6 Hochzeiten

Der Traum der Entwirrerin

Huschidh erlebte die Hochzeit nicht als freudiges Ereignis. Nicht, daß etwas schiefgegangen wäre. Tante Rasa konnte mit Ritualen umgehen. Ihre Zeremonie war schlicht und nett, ohne einen Anflug der falschen Würde, auf die so viele andere Frauen in ihrem verzweifelten Begehren zurückgriffen, heilig oder wichtig zu wirken. Tante Rasa hatte nie etwas vortäuschen müssen. Und doch achtete sie sorgsam darauf, bedeutsame öffentliche Feiern — Hochzeiten, Mündigkeiten, Schulabschlüsse, Verabschiedungen, Weissagungen, Totenwachen, Beerdigungen — mit einer leichten Würde durchzuführen, mit einer Sanftheit, die die Gedanken der Teilnehmer auf den Anlaß selbst konzentrierte und nicht auf den Ablauf der Feier. Es gab niemals eine Andeutung von Eile oder Geschäftigkeit; niemals eine Andeutung darauf, daß alles einfach genau so sein mußte und man daher lieber aufpaßte, um nichts Falsches zu tun.

Nein, Rasas Hochzeitsfeier für ihren Sohn Nafai und seine beiden Brüder — oder, wenn man es anders herum sah, Rasas Hochzeitsfeier für ihre drei Nichten Luet, Dol und Eiadh — war eine schöne Angelegenheit auf dem Säulengang ihres Hauses, der herausgeputzt war und nach den Blumen des Gewächshauses und den Blüten roch, die dort wuchsen. Eiadh und Dol waren erstaunlich schön; ihre Gewänder umschmiegten sie mit der eleganten Illusion von Einfachheit, ihr Make-up war so kunstfertig aufgelegt, daß es überhaupt nicht vorhanden zu sein schien. Man hätte es gar nicht bemerkt, wäre Luet nicht gewesen.

Die liebe Luet, die sich geweigert hatte, überhaupt Make-up aufzulegen, und deren Kleid wirklich einfach war. Während Eiadh und Dol die Eleganz von Frauen aufwiesen, die — mit großem Erfolg — schön und jung und fröhlich wirken wollten, war Luet tatsächlich jung; ihr Gewand bedeckte schlicht einen Körper, der eher Fraulichkeit verhieß, als daß er sie schon erreicht hätte, und ihr Gesicht strahlte vor einer ernsten und furchtsamen Freude, die Eiadh und Dol älter und viel zu erfahren aussehen ließ. Gewissermaßen war es fast grausam, die beiden älteren Frauen die Ehe in der Gegenwart dieses Mädchens schließen zu lassen, das sie allein durch ihre Ungezwungenheit beschämte. Eiadh hatte es in der Tat bemerkt, bevor die Zeremonie begann – Huschidh hatte mitbekommen, wie sie Tante Rasa drängte, »jemanden zu Luet hinaufzuschicken, die ihr dabei hilft, ein Kleid auszusuchen und etwas mit ihrem Gesicht und Haar anzustellen«, doch Tante Rasa hatte nur gelacht und gesagt: »Diesem Kind werden keine solchen Kunstgriffe helfen können.« Eiadh faßte dies natürlich so auf, daß Tante Rasa meinte, Luet wäre zu schlicht, als daß man sie mit einem Kleid und Make-up herausputzen könnte; doch Tante Rasa hatte Huschidh unmittelbar danach angesehen, ihr zugeblinzelt und die Augen verdreht, um sie wissen zu lassen, daß die arme Eiadh nicht die geringste Ahnung hatte, was bei der Hochzeit passieren würde.

Und es passierte tatsächlich, obwohl Eiadh und Dol zum Glück nicht mitbekamen, daß die anwesenden Dienstmädchen und Schülerinnen und Lehrerinnen Luet meinten, nur Luet, als sie »Ah, sie ist so schön!«, »Ah, so bezaubernd!«, »Seht, wer hätte gedacht, daß sie so schön ist!« flüsterten. Als Nafai als der jüngste Mann vortrat, um von seiner Braut empfangen zu werden, klangen die Seufzer wie ein Lied von der Festgemeinde, eine improvisierte Hymne an die Überseele, weil sie diesen Jungen von vierzehn Jahren, der die Statur und Kraft eines Mannes und das helle Feuer der Überseele in den Augen hatte, dazu gebracht hatte, die erwählte Tochter der Überseele zu heiraten, die Wasserseherin, deren reine Schönheit von ihrer Seele nach außen gedrungen war. Er war der glänzende Goldring, in dem dieses Juwel von Mädchen mit ungebrochenem Glanz strahlen würde.

Huschidh sah besser als alle anderen, wie Luet die Herzen der Gäste für sich eingenommen hatte. Sie sah die Fäden zwischen ihnen, die wie vom Tau benetzte Stränge eines Spinnennetzes im ersten Sonnenlicht des Morgens funkelten; wie sie die Wasserseherin liebten! Doch am deutlichsten sah Huschidh, als die Zeremonie voranschritt, die entstehenden Bande zwischen den Gatten und Gattinnen. Unbewußt nahm sie jede Geste wahr, jeden Blick, jeden Gesichtsausdruck und war daraufhin imstande, in ihrem Geist die Verbindungen zu verstehen.

Zwischen Elemak und Eiadh würde es zu einer seltsamen, ungleichen Partnerschaft kommen; je weniger Eiadh Elemak liebte, desto mehr würde er sie begehren, und je sanfter und liebevoller er sie behandelte, um so mehr würde sie ihn verachten. Es würde schmerzlich werden, diese Ehe zu beobachten, in der der Schmerz des Auseinandergehens gleichzeitig das einzige war, was sie zusammenhalten würde. Doch Huschidh konnte nichts darüber sagen — keiner der beiden würde es verstehen, und sie würden nur wütend werden, wenn sie versuchte, es zu erklären.

Was die arme Dolja und ihren kostbaren neuen Geliebten betraf, Mebbekew, so war es in der Tat eine unüberlegte Ehe — und doch gab es keinen Grund für die Annahme, daß sie sich als weniger entwicklungsfähig als die von Elemak und Eiadh erweisen würde. Im Augenblick waren sie, erregt, weil sie glaubten, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, glücklich mit der neuen Verbindung zwischen ihnen. Doch schon bald würde die Wirklichkeit sie einholen. Wenn sie in der Stadt blieben, würden sie einander in ein paar Wochen hassen — Dol wegen Mebbekews Untreue und Unehrlichkeit, Mebbekew wegen Dols besitzergreifender Art. Huschidh stellte sich ihr Familienleben vor. Dol würde ihn ständig mit wunderbaren, enthusiastischen Umarmungen umschlingen und glauben, sie würde ihm damit ihre Liebe erweisen, während sie in Wirklichkeit doch nur ihren Besitzanspruch geltend machte; und Meb würde unter ihren überreichlichen Umarmungen erschaudern und sich bei jeder Gelegenheit davonstehlen, um neue Körper zu besitzen, neue Herzen zu erobern. Aber in der Wüste würde es ganz anders sein. Meb würde außer Dolja keine Frau finden, die ihn begehrte, und so würde seine Lust ihn immer wieder zurück in ihre Arme treiben; und schon allein die Tatsache, daß er sie nicht betrügen konnte, würde Dols Angst vor der Einsamkeit lindern, und sie würde ihn mit ihrem Bedürfnis, ihn zu besitzen, nicht so sehr unterdrücken. In der Wüste konnten sie eine Ehe daraus machen, wenngleich Mebbekew niemals glücklich sein würde, weil es ihn langweilte, immer wieder mit derselben Frau zu schlafen, Nacht um Nacht, Woche um Woche, Jahr um Jahr.

Huschidh stellte sich mit einem Vergnügen vor, auf das sie nicht stolz war, was Elemak tun würde, wenn Meb zum erstenmal Anstalten machte, mit Eiadh zu flirten. Es würde diskret verlaufen, weil Elemak seine Position vor den anderen nicht schwächen wollte, indem er eingestand, Angst davor zu haben, daß man ihm Hörner aufsetzte. Aber Meb würde danach nicht mehr wagen, auch nur einen Blick auf Eiadh zu werfen …

Die Verbindungen zwischen Elemak und Eiadh, zwischen Dol und Mebbekew ähnelten denen, wie Huschidh sie jeden Tag in der Stadt sah. Das waren Ehen, wie sie schon immer in Basilika geschlossen worden waren, die lediglich bitterer — und vielleicht dauerhafter — sein würden, weil die Überseele sie bald in die Wüste führen würde, wo sie einander dringender brauchten und weniger Alternativen hatten als in der Stadt.

Die Ehe zwischen Luet und Nafai war jedoch keine, wie sie ständig in Basilika geschlossen wurde. Zum einen waren die beiden noch so jung. Luet war erst dreizehn. Es war eigentlich fast barbarisch — wie bei den Waldstämmen der Nordküste, wo ein Mädchen zur Braut wurde, noch bevor ihr erstes Blut zu tropfen aufgehört hatte. Nur Huschidhs Wissen, daß die Überseele die beiden zusammengeführt hatte, bewahrte sie davor, vor der Zeremonie zurückzuschrecken. Trotzdem verspürte sie noch einen tiefen Zorn, den sie nicht ganz verstand, als sie zusah, wie die beiden ihre Hände aufeinander legten, die Eide leisteten und sich behutsam küßten, während Tante Rasas Hände auf ihren Schultern lagen. Warum hasse ich diese Ehe so sehr, fragte sie sich. Denn sie sah doch, daß Luet voller Hoffnung und Freude war, daß Nafai sie verehrte und ihr gefallen wollte – was mehr hätte Huschidh für ihre liebe Schwester erhoffen können, für ihre einzige Verwandte auf der ganzen Welt?

Doch als die Zeremonie beendet war und die frisch verheirateten Paare lachend und von Blumen übersät zurück ins Haus und die Treppe zu ihren Balkonzimmern hinaufgingen, konnte Huschidh sich nicht einmal dazu zwingen zu warten, bis ihre Schwester außer Sicht war. Sie floh einen Dienstbotenkorridor entlang und lief nicht in ihr Zimmer, sondern auf das Dach, auf das sie und Luet sich so oft gemeinsam zurückgezogen hatten.

Doch selbst hier glaubte sie, in der zunehmenden Dunkelheit des Abends noch die Schatten von Luets und Nafais erster Umarmung, ihrem ersten Kuß, sehen zu können. Es erfüllte sie mit Zorn, und sie warf sich auf den Teppich, schlug mit den Fäusten auf den dicken Stoff, weinte bitterlich und schluchzte: »Nein, nein, nein, nein.«

Wozu sagte sie nein? Sie wußte es selbst nicht. Dann lag sie da und weinte, bis sie, müde von zu viel Wissen und zu wenig Verständnis, in der abkühlenden Luft der Nacht über Basilika einschlief. Spät im Frühling wehten die Brisen feucht und kühl vom See und trocken und warm von der Wüste hinüber und trafen sich auf den Straßen und Dächern der Stadt zu ihrem turbulenten Tanz. Huschidhs Haar verfing sich in diesen Brisen und wehte und wirbelte, als wäre es lebendig und hoffte auf die Freiheit. Doch sie wachte nicht auf.

Statt dessen träumte sie, und in ihren Träumen brachte ihr Unterbewußtsein die Fragen der Furcht und des Zorns hervor, die sie in wachem Zustand nicht stellen konnte. Sie träumte von ihrer eigenen Hochzeit. Auf einem Wüstengipfel; sie stand auf der hohen Spitze eines Felsens, auf der für niemanden sonst mehr Platz war. Und doch war ihr Gatte bei ihr, trieb neben ihr in der Luft: Issib, der Krüppel, der vergnügt flog, wie sie ihn während seiner Jahre als Schüler durch die Hallen von Rasas Haus hatte fliegen sehen. In ihrem Traum schrie sie die Frage hinaus, die sie laut nicht zu stellen gewagt hatte: Warum bin ich diejenige, die den Krüppel heiraten muß? Wieso hast du mir dieses Leben zugedacht, Überseele? Wie habe ich dich beleidigt, daß ich niemals wie Luet dastehen werde, schön und jung und vor Liebe erblühend, mit einem Mann neben mir, der stark und heilig ist, fähig und gut?

In ihrem Traum sah sie, daß Issib von ihr forttrieb, noch immer lächelnd, aber sie wußte, daß dieses Lächeln lediglich seine ureigene Art von Mut war, daß ihre Schreie ihm das Herz gebrochen hatten. Sein Lächeln wurde immer schwächer; er brach in sich zusammen, stürzte wie ein Vogel, den ein grausamer Pfeil aus dem Himmel geholt hatte. Erst da begriff sie in dem Traum, daß er nur mit der Kraft seiner Liebe für sie, seiner Sehnsucht nach ihr, hatte fliegen können, und als sie vor ihm zurückgeschreckt war, hatte er seine Fähigkeit zu fliegen verloren. Sie wollte nach ihm greifen, ihn festhalten, doch dabei verlor sie lediglich den Halt auf dem Felsgipfel und fiel ihm hinterher, dem Boden entgegen.

Sie erwachte, keuchend und in der Kälte zitternd. Sie griff nach dem freien Ende des Teppichs, zog ihn über sich und hüllte sich darin ein, die Wangen kalt vor den Tränen, die dort trockneten, die Augen verquollen und wund vom Weinen. Überseele! rief sie stumm mit ganzem Herzen aus. O Mutter des Sees, sag mir, daß du mich nicht so haßt! Sag mir, daß du nicht das für mich vorgesehen hast, daß es nur ein Versehen war, das mich am Abend der Hochzeit meiner Schwester jeglicher Hoffnung beraubt hat!

Und dann, mit der perfekten Unlogik der Trauer und des Selbstmitleids, betete sie laut: »Überseele, sag mir, warum du dieses Leben für mich vorgesehen hast. Ich muß es verstehen, soll ich es leben können. Sag mir, daß es eine Bedeutung hat. Sag mir, warum ich lebe, sag mir, ob mich einer deiner Pläne so, wie ich bin, in dieses Leben gebracht hat. Sag mir, warum diese Macht des Verständnisses, die du mir verliehen hast, ein Segen und kein Fluch ist. Sag mir, ob ich jemals so glücklich sein werde, wie Luet es heute abend ist!« Und dann, voller Scham darüber, ihre Eifersucht und Sehnsucht in so nackte Worte gekleidet zu haben, weinte Huschidh wieder und schlief wieder ein.

Unter dem Teppich wurde ihr wärmer, denn die Nacht war noch nicht so kalt, wenn man bedeckt war. Ihre Tränen wurden durch Schweiß ersetzt, dessen Tropfen ihren Körper kitzelten wie winzige Hände. Und erneut träumte sie.

