4 Gattinnen

Der Traum der Genetikerin

Schedemei erwachte aus ihrem Traum und wollte ihn jemandem erzählen, doch es lag niemand neben ihr. Niemand, und doch mußte sie den Traum erzählen. Er war zu mächtig und wirklich gewesen; er mußte erzählt werden, denn sie befürchtete, daß er ihrem Gedächtnis entglitt, wie es bei den meisten Träumen der Fall war, wenn sie ihn nicht erzählte. Zum erstenmal wünschte sie sich, sie hätte einen Gatten. Jemand, der sich ihren Traum anhören mußte, selbst wenn er danach nur brummen und sich auf die andere Seite drehen und wieder einschlafen würde. Es wäre eine so große Erleichterung für sie, den Traum zu erzählen.

Aber wo hätte in dem Wirrwarr in ihrem Zimmer überhaupt ein Gatte schlafen können? Hier war kaum genug Platz für ihre Pritsche. Der Rest des Raums war ihren Forschungen gewidmet. Die Labortische, die Becken und Becher, die Schüsseln und Röhren, die Abflüsse und Gefriergeräte. Und vor allem die großen Trockenbehälter an den Wänden, die mit gefriergetrockneten Keimlingen und Embryonen gefüllt waren, damit sie Muster eines jeden Versuchsstadiums ihrer Forschungen über Redundanz als natürlichem Mechanismus zur Erschaffung und Kontrolle genetischer Abweichungen aufbewahren konnte.

Obwohl sie erst sechsundzwanzig Jahre alt war, hatte sie sich bereits weltweit einen Namen unter den Wissenschaftlern ihres Fachgebiets gemacht. Das war der einzige Ruhm, auf den es ihr ankam. Im Gegensatz zu so vielen anderen brillanten Frauen, die in Rasas Haus aufgewachsen waren, hatte Schedemei sich niemals für eine Laufbahn interessiert, die ihr Ruhm in Basilika einbringen würde. Sie hatte von Kindheit an gewußt, daß Basilika nicht der Mittelpunkt des Universums war, daß Ruhm, den sie sich hier erwarb, nicht besser war als der, den sie sich an jedem beliebigen anderen Ort erwarb — er würde bald in Vergessenheit geraten. Die Menschheit lebte seit vierzig Millionen Jahren auf der Welt Harmonie, vierzigtausendmal länger als die gesamte verzeichnete Geschichte der Menschheit auf dem alten Heimatplaneten Erde. Wenn es eine Lektion zu lernen gab, dann die, daß man eine Sängerin oder Schauspielerin, eine Politikerin oder einen Soldaten sehr bald vergessen würde. Lieder und Stücke gerieten normalerweise in einer Lebenszeit in Vergessenheit; Grenzen und Verfassungen wurden spätestens nach tausend Jahren neu gestaltet. Aber die Wissenschaft! Wissen an sich! Wenn man Wissen festhielt, würde sich die Nachwelt vielleicht ewig daran erinnern. Man würde vielleicht vergessen, wer etwas entdeckt hatte … aber an die Entdeckung selbst würde man sich erinnern, sie würde auf alle Zeit zurückstrahlen und widerhallen. Die Pflanzen, die man schuf, die Tiere, die man verbesserte, sie würden die Zeit überdauern, wenn man gute Arbeit geleistet hatte. Hatte der Pflanzenhändler Wetschik, der Lieblingsgatte der lieben Rasa, nicht Schedemeis Trockenblumensamen in alle Länder am Rand der Wüste gebracht? Solange Trockenblumen blühten, solange ihr voller und schwerer Geruch ein ganzes Haus in der Wüste wie einen Blumengarten riechen ließ, solange würde Schedemeis Werk in der Welt lebendig sein. Solange Wissenschaftler auf der ganzen Welt von der Überseele Kopien ihrer Berichte erhielten, solange hatte sie den einzigen Ruhm, auf den es ankam.

Das war also ihr Gatte: ihrer Hände Werk. Ihre Schöpfungen waren ein Gatte, der sie niemals betrügen würde, wie Rasas arme, kleine Tochter Kokor betrogen worden war. Ihre Forschungen waren ein Gatte, der niemals vergewaltigend und plündernd, mordend und brandschatzend durch die Stadt ziehen würde, wie Palwaschantus Männer es getan hatten, bis die Gorajni die Ordnung wiederhergestellt hatten. Ihre Forschungen würden eine Frau niemals dazu zwingen, sich in ihrem Haus zu verstecken, alle Lichter ausgeschaltet, einen Pulsator in den Händen, obwohl sie wahrscheinlich gar nicht wußte, wie sie ihn gegen einen Eindringling benutzen sollte. Niemand war gekommen, obwohl die Krawalle zweimal ihre Straße zu erreichen schienen. Aber sie hätte gekämpft, um ihre Keimlinge und Embryos zu schützen. Hätte gekämpft und, wenn sie herausgefunden hätte, wie es ging, getötet, um ihre Lebensarbeit zu schützen.

Doch nun war dieser Traum gekommen. Ein verwirrender Traum. Ein mächtiger Traum. Und sie konnte keine Ruhe finden, bis sie diesen Traum jemandem erzählt hatte.

Rasa. Wem sonst konnte sie ihn erzählen, wenn nicht Tante Rasa?

Also stand Schedemei auf, unternahm eine halbherzige Bemühung, ihr Haar vom Schlaf zu glätten, und ging auf die Straße hinaus. Ihr kam nicht in den Sinn, sich umzuziehen, obwohl sie in ihren Kleidern geschlafen hatte; sie schlief oft in ihren Kleidern und zog sich nur um, wenn sie zufällig einmal daran dachte, ein Bad zu nehmen.

Es waren schon zahlreiche Menschen auf den Straßen, so viele wie lange nicht mehr; die Furcht und das Mißtrauen, das Gaballufix in die Stadt gebracht hatte, hatte viele Leute dazu bewogen, in ihren Häusern zu bleiben. Es war fast eine Erleichterung, den turbulenten Strom der Fußgänger hierhin und dorthin wogen zu sehen. Fast ein Vergnügen, sich anrempeln zu lassen. Die Leichen der Söldner hingen nicht mehr von den Balkonen hinab, lagen nicht mehr einfach auf den Straßen. Nur der gelegentliche Anblick zweier gemeinsam Streife gehender Männer in den Uniformen der Wache Basilikas erinnerte Schedemei daran, daß die Stadt noch unter Militärherrschaft stand. Und der Rat würde heute entscheiden, wie die Gorajni-Soldaten zu entlohnen seien, und sie aus der Stadt schicken und die Stadtwache wieder in den Tordienst einsetzen. Dann würden keine Soldaten mehr auf den Straßen sein, außer sie reagierten auf einen Notruf. Dann war alles wieder in Ordnung. Alles wäre wie zuvor.

Als Beweis der Wiederherstellung des Friedens nahm sie die Tatsache, daß auf der Veranda von Rasas Haus zwei Klassen junger Mädchen unterrichtet wurden; sie lauschten den Lehrerinnen und stellten gelegentlich Fragen. Schedemei blieb einen Augenblick lang stehen, wie sie es so oft tat, um den Unterricht zu verfolgen und sich an ihre eigene, schon so lange zurückliegende Zeit als Schülerin auf genau dieser Veranda zu erinnern, oder in den Klassenzimmern oder Gärten von Rasas Haus. Hier wurden viele Mädchen aristokratischer Herkunft unterrichtet, doch Rasas Haus war keins für Snobs. Der Lehrplan war streng, und es gab immer Platz für viele Mädchen aus ganz gewöhnlichen Familien oder aus überhaupt keinen. Schedemeis Eltern waren Bauern gewesen, nicht einmal Bürger; nur aufgrund der entfernten Verwandtschaft ihrer Mutter mit einer Dienstmagd aus Basilika hatte Schedemei die Stadt überhaupt betreten dürfen. Und doch hatte Rasa sie aufgenommen, allein aufgrund eines Vorstellungsgesprächs, als Schedemei sieben Jahre alt gewesen war. Schedemei hatte damals noch nicht einmal lesen können, weil ihre Eltern auch nicht lesen konnten … aber ihre Mutter hatte ehrgeizige Pläne für sie gehabt, und dank Rasa hatte Schedemei sie alle verwirklichen können. Ihre Mutter hatte noch erlebt, daß sie ihre eigenen Räume bezogen hatte, und von dem ersten Geld für die scharfäugige, ungeziefervertilgende Spitzmaus, die sie entwickelt hatte, konnte Schedemei den Hof ihrer Eltern dem Großgrundbesitzer abkaufen, so daß sie ihre letzten Jahre als Grundeigentümer und nicht nur als Pächter verbringen konnten.

Und all das, weil Tanta Rasa eine arme, ungebildete Siebenjährige aufnahm, nur weil ihr gefallen hatte, wie der Verstand dieses Mädchens arbeitete, als sie mit ihm gesprochen hatte. Allein dafür hatte sie verdient, eine der großen Frauen Basilikas zu sein. Und aus diesem Grund unterrichtete Schedemei auch lediglich hier, in Rasas Haus, statt in den höheren Schulen. Zweimal jährlich übernahm sie eine Klasse von Tante Rasas besten Schülerinnen mit naturwissenschaftlicher Fachrichtung. Offiziell war Schedemei noch immer in Rasas Haus gemeldet — sie hatte sogar noch ein eigenes Zimmer hier, obwohl sie es seit ihrer letzten Unterrichtsstaffel nicht mehr benutzt hatte, und rechnete immer halbwegs damit, feststellen zu müssen, daß es von einer anderen Person bewohnt wurde. Aber das war nie der Fall gewesen, ganz gleich, wie beharrlich Schedemei auf der Pritsche in ihren Zimmern schlief. Rasa hielt immer ein Bett für sie frei.

Als Schedemei das Haus betreten hatte, mußte sie schnell herausfinden, daß Rasas Größe auch bedingte, sie erst am Nachmittag sprechen zu können. Obwohl Rasa zur Zeit kein Mitglied des Stadtrats war, hatte man sie gebeten, an der Sitzung heute morgen teilzunehmen. Damit hatte Schedemei nicht gerechnet. Sie kam sich verloren vor. Denn der Traum brannte noch immer in ihr und mußte erzählt werden.

»Vielleicht«, sagte das Mädchen, das sie bemerkt und angesprochen hatte, »kann ich dir irgendwie helfen.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Schedemei und lächelte freundlich. »Es war sowieso töricht.«

»Dummheit ist meine Spezialität«, sagte das Mädchen. »Ich kenne dich. Du bist Schedemei.« Sie sprach den Namen so ehrfürchtig aus, daß Schedemei ziemlich peinlich berührt war.

»Die bin ich. Verzeih mir, daß mir dein Name nicht einfällt. Aber ich habe dich schon oft hier gesehen.«

»Ich bin Luet«, sagte das Mädchen.

»Ach«, sagte Schedemei. Der Name brachte gewisse Assoziationen mit sich. »Die Wasserseherin«, sagte sie. »Die Herrin des Sees.«

Das Mädchen fühlte sich eindeutig geschmeichelt, daß Schedemei sie kannte. Aber welche Frau in Basilika hatte noch nicht von ihr gehört? »Noch nicht«, sagte Luet. »Vielleicht niemals. Ich bin erst dreizehn.«

»Nein, da kann ich mir vorstellen, daß du noch jahrelang warten mußt. Und man wird nicht automatisch dazu, nicht wahr?«

»Das alles kommt«, sagte Luet, »auf die Eigenschaft meiner Träume an.«

Schedemei lachte. »Und trifft das nicht auf uns alle zu?«

»Ich glaube schon«, sagte Luet lächelnd.

Schedemei wandte sich ab. Doch dann begriff sie erneut, mit wem sie gerade sprach. »Wasserseherin«, sagte sie. »Du mußt einiges über die Bedeutung von Träumen wissen.«

Luet schüttelte den Kopf. »Wenn du deine Träume deuten lassen willst, mußt du die Wahrsager auf dem Inneren Markt bezahlen.«

»Nein«, sagte Schedemei. »Diese Art von Träumen meine ich nicht. Oder diese Art von Bedeutung. Es war sehr seltsam. Ich erinnere mich nie an meine Träume. Aber diesmal kam er mir sehr … zwingend vor. Vielleicht sogar … vielleicht ein Traum, wie du ihn wohl hast.«

Luet neigte den Kopf und sah sie an. »Wenn dein Traum von der Überseele gekommen ist, Schedemei, muß ich ihn hören. Aber nicht hier.«

Schedemei folgte dem jüngeren Mädchen in den hinteren Teil des Hauses und eine Treppenflucht hinauf, von der Schedemei kaum wußte, daß es sie überhaupt gab, denn dieser Teil des Hauses wurde zur Lagerung alter Artefakte, Möbel und Unterrichtsmittel benutzt. Sie gingen zwei weitere Treppen hinauf und betraten eine heiße und dunkle Dachstube.

»Mein Traum war nicht so geheim, daß wir hierher gehen mußten, damit ich ihn dir erzählen kann«, sagte Schedemei.

