Ich finde klare Anweisungen vor, und meine Kontaktaufnahme hat ein paar Programme aktiviert, die in Bereitschaft gewesen sind.«

»Wie lange?«

»Seit sechzig Jahren«, sagte der Würfel. »Das ist eine Menge Rechenzeit.«

Charity lachte lauf. »Deine Kollegen haben sich gelangweilt, was?« Sie wurde wieder ernst. »Was für Programme?«

»Keine Ahnung«, gestand der Würfel nach ein paar Sekunden.

»Ich denke, du hast direkten Zugriff?«

»Die Programme sind ... komplex.«

»Zu komplex«, vermutete Charity.

»Ja«, sagte der Taktikcomputer kleinlaut. »In ein paar Tagen könnte ich ihnen mehr sagen, was den Zweck ...«

Urplötzlich leuchteten die Kontrollen und Skalen an den Pulten des Rings in voller Helligkeit, und abgeblendete Beleuchtungsröhren tauchten eng begrenzte Arbeitsflächen in ein neutrales weißes Licht. Überall um sie herum wurden Konsolen hochgefahren, und Schaltwände leuchteten in ihrem eigenen Licht auf.

»Danke«, sagte Charity trocken. »Ich rate lieber.« Weitere Lichter folgten. Die Pultreihen bildeten Kreise um den zentralen Ring herum, insgesamt zwölf hintereinander, wie die Stufen einer gewaltigen Treppe oder die Sitzreihen eines hochtechnisierten, vollautomatischen Amphitheaters. Die Kreise waren in sechs Sektoren unterteilt, und Sektor für Sektor zeigte heftige Aktivität. Bildschirme schimmerten wie weiße, blinde Augen, und ihr Streulicht zeichnete die Konturen der Schaltschränke und Computergehäuse nach. Charity legte unwillkürlich den Kopf in den Nacken und blickte zu den frei über den Pultreihen aufgehängten Kontrollgruppen auf, Scheiben von drei Meter Durchmesser, die über schmale Stege erreichbar waren und den koordinierenden Offizieren den Überblick über die Halle geboten hatten. Jede der Scheiben, die auf kranartigen Auslegern beweglich angebracht war, hatte ihre eigenen frei verschaltbaren Konsolen. Die Anordnung war so flexibel wie möglich ausgelegt worden, um wechselnden Anforderungen zu genügen. Notfalls konnten mehrere dieser Kontrollinseln zu einem Kartenspiel beieinander plaziert werden. Darüber schimmerte die leicht gewölbte Projektionsfläche, die den Himmel über MacDonald wiedergeben konnte, komplett mit radargestützter Zielmarkierung und computerberechneten Flugbahnen.

Die rote Wandbeleuchtung oben bei den Zugängen und Liftschächten schloß einen Ring gedämpfter Helligkeit um die Lichtervielfalt. Die Halle wirkte nun, als hätte jemand einen gewaltigen Christbaum über Boden und Wände verschmiert.

Charity musterte ihre drei Begleiter, die sich mit offenen Mündern umsahen. Vor sechzig Jahren hatten über zweihundert Menschen in dieser Halle gearbeitet, jeder mit genug Computerkapazität in der Hand, um ein Shuttle damit auszurüsten. Charity hatte diesen Raum niemals verlassen gesehen. Jetzt, wo das Licht und die Kontrollen wieder eingeschaltet worden waren, wirkte er noch gespenstischer auf sie.

Motoren wurden angeschaltet, und von der Decke schoben sich große, flache Bildschirme herab, einer davon mit zwei Metern Seitenlänge. Die Bildschirme glitten fast geräuschlos in Positionen, die verrieten, daß irgendein Teil der gewaltigen Maschinerie ihren Standort kannte und bei der Anordnung der Bildschirme berücksichtigt hatte.

»Zuvorkommende Programme«, sagte Charity laut. »Irgendein Kommentar, 370/98?«

»Ich bin beeindruckt«, sagte der Würfel säuerlich. Auf dem Bildschirm flackerte heller Schnee, und dann war schlagartig die räumliche, gestochen scharfe Wiedergabe eines Gesichtes zu erkennen. Charity fühlte, wie sich ihr Magen zusammenzog, und plötzlich war ihre Heiterkeit verschwunden.

Der Mann auf dem Bildschirm trug die Uniform der Space Force, die Rangabzeichen waren die eines Colonels. Er lächelte schief in die Kamera, und dieses Lächeln allein traf Charity wie ein Schlag und ließ ihren Adrenalinpegel in ungekannte Höhen schnellen.

»Willkommen«, sagte der Mann. »Wer immer Sie sein mögen.« Er lächelte wieder, und diesmal war es kein verlegenes Lächeln, sondern ein freudloses, resignierendes Lächeln. »Hier spricht Colonel David Jedediah Laird, zur Zeit kommandierender Offizier der Basis MacDonald. Wir haben seit drei Tagen keinen Kontakt mehr zur Erde und zu Tranquillitatis. Die letzten Berichte handelten von Bombenangriffen auf New York.«

Sie konnte die Stimme genausowenig ertragen wie das unrasierte Gesicht. Ihre Knie gaben nach, und irgendwie gelang es ihr, sich auf einen der Sitze fallen zu lassen.