Sie sah sich selbst auf der Schwelle eines Wüstenzelts. Sie hatte noch nie ein aufgeschlagenes Zelt gesehen, außer in Hologrammen, und doch war dies kein Zelt, das sie auf irgendeinem Bild gesehen hatte. Dort stand sie selbst, mit einem Baby in den Armen, während vier andere Kinder, der Größe nach wie Orgelpfeifen, aus dem Zelt stürmten, und im Traum dachte sie, das Zelt habe sie gerade erst auf die Welt gebracht, als wären sie einfach in%die Welt hinausgeschleudert worden, gerade eben. Wenn es sein müßte, würde ich sie alle noch einmal empfangen und austragen und hierherbringen, nur um zu sehen, wie sie hier leben, braungebrannt und lachend im Sonnenlicht der Wüste. Die Kinder liefen im Kreis herum und verfolgten einander bei irgendeinem Spiel, während Huschidh ihnen zusah. Und dann hörte sie in ihrem Traum, wie das Kleinkind auf ihrem Arm zu quengeln begann, und so entblößte sie eine Brust und ließ das Baby saugen; sie fühlte, wie die Milch dankbar aus ihrer Warze floß, fühlte das süße Kitzeln der Lippen des Babys, die küßten und saugten und schmatzten, Leben aufnahmen, warmes Leben, nasses Leben, während ein Gemisch aus Milch und Speichel in den Mundwinkeln des Babys winzige Blasen schlug.

Dann trieb ein Stuhl durch die Zelttür, und auf dem Stuhl saß ein Mann. Issib; das wußte sie sofort. Doch es war kein Zorn in ihrem Herzen, als sie ihn sah, nicht das Gefühl, man hätte ihr etwas Gutes im Leben vorenthalten. Statt dessen sah sie sich mit ihm verbunden, von Herz zu Herz und mit dicken Stricken aus leuchtender Seide; sie nahm das Kleinkind von ihrer Brust und legte es auf Issibs Schoß, und er sprach mit dem Baby und brachte es zum Lachen, während Huschidh gemächlich ihre Brust trocknete und wieder bedeckte. Sie alle waren miteinander verbunden, Mutter, Vater, Kinder … sie sah, daß es nur darauf ankam, und nicht auf das von ihr ersonnene Ideal, wie ein Gatte auszusehen habe. Die Kinder liefen zu ihrem Vater und sprangen um seinen Stuhl herum, und er sprach mit ihnen, und sie lauschten versunken, lachten, wenn er lachte, und sangen mit ihm, wenn er sang. Dieser Issib-der-Träume war keine Last, die sie ertragen mußte, er war der beste Freund und Gatte, den sie jemals gesehen hatte.

Überseele, betete sie in ihrem Traum, wie hast du mich hierher gebracht? Warum liebst du mich so sehr, daß du mich in diese Zeit, zu diesem Ort, diesem Mann, diesen Kindern gebracht hast?

Die Antwort kam augenblicklich, mit Fäden aus Gold und Silber. Die Kinder wurden mit Huschidh und Issib verbunden, und dann erstreckten sich die Fäden von ihnen zu anderen Menschen. Ein Andrang, ein Gewimmel von Menschen, eine Milliarde, eine Billion Menschen, sie sah, wie sie zu einem unbekannten Ziel marschierten, vielleicht auf einer Völkerwanderung. Es war eine beängstigende Vision, so viele Menschen auf einmal, als sähe Huschidh jeden einzelnen Mann und jede einzelne Frau, die jemals auf Harmonie gelebt hatten. Und unter ihnen hier und da dieselben silbernen und goldenen Fäden.

Auf einmal verstand sie: das sind diejenigen, bei denen es zu einer wahren Verbindung mit der Überseele gekommen ist. Das sind diejenigen, die die Stimme der Überseele am besten hören können, bei denen die genetische Veränderung, die bei der Besiedlung Harmonies durchgeführt worden war, verdoppelt und wieder verdoppelt wurde, so daß sie nicht nur schwache Gefühle empfangen, eine Dummheit der Gedanken, wenn sie sich auf verbotene Pfade der Erfindung oder Handlung begeben, nein, diese besonderen Menschen mit den goldenen und silbernen Banden können klare Vorstellungen, Bilder, sogar Wörter empfangen.

Zuerst waren die goldenen und silbernen Fäden kurz und dünn, nur flüchtige Schimmer hier und dort — Mutationen, zufällige Verbindungen, willkürliche Variationen in den genetischen Molekülen. Doch hier und da fanden sie einander, diese Menschen, und heirateten; und nachdem sie sich gepaart hatten, Gold mit Gold oder Silber mit Silber, waren auch einige ihrer Kinder mit der Überseele verbunden. Zwei verschiedene Erbanlagen, zwei verschiedene Arten von genetischen Verbindungen, erkannte Huschidh; wenn sich Gold mit Silber verband, verfügten die Kinder fast nie über diese Begabung. Sie begriff nun, daß die Überseele mit dem Verlauf der Jahrhunderte in dieser unzählbaren Vielfalt begabte Menschen anstieß, versuchte, sie zusammenzubringen, und nach Millionen von Jahren waren es keine goldenen und silbernen Fäden mehr, sondern starke Taue, die immer regelmäßiger von Generation zu Generation weitergegeben wurden.

Bis schließlich die Zeit kam, da ein Elternteil allein den goldenen Faden an all seine Kinder weitergeben konnte; und dann, viele Generationen später, die Zeit kam, da auch die silbernen Fäden zu einem dominanten Zug wurden, den ein Elternteil weitergeben konnte, ganz gleich, ob das andere begabt war oder nicht.

Nun wurde die Überseele immer eifriger, und die Anstöße wurden immer komplizierter, wenn Menschen über Tausende von Kilometern hinweg zu unwahrscheinlichen Ehen und Kopulationen geführt wurden. Sie sah eine Frau, die nackt aus einem Bach stieg, um sich mit einem Mann zu paaren, den zu finden sie tausend Kilometer gelaufen war, wobei die Frau gar nicht wußte, daß dies der Wille der Überseele war. Der Mann hatte sowohl das Gold als auch das Silber in sich, und es war stark und echt, und das galt auch für die Frau, und ihre Tochter wurde mit Strängen aus hellstem Metall geboren, leuchtend wie mit eigenem Licht.

In ihrem Traum sah Huschidh, daß die Frau das Baby nahm und es in Rasas Arme legte, die selbst über Generationen hinweg mit goldenen und silbernen Strängen verbunden war. Und dann legte dieselbe Frau, dieselbe Mutter, Rasa noch eine Tochter in die Arme, eine noch strahlendere. Vor ihren Augen wuchs das zweite Bund und wurde zu Luet, und nun sah Huschidh, was sie schon an diesem Abend gesehen hatte, sah sie, wie Luet und Nafai verbunden wurden, doch nun konnte sie mehr als nur die Stränge der Liebe und Treue sehen, der Hingabe und Leidenschaft, die Huschidh immer ausmachte. Bei Luet und Nafai waren diese goldenen und silbernen Bande heller als bei allen anderen im Zimmer. Kein Wunder, daß ihre Augen mit solcher Anmut und Schönheit gestrahlt hatten, dachte Huschidh. Sie waren von der Überseele geschaffen worden, genauso, als hätte die Überseele sie aus perfektem Erz gegossen und ihnen mit eigener Hand den Zauber des Lebens eingegeben.

Dann stieg Huschidh in die Luft, als flöge sie über den Säulengang, und nun konnte sie sehen, daß alle Paare, die verheiratet wurden, diese Fäden in sich hatten. Nicht so hell und stark wie bei Luet und Nafai, doch sie hatten sie. In Mebbekew und Elemak war sowohl Gold als auch Silber; Dol hatte nur die silbernen und Eiadh die goldenen mit nur einem Hauch von Silber.

Wer sonst noch? Wie viele andere hast du zusammengebracht, Überseele?

Immer höher erhob sie sich über die Stadt, doch da dies ein Traum war, konnte sie die Menschen auf den Straßen und in den Häusern noch immer deutlich ausmachen. Hier gab es viele helle Spuren von Gold und Silber, viel mehr als in jeder anderen Stadt auf der Welt. Hier in diese Stadt der Frauen waren viele Händler gekommen und hatten nicht nur ihre Waren, sondern auch ihren Samen mitgebracht; viele Frauen waren auf Pilgerfahrten gekommen und geblieben, zumindest lange genug, um ein Kind zu gebären; viele Familien hatten ihre Töchter und Söhne zur Ausbildung hierher geschickt; und nun gab es kaum noch eine Person in Basilika, die nicht die Gabe besaß, den Einfluß der Überseele in bestimmtem Ausmaß zu spüren. Und die, die auf diese Weise berührt waren, konnten nicht nur die Überseele fühlen, sondern auch einander, auch wenn sie nicht begriffen, wie sehr sie einander verstanden. Kein Wunder, daß Basilika eine heilige Stadt ist, dachte Huschidh in ihrem Traum. Kein Wunder, daß sie auf der ganzen Welt wegen ihrer Schönheit und Wahrheit bekannt ist.

Schönheit und Wahrheit, aber auch dunklere Dinge. Die Verbindung mit der Überseele bedeutete nicht, daß ein Mensch freundlicher oder großzügiger war. Und unbewußte Kenntnis von den Gefühlen eines anderen Menschen konnte leicht zu Ausbeutung, Manipulation, Grausamkeit oder Herrschaft mißbraucht werden. Huschidh sah Gaballufix und erkannte, daß die Fäden in ihm fast so hell waren wie die in Rasa oder Wetschik. Kein Wunder, daß er so gut gewußt hatte, wie man die Männer der Palwaschantu führte, die Frauen Basilikas einschüchterte und jene beherrschte, die ihm nahe standen.

Dann sah sie in ihrem Traum, daß Gaballufix aus seinem Haus trat und mit seiner elektrischen Klinge um sich schlug, als griffen ihn tausend unsichtbare Feinde an. Huschidh begriff, daß dies sein Wahnsinn war und die Überseele betrauerte, was er tat. Also ließ sie Gaballufix stolpern. Er fiel zu Boden und blieb liegen, noch immer hell vor Gold und Silber, aber im Augenblick hilf- und harmlos.

Und als er dort lag, kam ein anderer: Nafai, wie sie wußte. Man zeigte ihr Luets Gatten in seinem schrecklichsten Augenblick, denn sie konnte sehen, wie er über dem Mann stand und die Überseele bat, nicht von ihm zu verlangen, worum sie ihn dann doch bat. Doch als er Gaballufix den Kopf abschnitt, wurde er nicht von der Überseele beherrscht. Er hatte sich freiwillig entschlossen, dem Weg der Überseele zu folgen. Gaballufix wurde ausgelöscht, und Nafai stand allein auf der Straße, leuchtend und beschämt.

Huschidh flog über die Stadt und erhaschte Blicke auf ihre hellsten Bewohner. Schedemei, allein in ihrem Laboratorium, wie sie tragbare Trockenbehälter mit Keimlingen und Embryos füllte. Ein Mann, der mit Nafai zum Stadttor ging, eine in ein Tuch eingeschlagene Kugel in der Hand — es mußte Zdorab sein, von dem Nafai ihnen erzählt hatte, und auch in Zdorab leuchtete Gold und Silber. Sevets Gatte, Vas. Kokors Gatte, Obring. Beide fast so hell wie die Töchter von Rasa und Gaballufix selbst. All diese Menschen waren in diesem Augenblick in der Stadt zusammengeführt worden, und die besten von ihnen zogen in die Wüste hinaus, um sich zu Wetschik zu gesellen. Die Überseele hatte sie dafür erzeugt, und nun rief sie sie aus der Welt, um sie an einen anderen Ort zu bringen.

Was werden unsere Kinder sein? Und unsere Enkelkinder?

Erneut schwang sie sich über die Stadt hoch, voller Freude darüber, daß sie nun den Plan der Überseele verstand, als sie noch einen goldenen und silbernen Strang erhaschte, so hell wie die anderen, die sie gesehen hatte. Sie wollte ihn sich näher anschauen, und da es ein Traum war, sank sie augenblicklich tiefer und sah, daß das Licht aus Gaballufix’ Haus kam, doch der Mann war nicht Gaballufix. Statt dessen trug er eine seltsame Uniform, und sein Haar war eingeölt und hing in naß aussehenden Löckchen hinab.

General Vozmuzhalnoi Vozmozhno, begriff sie. Muuzh. Auch er wurde hierher geführt! Auch er ist einer, den die Überseele braucht!

Doch dann sah sie, daß Muuzh aufstand und sein Metallschwert zog. War er wie Gaballufix? Würde er in einem Blutrausch um sich schlagen?

Nein. Er drehte sich um, sah die goldenen und silbernen Fäden, die ihn mit der Überseele verbanden, und hackte mit der Klinge auf sie ein. Er trennte sie durch und floh dann vor ihnen. Doch nach einem Augenblick waren die Fäden wieder nachgewachsen, und erneut trennte er sie durch und lief wieder vor ihnen davon. Immer wieder geschah dies, und Huschidh wußte, daß er seine Verbindung mit der Über seele haßte.

Und doch war er hier. Wie auch immer sie es geschafft hatte, die Überseele hatte ihn hergeführt. Und dann begriff sie: Da die Überseele wußte, wie sehr er sie haßte, wie sehr er sich gegen sie auflehnte, hatte sie ihn einfach dazu gedrängt, nicht zu tun, was sie in Wirklichkeit von ihm verlangte. So leicht hatte er sich täuschen lassen! So leicht hatte er sich führen lassen. Und Huschidh lachte in ihrem Schlaf.

Lachte und begann zu erwachen; sie spürte, wie der Schlaf von ihr abfiel, und konnte nun ihren Körper fühlen, den richtigen, der in einen Teppich eingehüllt war und schwitzte, obwohl die Luft um ihn herum kühl war.

Als in diesem Augenblick das Wachsein den Traum vertrieb, kam der plötzliche Blitz einer Vision, die sich von allen anderen, die sie je gehabt hatte, zu unterscheiden schien. Sie sah das Bild aus ihrem vorherigen Traum, in dem sie auf der Spitze eines Felsens gestanden hatte und Issib neben ihr in der Luft trieb, und er taumelte und fiel, und sie stürzte ebenfalls; doch noch während ihres Falls durchzuckte es sie wie ein Blitz, und dann sah sie etwas Neues: Geschöpfe mit Schwingen, fellbesetzt wie Tiere und doch imstande, sich in die Lüfte zu erheben und zu fliegen. Sie glitten hinab und hielten die beiden Stürzenden an den Armen und Beinen fest, während sie sie dann mit mächtigen Flügelschlägen davor bewahrten, auf die Felsen unter ihnen zu prallen, und sie statt dessen wieder in den Himmel trugen.

Er machte ihr angst, dieser plötzliche, unerwartete Traum, denn Huschidh wußte, daß sie gar nicht schlief, und eigentlich hätte überhaupt kein Traum kommen dürfen, besonders keiner, der so klar und erschreckend war wie dieser. Hatte die Überseele ihr nicht schon alles gezeigt, worum sie gebeten hatte? Warum führte sie sie nun zu diesem alten Bild zurück?