»Du verstehst nicht«, sagte Luet. »Wenn der Traum wirklich von der Überseele kommt, muß noch jemand ihn hören.« Mit diesen Worten entfernte Luet ein Gitter von der Giebelwand und schlüpfte hindurch, in hellen Sonnenschein hinaus.

Zuerst konnte Schedemei, halb geblendet vom Licht, nicht erkennen, daß sich direkt unter der Wandöffnung ein flaches, verandaähnliches Dach befand. Sie dachte, Luet wäre ins Nichts hinausgetreten und würde in der Luft schweben. Dann gewöhnten sich ihre Augen an die Helligkeit, und blinzelnd erkannte sie, worauf Luet ging. Sie folgte ihr.

Das flache Vordach war von der Straße aus nicht zu sehen und auch nicht von den anderen Häusern aus. Ein halbes Dutzend unterschiedlich geneigte Schrägdächer trafen hier zusammen, und ein großes Abflußloch in der Mitte der Fläche verdeutlichte, warum es diese Vorrichtung gab. Bei einem schweren Wolkenbruch konnte es sich etwa bis zu einem Meter Höhe mit dem von den Dächern strömenden Wasser füllen, bis es dann endgültig abfloß. Es war eher ein Teich als eine Veranda.

Es war auch ein perfektes Versteck, da nicht einmal die Bewohner von Rasas Haus wußten, daß es dieses Vordach gab — abgesehen von Luet natürlich, und wer immer sich sonst noch hier versteckte.

Ihre Augen hatten sich nun vollends an die Helligkeit gewöhnt. Im Schatten einer Markise saß ein älteres Mädchen, das Luet so ähnlich sah, daß Schedemei nicht überrascht war, als es ihr als die Entwirrerin Huschidh vorgestellt wurde, Luets ältere Schwester. Und gegenüber von Huschidh, am anderen Ende eines niedrigen Tisches, saß ein junger Mann, großgewachsen, aber noch nicht alt genug, um sich rasieren zu müssen.

»Kennst du mich nicht, Schedemei?« fragte der Junge.

»Ich glaube, doch«, sagte sie.

»Ich war noch viel kleiner, als du zuletzt in Mutters Haus gewohnt hast«, sagte er.

»Nafai«, sagte sie. »Ich habe gehört, du wärest in die Wüste gegangen.«

»Und anscheinend zu oft zurückgekehrt, fürchte ich«, sagte Nafai. »Ich hätte niemals gedacht, den Tag zu erleben, da Gorajni-Soldaten die Tore Basilikas bewachen.«

»Nicht mehr lange«, sagte Schedemei.

»Mir ist keine Stadt bekannt, die die Gorajni wieder aufgegeben haben, nachdem sie sie einmal besetzt haben«, sagte Nafai.

»Aber sie haben Basilika nicht besetzt«, sagte Schedemei. »Sie haben uns nur in einer Zeit der Unruhen geholfen.«

»In der Wüste ist die Asche von Dutzenden und Aberdutzenden Lagerfeuern zu sehen«, sagte Nafai, »aber keine Anzeichen, daß jemand dort Lager aufgeschlagen hätte. Wie ich gehört habe, hat der Gorajni-Anführer so getan, als hätte er ein gewaltiges Heer, das von General Muuzh dem Ungeheuer geführt wurde, wohingegen er in Wirklichkeit doch nur tausend Mann hat.«

»Er hat uns erklärt, diese List wäre nötig gewesen, um die Palwaschantu-Söldner, die mordend durch die Stadt zogen, psychologisch zu überwältigen.«

»Oder, um die Stadtwache Basilikas psychologisch zu überwältigen?« sagte Nafai. »Aber gut. Luet hat dich hergebracht. Weißt du, warum?«

Luet unterbrach ihn sofort. »Nein, Nafai. Sie gehört nicht dazu. Sie kam von sich aus, um Mutter einen Traum zu erzählen. Dann kam sie auf den Gedanken, ihn mir zu erzählen, und ich wollte, daß ihr beide ihn hört, für den Fall, daß er von der Überseele kommt.«

»Warum er?« fragte Schedemei.

»Die Überseele spricht zu ihm, genau wie zu mir«, sagte Luet. »Er hat sie gezwungen, zu ihm zu sprechen, und jetzt sind die beiden Freunde.«

»Ein Mann hat die Überseele gezwungen, zu ihm zu sprechen?« fragte Schedemei. »Seit wann gibt es denn so etwas auf der Welt?«

»Erst seit kurzem«, sagte Luet lächelnd. »Es gibt seltsamere Dinge im Himmel und auf Erden, als deine Schulweisheit dir träumen läßt, Schedemei.«

Schedemei erwiderte das Lächeln, doch ihr fiel nicht ein, woher das Zitat kam oder wieso es in diesem Augenblick so amüsant sein sollte.

»Dein Traum«, sagte Luets Schwester Huschidh.

»Jetzt komme ich mir lächerlich vor«, sagte Schedemei. »Er ist es nicht wert, daß ich ihn vor einem so großen Publikum erzähle.«

Luet schüttelte den Kopf. »Und doch bist du den ganzen Weg von … wo wohnst du? Bei den Zisternen?«

»Bei den Quellen, aber nicht weit von diesem Stadtteil entfernt.«

»Du bist den ganzen Weg gekommen, um Tante Rasa den Traum zu erzählen«, sagte Luet. »Ich glaube, er könnte wichtiger sein, als sogar du es vermutest. Also erzähle uns den Traum bitte.«

Schedemei warf wieder einen Blick auf Nafai und stellte fest, daß sie kein Wort über die Lippen bringen konnte.

»Bitte«, sagte Nafai. »Ich werde deinen Traum nicht verspotten und ihn auch niemandem erzählen. Ich will ihn nur hören, weil Wahrheit in ihm liegen könnte.«

Schedemei lachte nervös. »Ich bin einfach … Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich in Gegenwart eines Mannes sprechen muß. Es ist nichts gegen dich persönlich. Als Tante Rasas Sohn vertraue ich dir natürlich, aber ich …«

»Er ist kein Mann«, sagte Luet. »Nicht in Wirklichkeit.«

»Danke«, murmelte Nafai.

»Er behandelt die Frauen nicht, wie Männer es normalerweise tun. Und vor nicht allzu vielen Tagen hat die Überseele mir befohlen, ihn zum See mitzunehmen. Er schwebte darauf, trieb mit mir dahin. Die Überseele hat es befohlen, und er wurde nicht getötet.«

Schedemei betrachtete ihn mit neuer Ehrfurcht. »Ist das die Zeit, da alle Prophezeiungen zusammenkommen?«

»Erzähle uns deinen Traum«, sagte Huschidh leise.

»Ich habe geträumt — es klingt so lächerlich! —, daß ich einen Garten in den Wolken anlegte. Nicht nur die Pflanzen und Tiere, mit denen ich arbeite, sondern jede Pflanze und jedes Tier, von dem ich je gehört habe. Aber es war kein großer Garten, sondern ein ganz kleiner. Und trotzdem bot er allen Tieren und Pflanzen Platz, und sie wuchsen und gediehen. Ich trieb in den Wolken — eine Ewigkeit, schien es. Durch die längste Nacht der Welt, eine Nacht von tausend Jahren. Und dann war es plötzlich wieder taghell, und ich konnte den Rand der Wolke hinabsehen und ein neues Land ausmachen, ein grünes und wunderschönes Land, und ich sagte mir — im Traum natürlich —, diese Welt bedarf meines Gartens gar nicht. Also verließ ich den Garten und trat von der Wolke …«

»Ein Falltraum«, sagte Luet.

»Ich bin nicht gefallen«, sagte Schedemei. »Ich bin einfach von der Wolke getreten und stand auf dem Boden. Und als ich durch die Wälder und über die Wiesen wanderte, wurde mir klar, daß viele der Pflanzen aus meinem Garten doch benötigt werden. Also streckte ich die Hand aus, und die Pflanzen, die ich brauchte, regneten als Keimlinge auf mich hinab. Ich pflanzte sie, und sie wuchsen vor meinen Augen. Und dann begriff ich, daß auch viele Tiere benötigt wurden. Diese Welt hatte ihre Vögel verloren. Es gab überhaupt keine Vögel, und nur wenige Reptilien und keine Lasttiere oder Haustiere, die Fleisch liefern. Und doch gab es Milliarden von Insekten, die von den Vögeln und Reptilien gefressen werden konnten, und Weiden und Wiesen, die die Wiederkäuer ernähren konnten. Also hob ich erneut die Hände in die Wolken, und aus den Wolken regneten die Embryos der Tiere hinab, die ich benötigte, und ich fügte Wasser hinzu, und sie wuchsen schnell und wurden groß und stark. Die Vögel flogen in den Himmel, das Vieh und die Schafe wanderten zu den Bächen und Weiden, und die Schlangen und Echsen glitten und huschten davon. Und ich hörte die Worte, als hätte jemand mir sie ins Ohr gesprochen: »Niemand hat jemals einen Garten wie den deinen gehabt, Schedemei, meine Tochter«. Aber es war nicht die Stimme meiner Mutter oder meines Vaters. Und ich wußte nicht genau, ob die Stimme von meinem Garten in den Wolken sprach oder von dieser neuen Welt, deren Flora und Fauna ich wiederhergestellt hatte, nachdem sie sie vor so vielen Jahren verloren hatte.«

Das war der Traum, alles, woran sie sich erinnern konnte.

Zuerst sagten sie nichts. Dann ergriff Luet das Wort. »Ich frage mich, woher du wußtest, daß die Pflanzen und Tiere, die du aus den Wolken hinabgerufen hast, die Fauna und Flora darstellten, die es einst dort gegeben hatte.«

»Keine Ahnung«, sagte Schedemei. »Aber ich hatte dieses Gefühl. Ich wußte es einfach. Diese Pflanzen und Tiere kamen nicht neu auf diese Welt, sie wurden wiederhergestellt.«

»Und du kannst nicht sagen, ob es die Stimme eines Mannes oder einer Frau war«, sagte Huschidh.

»Diese Frage hat sich mir gar nicht gestellt. Die Stimme erinnerte mich an meine Eltern, bis ich dann merkte, daß es weder die meiner Mutter noch die meines Vaters war. Aber ich habe nicht darauf geachtet, ob sie männlich oder weiblich war. Das könnte ich nicht einmal jetzt sagen.«

Luet, Huschidh und Nafai beratschlagten untereinander, sprachen jedoch so laut, daß Schedemei alles hören konnte — sie schlössen sie nicht aus. »In ihrem Traum kommt eine Reise vor«, sagte Nafai. »Das stimmt mit dem überein, was ich erzählt habe — und die Flora und Fauna wurden wiederhergestellt. Also handelt es sich für mich um die Erde, um keinen anderen Ort.«

»Alles deutet darauf hin«, sagte Luet.

»Aber die Wolken«, sagte Huschidh. »Was ist mit ihnen? Wolken ziehen vielleicht von einem Kontinent zum anderen, aber niemals von Planet zu Planet.«

»Selbst Träume von der Überseele sind nicht immer einfach zu deuten«, sagte Nafai. »Die Wahrheit fließt in unseren Verstand, doch dann zieht unser Gehirn unsere geistige Bibliothek heran, um Bilder zu finden, die diese Vorstellung ausdrücken können. Eine große Reise durch die Luft. Elemak hat es als seltsames Haus gesehen; Schedemei sieht es als Wolke; ich habe es als die Stimme der Überseele gehört, die gesagt hat, daß wir zur Erde gehen müssen.«

»Zur Erde«, sagte Schedemei.

»Vater hat es nicht gehört und Issib auch nicht«, sagte Nafai. »Aber ich bin mir dessen so sicher wie der Tatsache, daß ich lebe und hier sitze. Die Überseele beabsichtigt, zur Erde zu gehen.«

»Das stimmt mit deinem Traum überein, Schedemei«, sagte Luet. »Die Menschheit hat die Erde vor vierzig Millionen Jahren verlassen. Der tiefe Winter, der sich über die Erde senkte, hat wahrscheinlich die meisten Reptilienarten und alle Vögel getötet. Nur die Fische, die Amphibien und ein paar kleinere warmblütige Tiere können überlebt haben.«

X »Aber seitdem sind vierzig Millionen Jahre vergangen«, sagte Schedemei. »Die Erde muß sich schon lange erholt haben. Es hätten doch schon längst neue Arten entstehen müssen.«

»Wie lange war die Erde von Eis umschlossen?« fragte Nafai. »Wie langsam hat sich das Eis zurückgezogen? Wie haben sich die Landmassen in diesen Jahrmillionen bewegt?«

»Ich verstehe«, sagte Schedemei. »Es wäre möglich.«

»Aber dieser Zaubertrick«, sagte Huschidh. »Sie hebt die Hände, und die Keimlinge und Embryos regnen hinab, und dann fügt sie Wasser hinzu, damit die Embryos wachsen.«

»Nun, dieser Teil hat für mich sofort Sinn ergeben«, sagte Schedemei. »Bei unserer Forschungsarbeit bewahren wir Muster auf, indem wir die Keimlinge und Embryos trocken kristallisieren. Damit bleiben ihre Körperprozesse genauso erhalten, wie sie im Augenblick der Kristallisierung waren. Wir lagern sie knochentrocken ein, und wenn wir sie wiederherstellen wollen, fügen wir nur etwas destilliertes Wasser hinzu, und die Kristalle entkristallisieren sich in einer sehr schnellen, aber nicht explosiven Kettenreaktion. Weil der Organismus so klein ist, kann er in einem Sekundenbruchteil wieder voll funktionsfähig gemacht werden. Die Embryos müssen wir natürlich sofort in eine Nährflüssigkeit legen und mit einer künstlichen Plazenta oder einem künstlichen Dotter verbinden, so daß wir nicht allzu viele gleichzeitig wiederherstellen können.«

»Wie groß wäre die Apparatur, die du mitnehmen müßtest«, fragte Nafai, »um die Flora und Fauna wiederherzustellen, die auf der Erde wahrscheinlich abgestorben ist?«

»Wie groß? Sehr viele Geräte. Eine ganze Karawane.«

»Aber was, wenn du nur die bedeutendsten Exemplare mitnehmen würdest — die nützlichsten Vögel, die wichtigsten Tiere, die Pflanzen, die wir brauchen, um Nahrung und Unterkunft zu haben?«

»Dann käme man mit viel weniger aus«, sagte Schedemei. »Man muß einfach Prioritäten setzen — wenn man nur ein Kamel hat, müßte man sich eben auf zwei Trockenbehälter beschränken. Und ein Kamel, das die Geräte zur Wiederherstellung und das andere Material trägt.«

»Also wäre es möglich«, sagte Nafai triumphierend.