»Die Invasion ist nicht aufzuhalten«, fuhr der Mann fort. »Der größte Teil des militärischen Personals ist bereits vor einer Woche abgezogen worden. Inzwischen haben wir auch den Kontakt zu diesem Kontingent verloren. Zur Zeit befinden sich noch vierundachtzig Menschen auf dem Gelände. Ich habe mich entschieden, die Basis MacDonald aufzugeben. Wir werden uns mit drei Lasttransportern auf den Weg zur Erde machen und versuchen, uns einer kämpfenden Einheit anzuschließen.« Er machte eine Pause. »Ich habe die Computer der Basis instruiert, in den nächsten zwei Jahren keinen Zugriff auf Programme und Datenbestände zuzulassen. Für diesen Zeitraum wird es keinen, ich wiederhole, keinen gültigen Autorisierungscode geben. Da nicht anzunehmen ist, daß die Invasoren während dieser Zeit oder später Zugang zu gültigen Autorisierungscodes haben werden, und da ich nicht sicher sein kann, daß wir noch in der Lage sein werden, einen von uns gewählten Code an irgendeine Dienststelle zu übermitteln, wird nach den genannten zwei Jahren jegliche Zugangskontrolle abgeschaltet.« Der Blick des Offiziers irrte nach unten, wo vermutlich seine Notizen lagen, und richtete sich dann wieder auf die Kamera. »Falls die Invasoren die Basis bis dahin noch nicht eingenommen haben sollten und falls es dann noch irgend jemandem möglich sein sollte, auf den Mond zu gelangen, steht ihm der Zugang über Funk wie über Datennetz offen.«

Charity gab einen erstickten Laut von sich, und Charity erkannte, daß sie unwillkürlich die Fäuste geballt hatte.

»Unmittelbar nach der Kontaktaufnahme werden sämtliche Sicherungsmaßnahmen offengelegt, die wir getroffen haben, um den Invasoren den Zugang zur Basis zu erschweren«, fuhr der Offizier fort. »Die meisten dieser Sicherungssysteme sind nicht zentral kontrolliert und lassen sich daher auch nicht abschalten. Diese Systeme bleiben daher unversehrt, selbst wenn der Feind die Zentralcomputer durch eine Bombe lahmlegen sollte. Die gesicherten Abschnitte der Basis sind lebensgefährlich und sollten bis zur Beseitigung der Sicherungssysteme unbedingt gemieden werden. Die äquatorialen Umlaufbahnen sind ebenfalls zu meiden, bis die magnetische Katapultanlage stillgelegt werden kann.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Skudder. »Das kann nicht wahr sein.«

»Es ist wahr«, sagte Charity deprimiert. »Ich sagte doch, ich kenne die Handschrift.«

»Dies ist die letzte Aufzeichnung«, ergänzte der Mann auf dem Bildschirm. »Unmittelbar nach ihrem Ende werden alle Zugänge, elektronischer und direkter Art, blockiert und gesichert. Die Computerprogramme sind für eine lange Laufzeit ausgelegt, obwohl ich davon ausgehe, daß der Krieg nicht mehr lange dauern wird. Falls unser unbekannter Feind die Hand auch nach dem Mond ausstrecken sollte, wird er feststellen, daß wir ihm einige Überraschungen hinterlassen haben.« Er sah noch einmal auf und zeigte noch einmal dieses unbeholfene Lächeln, das sie so gut kannte. »Ende der Aufzeichnung.«

Keiner von ihnen sagte ein Wort. Das Bild verschwand vom Monitor, und nach ein paar Sekunden begann die Wiedergabe von vorn.

»Willkommen. Wer immer Sie ...«

Charity nahm den Helm ab. Es war ihr herzlich gleichgültig, ob irgendein verrücktgewordener Servo in genau diesem Moment damit beschäftigt war, Nervengas in die Ventilationsanlage einzuleiten. »Schalten Sie das ab«, sagte Charity, und ihre Stimme, die durch den großen Raum hallte, klang sogar in ihren eigenen Ohren ungewöhnlich heftig. Bevor Harris etwas sagen konnte, flackerten die Pultkontrollen, an denen der Würfel angeschlossen war, und das Bild blieb mitten im Satz stehen.

»Danke«, sagte sie heiser und sah auf. Skudder hatte es ihr nachgetan und den Helm abgenommen, und auch die anderen beiden öffneten ihre Helmvisiere. Sie bemerkte, daß die anderen sie anstarrten.

»Was ist?« schnappte sie.

Harris öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Es war Skudder, der schließlich die Frage stellte. »Laird?« sagte er nur.

Sie schloß die Augen und atmete tief ein. Irgendwie hatte sie diesen Augenblick gefürchtet. Es war, als seien sechzig Jahre Krieg und Verwüstung plötzlich bedeutungslos geworden.

»Ja«, sagte sie schließlich. »David.« Ihre Augen richteten sich auf das stillstehende Bild hinter Skudder, dann wieder auf ihn. »Mein Ex-Mann, der Teufel soll ihn holen.« Ihre Stimme entglitt ihr.