Und erneut durchzuckte es sie, und sie sah einen früheren Augenblick des Traums dieser Nacht: Sie stand mit Issib auf der Schwelle des Zelts, der das Baby auf dem Schoß hielt, während die Kinder sich um seinen fliegenden Stuhl versammelt hatten. Huschidh hatte diese Szene gerade erst erkannt, als sie sich schon wieder veränderte; nun waren sie nicht mehr in der Wüste, sondern in einem üppigen Wald, auf der Schwelle eines Holzhauses auf einer Lichtung, und plötzlich kamen Riesenratten aus Löchern im Boden und fielen von den Ästen von Bäumen und griffen sie an, und Huschidh wußte, daß sie ihre Kinder stehlen, sie davontragen und fressen wollten, und sie schrie vor Entsetzen auf. Doch bevor das Geräusch noch über ihre Lippen kam, waren diese Flugwesen wieder da, schössen aus dem Himmel hinab, um ihre Kinder aus den Mäulern und Händen der großen, raubgierigen Ratten zu reißen. Als Huschidh sah, was geschah, riß sie ihr Baby aus Issibs Schoß und hielt es hoch über ihren Kopf, und eins der Flugwesen kam hinab, nahm es ihr aus den Händen und flog davon. Und sie stand da und weinte, denn sie wußte nicht, ob sie ihr Kind nicht einfach einem Raubtier entrissen und einem anderen gegeben hatte … und doch wußte sie es. Sie hatte ihre Wahl getroffen, und als sie zurückkehrten, nahm sie Issibs Arme und hielt sie hoch, damit die fliegenden Geschöpfe ihn ergreifen und davontragen konnten. Doch bevor sie sie erreicht hatten, waren die Ratten über ihnen, rissen sie zu Boden, und hundert winzige, wilde Hände zerrten, zogen und rissen an ihr …

Sie erwachte mit dem Gellen ihres eigenen Schreis in den Ohren, und eine nicht zu lindernde Furcht nagte an ihrem Herzen. Sie war schweißgebadet, und die Nacht war dunkel und der Wind kalt, doch sie zitterte nicht wegen der Kälte. Sie warf den Teppich zurück, der sie bedeckte, und lief los, stolpernd und noch halbblind vom Schlaf in ihren Augen und ungelenk von der Steifheit ihrer unbequemen Lage, zu dem Loch im Giebel, das auf den Dachboden des Hauses führte.

Als sie ihr Zimmer erreicht hatte, konnte sie wieder ganz normal sehen, und sie ging gewandt und leise, doch sie war noch immer schwach und verängstigt und konnte den Gedanken, allein zu sein, nicht ertragen. Denn da stand Luets Bett — Luet, die jetzt hier sein sollte, um sie zu trösten —, doch es war leer, da Luet in einem anderen Bett lag und jemanden umarmte, der sie in dieser Nacht bei weitem nicht so dringend brauchte wie Huschidh. Huschidh rollte sich auf ihrem Bett zusammen, zitterte abwechselnd leise und schluchzte laut und keuchend, bis sie befürchtete, daß jemand in einem anderen Zimmer sie hören konnte.

Sie werden glauben, ich sei eifersüchtig auf Luet, wenn sie mich weinen hören. Sie werden glauben, ich würde sie hassen, weil sie vor mir geheiratet hatte, aber dem ist nicht so … zumindest jetzt nicht mehr, nachdem die Überseele mir die Bedeutung von alledem gezeigt hat. Sie versuchte, sich diesen Traum in Erinnerung zurückzurufen — von ihr und ihren Kindern und ihrem Mann an der Tür ihres Zeltes —, doch er hatte sich kaum bei ihr eingestellt, als er sich schon wieder verwandelte und sie entsetzt beobachten mußte, wie die Ratten aus ihren Löchern und von den Bäumen kamen, und ihre einzige, verzweifelte Hoffnung waren die so überaus seltsamen Fluggeschöpfe …

Und sie fand sich auf dem Gang vor ihrem Zimmer, von einer Furcht getrieben, die sie mit sich nahm, als sie weiterlief. Lief und lief, bis sie die Tür des Zimmers aufriß, von dem sie wußte, daß sich Luet darin befand, denn sie konnte es nicht mehr ertragen, sie brauchte Hilfe, und es konnte nur Luet sein, nur Luet konnte sie ihr geben …

»Was ist los?« Die Angst in Luets Stimme war ein Echo des Entsetzens in Huschidhs. Huschidh sah ihre Schwester, die sich im Bett kerzengerade aufsetzte und ein Laken vor die Brust hob, als wäre es ein Schild. Und dann erhob sich Nafai, den eher Luets Stimme als die knarrende Tür geweckt hatte, verschlafen aus dem Bett und kam auf Huschidh zu. Er hatte noch nicht ganz mitbekommen, wer dort stand, wußte aber, daß es ein Eindringling war und er ihm den Weg versperren mußte.

»Schuja«, sagte Luet.

»Oh, Luet, verzeih mir«, schluchzte Huschidh. »Hilf mir! Halte mich fest!«

Bevor Luet sich rühren konnte, war Nafai da und führte sie von der Schwelle ins Zimmer. Dann war Luet bei ihr und half ihr, sich auf das zerwühlte Bett zu setzen, und nun, da ihre Schwester sie hielt, konnte Huschidh endlich laut schluchzen. Sie nahm verschwommen wahr, daß Nafai durch das Zimmer ging; er schloß die Tür und suchte dann Kleidung für sich und Luet zusammen, damit sie nicht peinlich berührt sein mußten, wenn Huschidh mit dem Weinen aufhörte und wieder zu sich kam.

»Es tut mir leid, es tut mir so leid«, sagte Huschidh immer wieder, während sie weinte.

»Nein, bitte, das macht doch nichts«, sagte Luet.

»Eure Hochzeitsnacht, ich hätte nie … aber ich habe geträumt, es war so schrecklich …«

»Alles in Ordnung, Schuja«, sagte Nafai. »Ich wünschte nur, du könntest etwas leiser weinen, denn wenn man dich hört, wird man glauben, es wäre Luet, die sich in ihrer Hochzeitsnacht das Herz aus der Brust weint, und wer weiß, was man dann von mir denken wird.« Er hielt inne. »Wenn ich darüber nachdenke, könntest du vielleicht auch etwas lauter weinen.«

Nafais Stimme war heiter und ruhig, und Luet lachte leise über seinen Scherz. Das hatte Huschidh gebraucht, um ihr Entsetzen zu überwinden: Nun konnte sie an Luet und Nafai statt nur an ihren Traum denken.

»Niemand hat jemals etwas so Verderbtes getan«, sagte Huschidh, ganz elendig und beschämt und doch voll tiefer Erleichterung. »In die Hochzeitsnacht der eigenen Schwester zu platzen …«

»Aber es ist nicht so, als ob du uns bei etwas unterbrochen hättest«, sagte Nafai, und dann brachen er und Luet in Gelächter aus — nein, eher in ein Kichern. Wie kleine Kinder mit einem lächerlichen Geheimnis.

»Es tut mir leid, daß ich lache, während du so unglücklich bist«, sagte Luet, »aber du mußt das verstehen. Wir waren beide so unbeholfen dabei.« Dann kicherten sie erneut.

»Übung macht den Meister«, sagte Nafai. »Aber wir sind noch weit von jeder Meisterschaft entfernt.«

Huschidh fühlte sich von ihrem Lachen eingehüllt, umschlossen von der Ruhe, die zwischen ihnen herrschte. Es war undenkbar, daß ein frischgebackener Ehemann und seine Braut, die man in ihrer ersten gemeinsamen Nacht gestört hatte, eine eindringende Schwester so bereitwillig aufnahmen und trösteten; und doch war es bei ihnen der Fall, bei Lutja und ihrem Njef. Sie war mit Liebe und Dankbarkeit für sie erfüllt, und beides ergoß sich in Tränen, aber in denen der Freude, nicht denen der Verzweiflung, die aus Einsamkeit und Entsetzen entstanden war.

»Ich habe nicht um mich selbst geweint«, sagte sie — denn jetzt konnte sie wieder sprechen. »Ich war eifersüchtig und einsam, ich gestehe es ein, doch die Überseele hat mir einen freundlichen Traum geschickt, einen guten, und darin habe ich mich und … meinen Mann gesehen, und unsere Kinder …« Dann stellte sich bei ihr ein Gedanke ein, der ihr noch nicht in den Sinn gekommen war. »Nafai, ich weiß, daß ich für Issib bestimmt bin. Aber ich muß dich fragen — er ist doch … dazu fähig, nicht wahr?«

»Schuja, er könnte kaum unfähiger sein, als ich es in dieser Nacht war.«

Luet versetzte Nafai verspielt einen Klaps. »Sie hat dir eine wichtige Frage gestellt, Nafai.«

»Er ist genau wie ich noch Jungfrau«, sagte Nafai, »und fern von der Stadt kann er seine Hände kaum benutzen. Aber er ist nicht gelähmt, und seine … unwillkürlichen Reaktionen … nun ja … reagieren eben.«

»Dann war es ein Wahrtraum«, sagte Huschidh. »Oder es könnte zumindest einer gewesen sein. Ich habe von meinen Kindern geträumt. Die ich von Issib habe. Das könnte auch wahr sein, oder?«

»Wenn du es so möchtest«, sagte Nafai. »Wenn du ihn akzeptierst. Er ist der Beste von uns, Schuja, das verspreche ich dir. Der Freundlichste und der Klügste.«

»Das hast du mir nicht gesagt«, warf Luet ein. »Mir hast du gesagt, du wärest der Beste.«

Nafai grinste sie nur mit dummer Freude an.

Huschidh fühlte sich jetzt besser. Sie wußte auch, daß es nicht rechtens war, in diesem Augenblick zwischen den beiden zu stehen; sie hatte von ihrer Schwester alles erhalten, worauf sie hoffen konnte, und konnte nun auf ihr Zimmer zurückkehren und allein schlafen. Der Schatten des bösen Traums war von ihr gewichen. »Ich danke euch beiden«, flüsterte sie. »Ich werde nie vergessen, wie freundlich ihr diese Nacht zu mir wart.« Und sie erhob sich von der Bettkante und ging zur Tür. . »Geh nicht«, sagte Nafai.

»Ich muß jetzt schlafen«, sagte Huschidh.

»Nicht, bevor du uns deinen Traum erzählt hast«, sagte er. »Wir müssen ihn hören. Nicht den schönen Traum, sondern den, der dich so verängstigt hat.«

»Er hat recht«, sagte Luet. »Es mag zwar unsere Hochzeitsnacht sein, aber die gesamte Welt um uns herum ist dunkel, und wir müssen alles erfahren, was die Überseele zu einem von uns sagt.«

»Am Morgen«, entgegnete Huschidh.

»Glaubst du, wir könnten schlafen, während wir nicht wissen, was für ein schrecklicher Traum unserer Schwester zu schaffen macht?« fragte Nafai.

Obwohl Huschidh wußte, wie sorgfältig er seine Worte ausgewählt hatte, war sie dankbar für die eindringliche Güte und Liebe hinter ihnen. In seinem Herzen mochte er ihre enge Verbindung mit seiner neuen Frau durchaus fürchten oder verabscheuen, doch anstatt zu versuchen, sich dieser Nähe zu widersetzen oder sie auseinanderzutreiben, bemühte Nafai sich bewußt, sich in ihre enge Beziehung einzufügen und Huschidh in die Nähe ihrer Ehe aufzunehmen. Es war großzügig von ihm, vor allem an diesem besonderen Abend, als er geglaubt haben mußte, seine schlimmsten Befürchtungen über Huschidh wären wahr, als sie mitten in der Nacht in ihr gemeinsames Schlafzimmer eindrang und sich die Augen ausweinte! Wenn er mit all seiner Kraft versuchte, solch eine Beziehung zwischen ihnen herzustellen, konnte man zumindest von ihr erwarten, diese Beziehung auch zu akzeptieren. Schließlich war sie eine Entwirrerin. Sie wußte, wie man Menschen miteinander verband, und freute sich, ihm helfen zu können, diesen Knoten zu knüpfen.

Also kehrte sie um, und sie setzten sich gemeinsam auf das Bett und bildeten mit den angewinkelten Beinen ein Dreieck, Knie an Knie, während sie ihre Träume erzählte, von Anfang bis Ende. Sie ersparte sich nichts und gestand ihren anfänglichen Groll ein, damit die beiden anderen begriffen, wie dankbar sie für die Zusicherungen der Überseele war.

Zweimal unterbrachen sie sie erstaunt. Das erste Mal, als sie ihnen erzählte, Muuzh gesehen zu haben, und wie die Überseele ihn beherrschte, gerade weil er sie ablehnte. Nafai lachte verwundert auf. »Muuzh höchstpersönlich — der General der Gorajni, an dessen Händen so viel Blut klebt und der vor der Überseele auf genau dem Weg flieht, den die Überseele ihm ausgelegt hat. Wer hätte das ahnen können!«

Zum zweitenmal unterbrachen sie sie, als Huschidh von den Tieren mit Flügeln erzählte, die sie und Issib bei ihrem Sturz gerettet hatten. »Engel!« rief Luet.

Augenblicklich erinnerte sich Huschidh an den Traum, den Luet ihr vor ein paar Tagen erzählt hatte. »Natürlich«, sagte Huschidh. »Deshalb sind sie in meinen Traum gekommen — weil ich mich daran erinnert habe, daß du mir von diesen Engeln und den Riesenratten erzählt hast.«

»Ziehe keine vorschnellen Schlüsse«, sagte Luet. »Erzähle uns den Rest des Traums.«

Das tat sie, und als sie geendet hatte, saßen die drei schweigend da und dachten eine Weile nach.

»Der erste Traum, der von dir und Issib … ich glaube, der kam von dir selbst«, sagte Luet schließlich.

»Das glaube ich auch«, sagte Huschidh, »und nachdem mir nun wieder eingefallen ist, daß du mir den Traum von den haarigen Engeln erzählt hast …«

»Still«, sagte Luet. »Greife dem Traum nicht voraus. Nach dieser ersten Vision, die deiner Befürchtung entsprang, Issib heiraten zu müssen, hast du die Überseele gebeten, dir ihre Pläne zu erklären, und sie hat dir diesen wunderbaren Traum mit den goldenen und silbernen Fäden gegeben, die die Menschen verbinden …«

»Sie züchtet uns wie Vieh«, sagte Nafai.

»Sei nicht respektlos«, sagte Luet.

»Sei nicht zu ehrerbietig«, sagte Nafai. .»Ich bezweifle allen Ernstes, daß die ursprüngliche Programmierung der Überseele darauf angelegt war, unter den Menschen von Harmonie ein Zuchtprogramm in die Wege zu leiten.«

»Ich weiß, daß du recht hast«, sagte Luet, »und daß die Überseele ein Computer ist, der zu Anbeginn unserer Welt dazu geschaffen wurde, auf uns Menschen zu achten und zu verhindern, daß wir uns selbst vernichten, doch in meinem Herzen halte ich die Überseele noch immer für eine Frau, für die Mutter des Sees.«

»Ob nun Frau oder Maschine, sie hat jetzt eigene Pläne entwickelt, und das gefällt mir nicht besonders«, sagte Nafai. »Ich akzeptiere, daß sie uns zusammenbringt, damit wir zur Erde reisen, bin sogar froh darüber — es ist ein ruhmreiches Unterfangen. Aber dieser Zuchtplan … meine Mutter und mein Vater, die wie ein Schaf und ein Bock kopulieren, die man zusammengebracht hat, um die Blutlinien rein zuhalten …«

»Trotzdem lieben sie einander«, sagte Luet.

Er streckte die Hand aus und nahm ihre Finger sanft zwischen die seinen. »Lutja, sie lieben sich wirklich, genau wie wir einander lieben werden. Aber was wir getan haben, haben wir freiwillig getan, mit dem Wissen, daß es den Zwecken der Überseele dient und sie damit einverstanden war. Das glaubten wir zumindest. Welche anderen Pläne und Ränke, von denen wir erst später erfahren werden, hat die Überseele für uns im Sinn?«

»Die Überseele hat mir dies verraten, weil ich sie gefragt habe«, sagte Huschidh. »Falls sie ein Computer ist, wie du sagst, kann sie es uns vielleicht einfach nicht sagen, weil wir nicht danach gefragt haben.«

»Dann müssen wir fragen. Wir müssen genau wissen, was sie … was er … was es … vorhat«, sagte Nafai.