»Du glaubst, die Überseele wird dich zur Erde schicken?« fragte Schedemei.

»Wir glauben, dieser Plan ist der wichtigste, der jetzt auf der gesamten Welt Harmonie durchgeführt wird«, sagte Nafai.

»Mein Traum?«

»Dein Traum ist ein Teil davon«, sagte Luet. »Genau wie der meine, glaube ich.« Sie erzählte Schedemei ihren Traum von den Engeln und den Ratten.

»Damit könnte symbolisch eine Welt gemeint sein, auf der sich neue Lebensformen entwickelt haben«, sagte Schedemei. »Aber du hast eins nicht bedacht. Wenn dein Traum von der Überseele kam, kann er wohl kaum buchstäblich wahr sein.«

»Warum nicht?« fragte Luet. Sie wirkte etwas beleidigt.

»Wie soll die Überseele wissen, was auf der Erde geschieht? Wie kann sie ein wahres Bild von irgendeiner Spezies sehen, die dort lebt? Die Erde ist tausend Lichtjahre entfernt. Es hat niemals ein elektromagnetisches Signal gegeben, das so stark gebündelt war, daß es über diese Entfernung hinweg wirklich bedeutsame Sendungen hätte tragen können. Wenn die Überseele dir diesen Traum gegeben hat, hat sie ihn frei erfunden.«

»Vielleicht stellt sie Vermutungen an«, sagte Huschidh.

»Vielleicht vermutet sie tatsächlich nur, welche Keimlinge und Embryos Schedemei mitnehmen müßte«, sagte Nafai. »Aber wir müssen trotzdem tun, was der Traum gebietet. Schedemei muß diese Keimlinge und Embryos sammeln und sich darauf vorbereiten, sie mit uns zur Erde zu nehmen.«

Schedemei sah sie verblüfft an. »Ich bin gekommen, um Tante Rasa einen Traum zu erzählen und nicht, um wegen einer verrückten und unmöglichen Reise meine Karriere aufzugeben. Wie wollt ihr denn zur Erde gelangen? Auf einer Wolke?«

»Die Überseele hat gesagt, daß wir dorthin gehen«, erwiderte Nafai. »Wenn es an der Zeit ist, wird die Überseele uns sagen, wie wir es anstellen werden.«

»Das ist doch absurd«, sagte Schedemei. »Ich bin Wissenschaftlerin. Ich weiß, daß es die Überseele wirklich gibt, weil unsere Unterbreitungen oft an Computer in fernen Städten gesendet werden, was ohne die Überseele nicht möglich wäre. Aber ich habe immer angenommen, die Überseele sei lediglich ein Computer, der eine Anordnung von Kommunikationssatelliten kontrolliert.«

Nafai sah Luet und Huschidh konsterniert an. »Issib und ich haben das unter großen Mühen herausfinden müssen, und Schedemei hat es die ganze Zeit über gewußt.«

»Du hast mich nie gefragt«, sagte Schedemei.

»Wir hätten niemals mit dir gesprochen«, sagte Nafai. »Schließlich bist du Schedemei.«

»Nur eine Lehrerin unter vielen im Haus deiner Mutter«, sagte Schedemei.

»Ja, genau wie die Sonne nur ein Stern unter vielen im Himmel ist«, sagte Nafai.

Schedemei lachte und schüttelte den Kopf. Ihr war nie in den Sinn gekommen, daß die jungen Leute ihr solch eine Ehrfurcht entgegenbrachten. Es gefiel ihr — sie freute sich zu wissen, daß jemand sie bewunderte —, doch gleichzeitig fühlte sie sich deshalb etwas schüchtern und bloßgestellt. Sie mußte dem Bild gerecht werden, das sie von ihr hatten, und sie war doch nur eine schwer arbeitende Frau, die einen verwirrenden Traum gehabt hatte.

»Schedemei«, sagte Huschidh, »ob es uns nun möglich erscheint oder nicht, die Überseele bittet uns, uns auf diese Reise vorzubereiten. Wir hätten niemals gewagt, dich zu bitten, doch die Überseele hat dich zu uns geführt.«

»Der Zufall hat mich zu euch geführt.«

»Zufall ist lediglich das Wort, das wir benutzen, wenn wir die Ursache noch nicht herausgefunden haben«, sagte Luet.

»Er ist eine Illusion des menschlichen Geistes, eine Redensart, die ausdrücken soll: >Ich weiß nicht, warum dies auf diese Art und Weise geschehen ist, und ich habe keine Absicht, es heraus zu finden«

»Das war in einem anderen Zusammenhang«, sagte Schedemei.

»Du hattest den Traum«, sagte Nafai. »Du hast gewußt, daß er wichtig war. Du wolltest ihn Mutter erzählen. Wir waren hier, als du kamst, und sie nicht. Aber auch wir wurden hier von der Überseele zusammengeführt. Begreifst du denn nicht, daß du eine Einladung bekommen hast?«

Schedemei schüttelte den Kopf. »Ich muß hier meine Arbeit machen, und nicht auf einer verrückten Reise, deren Ziel tausend Lichtjahre entfernt liegt.«

»Deine Arbeit?« sagte Huschidh. »Welchen Wert hat deine Arbeit denn im Vergleich zu der Aufgabe, der Erde ihre verlorene Spezies zurückzugeben? Deine Arbeit ist schon sehr bekannt, aber die Gärtnerin eines ganzen Planeten zu sein …«

»Falls es wahr ist«, sagte Schedemei.

»Nun«, sagte Nafai, »vor diesem Dilemma haben wir alle auch schon gestanden. Falls es stimmt. Keiner von uns kann das für dich entscheiden. Wenn du selbst also eine Entscheidung getroffen hast, lasse sie uns wissen.«

Schedemei nickte, doch insgeheim wußte sie, daß sie alles unternehmen würde, was in ihrer Kraft stand, um diese Leute nicht mehr wiederzusehen. Es war zu seltsam. Sie nahmen ihren Traum zu wichtig. Sie verlangten ein zu großes Opfer von ihr.

»Sie hat sich entschieden, uns nicht zu helfen«, sagte Luet.

»Nichts dergleichen!« sagte Schedemei. Doch in ihrem Herzen fragte sie sich schuldbewußt: Wieso weiß sie es?

»Selbst, wenn du dich entschließt, uns nicht zu begleiten«, sagte Nafai, »wirst du dann wenigstens eine entsprechende Sammlung von Keimlingen und Embryos zusammenstellen — vielleicht zwei Kamelladungen? Und die Ausrüstung, die wir brauchen, um sie wiederherzustellen? Und einigen von uns erklären, wie man damit umgeht?«

»Gern«, sagte Schedemei. »Ich werde in den kommenden Monaten bestimmt die Zeit dafür finden.«

»Wir haben keine Monate«, sagte Nafai. »Wir haben Stunden. Oder vielleicht ein paar Tage.«

»Das ist doch lächerlich«, sagte Schedemei. »Was für einen Garten soll ich denn in ein paar Stunden zusammenstellen?«

»Gibt es hier in Basilika keine Bio-Bibliotheken?« fragte Huschidh.

»Ja, sicher — von ihnen bekomme ich die Exemplare, mit denen ich anfange.«

»Dann könntest du das meiste, was du brauchst, doch von ihnen bekommen?«

»Bei zwei Kamelladungen könnte ich wohl alles von den Bibliotheken bekommen. Aber die Geräte, um sie wiederherzustellen, besonders die Tierembryos — ich habe nur meine eigene Apparatur, und es würde ein paar Monate dauern, um eine zweite zu bauen.«

»Wenn du uns begleiten würdest«, sagte Luet, »könntest du deine Apparatur mitnehmen. Und wenn du uns nicht begleitest, hast du danach genug Zeit, um eine neue zu konstruieren.«

»Du bittest mich, euch meine eigenen Geräte mitzugeben?«

»Für die Überseele«, sagte Luet.

»Das glaubst du.«

»Für Tante Rasas Sohn«, sagte Huschidh.

Natürlich weiß die Entwirrerin, wie sie in mein Herz eindringen kann, dachte Schedemei. »Wenn Tante Rasa mich darum bittet«, sagte Schedemei, »werde ich es tun.«

Nafais Augen funkelten plötzlich. »Und was, wenn Mutter dich bitten würde, uns zu begleiten?«

»Das würde sie niemals tun«, sagte Schedemei.

»Aber wenn Tante Rasa uns ebenfalls begleitet?« fragte Luet.

»Das wird sie niemals«, sagte Schedemei.

»Das sagt Mutter auch«, entgegnete Nafai, »aber wir werden ja sehen.«

»Wer von euch will lernen, wie man die Geräte bedient?« fragte Schedemei.

»Huschidh und ich«, sagte Luet schnell.

»Dann kommt heute nachmittag zu mir, damit ich euch darin ausbilden kann.«

»Du wirst uns die Geräte geben?« fragte Huschidh.

War sie erfreut oder lediglich überrascht?

»Ich werde es mir überlegen«, sagte Schedemei. »Und euch in ihrer Bedienung zu unterweisen, kostet mich lediglich Zeit.«

Mit diesen Worten erhob Schedemei sich von dem Teppich und trat unter der Markise hervor. Sie suchte nach dem Gitter, durch das sie gekommen war, doch Luet mußte es wieder eingesetzt haben, und sie konnte sich nicht daran erinnern, wo die Luke gewesen war.

Sie mußte jedoch nichts sagen, denn Luet schien ihre Verwirrung augenblicklich gespürt zu haben, und nun führte das Mädchen sie zu der Stelle. Das Gitter war nicht wieder eingesetzt worden, es war einfach hinter der Dachrinne nicht zu sehen gewesen. »Von hier aus kenne ich den Weg«, sagte Schedemei. »Du mußt nicht mitkommen.«

»Schedemei«, sagte Luet. »Ich habe einmal von dir geträumt. Vor nicht allzu langer Zeit.«

»Ach?«

»Ich weiß, daß du meine Worte bezweifeln und denken wirst, ich sage das nur, um dich zu überreden, uns zu begleiten, aber es ist kein Zufall. Ich war im Wald, und es war Nacht, und ich hatte Angst. Ich sah mehrere Frauen. Tante Rasa und Huschidh; Eiadh und Dol. Und dich. Ich habe dich gesehen.«

»Ich war nicht dort«, sagte Schedemei. »Ich gehe niemals in den Wald.«

»Ich weiß — ich habe dir doch gesagt, es war ein Traum, obwohl ich wach war.«

»Ich meine wirklich, was ich sage, Luet. Ich gehe niemals in den Wald. Ich gehe niemals zum See hinab. Ich bin überzeugt davon, was ihr dort tut, ist sehr wichtig und gut, aber es gehört nicht zu meinem Leben. Es ist nicht Teil meines Lebens.«

»Dann«, sagte Luet, »solltest du dein Leben vielleicht ändern.«

Darauf hatte Schedemei nichts Höfliches zu erwidern, und so trat sie durch die Öffnung in der Wand. Hinter ihr hörte sie das Murmeln, mit dem die anderen ihr Gespräch wieder aufnahmen, doch sie konnte kein Wort verstehen. Und sie wollte es auch nicht. Worum man sie gebeten hatte, war einfach ungeheuerlich.

Und doch war es in ihrem Traum so wunderbar gewesen, die Hand auszustrecken und Leben aus den Wolken hinabzubringen. Warum hatte sie sich nicht damit begnügt — mit einem wunderschönen Traum? Warum hatte sie diesen Kindern davon erzählen müssen? Warum konnte sie nicht einfach vergessen, was sie gesagt hatten? Warum wirbelten jetzt diese Gedanken durch ihren Kopf?