»He«, sagte Skudder besorgt, »alles in Ordnung?«

»Nichts ist in Ordnung«, sagte sie, wütend auf sich selbst, auf ihn und auf den Mann, der vermutlich seit sechzig Jahren tot war. Sie starrte sein Bild an, und die Wut ließ ihren Blick unscharf werden und ihre Schultern zittern. »Typisch für dich«, sagte sie zu dem Bild eines toten Mannes und empfand nichts als Zorn. »Du hast es verpfuscht. Nicht ein einziges Mal in deinem ganzen verdammten Leben hast du etwas so gemacht, wie es sein sollte. Verdammt noch mal ...«

Skudder war plötzlich neben ihr und hielt ihre Schultern mit beiden Händen fest. Sie zitterte noch immer. Die Erinnerungen waren übermächtig. Ihr Blick fiel auf Harris, der sie verwirrt anstarrte. »Achten Sie auf Ihren Computer, Soldat«, sagte sie eisig, aber ihre Stimme schwankte mehr, als ihr lieb war. Harris wandte den Blick ab, ungewöhnlich taktvoll.

»Unsere eigenen Leute«, sagte Skudder nach einer Weile ernüchtert.

»Sechs Tote«, sagte Charity. »So sinnlos, so verdammt sinnlos.«

»Ich kann es immer noch nicht glauben.« Skudder schüttelte den Kopf. Es tat ihr gut, seine Stimme zu hören, direkt und ohne die Verzerrungen des Funkkanals. »Die Laserkanonen, diese verflixte Putzmaschine - das ist vollkommen idiotisch.«

»Der Schuß, der uns heruntergeholt hat«, fügte sie hinzu. »Er hätte uns allen mit dem Katapultgeschoß das Genick brechen können, in einem Krieg, den wir vor sechzig Jahren verloren haben.«

»Was hat er sich davon erhofft?« fragte Dubois tonlos. Sie stand ein paar Meter entfernt, die Waffe noch immer in der Hand.

»Begreifen Sie den Unterschied zwischen gut gemacht und gut gemeint!« fragte Charity, und die Bitterkeit ließ ihre Stimme fremd klingen.

»Ja?« fragte Dubois und starrte sie mit offenkundiger Verwirrung an. Nach einem Moment hatte sie verstanden, und ihr Gesicht zeigte Betroffenheit.

Charity wies mit einer Kopfbewegung auf das Bild über dem Ring. »Er hat es nie begriffen«, sagte sie und stand auf. »Belassen wir es dabei, ja?«

»Einverstanden«, sagte Skudder ruhig. Sie sah ihn scharf an. Er erwiderte den Blick mit einem angedeuteten Lächeln, und nach einem Moment lächelte sie auch.

»Versuchen wir, eine Funkverbindung nach Köln zu bekommen«, sagte sie. »Und einen Überblick über das Basisgelände.« Charity trat um die Konsolen herum in den Ring hinein und blieb hinter Harris stehen. »Sind diese Programme abgelaufen, oder erwartet uns noch irgendeine Überraschung?«

»Die Programme sind im Wartezustand«, meldete der Würfel an Harris' Stelle.

»Ich möchte direkten Zugang auf den Konsolen«, sagte Charity ruhig. »Leg die Kontrolle auf diesen Ring, 370/98.«

»Wie Sie wünschen«, sagte der Würfel leicht beleidigt. »Ich darf darauf hinweisen, daß meine Unterstützung bei der Kommunikation ...«

»Tu es einfach«, unterbrach ihn Charity.

»Wie Sie wünschen«, wiederholte der Würfel nach einem Moment. Die Pulte leuchteten auf. Sie setzte sich und betätigte versuchsweise eine Tastatur. Die Reaktionen kamen prompt.

»Ich komme auf deine Unterstützung zurück«, sagte sie. »Stell die Funkverbindung nach Köln her. Die Lagrange-Relais sind noch intakt, soweit wir wissen.«

»Das ist korrekt«, antwortete der Würfel förmlich. »Es wird trotzdem etwas Zeit in Anspruch nehmen.«

»Das ist in Ordnung«, sagte Charity geistesabwesend und konzentrierte sich auf die Eingabe. Hinter ihr verschwand das Bild ihres glücklosen Ex-Ehemanns und wurde durch eine Zustandsübersicht ersetzt.

»Nehmen Sie die andere Konsole, Harris«, sagte sie nach einer Weile. »Sehen Sie die Aufzeichnungen durch, ob die Moroni jemals hiergewesen sind oder irgendwo in der Nähe.«

»Irgendwo müssen sie sein«, warf Skudder ein und beugte sich interessiert von der anderen Seite über die Konsolen. »Sie waren schließlich da draußen, nicht weit hinter uns.«

»Drei Stunden«, erinnerte sie ihn. »In dieser Zeit hätten sie notfalls sogar direkt von der Erde kommen können, wenn ihre richtigen Raumschiffe nur halb so gut sind wie meine alte CONQUEROR.«

»Wir haben drei Tage gebraucht«, sagte Harris neben ihr.

»Nicht jeder da draußen ist ein Fußgänger«, versetzte Charity mißmutig. »Gewöhnen Sie sich besser an den Gedanken.« Sie schickte noch ein paar Anforderungen in das System. »Dabei fällt mir ein, lassen Sie sich den Status der Startbahn und der Katapultanlage geben.«

Harris setzte zu einer Frage an, warf einen Blick auf ihr Gesicht und verstummte. Charity gestattete sich ein verhaltenes Grinsen, bevor sie weitermachte.

»Keine Anzeichen von Moroni-Aktivität auf dem Basisgelände«, meldete sich der Würfel unaufgefordert. Sie seufzte leise.

»Angeber«, sagte sie mit gelindem Spott. »In den gesamten sechzig Jahren?«

»Korrekt«, antwortete 370/98. »Es hat ein paar nicht identifizierte Radarkontakte im Süden und Südosten gegeben, und seismologische Registrierungen, aber keine Moroni-Identifizierung.«

»Wieso seismologisch?« fragte Skudder verwirrt.