Luet lächelte über seine Verwirrung, lachte aber nicht. Huschidh war nicht seine treue Frau; sie konnte ein leises Kichern nicht unterdrücken.

»Was auch immer die Überseele für uns ist«, sagte Nafai geduldig, »wir müssen sie fragen. Zum Beispiel, was es zu bedeuten hat, daß Muuzh hier ist. Sollen wir versuchen, auch ihn mit in die Wüste zu nehmen? Hat ihn die Überseele deshalb hergebracht? Und diese seltsamen Geschöpfe, diese Engel und Ratten … was haben sie zu bedeuten? Die Überseele muß es uns sagen.«

»Ich glaube noch immer, daß die Ratten und Engel gekommen sind, weil Lutja von ihnen geträumt und mir von ihnen erzählt hat. Ich habe sie dann benutzt, um meinen Ängsten ein Gesicht geben zu können.«

»Aber warum sind sie in Lutjas Traum gekommen?« fragte Nafai. »Sie hat sie nicht gefürchtet.«

»Und die Ratten waren in meinem Traum weder schrecklich noch gefährlich«, sagte Luet. »Sie waren einfach … sie selbst. Haben ihr Leben gelebt. Sie hatten nichts mit den Menschen in meinem Traum zu tun.«

»Hören wir mit dem Raten auf«, sagte Nafai, »und fragen wir die Überseele.«

Sie hatten dies noch nie versucht. Männer und Frauen beteten in den Ritualen Basilikas nicht gemeinsam — die Männer beteten mit Blut und Wasser in ihrem Tempel oder in ihren Häusern, und die Frauen beteten im Wasser des Sees oder in ihren Häusern. Also waren sie scheu und unsicher. Nafai steckte impulsiv die Hände aus, und Huschidh und Luet ergriffen sie und faßten sich auch gegenseitig an den Händen.

»Ich spreche stumm mit der Überseele«, sagte Nafai. »In meinem Kopf.«

»Ich auch«, sagte Luet, »aber manchmal spreche ich auch laut zu ihr. Du nicht?«

»Bei mir ist es genauso«, sagte Huschidh. »Luet, sprich für uns alle.«

Luet schüttelte den Kopf. »Du hast den Traum heute abend gehabt, Huschidh. Zu dir hat die Überseele gesprochen.«

Huschidh erschauderte unwillkürlich. »Was, wenn sich wieder der böse Traum einstellt?«

»Was für eine Rolle spielt es, wer von uns spricht?« sagte Nafai, »solange wir dieselben Fragen in unseren Herzen haben? Vater und Issib und ich haben problemlos mit der Überseele gesprochen, als wir den Index bei uns hatten, haben Fragen gestellt und Antworten bekommen, als hätten wir wie mit einem Computer in der Schule gesprochen. Jetzt werden wir genauso vorgehen.«

»Wir haben den Index nicht«, warf Luet ein.

»Nein, aber wir sind mit goldenen und silbernen Fäden mit der Überseele verbunden«, sagte Nafai und warf einen Blick auf Huschidh. »Das sollte doch genügen, nicht wahr?«

»Dann sprich du für uns, Luet«, sagte Huschidh.

Also stellte Luet ihre Fragen und sprach dann laut über ihre Ängste, und die, denen Nafai Ausdruck verliehen hatte, und das entsetzliche Geschehen, das Huschidh gesehen hatte. Auf diese Frage kam die erste Antwort.

Ich weiß es nicht, sagte die Überseele.

Luet verstummte verblüfft.

»Habt ihr gehört, was ich gehört habe?« fragte Nafai.

Da niemand wußte, was Nafai gehört hatte, konnte niemand antworten. Bis Huschidh endlich zu sagen wagte, was sie in ihrem Kopf gehört hatte. »Sie weiß es nicht«, flüsterte Huschidh.

Nafai hielt ihre Hand fester und sprach mit der Überseele. Nun sprach er für sie alle, nicht mehr Luet. »Was weißt du nicht?«

Ich habe den Traum mit den goldenen und silbernen Banden geschickt, sagte die Überseele. Ich habe den Traum mit Issib und den Kindern an der Tür des Zeltes geschickt. Aber ich wollte nicht, daß ihr den General seht. Den General habe ich euch nicht gezeigt.

»Und die … die Ratten?« fragte Huschidh.

»Und die Engel?« fragte Luet.

Ich weiß nicht, woher sie kamen oder was sie bedeuten.

»Aha«, sagte Huschidh. »Es war also nur ein seltsamer, zufälliger Traum in deinem Verstand, Luet. Und weil du deinen Traum erzählt hast, habe ich ihn mir eingeprägt und dann auch davon geträumt. Das ist alles.«

Nein!

Es war, als hätte die Überseele in ihrem Geist geschrien, und Huschidh erschauderte unter der Stärke des Rufes.

»Was dann?« rief Huschidh. »Wie kannst du wissen, daß es nicht ein ganz gewöhnlicher Alptraum war, wenn du nicht weißt, woher er kommt?«

Weil der General ihn auch hatte.

Sie sahen einander erstaunt an.

»General Muuzh?«

In Huschidhs Geist stellte sich das flüchtige Bild eines Mannes mit einem Fluggeschöpf auf der Schulter ein und einer Riesenratte, die sich an sein Bein klammerte, und vielen Wesen — Menschen, Ratten und Engeln —, die sich den dreien näherten und sie ehrfurchtsvoll berührten. So schnell, wie es gekommen war, verschwand das Bild auch wieder.

»Der General Hat diesen Traum gesehen?« fragte Huschidh.

Er hat ihn gesehen. Vor vielen Wochen. Bevor einer von euch von diesen Geschöpfen geträumt hat.

»Wir drei also«, sagte Luet. »Wir drei, und wir haben den General nie gesehen, und er hat uns nie gesehen, und dennoch träumen wir alle von diesen Geschöpfen. Er sah Verehrung, und ich sah Kunst, und du hast Krieg gesehen, Huschidh, Krieg und Erlösung.«

»Wenn der Traum nicht von dir gekommen ist, Überseele«, sagte Nafai, beharrlich bei der Frage bleibend und die beiden Mädchen fest bei den Händen haltend, »wenn er nicht von dir gekommen ist, woher dann?«

Ich weiß es nicht.

»Gibt es noch einen anderen Computer?« fragte Huschidh.

Hier nicht. Nicht auf Harmonie.

»Vielleicht weißt du nur nichts von ihm«, schlug Nafai vor.

Ich würde es wissen.

»Warum haben wir dann diese Träume?« fragte Nafai.

Sie warteten, doch es kam keine Antwort. Und dann kam eine Antwort, aber nicht die, die sie erhofft hatten.

Ich habe Angst, sagte die Überseele.

Huschidh spürte, wie die Furcht auch in ihr Herz zurückkehrte, und sie umklammerte die Hand ihrer Schwester fester. »Ich mag das nicht«, sagte Huschidh. »Ich kann es nicht ausstehen. Ich will es nicht wissen.«

Ich habe Angst, sagte die Überseele so deutlich, als hätte sie direkt in Huschidhs Verstand gesprochen — und, wie sie hoffte, auch in den Köpfen der beiden anderen. Ich habe Angst, denn Furcht ist der Name, den ich für Unsicherheit habe, für Unmöglichkeit, die es trotzdem gibt. Doch ich habe auch Hoffnung, denn das ist ein anderer Name für das Unmögliche, das wahr sein könnte. Ich habe die Hoffnung, daß das, was euch gegeben wurde, vom Hüter der Erde kommt. Daß der Hüter der Erde über diese vielen Lichtjahre hinweg nach uns greift.

»Wer ist der Hüter der Erde?« fragte Huschidh.

»Die Überseele hat ihn schon einmal erwähnt«, sagte Nafai. »Sie hat es nie sehr deutlich ausgedrückt, doch ich glaube, es handelt sich um einen Computer, der als Bewahrer der Erde programmiert wurde, als unsere Vorfahren sie vor vierzig Millionen Jahren verlassen haben.«

Kein Computer, sagte die Überseele.

»Was ist er dann?« fragte Nafai.

Keine Maschine.

»Aber was?«

Lebendig.

»Was könnte nach all diesen Jahren noch leben?«

Der Hüter der Erde. Er ruft uns. Ruft euch. Vielleicht ist mein Wunsch, euch zur Erde zurückzubringen, auch ein Traum vom Hüter. Ich war verwirrt und wußte nicht, was ich tun sollte, und dann kamen mir Ideen in den Sinn. Ich dachte, sie wären die Ergebnisse eines routinemäßig arbeitenden Zufallsgenerators. Ich dachte, sie kämen von meiner Programmierung. Aber wenn du und Muuzh seltsame Träume von Geschöpfen habt, die es auf dieser Welt niemals gegeben hat, könnte man mir doch auch Gedanken eingeben, die nicht in meinen Programmen enthalten sind und die nicht von dieser Welt kommen?

Sie hatten keine Antwort auf die Frage der Überseele.

»Ich weiß nicht, wie es mit euch ist«, sagte Huschidh, »aber ich habe mich darauf verlassen, daß die Überseele alles regelt, und mir gefällt die Vorstellung nicht, daß sie nicht weiß, was überhaupt geschieht.«

»Die Erde ruft uns«, sagte Nafai. »Begreift ihr es nicht? Die Erde ruft uns. Sie ruft die Überseele, aber nicht nur die Überseele, uns. Oder euch beide zumindest und General Muuzh. Sie ruft euch nach Hause zurück.«

Nicht Muuzh, sagte die Überseele.

»Woher weißt du, daß sie Muuzh nicht ruft?« fragte Huschidh. »Wenn du nicht weißt, wie oder sogar ob der Hüter der Erde uns diese Träume gab, kannst du auch nicht wissen, ob Muuzh mit uns in die Wüste kommen soll oder nicht.«

Nicht Muuzh, sagte die Überseele. Laßt Muuzh in Ruhe.

»Warum hast du Muuzh hergebracht, wenn du nicht willst, daß er sich zu uns gesellt?« fragte Nafai.

Ich habe ihn hergebracht, aber nicht wegen euch.

»Er hat die gleichen goldenen und silbernen Fäden wie wir«, sagte Luet. »Und der Hüter der Erde hat zu ihm gesprochen.«

Ich habe ihn hergeholt, damit er Basilika vernichtet.

»Das schlägt dem Faß den Boden aus«, sagte Nafai. »Das ist wirklich nicht zu glauben. Die Überseele hat eine Idee. Der Hüter der Erde hat eine andere. Und was sollen wir tun?«

Laßt Muuzh in Ruhe. Rührt ihn nicht an. Er geht auf seinem eigenen Pfad.

»Genau«, sagte Nafai. »Vor einer Minute hast du uns noch gesagt, du wüßtest nicht, was hier vorgeht, und jetzt sollen wir dein Wort darauf akzeptieren, daß Muuzh nicht Teil von dem ist, was wir tun. Wir sind keine Marionetten, Überseele! Verstehst du mich? Wenn du nicht weiß, was hier vorgeht, sehe ich keinen Anlaß, deine Befehle zu befolgen. Woher weißt du, daß du recht hast und wir uns irren?«

Ich weiß es nicht.

»Woher weißt du denn, daß ich nicht zu ihm gehen und ihn bitten soll, uns zu begleiten?«

Weil er gefährlich und schrecklich ist und er dich benutzen und vernichten könnte und ich ihn nicht aufhalten kann, wenn er sich dazu entschließt.

»Geh nicht«, sagte Luet.

»Er ist einer von uns«, sagte Nafai. »Wenn unsere Absichten gut und richtig sind, dann auch, weil an uns etwas gut und richtig ist, an den Menschen, die die Überseele herangezüchtet hat und die jetzt zur Erde zurückkehren sollen. Wenn es gut und richtig ist, dann auch deshalb, weil der Hüter der Erde uns ruft.«

»Wer auch immer mir diesen schrecklichen Traum geschickt hat«, sagte Huschidh, »ich weiß nicht, ob er gut ist oder nicht.«

»Vielleicht war der Traum eine Warnung«, sagte Nafai. »Vielleicht werden wir mit einer bestimmten Gefahr konfrontiert werden, und der Traum sollte dich davor warnen.«

»Oder der Traum sollte dich vielleicht warnen, dich von Muuzh fernzuhalten«, sagte Luet.

»Wie, in aller Welt, könnte der Traum denn diese Bedeutung haben?« fragte er. Er legte die Kleidung ab, die er vor kurzem in aller Eile angezogen hatte, und kleidete sich nun richtig an, für einen Besuch in der Stadt.

»Weil ich möchte, daß er dies bedeutet«, sagte Luet, und plötzlich weinte sie. »Du bist erst seit einer halben Nacht mein Gatte, und auf einmal willst du zu einem Mann gehen, von dem die Überseele sagt, daß er gefährlich und schrecklich ist, und warum das alles? Um ihn einzuladen, uns in die Wüste zu begleiten? Um ihn einzuladen, seine Heere und seine Königreiche und sein Blut und seine Gewalt aufzugeben und uns auf eine Reise in die Wüste zu begleiten, die irgendwie auf der Erde enden wird? Er wird dich umbringen, Nafai! Oder dich ins Gefängnis werfen und verhindern, daß du mit uns kommst. Ich werde dich verlieren.«

»Das wirst du nicht«, sagte Nafai. »Die Überseele wird mich schützen.«

»Die Überseele hat dich gewarnt, nicht zu gehen. Und wenn du ihr nicht gehorchst …«

»Die Überseele wird mich nicht bestrafen, weil die Überseele nicht einmal weiß, ob ich recht habe oder nicht. Die Überseele wird mich zu dir zurückbringen, weil die Überseele genauso wie ich selbst möchte, daß ich bei dir bin.«

Ich weiß nicht, ob ich dich schützen kann.

»Na ja, aber du weißt eine ganze Menge nicht«, sagte Nafai. »Ich glaube, das hast du uns in dieser Nacht klargemacht. Du bist ein sehr mächtiger Computer und hast die allerbesten Absichten, aber du weißt mittlerweile genausowenig wie ich, was richtig und was falsch ist. Du weißt nicht, ob all deine Pläne für Muuzh vielleicht vom Hüter der Erde beeinflußt worden sind, nicht wahr? Und du weißt nicht, ob die Pläne des Hüters nicht verlangen, daß ich genau das tue, was ich jetzt vorhabe, und deinen Plan, Basilika zu vernichten, zum Scheitern bringe. Ausgerechnet Basilika zerstören! Das ist doch deine erwählte Stadt, nicht wahr? Du hast alle Menschen, die dir am nächsten stehen, an diesem Ort zusammengebracht. Und ausgerechnet diese Stadt willst du vernichten?«

Ich habe sie zusammengebracht, um euch zu schaffen, ihr törichten Kinder. Nun werde ich sie zerstören, um mein Volk wieder auf der ganzen Welt zu zerstreuen, damit der geringe Einfluß, der mir auf dieser Welt noch bleibt, jedes Land und jede Nation erreicht. Was ist schon die Stadt Basilika, verglichen mit der ganzen Welt?