Die Rückkehr zur Erde. Heim zur Erde.

Was hatte das zu bedeuten? Vierzig Millionen Jahre lang waren die Menschen auf Harmonie zufrieden gewesen. Warum rief die Erde sie jetzt? Es war Wahnsinn, ein ansteckender Wahnsinn in diesen schweren Zeiten.

Doch statt nach Hause ging sie zur Bio-Bibliothek, brütete dort mehrere Stunden über dem Katalog und stellte eine Bestellung für zwei Kamelladungen kristallisierter Keimlinge und Embryos zusammen, die vielleicht die nützlichsten Pflanzen und Tiere einer Erde ersetzen konnten, die sie vor langer, langer Zeit verloren hatte.

Im Stadtrat und nicht in einem Traum

Rasa hatte ihr Leben voller Zuversicht verbracht. Sie wußte, es gab nichts, womit sie nicht mit einer Mischung aus Gewitztheit, Freundlichkeit und Entschlossenheit fertig werden konnte. Man konnte die Menschen stets überzeugen, und wenn nicht, dann konnte man sie ignorieren, und mit der Zeit würden sie verschwinden. Dieser Philosophie verdankte sie es, daß ihr Haushalt eine der angesehensten Schulen Basilikas war, obwohl es sie noch gar nicht so lange gab; sie hatte ihr auch zu persönlichem Einfluß bei allen Belangen des Stadtlebens verhelfen, obwohl sie niemals ein Amt innegehabt hatte. Bei wichtigen Entscheidungen wurde sie vom Stadtrat konsultiert; sie war in den Verwaltungsräten vieler Kunstausschüsse tätig; und vor allem baten die Frauen — und sogar die Männer —, die die wichtigsten Entscheidungen bezüglich der Politik und des Handels der Stadt trafen, sie privat um ihren Rat. Sie wurde von vielen Männern umworben, blieb jedoch glücklich mit jenem Mann verheiratet, von dem sie wußte, daß er von ihrer Macht weder bedroht wurde noch sie begehrte. Sie hatte eine perfekte Rolle für sich in der Stadt geschaffen und lebte sie auch gern aus.

Ihr war jedoch nie in den Sinn gekommen, wie zerbrechlich das alles war. Der Stoff ihres Lebens war auf dem Webstuhl Basilikas geflochten worden, und nun, da die Stadt auseinanderbrach, zerriß und zerfaserte auch ihr Leben.

Ihr ehemaliger Gatte, Gaballufix, hatte den Prozeß in Gang gesetzt, als sie noch miteinander verheiratet waren und er versucht hatte, sie dazu zu bringen, die Gesetze ändern zu lassen, die besagten, daß kein Mann Eigentum in der Stadt besitzen durfte. Als sie begriffen hatte, weshalb er sie geheiratet hatte, hatte sie den Vertrag verfallen lassen und erneut Wetschik geheiratet — diesmal für immer, soweit es sie betraf. Aber Gaballufix hatte nicht aufgegeben, hatte in den Dörfern vor der Stadtmauer eine Anhängerschaft um sich geschart, die sich aus der niedrigsten Sorte von Männern zusammensetzte. Dann hatte er sie als Tolschocks in die Stadt gebracht, die die Frauen in Angst und Schrecken versetzten, und dann als Söldner in diesen schrecklichen Masken, die die Stadt angeblich vor den Tolschocks schützen sollten — doch soweit sie es sagen konnte, waren eben jene Tolschocks auch die Söldner, nur in schmucken Hologrammuniformen .

Doch vielleicht hätte man Gaballufix noch unter Kontrolle halten können, wenn die Überseele sich plötzlich nicht so seltsam benommen hätte. Sie sprach tatsächlich zu einem Mann — und nicht einfach zu einem beliebigen, sondern zum Wetschik selbst. Die Probleme, die dies für Rasa schuf, waren unberechenbar. Nicht nur, daß ihr ehemaliger Gatte die uralten Gesetze der Stadt der Frauen herausforderte, nein, nun sagte ihr derzeitiger Gatte auch noch jedem, der ihm zuhörte, daß Basilika zerstört werden würde. Ihre liebe Freundin Dhel hatte damals — erst vor ein paar Wochen — zu Rasa gesagt, die Leute wären überrascht, daß Rasa nicht auch mit Roptat verheiratet gewesen sei, dem Führer der Pro-Gorajni-Partei. »Vielleicht solltest du dein Bett nach irgendeinem Parasiten absuchen, der Wahnsinn hervorruft, meine Liebe«, sagte Dhel. Sie hatte natürlich nur einen Scherz gemacht, doch dieser Scherz war schmerzhaft.

War schmerzhaft, aber nichts im Vergleich zu dem, was in den letzten paar Tagen geschehen war. Alles fiel auseinander. Gaballufix hatte Wetschiks Vermögen gestohlen und versucht, seine Söhne zu töten — einschließlich der beiden, die auch Rasas Söhne waren. Dann hatte die Überseele Luet befohlen, Nafai — ausgerechnet Nafai, noch ein Kind — zum verbotenen See zu führen, wo er auf dem Wasser schwebte wie eine Frau — wie eine Wasserseherin. In derselben Nacht hatte Nafai, zweifellos noch naß vom See des Friedens, Gab getötet. In gewisser Hinsicht war dies ausgleichende Gerechtigkeit, da Gaballufix versucht hatte, ihn zu töten. Doch Rasa konnte sich nichts Schrecklicheres vorstellen als die Tatsache, daß ihr eigener Sohn ihren ehemaligen Gatten getötet hatte.

Doch das war nur der Anfang gewesen. Denn in derselben Nacht hatte sie herausgefunden,- wie gräßlich ihre beiden Töchter waren. Sevja hatte mit Kokors Gatten geschlafen — und Kokor hatte sie dann fast umgebracht. Die Zivilisation erstreckt sich nicht einmal in mein eigenes Haus. Mein Sohn ist ein Mörder, eine Tochter eine Ehebrecherin und die andere im Herzen eine Mörderin. Nur Issib war noch zivilisiert. Der Krüppel Issib, dachte sie verbittert. Vielleicht besteht daraus die Zivilisation — aus Krüppeln, die sich zusammengetan haben, um die Starken zu beherrschen. Hatte Gaballufix nicht einmal so etwas gesagt? »In einer Zeit des Friedens, Rasa, könnt ihr Frauen es euch leisten, euch mit Eunuchen zu umgeben. Doch wenn der Feind vor den Toren steht, werden die Eunuchen euch nicht retten. Dann werdet ihr euch echte Männer wünschen, gefährliche, mächtige Männer — doch wo sind sie dann, da ihr sie alle vertrieben habt?«

Raschgallivak — er war einer der törichten Schwächlinge, nicht wahr? Einer der >Eunuchen<, in jenem Sinne, den Gaballufix meinte. Er hatte nicht die Kraft, die Tiere zu beherrschen, die Gaballufix an der Leine gehalten hatte. Und dann hatte Huschidh diese Leine durchtrennt, und die Stadt war in Flammen aufgegangen. In meinem eigenen Haus ist es geschehen! Warum war ich erneut der Brennpunkt?

Die letzte Beleidigung war die Ankunft General Muuzh’ gewesen, denn Rasa wußte nun, daß er es war — es konnte kein anderer sein. So dreist — er war mit nur tausend Mann zu der Stadt marschiert und eingetroffen, als man keinem Feind Widerstand leisten konnte und jeder vorzugeben bereit war, man würde einen Freund einladen. Rasa ließ sich von seinen Versprechungen nicht täuschen. Sie ließ sich nicht von der Tatsache hinters Licht führen, daß er seine Soldaten von den Straßen abgezogen hatte. Sie hielten doch noch immer die Mauern und Tore, nicht wahr?

Und sogar Muuzh war mit ihr verbunden, genau, wie es bei Wetschik und Gaballufix und Nafai und Raschgallivak der Fall gewesen war. Denn er war mit ihrem Brief gekommen, und nur, indem er ihren Namen benutzte, hatte er überhaupt Zutritt zur Stadt bekommen.

Es hatte nicht mehr schlimmer werden können. Und dann waren heute morgen Nafai und Elemak in ihr Haus gekommen — vom Wald aus, was bedeutete, daß sie beide durch ein Gelände gekrochen waren, das für Männer verboten war. Und warum waren sie gekommen? Um sie darüber zu informieren, daß die Überseele von ihr verlangte, die Stadt zu verlassen und zu ihrem Gatten in die Wüste zu kommen und dabei alle Frauen mitzubringen, die sie für geeignet hielt.

»Geeignet wofür?« hatte Rasa gefragt.

»Geeignet für Ehen«, sagte Elemak, »und dafür, in einem neuen Land, fern von hier, Kinder zu gebären.«

»Ich soll Basilika verlassen, ein paar arme, unschuldige Frauen mitnehmen und wie eine Pavianherde in der Wüste leben?«

»Nicht wie Paviane«, hatte Nafai hilfreich gesagt. »Wir tragen noch immer Kleidung, und wir bellen nicht.«

»Ich werde es nicht in Betracht ziehen«, sagte Rasa.

»Doch, das wirst du, Mutter«, sagte Nafai.

»Drohst du mir etwa?« fragte Rasa — denn sie hatte in letzter Zeit diese oder ähnliche Worte von zu vielen Männern gehört.

»Keineswegs«, sagte Nafai. »Ich sage nur etwas voraus. Ich wette, daß du es im Verlauf der nächsten halben Stunde in Betracht ziehen wirst, denn die Überseele verlangt es von dir.«

Und er behielt recht. Keine zehn Minuten. Sie bekam den Gedanken einfach nicht mehr aus dem Sinn.

Wie konnte er es gewußt haben? Weil er begriffen hatte, wie die Überseele arbeitete. Er wußte nur nicht, daß die Überseele sie bereits bearbeitete. Als Wetschik in die Wüste aufgebrochen war, hatte er sie gebeten, ihn zu begleiten. Damals war von anderen Frauen nicht die Rede gewesen, doch als sie zur Überseele betete, bekam sie eine so deutliche Antwort, als hätte eine Stimme ihr direkt ins Herz gesprochen. Nimm deine Töchter mit, sagte die Überseele. Nimm deine Nichten mit, alle, die dich begleiten wollen. In die Wüste, damit ihr zu den Müttern meines Volkes werdet.

In die Wüste! Zu den Tieren! Ihr ganzes Leben lang hatte Rasa versucht, die Gebote der Überseele zu befolgen. Doch nun verlangte sie zu viel. Wer war Rasa, außerhalb von Basilika, außerhalb ihres Hauses? Dort war sie niemand. Nur Wetschiks Frau. Dort würden die Männer herrschen – wilde, barbarische Männer, wie Wetschiks Sohn Elemak. Dieser Elemak war ein furchterregender Junge; sie konnte nicht glauben, daß Wetschik nicht begriff, wie gefährlich er war. Was ihre Ernährung betraf, so würden sie vom Jäger Elemak abhängig sein. Und welchen Einfluß konnte sie dort haben? Welche Ratsversammlung würde auf sie hören? Die Männer würden die Ratsversammlungen abhalten, und die Frauen würden kochen und waschen und sich um die Babies kümmern. Es würde wie in den primitiven Zeiten sein, den Zeiten der Tiere. Sie konnte die Stadt der Frauen nicht verlassen, denn wenn sie es tat, würde sie nicht mehr die Herrin Rasa sein und zu einem Tier werden.

Mich gibt es nur in dieser Stadt. Ich bin nur an diesem Ort ein Mensch.

Und doch wußte sie, als sie die Ratskammer betrat, daß >dieser Ort< nicht mehr die Stadt der Frauen war. Als sie die verängstigten, ernsten, wütenden Gesichter der Ratsfrauen betrachtete, wußte sie, daß Basilika nie wieder so werden würde, wie die Stadt einmal gewesen war. Ein neues Basilika mochte sich an dieser Stelle erheben, doch nie wieder würde eine Frau wie Rasa imstande sein, ihre Töchter und Nichten in völligem Frieden und Sicherheit zu erziehen. Von jetzt an würden die Männer ständig versuchen, etwas zu besitzen, zu beherrschen, sich einzumischen. Bestenfalls konnte sie auf einen Mann wie Wetschik hoffen, dessen Freundlichkeit seine Machtinstinkte mäßigen würde. Aber gab es auf dieser Welt noch einen zweiten Wetschik? Und selbst seine wohlwollende Einmischung wäre zuviel. Alles würde verdorben werden. Alles würde vergiftet und beschmutzt werden.

Überseele! Du hast deine Töchter verraten!

Doch sie sprach ihre Blasphemie nicht laut aus. Statt dessen nahm sie ihren Platz an einem der Tische in der Mitte der Kammer ein, an denen während der Versammlungen die Schreiberinnen und die Beraterinnen ohne Stimmrecht saßen. Sie fühlte ihre Blicke auf sich. Sie wußte, daß viele ihr die Schuld für alles gaben — und sie konnte ihnen schlecht widersprechen. Ihre Gatten, ihr Sohn, ihre Töchter; ihr Haus, in dem Raschgallivak die Kontrolle über seine Soldaten verloren hatte; und vor allem ihr Brief in den Händen des Gorajni-Generals, als er die Stadt betreten hatte.