»Erschütterungen im Tagebau-Gebiet«, vermutete Charity. »Was immer das heißt. Vielleicht sind auch die Bagger mit in diesen Spuk einbezogen worden. Überprüfung, 370.«

»370/98«, sagte der Würfel. »Soviel Zeit muß sein.«

»Entschuldigung«, murmelte sie.

»Was ist mit Moroni-Aktivität im Bereich der Gruben?« fragte sie dann.

»Keine Daten aus Grube II und III«, sagte Harris, der seine eigene Abfrage parallel laufen ließ. Charity dachte flüchtig, daß es sinnvoll war, Harris' Angaben und die des Würfels wechselseitig überprüfen zu lassen. Vorausgesetzt, daß sie nicht dieselben Motive hatten, etwas zu verschweigen oder zu erfinden. In letzter Zeit war das Leben ungeheuer kompliziert geworden.

»Was heißt das, keine Daten?«

»Entweder ist nichts passiert«, mutmaßte Harris, »oder es konnte nicht beobachtet werden. In Grube I gibt es nur die normalen Registrierungen. Keine besonderen Vorkommnisse.«

»Versuchen Sie, ein paar Videobilder aus II und III zu bekommen«, empfahl Charity nach kurzer Überlegung. »Wo war der Ursprung der registrierten Erschütterungen?«

»Südost«, antwortete der Würfel.

»Fangen Sie mit Grube III an«, sagte sie.

Harris blickte auf. »Die liegt im Süden«, sagte er.

»Sie ist übersichtlicher«, antwortete Charity. »Üben Sie. Mit Grube II können Sie sich den ganzen Tag beschäftigen, und Sie würden es nicht einmal merken, wenn dort jemand ein paar Footballfelder klaut.« Er machte sich wortlos an die Arbeit. Auf den Bildschirmen wechselten rasch undeutliche Kamerabilder von Maschinenhallen, freitragenden Transportbändern, Kontrolltürmen und riesigen Baggern, die regungslos zwischen terrassenförmigen Abbaustufen standen. Das Sonnenlicht tauchte das Gelände von Grube III in eine erbarmungslose gleißende Helligkeit, die die Sichtfilter der Kameras nur teilweise mildern konnten. Metall warf scharfe Lichtreflexe und Spiegelungen auf den dunklen Boden, aber nirgendwo zeigten sich die charakteristischen Spuren von Moroni-Bauten oder Moroni-Maschinen.

»Das Gelände scheint sauber zu sein«, sagte Harris nach zehn Minuten.

»Was ist mit den Startanlagen?«

»Die Abfrage läuft noch«, sagte Harris. »Lassen Sie mir ein wenig Luft, okay?«

»Was immer Sie brauchen«, antwortete Charity. Ihre eigenen Abfragen lieferten regelmäßig Fehlanzeigen. Sie fragte sich, ob Harris oder der Würfel herauszubekommen versuchten, was sie tat. Ihre Fähigkeiten als Operator waren etwas eingerostet, aber soweit es Harris betraf, glaubte sie einen sicheren Überblick über seine Aktivitäten im Computernetz zu haben. Was den Würfel anging, war sie sich da weitaus weniger sicher.

»Ich fange jetzt mit Grube II an«, meldete Harris neben ihr. Sie brummte zustimmend und nahm den nächsten Fehlschlag zur Kenntnis. Dann hörte sie, wie Skudder einen erstaunten Pfiff ausstieß, und runzelte die Stirn.

»Himmel«, sagte Harris verblüfft. »Sehen Sie sich das an.«

Sie hob den Kopf und folgte seiner ausgestreckten Hand zu den von der Decke herabhängenden Bildschirmen, die ein Dutzend verschiedene Übersichtsbilder des südöstlichen Tagebaugebietes zeigten. Im harten Licht der Sonne erstreckte sich die riesige Grube II, das mit Abstand größte der vier Abbaugebiete. Einige der Aushebungen reichten drei bis vier Kilometer in den Mondboden hinein, und die Bahnen, die die Schaufelbagger dabei terrassenartig angelegt hatten, boten genug Platz für mehrere Shuttle-Landebahnen nebeneinander. Abraumhalden zogen sich zum Horizont, die Nischen für die Transportbänder tief in ihre hochgeworfenen Flanken gebohrt. Felswände standen schroff im Westen, dort, wo das Deckgestein nicht beseitigt worden war und wo der Erzabbau in gewaltigen Höhlen fortgesetzt worden war, geschaffen mit atomaren Sprengsätzen, die das Metall in einer radioaktiven Schmelze am Boden kilometerhoher Kavernen angesammelt hatten. Platz genug für die Millionen Tonnen Material und Maschinen, die dort in zehn Jahren verbaut worden waren.

Nur, es war nichts von alldem zu sehen. Es gab keine Transportbänder, keine Beleuchtung, keine Bohranlagen, keine Magazine, Hallen, Hangars, keine Landebahnen, keine Shuttle-Startanlagen, keine Bunker, kein Kraftwerk, kein einziges Gebilde von Menschenhand. Nichts außer Fels, Sand und Staub erstreckte sich vor ihnen, soweit das Auge reichte.