»Als du das letzte Mal so gesprochen hast, habe ich einen Menschen getötet«, sagte Nafai.

»Bitte«, sagte Luet. »Bleib bei mir.«

»Oder laß mich dich begleiten«, sagte Huschidh.

»Das kommt nicht in Frage«, sagte Nafai. »Und, Lutja, ich werde zu dir zurückkehren. Weil die Überseele mich beschützen wird.«

Ich weiß nicht, ob ich es kann.

»Dann tue dein Bestes«, sagte Nafai. Mit diesen Worten war er zur Tür hinaus und verschwunden.

»In dem Augenblick, da er die Straße betritt, werden sie ihn verhaften«, sagte Huschidh.

»Ich weiß«, sagte Luet. »Und ich verstehe auch, warum er es tut, und es ist sehr tapfer, und ich glaube sogar, daß er das Richtige tut, aber ich will trotzdem nicht, daß er es tut!«

Luet weinte, und nun war es an Huschidh, sie zu umarmen und zu trösten. Was für ein Tanz war das heute abend gewesen, dachte sie. Was für eine Hochzeitsnacht für dich, was für eine Nacht der Träume für mich. Doch was wird uns nun am Morgen erwarten? Du könntest Witwe sein, ohne auch nur sein Kind in dir zu tragen. Oder — warum nicht? — der große General Muuzh könnte mit Nafai zurückkommen, seinem Heer entsagen und mit uns in die Wüste verschwinden. Alles könnte passieren. Einfach alles.

In Gaballufix’ Haus und nicht in einem Traum

Muuzh breitete seine Karte der Westküste auf Gaballufix’ Tisch aus und ließ seinen Geist die Natur der Dinge erkunden. Die Städte der Ebene und Seggidugu lagen vor ihm, als könne er sie einfach pflücken. Es war nicht einfach, eine Marschroute auszuarbeiten. Mittlerweile mußten alle gehört haben, daß ein Gorajni-Heer die Tore Basilikas hielt. Zweifellos drängten die Hitzköpfe in Seggidugu auf eine schnelle und brutale Reaktion, doch sie würden sich nicht durchsetzen können — die Nordgrenze Seggidugus lag zu nah an den Stellungen der großen Gorajni-Heere in Khlam und Ulje. Es wären so viele Soldaten nötig, um Basilika einzunehmen, auch wenn sie wußten, daß die Stadt nur von eintausend Gorajni verteidigt wurde, daß Seggidugu anfällig für einen Gegenschlag wäre.

In der Tat würden viele schwache Herzen in Seggidugu sich bereits fragen, ob es vielleicht nicht am besten wäre, schon jetzt vor den Imperator zu treten, als Bittsteller, und ihm anzubieten, ihre Nation unter seinen wohlwollenden Schutz zu nehmen. Aber Muuzh war davon überzeugt, daß diese genausowenig Glück wie die Hitzköpfe haben würden. Statt dessen würden sich die kühlsten Köpfe, die vorsichtigsten Männer durchsetzen. Sie würden einfach nur abwarten. Und genau darauf zählte Muuzh.

In den Städten der Ebene waren zweifellos bereits Bestrebungen im Gange, den alten Verteidigungsbund wiederzubeleben, der die Seggidugu-Invasoren schon neun Mal zurückgeworfen hatte. Doch das lag über tausend Jahre zurück, hatte sich damals zugetragen, als die Seggidugu zum ersten Mal aus der Wüste über die Berge gestürmt waren; es war unwahrscheinlich, daß sich viele Städte zusammenschließen würden, und selbst in der vermeintlichen Einheit würden sie untereinander streiten und voneinander stehlen und einander mehr schwächen, als wenn jede für sich allein stünde.

Was stand in Muuzh’ Macht, es dazu kommen zu lassen? Wenn er in diesem Augenblick eine Delegation mit einer streng formulierten Aufforderung zur Kapitulation zu den nächstgelegenen Städten schickte, würden sie zweifellos ein schnelles Einverständnis erhalten. Doch die Flüchtlinge würden aus diesen Städten strömen wie Blut aus einer Herzwunde, und dann würden sich die anderen Städte der Ebene vereinen. Vielleicht baten sie Seggidugu sogar, sie anzuführen, und in diesem Fall würde Seggidugu vielleicht doch handeln.

Statt dessen konnte er Seggidugus Kapitulation fordern. Wenn Seggidugu sich unterwarf, würden alle Städte der Ebene sich auf den Rücken rollen und totstellen. Doch es war ein zu großes Risiko, wenn er eine andere Möglichkeit finden konnte. Er konnte tatsächlich die Unterwerfung von einer oder vielleicht auch zwei Städten der Ebene erzwingen, aber er hatte viel zu wenig Männer — und eine viel zu dürftige Verbindung mit den Hauptheeren der Gorajni —, um sein Ultimatum auch durchzusetzen, wenn Seggidugu sich entschloß, ihm zu trotzen. Durch solche gefährlichen Bluffs waren große Kriege vermieden und große Reiche geschaffen worden, und Muuzh hatte keine Angst, dieses Risiko einzugehen, falls es keine bessere Möglichkeit gab.

Doch falls es eine gab, mußte er sie schnell finden. Mittlerweile würde der Imperator zweifellos wissen, daß sowohl Plod als auch der Muuzh’ Heer zugeteilte Fürsprecher getötet worden waren — von einem Attentäter aus Basilika natürlich, aber niemand hatte ihn verhören können, weil Muuzh den Mann mit eigenen Händen getötet hatte. Dann war Muuzh mit tausend Mann abmarschiert, und niemand wußte, wo er war. Diese Nachricht würde im Herzen des Imperators Entsetzen auslösen, denn er wußte ganz genau, wie zerbrechlich die Macht eines Herrschers war, wenn seine besten Generale zu beliebt wurden. Der Imperator würde sich fragen, wie viele seiner Männer zu Muuzh überlaufen würden, wenn der in den Bergen eine Rebellenflagge hißte; und wie viele andere, die zu treu für einen solchen Verrat waren, dennoch zu große Angst hatten, um gegen den größten General der Gorajni zu kämpfen. All diese Ängste würden den Imperator dazu bewegen, seine Heere in Bewegung zu setzen und sie dann nach Süden und Westen zu schicken, nach Khlam und Ulje.

Alles gut und schön … das würde den Seggidugu noch mehr Angst einjagen und die Aussicht erhöhen, daß sein Bluff gelingen könnte. Und diese Bewegungen des Heeres würden nicht weit gedeihen, bevor dem Imperator die nächste Nachricht zu Ohren kam — daß Muuzh’ kühner Schachzug zu einem brillanten Gelingen geführt hatte und die berühmte Stadt Basilika nun in den Händen der Gorajni war.

Muuzh lächelte vor Vergnügen bei dem Gedanken, daß diese Nachricht Entsetzen in den Herzen aller Höflinge auslösen würde, die dem Imperator ins Ohr geflüstert hatten, daß Muuzh ein Verräter war. Ein Verräter? Ein Mann, der den Verstand und Mut hatte, mit lediglich tausend Männern eine Stadt zu nehmen? An zwei mächtigen feindlichen Königreichen vorbeizumarschieren und eine Bergfestung auf deren Hinterseite zu nehmen? Was für eine Art von Verräter ist das? würde der Imperator fragen.

Doch er würde trotzdem noch Angst haben, denn es erschreckte ihn stets von neuem, wenn einer seiner Generale kühn war. Das galt besonders für Vozmuzhalnoi Vozmozhno. Also würde der Imperator ihm einen oder zwei Gesandte schicken — mit Sicherheit einen Fürsprecher, wahrscheinlich einen neuen Freund und auch ein paar enge und vertrauenswürdige Familienangehörige. Sie würden nicht die Befugnis haben, Muuzh’ Anordnungen in Frage zu stellen — die Gorajni hätten niemals so viele Königreiche erobert, hätten die Imperatoren ihren Untergebenen erlaubt, auf dem Schlachtfeld die Befehle von Generalen aufzuheben. Aber sie würden imstande sein, sich einzumischen, ihm Fragen zu stellen, zu protestieren, Erklärungen zu verlangen und den Imperator über alles zu informieren, was ihnen nicht gefiel.

Wann würden diese Gesandten eintreffen? Sie würden denselben Weg durch die Wüste nehmen müssen, den Muuzh mit seinen Männern genommen hatte. Doch nun würden die Seggidugu und die Izmennik diese Straße sorgfältig beobachten, so daß der Treck des Imperators eine schwerfällige Leibwache mitnehmen mußte und Wagen für Vorräte und viele Fährtensucher und Zelte und jede Menge lebendes Vieh. Also würden die Gesandten weder das Verlangen noch die Fähigkeit haben, sich auch nur halb so schnell zu bewegen, wie Muuzh sich bewegt hatte. Also würde es wenigstens eine Woche dauern, bis sie hier eintrafen, wahrscheinlich aber länger. Doch wenn sie kamen, würden sie viele Soldaten haben — vielleicht so viele, wie Muuzh mitgenommen hatte —, und bei diesen Soldaten würde es sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht um Männer handeln, die unter Muuzh gekämpft hatten, die er ausgebildet hatte, denen er vertrauen konnte.

Eine Woche. Muuzh blieb noch mindestens eine Woche, in der er die Dinge in Gang setzen konnte, die er für richtig hielt, sobald er sich erst für eine Möglichkeit entschieden hatte. Er konnte jetzt seinen Bluff gegen die Seggidugu wagen und eine tiefe Erniedrigung riskieren, wenn man ihm trotzte — dann würden sich die Städte der Ebene auf jeden Fall gegen ihn vereinen, und schon bald würde er Basilika dann gegen eine Belagerung verteidigen. Das würde nicht zu seiner Amtsenthebung führen, doch es würde seinem Namen den Glanz nehmen und ihn wieder unter den Daumen des Imperators bringen. Diese letzten paar Tage waren so köstlich gewesen — er hatte nicht die Spiele der Täuschung und der List spielen müssen, die die Hälfte seiner Zeit beansprucht hatten, als er sich mit einem Freund hatte befassen müssen, den der Imperator ernannt hatte, ganz zu schweigen von einem lästigen Fürsprecher, dessen einziges Ziel es war, auf der Karriereleiter immer höher zu klettern. Muuzh hatte relativ wenige Menschen mit eigenen Händen getötet, doch er genoß die Erinnerung an diese beiden Todesfälle — die Überraschung auf ihren Gesichtern, die vorzügliche Erleichterung, die Muuzh dann verspürt hatte. Selbst die Notwendigkeit, diesen guten Soldaten Basilikas zu töten, Smelost, selbst das hatte ihm nicht die schiere Freude an seiner neuen Freiheit genommen.

Bin ich bereit?

Bin ich bereit, um den Zug meines Lebens zu machen, um mich im Namen Pravo Gollossas am Imperator zu rächen? Um alles auf meine Fähigkeit zu setzen, Basilika, Seggidugu und die Städte der Ebene zu einigen und zu hoffen, daß zahlreiche Gorajni-Soldaten zu mir überlaufen werden und wir vielleicht noch von Potokgavan unterstützt werden?

Und wenn ich nicht dazu bereit bin, bin ich dann bereit, meinen Hals wieder in den Kragen zu stecken, den der Imperator all seinen Generalen aufzwingt? Bin ich bereit, mich dem Willen der Inkarnation Gottes hier auf Harmonie zu unterwerfen? Bin ich bereit, Jahre, vielleicht Jahrzehnte auf eine Gelegenheit zu warten, die vielleicht niemals besser sein wird als die, die ich jetzt habe?

Er kannte die Antwort schon, als er die Frage stellte. Irgendwie mußte er diese Woche, diesen Tag, diese Stunde in seine Gelegenheit verwandeln, seine Chance, die Gorajni zu stürzen und ihr grausames und brutales Reich durch ein großzügiges und demokratisches zu ersetzen, das von den Sotschitsija geführt wurde, deren Rache schon lange auf sich warten ließ, aber trotzdem nicht minder sicher war. Hier stand Muuzh mit einem Heer — einem kleinen, aber seinem — in der Stadt, die all das symbolisierte, was auf der Welt schwach und kraftlos und hilflos war. Ich sehne mich danach, dich zu vernichten, Basilika, aber was, wenn ich dich statt dessen stark mache? Was, wenn ich dich zum Mittelpunkt der Welt mache — aber einer Welt, die von mächtigen Männern beherrscht wird und nicht von diesen schwachen und hilflosen Frauen, diesen Politikerinnen und Klatschmäulern und Schauspielerinnen und Sängerinnen? Was, wenn man sich eines Tages als die wichtigste Geschichte über Basilika nicht die erzählt, daß es die Stadt der Frauen war, sondern die des Aufstiegs der Sotschitsija?

Basilika, du Stadt der Frauen, dein Gatte ist hier, um dich zu zähmen und dir die häuslichen Künste zu lehren, die du so lange vergessen hattest.

Muuzh warf erneut einen Blick auf Bitankes Namensliste. Wenn er jemanden suchte, der im Namen des Imperators über Basilika herrschen konnte, würde er einen Mann als Konsul auswählen müssen: einen der Söhne Wetschiks, falls man sie fand, oder vielleicht Raschgallivak selbst oder einen schwächeren Mann, den Bitanke vielleicht stützen konnte.

Doch wenn Muuzh Basilika und die Städte der Ebene und Seggidugu gegen den Imperator vereinen wollte, mußte er durch Ehe ein Bürger Basilikas werden, um sich einen Platz ganz oben in der Stadt zu verschaffen; dann brauchte er keinen Konsul, sondern eine Braut.

Also interessierten ihn am meisten die Namen der beiden Mädchen, der Wasser Seherin und der Entwirrerin. Sie waren jung — so jung, daß er viele damit beleidigen würde, wenn er eine von ihnen heiratete, besonders die Wasser-Seherin — erst dreizehn! Und doch hatten diese beiden das richtige Prestige, das ihn mit seiner Aura umfassen würde, wenn er eine der beiden heiratete. Muuzh, der große General der Gorajni, heiratete eine der heiligsten Frauen Basilikas — erniedrigte sich, um die Stadt als bloßer Gatte statt als Eroberer zu betreten. Er würde damit ihre Herzen für sich gewinnen, nicht nur die derer, die ihm sowieso schon dankbar waren, da er den Frieden gebracht hatte, sondern die aller Menschen, denn sie würden sehen, daß er sie nicht beherrschen, sondern zu neuer Größe führen wollte.

Mit der Entwirrerin oder der Wasserseherin zur Frau würde Muuzh Basilika nicht nur besetzt halten. Er würde Basilika sein, und statt den Königreichen im Süden und den Städten der Westküste Ultimaten zu stellen, würde er einen Schlachtruf ausstoßen. Er würde die Spione aus Potokgavan verhaften und sie mit Geschenken und Versprechungen zurück zu ihrem fauligen, überfluteten Reich schicken. Und die Nachricht würde sich wie ein Waldbrand durch den Norden verbreiten: Vozmuzhalnoi Vozmozhno hat sich zur neuen Inkarnation erklärt, zum wahren Imperator. Er würde alle treuen Soldaten Gottes aufrufen, zu ihm in den Süden zu kommen oder sich jeweils an Ort und Stelle gegen den Usurpator zu erheben! Bis dahin würde auch schon in Pravo Gollossa geflüstert werden: Die Sotschitsija werden herrschen. Erhebt euch und nehmt euch, was euch schon seit all diesen Jahren gehört!