Die Versammlung begann, und zum erstenmal, solange Rasa zurückdenken konnte, hetzte man durch die Eröffnungsrituale, und einige wurden sogar ganz ausgelassen. Niemand beschwerte sich. Denn sie alle wußten, daß die Frist, die sie den Gorajni zum Verlassen der Stadt gesetzt hatten, nun eine Frist war, die ihnen selbst drohte — denn mittlerweile war ihnen allen klar, daß die Gorajni nicht daran dachten, die Stadt zu verlassen.

Bald tobte die Redeschlacht. Niemand stellte die Tatsache in Frage, daß die Gorajni nun die Herren der Stadt waren. Die Debatte galt der Frage, ob man dem General — einige nannten ihn Muuzh, doch nur spöttisch, denn er weigerte sich, auf den Namen Vozmuzhalnoi Vozmozhno zu reagieren — trotzen oder seiner Besetzung einen legalen Anstrich geben sollte. Sie haßten die Vorstellung, ihm nachzugeben, doch wenn sie es taten, bestand die Hoffnung, daß er ihnen die Selbstverwaltung beließ, solange er Basilika als Militärbasis für seine Operationen gegen die Städte der Ebene und Potokgavan benutzen konnte. Doch wenn sie seine Besetzung für rechtmäßig erklärten, wie er es verlangt hatte, gaben sie ihm damit auf lange Sicht die Macht, sie zu vernichten.

Doch welche Alternative hatten sie? Er hatte keine Drohungen ausgesprochen. Er hatte ihnen lediglich einen sehr respektvollen Brief geschickt: »Da es meinen Truppen noch nicht gelungen ist, die Gefahr von Basilika abzuwenden, zögern wir, unsere lieben Freunde einem solchen Chaos zu überlassen, wie wir es bei unserer Ankunft vorgefunden haben. Wenn ihr uns daher zum Bleiben einladet, bis die Ordnung wiederhergestellt ist, sind wir bereit, auf unbestimmte Zukunft eure gehorsamen Diener zu werden.« Auf den ersten Blick stellte der Brief die Gorajni als lammfromm dar.

Doch sie wußten mittlerweile, daß bei den Gorajni nichts so war, wie es den Anschein hatte. Oh, sie beugten sich jedem Befehl oder Ersuchen des Stadtrats und versprachen zu gehorchen. Doch nur die Befehle, die ihren Zwecken dienten, wurden tatsächlich ausgeführt. Und die Stadtwache war auch unzuverlässig geworden, denn ihre Offiziere beteten den Gorajni-General mittlerweile praktisch an und folgten nun seinem Beispiel, Gehorsam zu schwören und dann zu tun, wie es ihnen beliebte. Oh, der General war ein so kluger Mann! Er provozierte niemanden, er stritt mit niemandem, er stimmte allem zu, was gesagt wurde … und doch war er unnachgiebig, tat, was er wollte, während er ihnen niemals eine Angriffsfläche bot. Jede Frau in dieser Ratskammer mußte genauso deutlich wie Rasa spüren, daß ihnen die Macht entglitt und die Stadt nun vom Willen dieses einen Mannes abhängig war, obwohl er kein einziges offenes Wort gesagt und auch nichts offen unternommen hatte.

Wie macht er es nur? fragte sich Rasa. Wie beherrscht er die Menschen, ohne zu poltern oder sie einzuschüchtern? Vielleicht macht die Tatsache, daß er so eindringlich an seine Vision der Welt glaubt, es denen in seiner Nähe unmöglich, nicht ebenfalls daran zu glauben. Vielleicht sind wir alle so versessen darauf, daß uns jemand sagt, was die Wahrheit ist, auf die wir uns verlassen können, daß wir sogar eine Vision akzeptieren werden, die uns schwach und ihn stark macht, nur um überhaupt eine sichere Welt zu haben.

»Die Frist läuft in wenigen Minuten ab«, sagte die alte Kobe. »Und bei all unseren Gesprächen heute morgen haben wir noch nichts von der Herrin Rasa gehört.«

Ein zustimmendes Murmeln hob sich, doch es ging augenblicklich in einem wütenden Grollen unter. »Wir sollten erst bei ihrem Prozeß wieder etwas von ihr hören!« rief eine Frau. »Sie hat das alles über uns gebracht!«

Rasa drehte sich gelassen um und betrachtete die Frau, die gesprochen hatte. Natürlich, es war Frotera, die Herrin einer anderen Schule, die schon seit langem eifersüchtig auf Rasa war. »Meine Herrin Frotera«, sagte Rasa, »ich fürchte, du könntest recht haben.«

Das brachte sie zum Schweigen.

»Glaubt ihr, ich hätte keine Augen im Kopf und nicht gesehen, was ihr alle gesehen habt? Welches der großen Unglücke, die über uns hereingebrochen sind, stand nicht mit mir im Zusammenhang? Mein Sohn wird des Mordes beschuldigt, meine Töchter haben einander betrogen, Raschgallivak hat versucht, sie aus meinem Haus zu schleppen, meine geliebte Stadt wurde von Unruhen und Bränden heimgesucht, und das Heer, das die Tore Basilikas beherrscht, zeigt euch einen Brief, den ich geschrieben habe. Und ich habe ihn geschrieben, wenngleich ich mir niemals hätte träumen lassen, daß er solch eine Verwendung finden würde, wie er sie nun gefunden hat. Schwestern, all das stimmt, doch bedeutet es auch, daß ich dies über uns gebracht habe? Oder bedeutet es, daß es mich schwerer belastet als alle anderen, abgesehen diejenigen, die bei den Unruhen geliebte Menschen verloren haben?«

Das gab ihnen zu denken; ja, sie hatte noch immer die Macht, ihnen eine Geschichte zu erzählen und sie, zumindest einen Augenblick lang, durch ihre Augen sehen zu lassen.

»Schwestern, wäre ich der Ansicht, daß ich der Grund für alles Böse bin, das Basilika heimgesucht hat, würde ich die Stadt sofort verlassen. Ich liebe Basilika zu sehr, um die Ursache für ihren Fall zu sein. Doch ich bin nicht die Ursache. Die erste Ursache war die Gier Gaballufix’ — und er hat mich als ersten Versuch geheiratet, einen Eingriff gegen unsere uralten Gesetze zu machen. War es mein Mann, der private Soldaten in diese Stadt gebracht hat? Nein. Es war ein Mann, den ich als Gatte nicht mehr haben wollte. Ich habe Gaballufix zurückgewiesen, während viele von euch in diesem Rat immer wieder dafür gestimmt haben, seinen Mißbrauch zu tolerieren. Vergeßt das nicht!«

Oh, sie vergaßen es nicht, als sie auf ihren Stühlen zurückschreckten.

»Nun sind die Gorajna mit meinem Brief gekommen. Aber ich habe diesen Brief geschrieben, um einem jungen Stadtwächter Basilikas zu helfen, bei den Gorajni Schutz zu finden. Ich wußte, daß Raschgallivaks Söldner ihn bedrohten, und er hatte meinem Sohn geholfen, und so gab ich ihm den geringen Schutz, den ich ihm geben konnte. Nun sehe ich ein, daß dies ein schrecklicher Fehler war. Mein Brief machte sie auf unsere Schwäche aufmerksam, und sie sind gekommen, um sie zu nutzen. Aber ich habe unsere Schwäche nicht geschaffen, und wären wir heute morgen in einem besseren Zustand, als wir es nun sind, wenn die Gorajni nicht gekommen wären? Könnten wir überhaupt noch diese Versammlung abhalten, oder wären wir alle Opfer der Vergewaltigungen und Plünderungen der Palwaschantu-Söldner? Würde unsere Stadt in Schutt und Asche liegen? Also sagt mir, Schwestern, was ist besser, in einer schlechten Situation zu sein, in der es aber noch etwas Hoffnung gibt, oder völlig vernichtet worden zu sein, machtlos und ohne jede Hoffnung?«

Erneut ein Murmeln, doch sie hatte sie auf ihre Seite gezogen. Nur selten hatte sie so lange oder so nachdrücklich gesprochen — sie hatte schon lange herausgefunden, daß sie ihre Macht erhalten konnte, indem sie sich niemals offen zu etwas verpflichtete, sondern hinter den Kulissen arbeitete. Dennoch hatte sie schon oft genug gesprochen, um zu wissen, wie man sie — zumindest ein wenig — dazu bewegte, sich ihrem Willen zu beugen. Je öfter sie diese Macht einsetzte, um so weniger konnte sie damit bewegen, doch nun mußte sie sie benutzen, oder sie würde alles verlieren.

»Was wird geschehen, wenn wir ihm trotzen? Selbst, wenn er Wort hält und geht, bedeutet das noch lange nicht, daß unsere Stadtwache danach so fügsam sein wird, wie sie es früher einmal war. Und ich glaube nicht, daß er Wort halten wird. Habt ihr jemals gehört, daß General Vozmuzhalnoi Vozmozhno ein Dorf, ein Feld, einen Kieselstein aufgibt, den er erobert hat?« Ein lauter werdendes Murmeln. »Ja, es ist General Muuzh — wir waren Närrinnen, auch nur einen Augenblick lang etwas anderes zu vermuten. Welcher andere Gorajni-General hätte die Dreistigkeit, so vorzugehen wie er? Begreift ihr nicht, wie kühn und brillant sein Plan war? Er kam mit nur eintausend Mann hierher, doch in den wenigen entscheidenden Stunden glaubten wir, er habe hundertmal so viele. Er war gehorsam und unterwürfig, und doch hat er seine Soldaten dort eingesetzt, wo er sie einsetzen wollte, hat er unsere Stadtwache verführt und sich die Vorräte verschaff t, die er benötigte. Ständig entschuldigt er sich und bietet uns Erklärungen. Doch er lügt mit jedem Atemzug, den er macht, und nichts von dem, was er gesagt hat, war die Wahrheit. Er will Basilika dem Gorajni-Reich angliedern. Er wird uns niemals loslassen.«

Lautes Murmeln erfüllte den Raum, als sie eine Pause einlegte. Einige Frauen weinten. »Dann trotzt ihm!« rief eine Ratsherrin.

»Und welchen Sinn hätte Widerstand?« fragte Rasa. »Wie viele von uns würden sterben? Und was würden wir damit erreichen? Ein Fünftel unserer Stadt liegt schon in Schutt und Asche. Wir haben uns bereits entsetzt verkrochen, als betrunkene Männer durch unsere Stadt zogen. Was würde passieren, wenn die Plünderer nun nüchtern wären? Wenn es sich bei ihnen um dieselben disziplinierten Mörder handelte, die die Randalierer mit ihren eigenen Messern an die Mauern genagelt haben? Dann gäbe es keine Zuflucht mehr für uns!«

»Was … schlägst du also vor, Herrin Rasa?«

»Gebt ihm, was er verlangt. Die Erlaubnis zu bleiben. Doch stellt die Bedingung, daß seine Soldaten ihre Lager außerhalb der Stadtmauern aufschlagen. Laßt sie dieselben Eide ablegen, die Männer ablegen müssen, wenn sie die Ehe mit uns eingehen — daß sie die verbotenen Teile der Stadt nicht betreten, keinen Grundbesitz erwerben und die Stadt verlassen, wenn der Ehevertrag abgelaufen ist.«

Ein Gemurmel der Zustimmung.

»Aber wird er das auch akzeptieren, Herrin Rasa?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie. »Doch bislang hat er zumindest immer so getan, als wolle er sich unseren Wünschen fügen. Verkünden wir unser Angebot so öffentlich wie möglich und hoffen wir, daß es für ihn bequemer ist, die Bedingungen zu akzeptieren, als gegen sie vorgehen zu müssen.«

Rasas Ermahnungen schössen weit über das Ziel hinaus. Ja, sie nahmen ihren Vorschlag fast einstimmig an. Aber sie ernannten sie auch zu der Botschafterin, die General Muuzh ihre »Einladung« überbringen sollte. Sie freute sich nicht gerade auf dieses Gespräch, und ihr blieb noch nicht einmal Zeit für Überlegungen, was sie sagen oder wie sie sich verhalten sollte. Die Einladung mußte persönlich und augenblicklich übergeben werden; sie wurde auf der Stelle ausgedruckt, unterschrieben und mit dem Siegel versehen, und der Stadtrat sah ihr nach, als sie mit dem Dokument in der Hand die Kammer verließ, nur wenige Minuten vor Ablauf der Frist, die sie selbst gesetzt hatten.

Es war nicht Mebbekews bester Morgen. Er war pflichtgemäß über die verbotenen Hänge Basilikas gestapft, während Nafai vorausging, genau, wie er Elemak den ganzen Weg durch die Wüste und dann um die Stadt herum zum Wald in Basilikas Norden gefolgt war. Doch als sie dann in Sichtweite von Rasas Haus waren, war er davongeschlüpft. Er hatte nicht die Absicht, eine Schachfigur in ihrem Spiel zu sein. Wenn sie hier Frauen besorgen wollten, würde Mebbekew sich die seine selbst aussuchen, besten Dank. Er würde auf keinen Fall hinter seinem älteren Bruder hertrotten und auf ewig nur die zweite Wahl bekommen; noch würde er die Erniedrigung schlucken, ins Haus der Mutter seines kleinen Bruders zu gehen und sie zu bitten, ihm eine ihrer kostbaren Nichten zu geben. Elemak hatte sein Herz an diese Porzellanpuppe Eiadh verloren … nun ja, das war sein gutes Recht. Mebbekew hingegen zog Frauen mit Blut in den Adern vor, Frauen, die beim Liebesspiel stöhnten und knurrten, Frauen voller Vitalität und Kraft. Frauen, die Mebbekew liebten.