»Scheiße im Schuhkarton«, sagte Charity entgeistert. »Wo ist das ganze Zeug hingekommen?«

Die Kameras schwenkten langsam, und andere Teile des Areals wurden sichtbar. Nirgendwo war eine Spur von blankem Metall zu entdecken. Skudder schüttelte den Kopf. »Das übersteigt mein Vorstellungsvermögen«, sagte er. »Was wollen die Moroni mit dem ganzen Zeug?« Er kratzte sich an der Wange, die nach fast anderthalb Tagen Druckanzug Rasiermesser und Seife hätte vertragen können. »Die haben nicht eine einzige Schraube übriggelassen.«

»Sogar Diebe haben ihren Stolz«, versetzte Charity. Sie sah auf das viele hundert Quadratkilometer große Grubengelände, ohne wirklich zu begreifen. Sie konnte sich ebensowenig wie Skudder vorstellen, wie man mehrere Dutzend Großraumbagger und ihre mobilen Maschinenhallen verschwinden lassen konnte, ganz zu schweigen von zweihundert Kilometer langen Transportbändern, die pro Sekunde Hunderte von Tonnen verlagern konnten. »Ohne Transmitter haben die das unmöglich schaffen können«, dachte sie laut. »Aber wenn man Transmitter hat, wozu braucht man dann Transportbänder oder Bagger?«

Niemand hatte eine Antwort darauf. Sie betrachteten stumm das leergeräumte Gelände. Die schweren Räumbagger hatten tiefe Kettenspuren im harten Boden hinterlassen.

»Kein Wunder, daß sie MacDonald nicht besucht haben«, sagte Charity nach einer Weile ehrfürchtig. »Sie waren einfach zu beschäftigt.«

»Deshalb auch die registrierten Erschütterungen«, kommentierte Harris. »Sie müssen eine Menge Lärm gemacht haben, als sie das ganze Material verlegt haben.«

Die Bilder wanderten weiter.

»Ich habe eine Übertragungsstrecke nach Köln«, meldete sich der Würfel. »In drei Minuten.«

Keiner von ihnen reagierte darauf. Die Bildschirme zeigten Teilansichten der ausgeräumten Bergwerksanlage, unterteilt wie das Mosaikbild eines Moroni-Insektenauges.

»Nummer Drei«, sagte Skudder plötzlich. Harris schlug mit dem Finger auf eine Taste, und eines der Bilder blieb stehen. Die gewaltige, schattenlose Ebene breitete sich vor ihnen aus, endete in den nahezu senkrechten Wänden eines anderthalb Kilometer hohen Steinbruchs, dessen Kliffs halb im Dunkeln lagen, im toten Winkel des Sonnenlichts. Dennoch konnte Charity die Umrisse eines gewaltigen Rings aus weißem Metall ausmachen, der wie ein abstraktes Kunstwerk in die Felswand eingepaßt worden war.

»Da haben wir es«, sagte sie tonlos. »Ein hübsches kleines Schlupfloch.«

»Er sieht anders aus, als ich erwartet habe«, sagte Harris vorsichtig.

»Das macht nichts«, erwiderte Charity. »Das Ding sieht aus wie der Ring in dem Schiffswrack. Der, mit dem alles angefangen hat.« Sie ließ den Sitz nach hinten schwingen. »Er ist nicht eingeschaltet, das ist alles.«

»Die Black-Hole-Bombe wird ihn genauso erwischt haben wie alle anderen«, sagte Skudder.

»Er sieht ziemlich unversehrt aus«, entgegnete Charity.

Er kniff die Augen zusammen. »Auf diesem Bild kann ich überhaupt nicht viel erkennen«, beschwerte er sich.

»Die Moroni hätten keine drei Stunden bis zum Wrack benötigt, wenn sie von dort gekommen wären«, gab Harris zu bedenken.

»Ich vermute, daß wir dort keine Moroni finden werden«, bestätigte Charity müde. »Da draußen ist nichts. Wir müssen von vorne anfangen.« Sie sah sich nach dem Würfel um. »Gib mir die Leitung nach Köln, 370/98.«

Die Bildschirme flackerten kurz und zeigten dann ein nichtssagendes Ameisengesicht.

»Captain Laird«, verkündete der Jared. »Wir sind erfreut, Sie wohlbehalten zu sehen.«

»Ich weiß, wer ich bin«, schnappte sie. »Wer bist du?« Was eine unsinnige Frage war, denn in gewisser Weise waren sie alle ein und dasselbe Wesen.

Drei Sekunden waren eine lange Zeit, dreihunderttausend Kilometer waren selbst für Radiowellen eine weite Strecke, und der Umweg über die Relais-Satelliten machte es noch schlimmer. Sie hatte fast vergessen, wie diese verzögerten Gespräche aussahen. Ein Streit ließ sich unter diesen Bedingungen einfach nicht austragen. Man hatte zuviel Zeit, etwas zu sagen, das man später bereute, bis es am Ende nichts mehr zu sagen gab. Sie wußte es aus eigener Erfahrung.

Das Insektengesicht geriet in Bewegung. »Diese Einheit trägt keinen Namen.«

»Na schön«, sagte sie. »Ich will jemanden sprechen, den ich kenne. Jemanden mit einem Namen. Geben Sie mir Kias oder Gurk oder meinetwegen auch Stone.«

Die nächste Pause. Sie tippte mechanisch mit den Fingerspitzen auf die Plastikfläche vor ihrem Pult, einen lange vergessenen Schlagzeug-Rhythmus.