In dem Chaos, zu dem es daraufhin in den Nordlanden kommen würde, würde Muuzh nach Norden marschieren und auf seinem Weg Verbündete gewinnen. Die Gorajni-Heere würden vor ihm zurückweichen; die Einheimischen der eroberten Nationen würden ihn als Befreier willkommen heißen. Er würde marschieren, bis er die Gorajni auf ihr eigenes Gebiet zurückgedrängt hatte, und dort würde er innehalten — für einen langen Winter in Pravo Gollossa, wo er sein buntgemischtes Heer ausbilden und zu einer würdigen, kampfstarken Truppe schmieden würde. Im Frühling des nächsten Jahres würde er dann in das hügelige Land der Gorajni eindringen und ihre Fähigkeit zu herrschen vollends zerstören. Jedem Mann im kampffähigen Alter würde er die Daumen abschlagen lassen, damit er nie wieder Schwert oder Bogen benutzen konnte, und mit jedem abgeschnittenen Daumen würden die Gorajni wieder den Schmerz der zungenlosen Sotschitsija verstehen.

Sollte Gott doch versuchen, ihn jetzt noch aufzuhalten!

Aber er wußte, daß Gott es nicht versuchen würde. In den letzten paar Tagen, seit er Gott getrotzt und gen Süden nach Basilika marschiert war, hatte Gott nicht mehr versucht, ihn in irgendeiner Weise zu behindern. Er hatte halbwegs damit gerechnet, daß Gott ihn diese Pläne, die er schmiedete, vergessen lassen würde. Aber Gott mußte nun wissen, daß dies sinnlos war, denn diese Pläne waren so gut und offensichtlich, daß Muuzh sie sich ganz einfach erneut ersinnen würde — und wieder und wieder, falls es nötig sein sollte.

Denn ich werde die Gorajni stürzen und die Westküste vereinen. Und mein Sohn wird Potokgavan erobern, die nördlichen Waldstämme zivilisieren und die Piraten der Nordküste unterwerfen. Mein Sohn und der Sohn meiner Frau.

Wer von euch wird es sein? Die Wasserseherin war die mächtigere der beiden, die mit dem größeren Ansehen; aber sie war jünger, eigentlich zu jung. Es bestand die Gefahr, daß die Menschen sie wegen dieser Ehe bemitleideten, wenn Muuzh es nicht gelang, sie zu überzeugen, wirklich aus eigener, freier Entscheidung zu ihm zu kommen.

Aber auch die andere, die Entwirrerin, würde genügen, obwohl ihr Prestige geringer war, und sie war sechzehn. Sechzehn, ein gutes Alter für eine politische Ehe, denn sie war noch nie verheiratet gewesen und hatte, wenn man Bitanke vertrauen konnte, noch nicht einmal einen Liebhaber gehabt. Und ein Teil des Ansehens der Wasserseherin würde trotzdem dieser Ehe zufallen, denn die Entwirrerin war ihre Schwester, und Muuzh würde dafür sorgen, daß die Wasserseherin gut behandelt wurde — und in enger Verbindung zu der neuen Dynastie stand, die Muuzh bald begründen würde.

Es war ein sehr guter Plan. Jetzt mußte Muuzh nur noch sicher sein — sicher genug, um zu handeln. Sicher genug, um zu Rasas Haus zu gehen und dafür zu sorgen, daß eins dieser Mädchen ihm die Hand zur Ehe reichte.

Ein Klopfen an der Tür. Muuzh schlug einmal auf den Tisch. Die Tür wurde geöffnet.

»Herr«, sagte der Soldat. »Wir haben auf der Straße vor Herrin Rasas Haus eine interessante Verhaftung vorgenommen.«

Muuzh sah von der Karte auf dem Tisch auf und wartete auf den Rest der Nachricht.

»Herrin Rasas jüngster Sohn. Derjenige, der Gaballufix getötet hat.«

»Er ist in die Wüste geflohen«, sagte Muuzh. »Bist du sicher, daß es kein Betrüger ist?«

»Das wäre möglich«, sagte der Soldat. »Aber er ist aus Rasas Haus gekommen und direkt zu dem befehlshabenden Feldwebel gegangen und hat erklärt, wer er ist und daß er sofort mit dir sprechen muß, über Angelegenheiten, die über deine Zukunft und die Zukunft Basilikas entscheiden würden.«

»Ach«, sagte Muuzh.

»Also ist er entweder der Junge mit den Eiern aus Messing, der Gaballufix den Kopf abgeschnitten und in dessen Kleidung aus der Stadt hinausspaziert ist, oder er ist ein Verrückter, der unbedingt sterben will.«

»Oder beides«, sagte Muuzh. »Bringe ihn zu mir und geleite ihn dann direkt nach unserem Gespräch mit einer Eskorte von vier Mann zu Herrin Rasas Haus zurück. Wenn ich ihn ins Gesicht schlage, wenn du die Tür öffnest, um ihn zu holen, wirst du ihn auf der Treppe von Herrin Rasas Haus töten. Wenn ich ihn anlächle, wirst du ihn mit Höflichkeit und Ehre behandeln. Aber er steht unter Arrest und darf das Haus nicht wieder verlassen.«

Der Soldat ließ die Tür hinter ihm offen. Muuzh setzte sich auf seinen Stuhl und wartete. Interessant, dachte er, daß ich die Schlüsselspieler der verdammten Spiele dieser Stadt nicht suchen muß. Sie alle kommen zu mir, einer nach dem anderen. Nafai war angeblich in der Wüste, in Sicherheit und außerhalb meiner Reichweite — aber er war die ganze Zeit über in Herrin Rasas Haus. Auf welche anderen Überraschungen werden wir in ihrem Haus noch stoßen? Auf die anderen Söhne? Wie hatte Bitanke sie beschrieben … Elemak, der kluge und gefährliche Karawanengänger; Mebbekew, der wandelnde Penis; Issib, der brillante Krüppel. Oder warum nicht Wetschik selbst, den Pflanzenhändler mit den Visionen? Sie alle warten vielleicht in Rasas Mauern darauf, wie Muuzh sie benutzen konnte.

War es möglich — einfach möglich —, daß Gott sich tatsächlich entschieden hatte, Muuzh’ Sache zu begünstigen? Daß Gott sich Muuzh jetzt nicht mehr widersetzte, sondern ihn unterstützte und ihm jedes Werkzeug in die Hände spielte, das er benötigte, um seine Ziele zu erreichen?

Ich bin bestimmt nicht die Inkarnation von irgend etwas, abgesehen von mir selbst, dachte Muuzh; ich habe nicht den Wunsch, den Heiligen zu spielen, wie der Imperator es tut. Aber wenn Gott endlich bereit ist, mir in meiner Sache Hilfe zu gewähren, werde ich sie nicht zurückweisen. Vielleicht ist in Gottes Herz die Stunde der Sotschitsija angebrochen.

Nafai hatte Angst, andererseits jedoch auch wieder nicht. Es war ein überaus seltsames Gefühl. Als wäre ein verängstigtes Tier in ihm, das entsetzt darüber war, daß er sich zu einem Ort begab, an dem der Tod nur ein Wort entfernt war, und doch konnte Nafai selbst, jener Teil von ihm, der einfach er selbst war und nicht das Tier, kaum abwarten herauszufinden, was er sagen würde, ob er Muuzh begegnen würde und was dann geschehen würde. Er war sich des unmittelbar drohenden Tods unter den Gorajni durchaus bewußt; doch er war auf einer tiefen Ebene seines Verstandes einfach zu dem Schluß gekommen, daß sein persönliches Überleben unbedeutend war. Die Soldaten waren anscheinend eher verblüfft als beunruhigt gewesen, als er sie auf der Straße mit den Worten »Bringt mich zum General. Ich bin Wetschiks Sohn Nafai, und ich habe Gaballufix getötet!« angesprochen hatte. Mit diesen Worten hatte er sein Leben selbst auf die Waagschale gelegt, denn nun hatte Muuzh Zeugen seines Geständnisses eines Verbrechens, das zu seiner Hinrichtung führen konnte; Muuzh hätte nicht einmal einen Vorwand zusammenschustern müssen, um ihn töten zu lassen, wenn er dies denn wollte.

Gaballufix’ Haus war unverändert, und doch hatte es sich völlig verändert. Kein Vorhang, kein Möbelstück war ausgewechselt worden. Der gesamte üppige Überfluß war noch intakt, der Plüsch, die überreichen Verzierungen, die kühnen Farben. Und doch war die Wirkung all dieser Protzerei nicht überwältigend, sondern einfach nur pathetisch, denn die einfache Disziplin und der scharfe, bedingungslose Gehorsam der Gorajni-Soldaten ließ alles andere um sie herum geringer wirken. Gaballufix hatte diese Einrichtung gewählt, um seine Besucher einzuschüchtern, sie in Ehrfurcht zu versetzen; doch nun wirkte sie schwach und ausgelaugt, als habe die Person, die sie zusammengekauft hatte, Angst davor bekommen, daß die Leute sehen könnten, wie schwach seine Seele war und er sie deshalb hinter dieser Barrikade aus hellen Farben und Goldborden verstecken mußte.

Echte Macht, erkannte Nafai, zeigt sich in nichts, das man mit Geld kaufen kann. Geld kann einem nur die Illusion von Macht kaufen. Echte Macht liegt in der Willenskraft — ein Wille, der so stark ist, daß die anderen sich ihm allein wegen dieser Kraft beugen und bereitwillig folgen. Macht, die durch Täuschung gewonnen wurde, wird unter dem heißen Licht der Wahrheit verdampfen, wie Raschgallivak herausgefunden hat; doch echte Macht wird immer stärker, je genauer man sie betrachtet, selbst, wenn sie nur einer einzigen Person innewohnt, ohne Heere, ohne Diener, ohne Freunde, aber mit einem unbeugsamen Willen.

Solch ein Mann wartete auf ihn, saß an einem Tisch hinter einer offenen Tür. Nafai kannte diesen Raum. Hier waren er und seine Brüder Gaballufix gegenübergetreten, hier war Nafai das eine oder andere Wort entglitten, das Elemaks schwierige Verhandlungen um den Index scheitern ließ. Nicht, daß Gaballufix sie nicht sowieso betrügen wollte. Doch die Tatsache blieb bestehen, daß Nafai unbedacht gesprochen und nicht begriffen hatte, daß Elemak, der scharfe Geschäftsmann, Schlüsselinformationen zurückhielt.

Einen Augenblick lang nahm Nafai sich vor, diesmal bedachter zu sein, Informationen zurückzuhalten, wie Elemak es getan hätte, und bei diesem Gespräch listig vorzugehen.

Dann sah General Muuzh auf, und Nafai sah ihm in die Augen und machte einen tiefen Brunnen des Zorns und Leidens und Stolzes und, ganz am Grund dieses Brunnens, eine scharfe Intelligenz aus, die jede Täuschung durchschauen würde.

Ist das der wirkliche Muuzh? Habe ich den echten Muuzh gesehen?

Und in seinem Herzen flüsterte die Überseele: Ich habe ihn dir gezeigt, wie er wirklich ist.

Dann kann ich diesen Mann nicht belügen, dachte Nafai. Was mir auch recht ist, weil ich kein guter Lügner bin. Ich habe nicht das Talent dazu. Ich kann nicht die tiefe Selbsttäuschung aufrecht halten, die ein erfolgreicher Lügner benötigt. Die Wahrheit steigt in meinem Geist an die Oberfläche, und so verrate ich mich mit jedem Wort, jedem Blick, jeder Geste.

Außerdem bin ich nicht hergekommen, um herauszufinden, ob meine Intelligenz in einem Wettstreit der General Vozmuzhalnoi Vozmozhnos gewachsen ist. Ich bin hierher gekommen, um ihm die Gelegenheit zu geben, uns auf unserer Reise zur Erde zu begleiten. Wie könnte er das wollen, wenn ich ihm etwas anderes als die Wahrheit sage?

»Nafai«, sagte Muuzh. »Bitte nimm Platz.«

Nafai setzte sich. Er bemerkte, daß auf dem Tisch vor dem General eine Karte ausgebreitet war. Die Westküste. Irgendwo auf dieser Karte, tief in der südwestlichen Ecke, war der Bach, an dem Vater und Issib und Zdorab in ihren Zelten warteten und dem Heulen und Bellen einer Pavianherde lauschten. Zeigt die Überseele Vater, was ich nun tue? Hat Issib den Index, und fragt er, wo ich bin?

»Ich nehme an, du hast dich nicht gestellt, weil dein Gewissen dich überwältigt hat und du möchtest, daß dir der Prozeß wegen des Mordes an Gaballufix gemacht wird, damit du deine Schuld sühnen kannst.«

»Nein, Herr«, sagte Nafai. »Ich habe gestern abend geheiratet. Ich habe nicht den Wunsch, eingesperrt oder verurteilt oder getötet zu werden.«

»Gestern abend geheiratet? Und noch vor dem Morgengrauen gestehst du auf der Straße ein Kapitalverbrechen? Mein Junge, ich fürchte, du hast keine gute Wahl getroffen, wenn deine Frau dich nicht einmal eine Nacht lang halten kann.«

»Ich bin wegen eines Traums gekommen«, sagte Nafai.

»Ah — wegen deines Traums oder dem deiner Frau?«

»Wegen deines Traums, Herr.«

Muuzh wartete ausdruckslos.

»Ich glaube, du hast einmal von einem Mann geträumt, auf dessen Schulter ein pelziges Fluggeschöpf sitzt und dessen Bein eine Riesenratte umklammert, und Männer und Ratten und Engel kamen und haben sie angebetet, .alle drei, und sie berührt und …«

Doch Nafai fuhr nicht fort, denn Muuzh war aufgesprungen und durchbohrte ihn mit diesen tödlichen, gequälten Blicken. »Ich habe diesen Traum Plod erzählt, und er hat ihn dem Fürsprecher erzählt, also war er bekannt«, sagte Muuzh. »Und die Tatsache, daß du ihn kennst, verrät mir, daß du mit jemandem vom Hof des Imperators in Kontakt gestanden hast. Also höre mit dieser Verstellung auf und sage mir die Wahrheit!«

»Herr, ich weiß nicht, wer Plod oder der Fürsprecher sein könnte, und deinen Traum hat mir auch niemand vom Hof des Imperators erzählt. Ich habe ihn von der Überseele erfahren. Glaubst du etwa, daß die Überseele deine Träume nicht kennt?«

Muuzh setzte sich wieder, doch sein gesamtes Gehabe hatte sich verändert. Die Selbstsicherheit, die gelassene Zuversicht waren verschwunden.