Nun ja, er fand schnell heraus, wie nötig Vitalität und Kraft waren! Die Brände hatten am schlimmsten in der Puppenstadt und in Dauberville gewütet, und so wohnten nur noch wenige seiner alten Freundinnen in den Häusern, die er noch gekannt hatte. Die wenigen, die er fand, freuten sich, ihn zu sehen. Sie bedeckten ihn mit Tränen und Küssen und waren bereit, ihn sofort aufzunehmen. Aber wo sollte er mit ihnen wohnen? In einem halb niedergebrannten Haus ohne fließendes Wasser? Und warum wollten sie ihn aufnehmen? Damit er die harte Männerarbeit leisten konnte, die für den Neuaufbau und die Reparaturen erforderlich war; und damit er sie beschützen konnte. Was für ein Witz! Mebbekew, der ein armes, verängstigtes Mädchen beschützte! Zweifellos würden sie ihn großzügig mit ihren Körpern belohnen, wenn er die Rolle spielte, die sie ihm zugedacht hatten, doch das war es nicht wert — keine Frau war dies im Augenblick wert, solange ihre Bedürfnisse noch größer waren als die seinen. Er war nicht hier, um jemanden zu beschützen oder zu versorgen, sondern um Schutz und Fürsorge zu finden.

Also verließ er sie mit einem Kuß und einem Versprechen, blieb aber bei keiner auch nur so lange, daß er hätte baden und essen können, denn er wußte, wenn diese bedürftigen Frauen ihn einmal in ihrer Umklammerung hatten, würden sie ihn zu einem Gatten machen. Und er hatte kein Interesse daran, eine Frau zu heiraten, die ihm nur Arbeit und Sorgen anzubieten hatte!

Und bei keinem einzigen Gespräch mit irgendeiner seiner alten Freundinnen kam ihm in den Sinn, ihr vorzuschlagen, alles in Basilika aufzugeben, mit ihm in die Wüste zu ziehen, bis sie ein verheißenes Land gefunden hatten, und mittlerweile einen Haufen Kinder in die Welt zu setzen, um ihre neue Heimat zu bevölkern. Nicht, daß die eine oder andere nicht bereit dazu gewesen wäre. Wenn sie sich die Ruinen Basilikas ansahen, der Stadt, in denen sie früher ein so leichtfertiges Leben geführt hatten, wenn sie sich an die Angst in dieser schrecklichen Nacht der Plünderungen erinnerten und dann an das Entsetzen, mit dem sie die von den Gorajni an die Wand genagelten Leichen betrachtet hatten, hatte für einige von ihnen der Gedanke, mit einem Mann, der sie führte und beschützte, in die Wüste zu ziehen, bestimmt seinen Reiz. Zumindest in den ersten paar Tagen mochte dem so sein; dann würden sie begreifen, daß das Leben in der Wüste einsam und freudlos war, und sie wären genauso versessen darauf, nach Basilika zurückzukehren, ob die Stadt nun in Schutt und Asche lag oder nicht, wie es bei Mebbekew der Fall gewesen war.

Doch das spielte kaum eine Rolle. Er hatte nie die Absicht gehabt, einer seiner alten Freundinnen solch einen Vorschlag zu machen. Sollten Elemak und Nafai doch Vaters Spiel mitspielen und ihre Visionen haben, wenn sie es unbedingt wollten. Mebbekew wollte nur, daß irgendeine Frau ihn in ein schönes, ordentliches Haus und ein schönes, ordentliches Bett führte und ihn versteckte und über den Verlust seines Vermögens hinwegtröstete, bis Elemak und Nafai die Stadt wieder verlassen hatten. Warum sollte Mebbekew noch einmal in die Wüste zurückkehren? Basilika mochte halb niedergebrannt und von Gorajni-Truppen besetzt sein, doch in den meisten Häusern funktionierten die Toiletten und Bäder noch, und die Nahrung war frisch, und in der Altstadt gab es jede Menge Spaß und Vergnügen.

Doch allmählich wurde ihm klar, daß selbst dieser bescheidene Plan nicht lange funktioniert hätte. Als er früh morgens durch die Puppenstadt wanderte, begriff er, daß er sich nicht lange in Basilika verstecken konnte. Denn er hatte die Stadt illegal betreten, ohne vom Computer registriert worden zu sein, und irgendwann würde man ihn aufgreifen und verhaften. Die Stadtwache war jetzt ziemlich aktiv, rühriger, als er sie je zuvor gesehen hatte, und an Kontrollstellen auf zahlreichen Straßen mußte man Daumen- und Augenabdrücke ablegen. Früher oder später würde man ihn erwischen. Es war schon nicht einfach gewesen, von der Puppenstadt zu Rasas Haus an der Regenstraße zu gelangen.

Ja, Rasas Haus. Es verdroß ihn, aber er hatte alles andere versucht; und nun war er hier, bereit, sich vollständig seinen Brüdern und seinem Vater und ihren idiotischen Plänen zu unterwerfen.

Als er auf der Straße stand und die Fassade von Rasas Haus betrachtete, war er zum Nachgeben bereit — und doch nicht. Es war unerträglich. Erniedrigend. Klopf, klopf. Guten Morgen, ich bin der Halbbruder von Rasas Söhnen, und ich bin hier, weil all meine ehemaligen Freundinnen mich nur schuften lassen wollten, und deshalb wäre ich dankbar, wenn Rasa und meine Halbbrüder mich aufnehmen und mir Speis und Trank geben würden, ganz zu schweigen von einer langen, heiße Dusche, bevor ich noch abkratze.

Die Vorstellung war schrecklich, und obwohl Mebbekew wußte, daß er nicht darum herumkommen würde, hatte er nie viel Übung darin erworben, unangenehme Dinge zu tun, nur weil sie getan werden mußten. Also tat er statt dessen, was er unter solchen Umständen normalerweise tat. Er wartete in unmittelbarer Nähe seines ungeliebten Ziels und tat einfach nichts.

Mindestens zwanzig Minuten lang — während er eingebildete Qualen durchlitt — tat er nichts, beobachtete lediglich die Schulklassen der jungen Mädchen und Knaben, die sich auf der Veranda zusammengefunden hatten. Dann und wann konnte er ein vereinzeltes Wort verstehen, und so versuchte er zu raten, welche Fächer dort unterrichtet und welche jeweiligen Themen abgehandelt wurden. Das lenkte ihn zumindest kurz von seinen Sorgen ab. Die Klasse in seiner unmittelbaren Nähe, so vermutete er, bekam entweder Unterricht in Geometrie oder organischer Chemie oder spielte mit Bauklötzchen.

Eine junge Frau verließ eine der Klassen, lief die Verandatreppe hinab und kam dann schnellen Schrittes auf ihn zu. Zweifellos hatte sie gesehen, daß er die Veranda beobachtete, und hielt ihn für einen potentiellen Kinderschänder oder Einbrecher. Er spielte mit dem Gedanken, sich umzudrehen und zu gehen, bevor sie ihn erreichte — womit sie zweifellos rechnete —, betrachtete statt dessen jedoch ihr Gesicht, und ihm wurde klar, daß er sie kannte.

»Guten Morgen«, sagte sie eisig, als sie nahe genug heran war, um es zu sagen, ohne zu schreien.

Mebbekew machte sich über einen eventuell bevorstehenden Streit keine Sorgen. Er war noch keiner jungen und schönen Frau begegnet, die er nicht ziemlich schnell für sich einnehmen konnte, wenn er sich nur herauszufinden bemühte, woran sie interessiert war, und es ihr dann gab. Es war immer ein Vergnügen, sich mit einer Frau zu befassen, die er noch nicht bearbeitet hatte. Besonders, da er sie augenblicklich erkannte — oder zumindest eine Ähnlichkeit sah.

»Bist du nicht Dolja?« fragte er.

Ihr Gesicht lief dunkelrot an, doch ihr Ausdruck wurde noch kälter und wütender. Also hatte er recht — sie war Dol. »Soll ich die Wache rufen, damit sie dich entfernt?«

»Ich habe dich in Piraten und Westwind gesehen. Du warst hervorragend.«

Ihr Gesicht färbte sich noch röter, und ihr Ausdruck wurde weicher.

»Du hattest das Talent«, sagte er. »Es war nicht nur dein Aussehen. Es war nicht nur die Tatsache, daß du jung und schön warst. Ich habe nie begriffen, wieso sie dir keine Rollen für Erwachsene gaben, als du älter wurdest. Ich weiß, du hättest es bestimmt geschafft. Es war verdammt unfair.«

Und nun war ihr Gesichtsausdruck überhaupt nicht mehr wütend, sondern erheitert. »Ich habe noch nie eine so durchsichtige und zynische Schmeichelei gehört«, sagte sie.

»Ah, aber ich habe jedes Wort so gemeint, wie ich es gesagt habe. Dolja — ich nehme an, man nennt dich jetzt mit deinem Erwachsenennamen. Dol, nicht wahr?«

»Meine Freunde nennen mich so. Ansonsten nennt man mich Herrin.«

»Herrin, ich hoffe, mir eines Tages das Vorrecht verdienen zu können, dein Freund zu sein. Bis dahin könntest du mir vielleicht sagen, ob meine Halbbrüder Elemak und Nafai in Rasas Haus weilen.«

Sie musterte ihn von oben bis unten. »Ich könnte nicht gerade sagen, daß du einem der beiden besonders ähnlich siehst.«

»Ah, aber jetzt schmeichelst du mir«, entgegnete er.

Sie lachte leise, trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Wenn du wirklich Mebbekew bist, bringe ich dich ins Haus.«

Er wich einen Schritt vor ihr zurück. »Rühr mich nicht an! Ich bin schmutzig! Wenn man zwei Tage durch die Wüste reist, riecht man nicht gerade nach dem besten Parfüm, und wenn mein Körpergeruch dich nicht umbringt, wird mein Mundgeruch es bestimmt schaffen.«

»Ich habe nicht erwartet, daß du nach Blumen riechst«, sagte sie. »Ich gehe das Risiko ein, deine Hand zu nehmen und dich ins Haus zu führen.«

»Dann kommt dein Mut deiner Schönheit gleich«, sagte er und nahm ihre Hand. »Bei der Überseele«, flüsterte er, »deine Hand ist kühl und weich.«

Sie lachte erneut — eine Schauspielerin mit der Erfahrung, die Dol gehabt hatte, als sie damals berühmt gewesen war, würde sich von bloßer Schmeichelei niemals täuschen lassen. Doch Mebbekew nahm an, daß ein paar Jahre vergangen waren, seit jemand sich zum letzten Mal die Mühe gemacht hatte, ihr überhaupt zu schmeicheln, so daß schon allein die Tatsache, daß er es für einen Versuch wert hielt, eine Art Über-Schmeichelei war, gegen die sie sich nicht schützen konnte.

»Du mußt so etwas nicht sagen«, entgegnete sie. »Tante Rasa hat Anweisungen hinterlassen, dich einzulassen, sobald du — wie sie es ausgedrückt hat — sobald du >die Freundlichkeit hast, hier aufzutauchen«

»Hätte ich gewußt, daß ich dich hier finden würde, Herrin, wäre ich schon viel früher gekommen. Und wie du sagst, ich muß niemandem schmeicheln, um heute morgen in Rasas Haus eingelassen zu werden. Was ich dir jetzt also sage, ist keine Schmeichelei. Es kommt aus tiefstem Herzen. Als ich ein Junge war, habe ich mich in die Schauspielerin Dolja verliebt. Jetzt sehe ich dich mit den Augen eines Mannes. Ich sehe dich als Frau. Und ich weiß, daß deine Schönheit nur größer geworden ist. Ich habe nie gewußt, daß du eine von Rasas Nichten bist, oder ich wäre auf der Schule geblieben.«

»Ich war ihre Nichte. Jetzt bin ich hier Lehrerin. Ich unterrichte gutes Benehmen und so weiter. Insbesonders habe ich Eiadh ausgebildet. Du weißt schon, das Mädchen, das dein Bruder Elemak umwirbt.«

»Es sieht Elemak ähnlich, die schwache Kopie zu umwerben und das Original zu ignorieren.« Mebbekew hielt absichtlich die Blicke auf ihr Gesicht gerichtet, aber nicht auf die Augen — statt dessen betrachtete er ihre Lippen, das Haar, all ihre Züge, und wußte dabei genau, daß sie sah, wie sich seine Augen bewegten und er sie in sich aufnahm. »Elemak ist übrigens nur mein Halbbruder«, sagte Mebbekew. »Wenn ich mich gewaschen habe, wirst du feststellen, daß ich viel besser aussehe.«

Sie lachte, aber er wußte, daß er ihr Interesse gewonnen hatte — er hatte schon vor langer Zeit gelernt, daß Schmeicheleien immer funktionierten und auch dem ungeheuerlichsten, unehrlichsten Lob Glauben geschenkt wurde, wenn man es nur oft und beredtsam genug wiederholte. Doch in diesem Fall mußte er wirklich nicht lügen. Dol war wunderschön, obwohl natürlich nicht mehr annähernd so entzückend wie damals, als sie ein ätherisches Kind von dreizehn Jahren gewesen war. Doch sie hatte Anmut und Haltung und ein betörendes Lächeln, und nun, da er sie ein paar Minuten lang bearbeitet hatte, waren ihre Augen hell und groß, wann immer sie ihn ansah. Es war Begehren. Er hatte die Begierde in ihr entfacht. Es war natürlich nicht die Begierde nach Leidenschaft, sondern eher der Wunsch, mehr von seinem Lob für ihre Schönheit zu hören, mehr von seinen verbalen Streicheleinheiten. Und doch wußte er aus Erfahrung, daß es kein großes Problem sein würde, sie von dem einen zum anderen zu bringen, falls er nach dem Frühstück und einem Bad nicht zu müde war.