Die namenlose Ameise verschwand ohne weiteren Kommentar vom Bildschirm. Eine andere Ameise erschien.

»Kias?« fragte sie, und ihre Frage überschnitt sich mit der Begrüßung.

»Ich freue mich, Sie wohlbehalten zu sehen, Captain Laird. Tatsächlich hatten wir fast nicht mehr damit ... ja, natürlich. Sie wollten mich sprechen?«

Charity verzichtete auf einen Kommentar. »Ich weiß nicht, wie lange die Moroni diese Leitung unbehelligt lassen. Oder uns, was das betrifft.« Sie lächelte grimmig. »Um es kurz zu machen, wir haben sechs Ausfälle gehabt. Und wir haben das Schiff verloren.«

Sie beobachtete aufmerksam den Bildschirm, während sie weiter berichtete, aber Kias zeigte keine erkennbare Reaktion. Falls er etwas über die Eier an Bord der HOME RUN gewußt hatte, konnte er es gut hinter seiner Chitinmaske verbergen.

»Wir haben Probleme mit Sicherungsanlagen gehabt, die von der menschlichen Besatzung hinterlassen worden sind. Skudder, Harris, Dubois und ich haben es bis in die Zentrale geschafft. Die Bombe und der Computer sind intakt, was man von uns nicht behaupten kann.« Sie rieb sich gedankenverloren über die Prellungen an ihrer Hüfte.

»Haben Sie die Moroni entdeckt?« fragte Kias nach einer Weile.

»Sagen wir, sie haben uns entdeckt.« Sie versuchte es noch einmal. »Um genau zu sein, sie haben das Wrack der HOME RUN in Besitz genommen, keine drei Stunden, nachdem wir uns abgesetzt hatten. Ich weiß nicht, ob sie noch etwas gefunden haben, was sie gebrauchen konnten, aber sie waren bestimmt sehr neugierig.«

Diesmal glaubte sie eine schwache Reaktion zu erkennen, aber sie konnte sie nicht richtig einordnen.

»Das ist bedauerlich«, sagte Kias ungerührt. »Andererseits haben Sie so wenigstens feststellen können, wo sich unsere Feinde aufhalten.«

»Bedaure«, sagte Charity. »Wir haben keinen Anhaltspunkt, woher diese Moroni-Gleiter gekommen sind. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch an der Aufschlagsstelle sind, geschweige denn, was sie unternommen haben, nachdem wir entkommen sind. Das Wrack liegt nicht im Bereich der Kameraüberwachung der Basis.«

»Wissen die Moroni, wo Sie sind?«

»Sie könnten den Spuren folgen«, antwortete Charity. »Da sie es bisher nicht getan haben, nehme ich an, daß sie uns übersehen haben.« Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht haben sie kein Interesse an uns.«

»Oder sie haben nicht die Kapazität, diesem Interesse nachzugehen«, erwiderte Kias, was eine seltsame Bemerkung war.

»Was ist mit der Botschaft?« fragte Charity. »Hat Stone inzwischen etwas mehr aus dieser Botschaft herausbekommen können?«

»Governor Stone ist leider nicht erreichbar«, teilte Kias mit. »Die Dechiffrierung der Botschaft hat keine nennenswerten Fortschritte gemacht. Die Störungen auf dem Übertragungsweg waren zu groß.«

»Was heißt das, nicht erreichbar?« fragte Charity.

»Governor Stone hatte ein paar Anpassungsschwierigkeiten«, antwortete der Jared höflich.

»Wie ungewöhnlich für ihn«, spottete Charity. »Hat er denn wenigstens herausbekommen können, woher die Nachricht stammt?«

»In gewissem Sinne«, sagte Kias zögernd. »Die Untersuchung der Aufzeichnungen hat ergeben, daß jemand einen gewöhnlichen Moroni-Handsender verwendet hat, um mit der Notfrequenz Funkzeichen zu erzeugen.«

»Einen Handsender?« fragte Charity ungläubig. »Das ist völlig unmöglich.«

»Das Profil ist charakteristisch«, kam die verzögerte Antwort. »Diese Funkgeräte entwickeln viel Leistung auf der Notfrequenz, aber sie erzeugen nur einen Dauerton, um Peilungen zu erleichtern. Der Sender wurde regelmäßig ein- und ausgeschaltet, um die Funkzeichen zu setzen. Die gesamte Botschaft dauerte zwanzig Minuten oder wurde entsprechend oft wiederholt, aber wir haben nur eine Folge über etwa eine Minute intakt erhalten. Falls der Unbekannte versucht haben sollte, seine Nachricht auch über Sprechfunk abzusetzen, dann ist die Übertragung mit Sicherheit in den atmosphärischen Störungen verlorengegangen, weil die Leistung des Gerätes nicht ausreichte.«

»Das glaube ich sofort«, sagte Charity. »Kias, diese Geräte haben eine Reichweite von zweihundert Kilometern, und in der Botschaft ist von der Rückseite des Mondes die Rede. Keine Relaisstrecke der Welt kann ein Funksignal aus einem Moroni-Handgerät von hier bis zum Nordpol übertragen. Habt ihr uns vielleicht in die falsche Richtung geschickt?«

»Die Botschaft wurde korrekt dechiffriert«, verteidigte sich Kias. »Die einzelnen Worte werden von verstümmelten Abschnitten getrennt, aber die Botschaft erwähnt definitiv Mond, dunkel, irgend etwas mit ... Seite und später wieder Rückseite, Tiefe, und darüber hinaus die zwei zusammenhängenden Sätze, die Ihnen bekannt sind. Es handelt sich eindeutig um eine Warnung, die die Moroni betrifft und an Sie gerichtet ist, Captain Laird.«

»Ich weiß«, sagte sie wütend. »Ich habe mir das oft genug vorhalten lassen müssen, sonst wäre ich nicht hier.« Sie fixierte die Ameise. »Woher kamen die Funksignale?«

Diesmal dauerte die Pause deutlich länger als drei Sekunden.