»Bist du die Form, die Gott jetzt angenommen hat? Bist du die neue Inkarnation?«

»Ich?« fragte Nafai. »Du siehst doch, was ich bin — ich bin ein vierzehnjähriger Junge. Vielleicht etwas zu groß für mein Alter.«

»Und zu jung, um zu heiraten.«

»Aber nicht zu jung, um mit der Überseele zu sprechen.«

»Viele in dieser Stadt machen ein großes Aufheben darüber, mit der Überseele zu sprechen. Dir jedoch scheint Gott zu antworten.«

»Daran ist nichts geheimnisvoll, Herr. Die Überseele ist ein Computer — ein mächtiger, sich selbst erneuernder Computer. Unsere Vorfahren haben ihn vor vierzig Millionen Jahren installiert, als sie als Flüchtlinge vor der Vernichtung der Erde Harmonie erreichten. Sie haben sich genetisch verändert und ihre Kinder ebenso — bis hin zu uns, all diese Generationen später —, damit sie in den tiefsten Ebenen im Gehirn die Impulse der Überseele empfangen können. Dann haben sie den Computer darauf programmiert, jeden Gedankengang in uns und jede Handlung zu blockieren, die zu einer Hochtechnologie oder schneller Kommunikation oder schnellen Transportmitteln führen würde, damit die Welt für uns ein riesiger und unbekannter Ort bleibt und Kriege immer nur örtliche Auseinandersetzungen sein werden.«

»Bis ich kam«, sagte Muuzh.

»Deine Eroberungen gehen in der Tat weit über das hinaus, was die Überseele normalerweise erlauben würde.«

»Weil ich kein Sklave Gottes bin«, sagte Muuzh. »Welche Macht auch immer Gott oder dieser Computer hat, in mir ist sie schwächer, und ich habe ihr widerstanden und sie überwunden. Ich bin heute hier, weil ich zu stark für Gott bin.«

»Ja, sie hat uns gesagt, daß du das glaubst«, erwiderte Nafai. »Aber in Wirklichkeit ist der Einfluß der Überseele in dir noch stärker als in den meisten anderen Menschen. Wahrscheinlich in etwa so stark wie in mir. Wenn du es für angemessen hieltest und du dich ihrer Stimme öffnen würdest, könnte die Überseele mit dir sprechen, und du brauchtest nicht mich, um zu hören, was ich dir sagen will.«

»Wenn die Überseele dir erzählt hat, daß sie in mir stärker ist als in den meisten anderen Menschen, hat dein Computer gelogen«, sagte Muuzh.

»Du mußt wissen, die Überseele interessiert sich eigentlich nicht für das Leben einzelner Menschen, bis auf die Tatsache, daß sie ein Zuchtprogramm durchgeführt hat, um Menschen wie mich zu schaffen — und dich natürlich. Als ich davon erfuhr, hat es mir nicht gefallen, aber das ist der Grund, weshalb ich überhaupt lebe oder weshalb meine Eltern zusammengebracht wurden. Die Überseele manipuliert Menschen. Das ist ihre Aufgabe. Sie hat dich fast ständig manipuliert.«

»Ich weiß, daß sie es versucht hat. Ich habe sie Gott genannt, du nennst sie Überseele, aber sie hat mich nicht beherrscht.«

»Sobald ihr bewußt wurde, daß du ihr widerstehen wolltest, hat sie die Dinge einfach umgedreht«, sagte Nafai. »Was immer sie von dir verlangte, hat sie dir verboten. Dann hat sie dafür gesorgt, daß du dich daran erinnerst, und du hast ihr fast perfekt gehorcht.«

»Eine Lüge«, flüsterte Muuzh.

Nafai bekam es mit der Angst zu tun, als er sah, welche Gefühle diesen Mann ergriffen hatten. Der General war eindeutig nicht an Gefühle gewohnt, die er nicht beherrschen konnte; Nafai fragte sich, ob er vielleicht warten sollte, bis er sich beruhigt hatte, bevor er fortfuhr. »Geht es dir gut?« fragte Nafai.

»Fahre fort«, sagte Muuzh scharf. »Ich kann alles hören, was ein Toter zu sagen hat.«

Das war eine so schwache Erwiderung, daß Nafai empört war. »Oh, soll ich meine Geschichte jetzt abändern, weil du mir mit dem Tod drohst?« fragte er. »Glaubst du, ich wäre hierher gekommen, wenn ich Angst vor dem Tod hätte?«

Nafai sah, daß Muuzh eine Veränderung überkam. Als hätte er sich deutlich sichtbar an die Zügel gelegt. »Ich entschuldige mich«, sagte Muuzh. »Einen Augenblick lang habe ich mich wie jene Männer benommen, die ich am meisten verachte. Ich poltere eine Drohung heraus, um die Nachricht eines Boten zu verändern, der zumindest glaubt, daß er mir die Wahrheit erzählt. Aber ich kann dir versichern, was auch immer ich davon halten werde, wenn du heute stirbst, dann nicht wegen etwas, das du jetzt sagst. Bitte fahre fort.«

»Du mußt wissen«, sagte Nafai, »falls die Überseele wirklich will, daß du etwas vergißt, wirst du es auch vergessen. Mein Bruder Issib und ich hielten uns für sehr klug, als wir uns durch ihre Barrieren kämpften. Aber wir haben sie nicht bezwungen. Wir wurden einfach lästiger, als es der Mühe wert war. Die Überseele war es lieber, daß wir freiwillig in ihrem Sinne agieren, als daß sie uns ständig kontrollieren und manipulieren muß. Deshalb bin ich hier. Weil die Schwester meiner Frau in einem Traum gesehen hat, wie stark deine Verbindung mit der Überseele ist und wieviel Kraft du bei dem vergeblichen Versuch verschwendest, ihr zu widerstehen. Ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß du dich nur von ihrer Kontrolle lösen kannst, indem du ihren Plan willkommen heißt.«

»Man kann nur siegen, indem man sich unterwirft?« fragte Muuzh mühsam beherrscht.

»Man kann nur frei sein, indem man den Widerstand aufgibt und das Gespräch sucht«, sagte Nafai. »Die Überseele ist die Dienerin der Menschheit, nicht ihre Herrin. Man kann sie überzeugen. Sie hört zu. Manchmal braucht sie unsere Hilfe. General, wir brauchen dich, wenn du nur mit uns kommen würdest.«

»Mit euch kommen?«

»Mein Vater wurde in die Wüste gerufen. Doch das ist nur der erste Schritt einer langen Reise.«

»Dein Vater wurde von den tückischen Ränken Gaballufix’ in die Wüste getrieben. Ich habe mit Raschgallivak gesprochen, und mich kann man nicht täuschen.«

»Glaubst du wirklich, ein Gespräch mit Raschgallivak wäre ein Beweis dafür, daß du nicht getäuscht worden bist?«

»Ich würde es wissen, wenn er mich belegen hätte.«

»Aber was, wenn er geglaubt hat, was er dir gesagt hat, und es trotzdem nicht wahr ist?«

Muuzh wartete, ohne ihm zu antworten.

»Ich sage dir, der eigentliche Anlaß, der uns bewogen hat, zu einer bestimmten Stunde eines bestimmten Tages aufzubrechen, ist völlig unwichtig. Es war der Wille der Überseele, der Vater und mich und meine Brüder in die Wüste geholt hat, als erster Schritt unserer Reise.«

»Und doch bist du hier in der Stadt.«

»Ich habe es dir doch erklärt«, sagte Nafai. »Ich habe gestern abend geheiratet. Genau wie meine Brüder.«

»Elemak und Mebbekew und Issib.«

Nafai war überrascht und etwas verängstigt, daß Muuzh so viel über sie wußte. Aber er hatte sich entschlossen, die Wahrheit zu sagen, und dabei würde er nun bleiben. »Issib ist bei Vater. Er wollte mitkommen. Ich wollte, daß er mitkommt. Aber Elemak wollte nichts davon wissen, und Vater war seiner Meinung. Wir sind gekommen, um Frauen zu holen. Und Vaters Frau. Als wir eintrafen, hat Mutter gelacht und gesagt, sie würde uns niemals in die Wüste begleiten, ganz gleich, was der verrückte Wetschik vorhabe. Doch dann hast du sie unter Arrest gestellt und diese Gerüchte über sie verbreitet. Du hast sie praktisch von Basilika abgeschnitten, und nun begreift sie, daß sie hier nichts mehr tun kann, und deshalb wird auch sie mit uns in die Wüste gehen.«

»Du sagst, alles, was ich getan habe, war Teil des Plans der Überseele, deine Mutter zu ihrem Gatten zu führen, der in der Wüste in einem Zelt haust?«

»Ich sage, daß deine Absichten gebeugt wurden, damit sie den Plänen der Überseele dienen. So wird es immer sein, General, und so ist es schon immer gewesen.«

»Aber was, wenn ich mich weigerte, deiner Mutter zu erlauben, ihr Haus zu verlassen? Was, wenn ich dich und deine Brüder und eure Frauen dort unter Arrest hielte? Was, wenn ich Soldaten ausschickte, um Schedemei daran zu hindern, Keimlinge und Embryos für eure Reise zu sammeln?«

Nafai war verblüfft. Er wußte von Schedemei? Unmöglich — sie hätte es niemandem gesagt. Wozu war dieser Muuzh fähig, wenn er in eine fremde Stadt kommen und Dinge so schnell in Erfahrung bringen konnte, daß er erkannte, daß Schedemeis Sammeln von Keimlingen etwas mit Wetschiks Exil zu tun hatte?

»Du siehst«, sagte Muuzh, »wo ich herrsche, hat die Überseele keine Macht.«

»Du kannst uns unter Arrest halten«, sagte Nafai. »Aber wenn die Überseele zum Schluß kommt, daß wir gehen müssen, wirst du feststellen, daß du einen zwingenden Grund hast, uns gehen zu lassen. Also wirst du uns auch gehen lassen.«

»Wenn die Überseele will, daß du gehst, mein Junge, kannst du sicher sein, daß du nicht gehen wirst.«

»Du verstehst nicht. Den wichtigsten Teil habe ich dir noch nicht erzählt. Ob du nun glaubst, einen Zwist mit der Version der Überseele zu haben, die du Gott nennst, oder nicht, wichtig ist der Traum, den du hattest. Der von den fliegenden Tieren und den riesigen Ratten.«

Muuzh hörte zu, doch erneut konnte Nafai sehen, daß er zutiefst verwirrt war.

»Nicht die Überseele hat diesen Traum geschickt. Die Überseele versteht ihn nicht.«

»So. Dann war es ein bedeutungsloser Traum, ein ganz normaler Schlaftraum.«

»Keineswegs. Denn auch meine Frau hat von diesen Geschöpfen geträumt und ihre Schwester ebenfalls. Ihr drei habt davon geträumt, und es waren keine gewöhnlichen Träume. Euch allen kamen sie wichtig vor. Ihr habt gewußt, daß sie eine Bedeutung haben. Und doch sind sie nicht von der Überseele gekommen.«

Erneut wartete Muuzh.

»Es ist vierzig Millionen Jahre her, daß die Menschheit die Erde aufgegeben hat, die sie fast völlig zerstört hatte«, fuhr Nafai fort. »Die Erde hat genug Zeit gehabt, sich zu heilen. Neues Leben dort zu schaffen. Einen Ort, wo die Menschheit leben könnte. Viele Arten gingen verloren — deshalb sammelt Schedemei Keimlinge und Embryos für unsere Reise. Wir sind diejenigen, die die Fähigkeit haben, problemlos mit der Überseele zu sprechen. Wir sind diejenigen, die sich hier in Basilika versammelt haben, an diesem Tag, zu dieser Stunde, damit wir zu einer Reise aufbrechen können, die uns zurück zur Erde führen wird.«

»Abgesehen davon, daß die Erde, falls es sie überhaupt gibt, ein Planet ist, der einen weit entfernten Stern umkreist, zu dem nicht einmal Vögel fliegen können«, sagte Muuzh, »hast du noch immer nichts darüber gesagt, was diese Reise mit meinem Traum zu tun haben könnte.«

»Das wissen wir nicht«, sagte Nafai. »Wir können es nur vermuten, aber die Überseele glaubt, daß es stimmt. Irgendwie ruft uns der Hüter der Erde. Über die Lichtjahre zwischen uns und der Erde hinweg hat er nach uns gegriffen und ruft uns zurück. Nach allem, was wir erfahren haben, hat er sogar die Programmierung der Überseele verändert und ihr befohlen, uns zu versammeln. Die Überseele glaubte zu wissen, warum sie dies tat, doch erst vor kurzem hat sie den tatsächlichen Grund dafür erfahren. Genau, wie du erst jetzt den tatsächlichen Grund für alles erfährst, was du in deinem Leben getan hast.«

»Eine Nachricht in einem Traum, und sie kommt von jemandem, der Tausende von Lichtjahren von hier entfernt ist? Dann muß der Traum dreißig Generationen vor meiner Geburt abgeschickt worden sein. Das ist doch lächerlich, Nafai. Du bist viel zu klug, um das zu glauben. Ist dir nicht in den Sinn gekommen, daß die Überseele vielleicht dich manipuliert?«

Nafai dachte darüber nach. »Die Überseele belügt mich nicht«, sagte er dann.

»Aber du hast gesagt, mich habe sie die ganze Zeit über belegen. Also können wir nicht davon ausgehen, daß die Überseele sich strikt der Wahrheit verschrieben hat, nicht wahr?«

»Aber mich lügt sie nicht an.«

»Woher weißt du das?« fragte Muuzh.

»Weil sich das, was sie mir sagt … richtig anfühlt.«

»Wenn sie mich dazu bringen kann, Dinge zu vergessen … und das kann sie, es ist so oft passiert, daß …« Muuzh hielt inne, hatte sich anscheinend entschieden, nicht in diese Erinnerungen einzutauchen. »Wenn sie das kann, kann sie dich doch auch zu der Annahme bringen, daß sich ihre Worte, wie du sagst, >richtig anfühlen<.«

Nafai hatte darauf keine sofortige Antwort parat. Er hatte seine Überzeugung nicht in Frage gestellt und wußte deshalb nicht, wieso Muuzh’ Argumentation falsch war. »Ich stehe nicht allein da«, sagte er in dem Bemühen, solch einen Grund zu finden. »Auch meine Frau vertraut der Überseele. Und auch ihre Schwester. Sie hatten ihr Leben lang Träume und Visionen, und die Überseele hat sie nie belogen.«

»Ihr Leben lang Träume und Visionen?« Muuzh lehnte sich auf dem Tisch vor. »Mit wem genau bist du verheiratet?«

»Ich dachte, ich hätte es dir gesagt«, antwortete Nafai. »Mit Luet. Sie ist eine der Nichten in der Schule meiner Mutter.«

»Die Wasserseherin«, sagte Muuzh.

»Es überrascht mich nicht, daß du von ihr gehört hast.«

»Sie ist dreizehn Jahre alt«, sagte Muuzh.

»Zu jung, ich weiß. Aber sie war bereit zu tun, was die Überseele von ihr verlangt hat, genau wie ich.«

»Du glaubst, du könntest die Wasserseherin aus Basilika fortbringen und auf eine verrückte Reise in die Wüste mitnehmen, um einen uralten, legendären Planeten zu suchen?« fragte Muuzh. »Selbst, wenn ich dich nicht aufhalten würde … glaubst du, die Bürgerinnen dieser Stadt würden das zulassen?«

»Ja, wenn die Überseele uns hilft, und die Überseele wird uns helfen.«

»Und die Schwester deiner Frau, welchen deiner Brüder hat sie geheiratet? Elemak?«

»Sie wird Issib heiraten. Er wartet im Zelt meines Vaters auf uns.«

Muuzh lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und kicherte fröhlich. »Ich weiß nicht so recht, wer wen beherrscht«, sagte er. »Deinen Worten zufolge hat die Überseele eine ganze Reihe von Plänen, in denen auch ich eine kleine Rolle spiele. Ich hingegen habe den Eindruck, daß Gott alles so arrangiert, daß es mir in die Hände spielt. Bevor du hierher kamst, sah es so aus, als habe Gott endlich damit aufgehört, mein Feind zu sein.«

»Die Überseele war nie dein Feind«, sagte Nafai. »Es war deine Entscheidung, daraus einen Zwist zu machen.«

Muuzh erhob sich vom Tisch, ging um ihn herum, setzte sich neben Nafai und nahm seine Hand. »Mein Junge, das war das bemerkenswerteste Gespräch meines Lebens.«

Das trifft auch für mich zu, dachte Nafai, war aber zu erstaunt, um etwas zu sagen.