Sie führte ihn in ihr eigenes Schlafzimmer — ein gutes Zeichen —, während das Personal ein Bad für ihn einließ. Er lag noch immer im Wasser und genoß seine Sauberkeit, als sie mit einem Krug Wasser und einem Tablett mit Speisen hereinkam. Sie trug es selbst, und sie waren allein. Die ganze Zeit über plauderte sie vor sich hin — nicht nervös, sondern ziemlich gelassen. Das war Mebbekews größtes Talent — die Frauen fühlten sich in seiner Gegenwart so wohl, daß sie so offen sprachen wie normalerweise nur mit ihren Freundinnen.

Während sie sich unterhielten, erhob er sich in der Wanne; als sie sich umdrehte — sie hatte gerade das Tablett auf ihre Kommode gestellt —, stand er ganz nackt da und trocknete sich ab. Sie rang heftig nach Atem und wandte den Blick ab.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Mir ist nicht in den Sinn gekommen, daß ich dich erschrecken könnte. In deiner Zeit als Schauspielerin mußt du doch viele Männer gesehen haben — ich stand auch auf der Bühne, und hinter ihr ist niemand schüchtern oder sittsam.«

»Ich war jung«, sagte Dol. »Sie haben mich in jener Zeit stets beschützt.«

»Dann komme ich mir vor wie ein Tier«, sagte Mebbekew. »Ich wollte dich nicht schockieren.«

»Nein«, sagte sie. »Nein, ich bin nicht schockiert.«

»Das Problem ist nur, daß ich nichts zum Anziehen habe. Ich glaube kaum, daß es sehr hilf reich wäre, wenn ich meine alten Sachen wieder anziehen würde.«

»Die Dienstboten haben sie schon zum Waschen mitgenommen. Aber ich habe einen Bademantel für dich.«

»Einen von deinen? Ich bezweifle, daß er mir passen wird.« Die ganze Zeit über hatte er sich natürlich weiterhin abgetrocknet und nicht die geringsten Anstalten unternommen, sich zu bedecken. Und während ihres Gesprächs hatte sie sich wieder umgedreht und betrachtete ihn nun ziemlich offen. Da alles so glatt lief, und er vermutete, daß er ziemlich bald mit dieser Frau schlafen würde, war sein Körper ziemlich munter geworden. Als er sie das erstemal dabei ertappte, daß sie ihm zwischen die Beine sah, gab er vor, es erst jetzt zu bemerken, und hielt sich umständlich das Handtuch vor. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich war so lange allein in der Wüste, und du bist so schön — ich Wollte dich nicht beleidigen.«

»Du hast mich nicht beleidigt«, sagte sie. Und nun konnte er auch die Begierde in ihren Augen sehen. Jetzt wollte sie mehr als nur schöne Worte von ihm. Wie er vermutet hatte, war die Zahl ihrer Verehrer wohl nicht mehr so groß. Bei ihrer Schönheit hätte sie in der Puppenstadt keinen Mangel an Liebhabern gehabt, doch als Lehrerin in Rasas Haus boten sich wahrscheinlich nicht so viele Gelegenheiten. Also war sie mit großer Sicherheit genauso begierig wie er.

Deshalb war er nach Basilika gekommen. Nicht wegen dieser verängstigten, hungrigen Frauen in der Puppenstadt, die einen starken und zuverlässigen Mann suchten, sondern wegen dieser Frau, bei der er nur leidenschaftlich und schmeichelnd und lustig sein mußte. Dol fühlte sich in Rasas Haus noch immer so sicher und bequem, daß sie tun konnte, was man von den Frauen Basilikas eigentlich erwartete — die Männer aus eigener Kraft zu ernähren und von ihren Liebhabern lediglich etwas Vergnügen und Aufmerksamkeit zu verlangen.

Sie brachte ihm ihren Bademantel. Wahrscheinlich hätte er es schon getan, doch Mebbekew stieß die Arme so tief in die Ärmel, daß sie ihm gerade noch bis zu den Ellbogen reichten. »Oh, das klappt tatsächlich nicht«, sagte sie.

»Es spielt jetzt kaum noch eine Rolle«, sagte er. »Ich habe nicht mehr gerade viele Geheimnisse vor dir!«

Natürlich hatte er das Handtuch fallen lassen, als er den Bademantel anzuziehen versuchte. Noch während er den Bademantel auszog, bückte er sich, um es aufzuheben. Doch als er sich wieder erhoben hatte, nahm sie ihm sowohl den Bademantel als auch das Handtuch ab. »Du hast recht«, sagte sie. »Jetzt müssen wir uns auch nicht mehr um Sittsamkeit bemühen.« Sie warf den Bademantel und das Handtuch in eine Ecke und brachte ihm dann von dem Tablett auf der Kommode ein paar Trauben. »Hier«, sagte sie.

Sie hielt ihm die Traube hin, direkt vor die Lippen. Er beugte sich tiefer, als es nötig war, und sog ihre Finger mit der Traube in den Mund. Sie beließ die Finger in seinem Mund, während er die Traube mit der Zunge löste. Sie war herb und süß und köstlich. Er setzte sich auf das Bett, und sie gab ihm eine zweite und eine dritte. Doch der Rest der Trauben landete auf dem Boden.

Muuzh hatte der Begegnung mit der Herrin Rasa voller Erwartung entgegengesehen, und sie enttäuschte ihn nicht. Er hatte sich in Gaballufix’ Haus niedergelassen und wußte, daß sie den Sinn dieses Schrittes begreifen würde. Nach allem, was er über sie gehört hatte, handelte es sich bei der Herrin Rasa keineswegs um eine vollständige Närrin. Nun blieb nur noch zu sehen, wie er mit ihr umzugehen hatte. Vielleicht konnte er sie zu seiner Verbündeten machen. Vielleicht ließ sie sich täuschen. Vielleicht wurde sie aber auch zu einer unversöhnlichen Feindin. Ganz gleich, wie das Gespräch sich entwickeln würde, er würde seinen Vorteil daraus ziehen.

Sie umgab sich nicht mit einer besonderen Erhabenheit; sie unternahm keinen Versuch, ihn zu betören oder einzuschüchtern. Aber genau so mußte eine Frau sich verhalten, wollte sie ihn wirklich beeindrucken. In Gollod hatten die besten Hofdamen ihn zu verführen versucht, doch es war offensichtlich, daß Rasa nicht das geringste Interesse daran hatte. Statt dessen sprach sie wie eine Gleichberechtigte mit ihm, und das gefiel ihm. Sie gefiel ihm. Es würde ein hervorragendes Spiel werden.

»Natürlich möchte ich die Einladung des Stadtrats annehmen«, sagte er. »Wir helfen dieser wunderschönen Stadt nur allzu gern, die Ordnung und Sicherheit aufrechtzuhalten, während sie sich von den unglücklichen Ereignissen der letzten Wochen erholt. Aber ich habe ein Problem, bei dem du mir vielleicht helfen kannst.«

Er konnte ihrem Gesichtsausdruck entnehmen, daß sie mit mehr Forderungen gerechnet hatte — und er wußte, daß sie keine Illusionen darüber hatte, daß er sich in einer Position befand, in der er Forderungen erheben und auch durchsetzen konnte.

»Verstehst du«, sagte er, »üblicherweise belohnt ein Gorajni-General seine Männer nach einem großen Sieg, indem er das eroberte Gebiet aufteilt und ihnen Land und Frauen gibt.«

»Aber du hast Basilika nicht erobert«, sagte Rasa scharf.

»Genau!« sagte er. »Du verstehst also mein Dilemma. Meine Männer haben mir auf diesem Feldzug mit außergewöhnlicher Heldenhaftigkeit und Disziplin gedient und einen vollständigen Sieg über die Raufbolde und Plünderer errungen. Und doch mangelt es mir an der Möglichkeit, sie zu belohnen!«

»Unsere Schatzkammer ist tief«, sagte Rasa. »Der Stadtrat kann jeden deiner tausend Leute zu einem reichen Mann machen.«

»Geld?« fragte Muuzh. »Oh, du verletzt mich zutiefst. Mich und meine Männer. Wir sind keine Söldner!«

»Ihr akzeptiert Land, aber nicht das Geld, mit dem ihr Land kaufen könnt?«

»Land ist eine Sache des Anspruchs und der Ehre. Ein Mann mit Land ist ein Herr. Aber Geld — dann könnte ich meine Soldaten ja gleich Händler nennen.«

Sie musterte ihn einen Augenblick lang. »General Vozmuzhalnoi Vozmozhno«, sagte sie dann, »weiß der Imperator, daß du diese Männer deine Soldaten nennst? Deine Männer?«

Muuzh verspürte einen plötzlichen Anflug von Furcht. In der Tat, eine köstliche Situation — es war schon lange her, seit er jemandem gegenüber gesessen hatte, der es verstanden hatte, ihm die Initiative zu nehmen. Und sie hatte augenblicklich seine schwächste Stelle gefunden. Denn er hatte nicht nur den Befehlen des Imperators getrotzt, keine Offensivmanöver anzuordnen, sondern auch noch die Leichen des öffentlichen und des privaten Spitzels des Imperators zurückgelassen, um hierher zu kommen. Im Augenblick drohte ihm die größte Gefahr vom Imperator, der mittlerweile bestimmt von seinem Wagnis gehört hatte. Muuzh kannte den Imperator gut genug, um zu wissen, daß er nicht überstürzt handeln würde — genau das war die größte Schwäche des Imperators, er scheute vor Risiken zurück —, doch bestimmt war schon ein neuer Fürsprecher auf dem Weg nach Süden, und diesmal nicht ohne Tempeltruppen als Rückendeckung. Entweder würde Muuzh eine gute Miene zum bösen Spiel aufsetzen und das Vertrauen des Imperators zurückgewinnen können, oder er würde offen zur Rebellion aufrufen müssen, und das mit nur tausend Mann und einhundert Kilometer tief in feindlichem Gebiet. Es war nicht der beste Augenblick für ihn, einem Widersacher die Stirn zu bieten, der seine Schwächen genau kannte.

»Wenn ich >meine Truppen< sage«, erwiderte Muuzh, »setze ich dabei natürlich voraus, daß es nur so lange die meinigen sind, wie der Imperator mir gestattet, ihm zu dienen.«

»Wie ich feststelle, streitest du nicht ab, Vozmuzhalnoi Vozmozhno zu sein.«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich erkenne, daß du viel zu klug für mich bist. Warum sollte ich versuchen, meine Identität vor dir zu verbergen?«

Sie runzelte die Stirn. Seine Schmeichelei und sein offenes Eingeständnis hatten sie etwas aus der Fassung gebracht. Nun würde sie sich zweifellos fragen, warum er so bereitwillig seinen wahren Namen eingestand und warum er sie klug nannte. Sie würde davon ausgehen, keineswegs klug gewesen zu sein, gerade, weil er sie klug genannt hatte. So würde sie nicht mehr darauf vertrauen, an ihn herankommen zu können, indem sie Differenzen zwischen ihm und dem Imperator ausnutzte. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, daß man einen wirklich klugen Widersacher am besten entwaffnen konnte, indem man ihn dazu brachte, seine wirkliche Stärke in Zweifel zu ziehen, und das schien auch bei Rasa einigermaßen zu funktionieren.