»Vom Nordpol«, sagte Kias schließlich. »Unsere Nachforschungen beweisen eindeutig, daß die Funksignale aus dem zerstörten Transmitter stammen.«

»Aus dem Loch?« Charity massierte sich nervös den Nacken. »Das glaube ich einfach nicht. Was sagt Gurk dazu?«

»Er sagt, mit einem intakten Transmitter an irgendeinem anderen Ort im Netz könnte es funktionieren.«

»Ich dachte, die Black-Hole-Bombe hätte alle Transmitter in diesem Teil des Netzes ausgebrannt und uns abgeschnitten?«

»Sie vereinfachen«, sagte Kias.

»Natürlich«, murmelte sie dazwischen.

»Das Netz ist nicht einfach über dem normalen Raum ausgebreitet«, fuhr Kias fort. »Es ist vielfach umgestülpt und gefaltet. Transmitter in unmittelbarer räumlicher Nähe zueinander sind im Netz möglicherweise weit voneinander entfernt, und andere, die Tausende von Lichtjahren auseinanderliegen, sind im Netz kaum voneinander zu trennen. Und die Schockwelle der Explosion breitete sich in diesem Gebilde nach eigenen Regeln aus. Der größte Teil des Netzes ist bis jetzt noch gar nicht davon erfaßt worden.«

»Na großartig«, sagte Charity. »Was ist mit dem Loch am Pol?«

Kias zögerte kaum merklich. »Es hat einen stabilen Zustand erreicht.«

»Wann?«

»Der augenblickliche Durchmesser ist vor vierzehn Stunden erreicht worden.«

Sie warf Skudder einen vielsagenden Blick zu. »Na los, Kias«, sagte sie. »Wie ist der augenblickliche Durchmesser?«

»Zwanzig Kilometer.« Die Ameise wartete ihre Reaktion ab, sprach dann weiter, als sie stumm blieb. »Der Durchmesser hat sich gegenüber vorher fast verdoppelt.«

Charity hatte das undeutliche Gefühl, daß Kias ihr das wahre Ausmaß der Katastrophe verheimlichte, aber was sie gehört hatte, genügte ihr für den Augenblick. Als sie gestartet waren, hatte das Loch einen Durchmesser von ein paar Kilometern gehabt, und die Beben der verformten Erdkruste hatten sie noch in Köln aus dem Schlaf gerissen. Das Universum war aus den Fugen geraten, und anderthalb Lichtsekunden entfernt war nichts davon zu spüren, dachte sie beklommen, und dann hatte sie eine Idee.

»Zu welchen Zeitpunkten sind die seismologischen Aufzeichnungen angefertigt worden?« fragte sie Harris.

»In der Zone um Grube II?« Er blickte zum Würfel hinüber.

»Die ersten Erschütterungen wurde vor drei Monaten registriert«, teilte der Computer nach ein paar Sekunden Wartezeit mit. »Zu diesem Zeitpunkt werden auch deutlich mehr Radarkontakte als früher verzeichnet, mehr als während der gesamten Zeit seit der Invasion.«

»Das war, bevor die Schwarze Festung angegriffen wurde«, sagte Skudder nachdenklich.

»Und wann sind die letzten Daten aufgenommen worden?« fragte Charity.

»Vor anderthalb Wochen«, antwortete der Würfel prompt. »Zu Beginn blieb die Häufigkeit der registrierten Erschütterungen konstant. Es gab eine Unterbrechung von mehreren Tagen genau zu der Zeit, als die Black-Hole-Bombe gezündet wurde. Danach folgen drei Wochen zunehmender Bodenaktivität.«

»Drei Wochen.« Charity sah zu dem Bildschirm hinauf, zu der Jared-Ameise, die geduldig wartete. »Wir haben die Moroni nicht aufspüren können«, erklärte sie, »aber wir haben gewissermaßen ihre Fingerabdrücke entdeckt. Sie haben Material aus den Tagebaugebieten fortgeschafft, und es sieht so aus, als hätten sie dazu einen Transmitter verwendet.«

»Bis vor anderthalb Wochen?« vergewisserte sich Kias.

Charity lachte grimmig. »Das ist der springende Punkt, was? Hier oben gab es einen funktionierenden Transmitter, während die Black-Hole-Bombe alle anderen Zugänge zum Transmitternetz zerstört hat, und er war danach noch in Betrieb.«

»Die Botschaft hätte in dieser Zeit gesendet werden können«, sagte Kias.

»Die Asche ist noch nicht kalt«, kommentierte Skudder spöttisch.

Charity nickte humorlos. »Ich möchte mit Gurk sprechen«, sagte sie. »Er kennt das Transmitternetz ja angeblich wie seine eigene Hosentasche. Vielleicht hat er eine Idee.«

»Ich werde sehen, was sich machen läßt«, sagte Kias. »Es kann einige Zeit in Anspruch nehmen.«

»Wir laufen nicht weg«, sagte Charity. »Irgend etwas Neues über Kyle und die anderen?«

»Captain Laird, die genannten Personen sind seit vier Wochen verschollen.« Kias wirkte ernstlich erstaunt. »Sie waren am Pol. Wie kommen Sie auf den Gedanken, daß diese Personen überlebt haben könnten?«

»Nun, man gibt die Hoffnung nicht auf«, murmelte sie. »Ich schlage vor, wir unterbrechen den Kontakt.«

Kias verschwand drei Sekunden später vom Bildschirm, wortlos in der spartanischen Höflichkeit, die die Jared mit den Moroni gemeinsam hatten.

»Das gibt uns Stoff zum Nachdenken, was?« Skudder starrte noch immer auf den weißen Bildschirm.

»Zumindest haben wir den weiten Weg nicht umsonst gemacht«, warf Dubois ein. Der Gedanke schien sie tatsächlich zu freuen, erkannte Charity.

»Und vielleicht müssen wir den Rückweg nicht zu Fuß machen«, bemerkte Harris.

»Ich werde freiwillig keinen Transmitter mehr betreten«, versetzte Charity knapp. Dann fiel ihr Blick auf den Bildschirm vor Harris, und sie stieß einen anhaltenden Pfiff aus.

»Deshalb die Abfrage über die Startanlagen«, sagte Harris anerkennend. »Drei Startbuchten am kleinen Katapult sind leer, aber in der vierten Startbucht liegt ein Lasttransporter.«

Die Kamera zeigte einen kapselförmigen Schwerlast-Transporter mit den Hoheitszeichen der Space Force in einer zylinderförmigen Startbucht. Der Name war nicht zu entziffern, aber das Transportschiff entstammte derselben Baureihe wie die HOME RUN; bevor sie den Moroni in die Zangen gefallen war. Die gewaltigen Kranausleger an der Decke der Halle waren dazu gedacht, den Transporter auf die Katapultstrecke zu versetzen, deren Abschußröhre unmittelbar vor der Bucht begann.

»Typisch«, sagte Charity halblaut. »Irgendwas hat er immer herumliegen lassen, mein Ex-Mann.«

»Nun, diesmal war es nicht sein Fehler«, entgegnete Harris und tippt mit dem Finger auf das Status-Protokoll auf dem anderen Monitor. »Der Computer sagt, daß die Triebwerke hinüber sind. Das Ding kommt bis in die Umlaufbahn und noch ein Stück darüber hinaus, aber ohne Hilfe kommt es nie wieder herunter.«

Charity zuckte die Achseln. »Nun, es wäre wohl zuviel verlangt gewesen.«

»Glück ist wie Seife«, sagte Harris. »Wenn man es aufgebraucht hat, dann findet man nur noch Dreck.«

Die Bemerkung erinnerte Charity an das Bad, von dem sie geträumt hatte. Sie registrierte seinen vielsagenden Blick.

»Halten Sie lieber den Mund«, sagte sie nur. »Seit wir diese verfluchte Botschaft empfangen haben, habe ich für Rätsel nichts mehr übrig.«

»Nun, wir sind auf der dunklen Seite des Mondes«, sagte Skudder. »Ich wüßte nicht, was wir mit den paar Wortfetzen noch mehr anfangen sollten.«

Charity beugte sich vor und schaltete die Bildschirme wieder auf Harris' Pult um. Die Kameras zeigten das Tagebaugebiet, friedlich und völlig leer im gleißenden Sonnenlicht.

»Sieh genau hin«, sagte sie zu Skudder.

Er tat es. »Und?« sagte er nach einer Weile.

»Blödsinn«, sagte sie. »Dieses ganze Gerede über die dunkle Seite des Mondes ist schlicht und ergreifend Blödsinn.«

»Was ist daran Blödsinn?« wollte Harris wissen.

»Verdammt noch mal, macht die Augen auf und seht hin.« Sie kam auf die Füße, eine zu schwungvolle Bewegung, die in der niedrigen Schwerkraft leicht lächerlich wirkte, und stieß mit ausgestrecktem Zeigefinger in Richtung auf die Bildschirme. »Das da draußen ist Sonnenlicht. Der Mond hat keine dunkle Seite. Ich meine keine Seite, die immer dunkel ist. Von der Erde aus bekommt man die Rückseite nie zu Gesicht, aber sie hat trotzdem Tag und Nacht, genau die der Erde zugewandte Seite. Wir waren draußen, als der Sonnenaufgang kam. Es gibt einfach keinen Unterschied.«

Harris' Gesichtsausdruck wäre eine Eintrittskarte wert gewesen.

»Vielleicht suchen wir in der falschen Richtung«, warf Skudder ein.

»Wie meinst du das?«

»Nun, jedes Ding hat zwei Seiten.«

»Eine Kugel nicht. Verdammt, spiel keine Rätselspiele mit mir«, sagte Charity gereizt.

»Sogar eine Kugel«, erwiderte der Indianer grinsend. »Denk doch mal an die Gruben. Wenn es schon kein hinten und vorn gibt, dann auf jeden Fall oben und unten oder besser außen und ...«

»Innen«, vollendete Charity ironisch. Dann erinnerte sie sich an die paar Worte, die sie entziffert hatten.

»Natürlich«, sagte sie entgeistert. »Ich werde verrückt. Die Innenseite. Die dunkle Seite des Mondes ist INNEN!«


Das große Finale!

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