»Klugheit hat nichts damit zu tun«, sagte sie. »Auf die Wahrheit kommt es an. Und ich glaube nicht, daß in deinen Worten auch nur ein Körnchen Wahrheit gelegen hat. Du belohnst deine Soldaten normalerweise nicht mit Land, oder du hättest keine Soldaten mehr. Deine Offiziere vielleicht. Aber dieses Gespräch über Land ist nur dein erster Eröffnungszug bei dem Versuch, das Landgesetz der Stadt der Frauen zu zerstören. Laß mich raten, wie das Spielchen weiter gehen soll: Ich kehre mit deiner bescheidenen Bitte zum Rat zurück, und der schickt mich mit dem Angebot zurück, deine Männer könnten sich außerhalb der Stadt niederlassen. Du lobst unsere Großzügigkeit, doch dann weist du darauf hin, daß deine Männer sich niemals als Bürger zweiter Klasse eines Landes zufriedengeben könnten, das sie vor der Zerstörung gerettet haben. Wie sollst du Gorajni-Soldaten erklären, daß sie niemals Land innerhalb der Stadt besitzen können? Dann schlägst du einen Kompromiß vor — der sowohl ihnen als auch uns die Möglichkeit gibt, das Gesicht zu wahren. Dein Kompromiß besteht darin, daß Gorajni-Soldaten, die basilikanische Frauen heiraten, die Erlaubnis bekommen sollten, Miteigentümer ihres Landes innerhalb der Stadt zu werden. Die Frauen würden natürlich die vollständige Kontrolle über das Land behalten, doch deine Soldaten könnten auf diese Weise ihre Selbstachtung bewahren.«

»Du hast das Geschenk der Voraussicht«, sagte Muuzh.

»Keineswegs — ich improvisiere nur«, entgegnete sie. »Das Miteigentum an Grundbesitz würde innerhalb von ein paar Wochen zu einer Reihe opportuner Ehen führen, und dann würden die Männer Druck ausüben, um ein Stimmrecht zu bekommen — besonders, da du bewiesen haben wirst, daß deine Leute bescheidene und gehorsame Gatten sind, die keinen Versuch unternehmen, den Grundbesitz zu kontrollieren, an dem sie ein Miteigentum haben. Wie viele Schritte sind es von da an noch bis zu dem Tag, da die Frauen kein Stimmrecht mehr haben und aller Grund in Basilika den Männern gehört?«

»Meine liebe Herrin, du schätzt mich falsch ein.«

»Du hast nicht viel Zeit«, sagte Rasa. »Die Repräsentanten des Imperators werden spätestens in zwei Wochen hier sein.«

»Alle Gorajni-Heere reisen mit Repräsentanten des Imperators.«

»Das deine nicht«, sagte Rasa. »Sonst würde die Stadtwache es wissen. Wir haben Berichte darüber gelesen, wie dein Heer aufgebaut ist, und es gibt kein Zelt des Fürsprechers. Einige deiner Soldaten verspüren den starken Drang, zur Beichte zu gehen.«

»Ich habe von der Ankunft eines Fürsprechers nichts zu befürchten.«

»Warum hast du dann versucht, mir einzureden, du hättest bereits einen hier? Nein, General Vozmuzhalnoi Vozmozhno, ich glaube, du mußt wirklich sehr schnell handeln, um deine Position hier zu festigen, bevor du dich den Fragen des Imperators stellen mußt. Und ich glaube, du hast keine Zeit, dich mit einem Aufstand zu befassen — alles muß friedlich und sofort geklärt werden.«

Also hatte sie sich von all seiner Schmeichelei nicht hinters Licht führen lassen. »Herrin, du bist in der Tat weise. Es ist möglich, daß der Imperator mein Vorgehen falsch deuten wird, auch wenn mein Motiv lediglich darin bestand, ihm zu dienen. Aber du irrst dich, wenn du denkst, es wären viele aufeinanderfolgende Schritte nötig, um meine Position hier zu festigen.«

»Du bist anderer Ansicht?« fragte Rasa.

»Dazu bedarf es nicht vieler Ehen, sondern nur einer.« Er lächelte. »Meiner.«

Endlich war es ihm gelungen, sie zu überraschen. »Du bist nicht verheiratet, Herr?« fragte sie.

»In der Tat, das bin ich nicht«, sagte Muuzh. »Ich bin nie den Bund der Ehe eingegangen. Bis jetzt war das politisch nicht notwendig.«

»Und du glaubst, eine Ehe mit einer Frau von Basilika würde all deine Probleme lösen? Selbst, wenn man dir eine Ausnahmegenehmigung und damit einen Anteil am Besitz deiner Frau erteilt, gibt es doch keine einzige Frau in Basilika, die einen so großen Besitz kontrolliert, daß es für dich eine Rolle spielen würde.«

»Ich habe nicht vor, des Besitzes wegen zu heiraten.«

»Weshalb denn?«

»Um Einfluß zu gewinnen«, sagte er.

Sie musterte kurz sein Gesicht. »Falls du glaubst, ich hätte einen so großen Einfluß, bist du ein Narr.«

»Du bist eine eindrucksvolle Frau, und ich gestehe ein, daß du im richtigen Alter für mich wärest — reif und vollendet. Eine Ehe mit dir würde das Leben zu einem gefährlichen und mich voll in Anspruch nehmenden Spiel machen, und ich glaube, wir beide würden es genießen. Doch du bist leider schon verheiratet, auch wenn es sich bei deinem Gatten den Gerüchten zufolge um einen verrückten Propheten handelt, der sich in der Wüste versteckt. Es liegt mir nicht, der Anlaß für das Scheitern glücklicher Ehen zu sein. Außerdem hast du zu viele Widersacher und Feinde in dieser Stadt, um eine nützliche Gefährtin zu sein.«

»Imperatoren haben Gefährtinnen, General Vozmuzhalnoi Vozmozhno; Generale haben Ehefrauen.«

»Bitte, nenne mich Muuzh«, sagte er. »Es ist ein Spitzname, den nur Freunde benutzen dürfen.«

»Ich bin nicht deine Freundin.«

»Der Spitzname bedeutet >Gatte<«, sagte er.

»Ich weiß, was er bedeutet, und weder ich noch irgendeine Frau von Basilika werden dich jemals mit diesem Namen ansprechen.«

»Gatte«, sagte Muuzh, »und Basilika ist meine Braut. Ich werde sie heiraten, ich werde das Lager mit ihr teilen, und sie wird mir viele Kinder gebären, diese schöne Stadt. Und wenn sie mich nicht freiwillig zu ihrem Gatten nimmt, werde ich sie trotzdem bekommen, und schließlich wird sie mir gegenüber fügsam sein.«

»Schließlich wird diese Stadt dir deine Eier auf einem Tablett servieren, General«, gab sie zurück. »Der letzte Herr dieses Hauses hat dies herausgefunden, als er tun wollte, was auch du beabsichtigst.«

»Er war ein Narr«, sagte Muuzh. »Das weiß ich, denn er hat dich verloren.«

»Er hat nicht mich verloren«, sagte Rasa. »Er hat sich selbst verloren.«

Er lächelte sie an. »Leb wohl, Herrin«, sagte er. »Bis wir uns wiedersehen.«

»Ich bezweifle, daß das je der Fall sein wird.«

»Oh, ich bin sicher, wir werden uns noch einmal unterhalten.«

»Nachdem ich dem Stadtrat erklärt habe, wer und was du wirklich bist, wird er dir keine Gesandten mehr schicken.«

»Meine liebe Herrin«, sagte Muuzh, »glaubst du wirklich, du würdest noch einmal mit dem Stadtrat sprechen, nachdem ich so frei mit dir gesprochen habe?«

Ihr Gesicht erbleichte. »Also bist du doch nicht anders als die anderen Schläger. Wie Gaballufix und Raschgallivak hörst du gern dein eigenes Poltern. Du glaubst, es macht dich männlich.«

»Keineswegs«, sagte Muuzh. »Ihre Drohgebärden und ihr Prahlen haben zu nichts geführt — sie haben sich nur so benommen, weil sie ihre eigene Schwäche gefürchtet haben. Ich hingegen drohe und prahle nicht, und wenn ich einen Entschluß gefaßt habe, führe ich ihn auch aus. Man wird dich von hier aus zu deinem Haus geleiten, das bereits von Gorajni-Soldaten umstellt ist. Alle Kinder in deinem Haus, die nicht bei dir wohnen, wurden bereits unbeschadet nach Hause geschickt; die anderen werden dort bleiben, denn von diesem Augenblick wird niemand mehr dein Haus betreten oder verlassen dürfen. Wir werden euch natürlich mit Nahrung versorgen, und dein Wasserbedarf wird anscheinend von Brunnen und einem klug entworfenen System zum Sammeln des Regens gedeckt.«

»Ja«, sagte sie. »Aber die Stadt wird niemals dulden, daß du mich verhaftest.«

»Glaubst du?« fragte Muuzh. »Ich habe bereits ein Mitglied der Stadtwache von Basilika zum Rat geschickt, um ihn zu informieren, daß ich dich in seinem Namen verhaftet habe, um die Stadt vor deinen Plänen und Intrigen zu schützen.«

»Vor meinen Intrigen!« rief sie und sprang auf.

»Du bist zu mir gekommen und hast vorgeschlagen, daß ich den Stadtrat ab- und einen Mann als König von Basilika einsetzen soll. Du hattest sogar schon einen Kandidaten im Sinn — deinen Gatten, den Wetschik, der seine wichtigsten Rivalen bereits von seinen Söhnen ermorden ließ und nun in der Wüste darauf wartet, daß ich ihn nach Hause rufe und er die Stadt als Vasall des Imperators beherrschen kann.«

»Ungeheuerliche Lügen! Niemand wird dir glauben!«

»Noch während diese Behauptung über deine Lippen kommt, weißt du, daß sie falsch ist«, sagte Muuzh. »Du weißt genau, daß es im Rat viele Frauen gibt, die nur zu gern glauben werden, daß all deine Taten auf privatem Ehrgeiz beruhen und du von Anfang an all dieses Unglück über die Stadt gebracht hast.«

»Du wirst feststellen, daß sich die Frauen Basilikas nicht so leicht täuschen lassen werden.«

»Du hast keine Ahnung, Herrin Rasa, wie glücklich ich wäre, wenn sich die Frauen Basilikas als so klug erweisen würden, daß ich sie nicht täuschen könnte. Ich habe mich mein ganzes Leben lang danach gesehnt, Menschen von so vorbildlicher Weisheit zu finden. Doch ich glaube nicht, daß ich sie hier gefunden habe, mit einer einzigen Ausnahme vielleicht, dir selbst. Und du stehst völlig unter meiner Kontrolle.« Er lachte fröhlich. »Bei der Inkarnation selbst, Herrin, nach unserem Gespräch an diesem Morgen erschreckt mich der Gedanke, daß du noch am Leben bist. Wärest du ein Mann mit einem Heer, hätte ich Angst, gegen dich in den Krieg zu ziehen. Aber du bist kein Mann mit einem Heer, und so stellst du keine Bedrohung für mich dar — nicht mehr.«

Sie erhob sich von ihrem Stuhl. »Bist du fertig?«

»Tu deinem Haushalt einen Gefallen — versuche nicht, jemanden mit einer geheimen Nachricht fortzuschicken. Ich werdende« erwischen, den du schickst, und dann müßte ich wahrscheinlich etwas Scheußliches tun — zum Beispiel, dir die Lebensmittelration für den nächsten Tag eingenäht in die Haut deines Möchtegern-Boten zu schicken.«

»Du bist genau der Grund dafür, weshalb Basilika die Männer überhaupt aus der Stadt verbannt hat«, sagte sie kalt.

»Und du bist genau der Grund dafür, weshalb die Stadt der Frauen im Angesicht Gottes eine Abscheulichkeit ist«, erwiderte er. Doch in seiner Stimme schwang Bewunderung, ja sogar Zuneigung mit, denn in Wirklichkeit hatte allein diese Frau ihm klargemacht, daß die Stadt der Frauen nicht so schwach war, wie er es all diese Jahre lang geglaubt hatte.

»Gott«, sagte sie. »Gott bedeutet dir nichts. Wie du denkst, wie du lebst — ich möchte behaupten, daß du jeden Augenblick deines Lebens damit verbringst, dir zu überlegen, wie du den Willen der Überseele verspotten und ihr gesamtes Werk auf dieser Welt zerstören kannst.«

»Du kommst der Sache sehr nahe, liebe Herrin«, sagte er. »Näher, als du dir vorstellen kannst. Und jetzt beuge dich bitte dem Unausweichlichen und mache den armen Soldaten keine Schwierigkeiten, die die unangenehme Aufgabe haben, dich durch die Straßen Basilikas zu deinem Hausarrest zu geleiten.«

»Was für Schwierigkeiten könnte ich denn schon machen?«

»Nun, zum einen könntest du versuchen, den Leuten, die dir begegnen, lächerliche aufrührerische Botschaften zuzurufen. Ich würde dir empfehlen, die Soldaten schweigend zu begleiten.«

Sie nickte ernst. »Ich werde deine Empfehlung befolgen. Du kannst dir gewiß sein, daß ich dich auf dem Nachhauseweg in tiefstem Schweigen verachten werde.«

Sechs Soldaten waren nötig, um sie nach Hause zu bringen. Seine Lügen über sie waren so überzeugend gewesen, daß sich an vielen Plätzen der Stadt Menschenmengen gebildet hatten, die sie als Verräterin ihrer Stadt beschimpften. Es tat ihr weh, von ihrer geliebten Stadt ungerechtfertigt verachtet zu werden; doch es machte ihr nicht halb soviel aus wie die anderen Schreie — die Jubelrufe für General Muuzh, den Retter Basilikas.

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