»Ich bin überzeugt davon, du nimmst den Wunsch, diese Reise antreten zu können, sehr ernst, aber ich kann dir versichern, daß man dich gründlich in die Irre geführt hat. Du wirst diese Stadt nicht verlassen, und das gilt auch für deine Frau und ihre Schwester und alle anderen Personen, die du mitnehmen willst. Das wirst du früher oder später einsehen. Wenn du es früher einsiehst — wenn du es jetzt einsiehst —, habe ich einen anderen Plan für dich, der dir besser gefallen wird als die Vorstellung, zwischen Felsen und Skorpionen herumzukriechen und in einem Zelt zu schlafen.«

Erneut wünschte Nafai sich, er wäre imstande, ihm zu erklären, warum er der Überseele folgen wollte. Warum er wußte, daß er der Überseele freiwillig folgte und vielleicht auch dem Hüter der Erde. Warum er wußte, daß die Überseele ihn nicht belog oder manipulierte oder beherrschte. Aber weil er weder die Worte dafür, geschweige denn die Gründe finden konnte, schwieg er.

»Deine Frau und ihre Schwester sind der Schlüssel zu allem. Ich bin nicht hier, um Basilika zu erobern, ich bin hier, um Basilikas Treue zu gewinnen. Ich habe dich jetzt seit einer Stunde beobachtet, ich habe deiner Stimme gelauscht, und ich sage dir, du bist ein bemerkenswerter Junge. So ernst. So ehrlich. Und eifrig, und du meinst es gut, jeder, der nicht ganz blind ist, sieht, daß du niemandem schaden willst. Und doch bist du derjenige, der Gaballufix getötet und so die Stadt von einem Mann befreit hat, der zu einem Tyrannen geworden wäre, hätte er einen oder zwei Tage länger gelebt. Und zufällig bist du mit der einflußreichsten Frau in Basilika verheiratet, dem Mädchen, dem man in dieser Stadt Liebe und Respekt und Treue und Hoffnung entgegenbringt.«

»Ich bin mit ihr verheiratet, um der Überseele zu dienen.«

»Bitte sag das auch weiterhin, ich möchte, daß alle es glauben, und wenn du es sagst, klingt es erstaunlich wahr. Es wird kein Problem für mich sein, diese Geschichte in der Stadt zu verbreiten … die Überseele hat dir befohlen, Gaballufix zu töten, um Basilika zu retten. Und du kannst sogar das Gerücht verbreiten, die Überseele habe auch mich hierher geführt, um die Stadt vor dem Chaos zu retten, das entstanden ist, nachdem die Schwester deiner Frau, die Entwirrerin, Raschgallivaks Macht zerstört hat. Siehst du denn nicht, daß alles so gut zusammenpaßt? Du und Luet und Huschidh und ich, von der Überseele geschickt, um die Stadt zu retten und Basilika zu neuer Größe zu führen. Wir alle handeln im Sinne der Überseele … im Vergleich zu dieser Geschichte ist der Unsinn des Imperators, Gottes Inkarnation zu sein, doch geradezu bemitleidenswert kläglich.«

»Warum würdest du das tun?« fragte Nafai. Er sah keinen Sinn darin, daß Muuzh ihn als Held und nicht als Mörder hinstellen und eine Verbindung mit den drei Menschen eingehen wollte, die er in Rasas Haus gefangen hielt. Außer …

»Was denkst du denn?« fragte Muuzh.

»Ich glaube, du bildest dir ein, mich anstatt Gaballufix als Tyrann von Basilika einsetzen zu können.«

»Nicht als Tyrann«, sagte Muuzh. »Als Konsul. Der Stadtrat bliebe bestehen und könnte weiterhin streiten und argumentieren und lamentieren. Du würdest lediglich den Befehl über die Stadtwache haben und dich um die äußeren Angelegenheiten kümmern; du würdest nur die Tore kontrollieren und dafür sorgen, daß Basilika mir treu bleibt.«

»Glaubst du, sie würden das nicht durchschauen und begreifen, daß ich eine Marionette bin?«

»Nur dann, wenn ich nicht gleichzeitig ein Bürger Basilikas werden würde und dein guter Freund und enger Verwandter. Aber wenn ich einer von ihnen werde, zu ihnen gehöre, wenn ich der General des Heeres von Basilika werde und all das, was ich tue, in deinem Namen tue, dann wird es sie nicht interessieren, wer wessen Marionette ist.«

»Rebellion«, sagte Nafai. »Gegen die Gorajni.«

»Gegen die grausamsten und korruptesten Ungeheuer, die jemals auf dem armen Antlitz von Harmonie gewandelt sind«, sagte Muuzh. »Ich werde ihren ungeheuerlichen Verrat und die Versklavung meines Volkes rächen, der Sotschitsija.«

»Auf diese Weise also wird Basilika zerstört werden«, sagte Nafai. »Nicht durch dich, sondern durch deine Rebellion.«

»Ich versichere dir, Nafai, ich kenne die Gorajni. In ihrem Kern sind sie schwach, und ihre Soldaten lieben mich mehr als ihren elenden Imperator.«

»Oh, das bezweifle ich nicht.«

»Wenn Basilika meine Hauptstadt ist, werden die Gorajni sie nicht zerstören. Nichts wird sie zerstören, denn ich werde siegreich sein.«

»Basilika bedeutet dir nichts«, sagte Nafai. »Die Stadt ist für dich nur ein Werkzeug, das dir im Augenblick nützlich kommt. Ich kann mir dich im Norden vorstellen, mit einem riesigen Heer, mit dem du das Heer besiegen willst, das Gollod verteidigt, die Stadt des Imperators, und in diesem Augenblick hörst du, daß Potokgavan die Gelegenheit genutzt und mit einem Heer an der Westküste gelandet ist. Komm zurück und verteidige Basilika, wird dein Volk dich bitten. Werde ich dich bitten. Wird Luet dich bitten. Aber du wirst zum Schluß kommen, daß dir noch ausreichend Zeit bleibt, dich später mit Potokgavan zu befassen, nachdem du die Gorajni besiegt hast. Also wirst du bleiben und dein Werk beenden, und im nächsten Jahr wirst du gen Süden ziehen und Potokgavan für ihre Greueltaten bestrafen, und du wirst in der Asche Basilikas stehen und um die Stadt der Frauen weinen. Vielleicht sind deine Tränen sogar ehrlich.«

Muuzh zitterte. Nafai konnte es in den Händen spüren, die die seinen hielten.

»Entscheide dich«, sagte Muuzh. »Was auch immer geschieht — entweder wirst du Basilika für mich beherrschen, oder du wirst in Basilika sterben, auch für mich. Eins jedoch ist sicher: Du wirst Basilika nie wieder verlassen.«

»Mein Leben liegt in den Händen der Überseele.«

»Antworte mir«, sagte Muuzh. »Entscheide dich.«

»Wenn die Überseele wollte, daß ich dir helfe, diese Stadt zu unterwerfen, würde ich zum Konsul werden«, sagte Nafai. »Aber die Überseele will, daß ich zur Erde zurückkehre. Also werde ich nicht Konsul sein.«

»Die Überseele hat dich erneut genarrt, und diesmal könntest du deshalb sterben«, sagte Muuzh.

»Die Überseele hat mich noch nie genarrt«, sagte Nafai. »Diejenigen, die ihr freiwillig folgen, belügt die Überseele niemals.«

»Von denen läßt sich die Überseele bei ihren Lügen niemals ertappen, das meinst du doch«, sagte Muuzh.

»Nein!« rief Nafai. »Nein. Die Überseele belügt mich nicht, weil … weil alles, was sie mir jemals versprochen hat, in Erfüllung gegangen ist. Alles ist wahr geworden.«

»Oder sie hat dich das vergessen lassen, was nicht in Erfüllung gegangen ist.«

»Wenn ich zweifeln wollte, könnte ich endlos zweifeln«, sagte Nafai. »Aber irgendwann muß man aufhören, Fragen zu stellen, und handeln, und zu diesem Zeitpunkt muß man darauf vertrauen, daß etwas wahr ist. Man muß handeln, als wäre es wahr, und so entscheidet man sich dafür, das zu tun, woran man glaubt, weil die meisten Gründe dafür sprechen.

Man muß in der Welt leben, in der es die meiste Hoffnung für einen gibt. Ich folge der Überseele, ich glaube der Überseele, weil ich in der Welt leben will, die die Überseele mir gezeigt hat.«

»Ja, auf der Erde«, sagte Muuzh verächtlich.

»Ich meine damit keinen Planeten, ich meine … ich will in der Wirklichkeit leben, die die Überseele mir gezeigt hat. In der Menschenleben Sinn und Bedeutung haben. In der es einen Plan gibt, der es wert ist, daß man ihm folgt. In der Tod und Leiden nicht vergeblich sind, weil etwas Gutes aus ihnen entstehen wird.«

»Du sagst damit nur, daß du dich selbst täuschen willst.«

»Ich sage, daß die Geschichte, die die Überseele mir erzählt, zu allen Fakten paßt, die ich kenne. Deine Geschichte, in der ich endlos getäuscht werden würde, kann diese Fakten ebenfalls erklären. Ich kann nicht beweisen, daß deine Geschichte nicht wahr ist — aber du kannst auch nicht beweisen, daß meine Geschichte nicht wahr ist. Also werde ich mich für die entscheiden, die mir lieber ist. Ich entscheide mich für die, die diese Wirklichkeit lebenswert macht, falls sie denn stimmt. Ich werde handeln, als wäre das Leben, auf das ich hoffe, das wahre Leben, und als wäre das Leben, das ich verabscheue — dein Leben, deine Sicht des Lebens — die Lüge. Und es ist eine Lüge. Du glaubst nicht einmal selbst daran.«

»Siehst du denn nicht ein, Junge, daß du mir genau dieselbe Geschichte erzählt hast, die ich dir erzählt habe? Daß die Überseele mich die ganze Zeit über getäuscht hat? Ich habe lediglich die kleine, verrückte Geschichte umgedreht, mit der du mich für dich gewinnen wolltest. In Wirklichkeit hat die Überseele uns beide zum Narren gehalten, und so können wir lediglich versuchen, für uns das beste Leben zu schaffen, das auf dieser Welt möglich ist. Wenn du glaubst, das beste Leben für dich und deine frischgebackene Frau wäre es, Basilika für mich zu beherrschen, Teil der Schöpfung des größten Reiches zu sein, das Harmonie je gesehen hat, dann biete ich dir dieses Leben an, und ich werde dir so treu sein, wie du mir treu bist. Entscheide dich jetzt.«

»Ich habe mich entschieden«, sagte Nafai. »Es wird kein großes Reich geben. Die Überseele wird es nicht dulden. Und selbst, wenn es solch ein Reich gäbe, würde es mir nichts bedeuten. Der Hüter der Erde ruft uns. Der Hüter der Erde ruft dich. Und ich bitte dich erneut, General Vozmuzhalnoi Vozmozhno, vergiß diesen bedeutungslosen Wunsch, ein Reich zu errichten oder dich zu rächen, oder was auch immer dich seit all diesen Jahren treibt. Komm mit uns auf die Welt, auf der die Menschheit geboren wurde. Setze deine Größe für eine Sache ein, die deiner würdig ist. Begleite uns.«

»Euch begleiten?« fragte Muuzh. »Ihr geht nirgendwo hin.« Muuzh erhob sich, ging zur Tür und öffnete sie. »Bringt diesen Jungen zu seiner Mutter zurück.«

Zwei Soldaten erschienen, als hätten sie vor der Tür gewartet. Nafai erhob sich von seinem Stuhl und ging zu Muuzh hinüber, der die Türöffnung halb blockierte. Sie sahen einander in die Augen. Nafai sah dort noch immer Zorn, der von nichts gedämpft worden war, was sich an diesem Morgen hier zugetragen hatte. Aber er sah auch Furcht, und die hatte vorher nicht in den Augen gestanden.

Muuzh hob die Hand, als wolle er Nafai ins Gesicht schlagen; Nafai zuckte weder zusammen, noch wich er vor dem Schlag zurück. Muuzh zögerte, und als seine Hand sich dann senkte, senkte sie sich auf Nafais Schulter, und dann lächelte Muuzh ihn an. In seinem Geist hörte Nafai die Stimme, die er als die der Überseele kannte: Ein Schlag ins Gesicht war das Zeichen für die Soldaten, dich zu ermorden. So viel Macht habe ich noch im Verstand dieses rebellischen Mannes; ich konnte seinen Schlag in ein Lächeln verwandeln. Aber in seinem Herzen will er dich töten.

»Wir sind keine Feinde, Junge«, sagte Muuzh. »Erzähl niemandem, was ich dir heute gesagt habe.«

»Herr«, sagte Nafai, »ich werde meiner Frau und ihrer Schwester und meiner Mutter und meinen Brüdern alles sagen, was ich weiß. Dort gibt es keine Geheimnisse. Und selbst, wenn ich es ihnen nicht sagen würde, würde die Überseele es ihnen verraten. Mit meiner Geheimhaltung würde ich lediglich ihr Vertrauen verlieren.«

In dem Augenblick, da er die Geheimhaltung ablehnte, sah Nafai, daß die Soldaten erstarrten und sich anschickten, ihn zu maßregeln. Doch wie auch immer das Zeichen aussah, auf das sie warteten, es kam nicht.

Statt dessen lächelte Muuzh erneut. »Ein schwacher Mann hätte mir versprochen, nichts zu sagen, und es dann doch gesagt. Ein ängstlicher Mann hätte mir versprochen, nichts zu sagen, und es dann nicht gesagt. Du bist weder schwach noch ängstlich.«

»Der General lobt mich zu sehr«, sagte Nafai.

»Es wäre eine Schande, wenn ich dich töten müßte«, sagte Muuzh.

»Es wäre eine Schande, wenn ich sterben müßte.« Nafai konnte kaum glauben, so respektlos geantwortet zu haben.

»Du glaubst wirklich, daß die Überseele dich beschützen wird«, sagte Muuzh.

»Die Überseele hat mein Leben heute schon gerettet«, sagte Nafai.

Dann drehte er sich um und ging, während ein Soldat vor ihm und einer hinter ihm ausschritt.

»Warte«, sagte Muuzh.

Nafai blieb stehen und drehte sich um. Muuzh schlenderte gemächlich den Gang entlang. »Ich begleite dich«, sagte Muuzh.

Nafai spürte es daran, wie die Soldaten nervös ihr Gewicht verlagerten, obwohl sie sich nicht ansahen: damit hatten sie nicht gerechnet. Das hatte nicht zu dem Plan gehört.

So, dachte Nafai. Vielleicht habe ich nicht erreicht, was ich erhofft habe. Vielleicht habe ich Muuzh nicht überzeugt, uns zur Erde zu begleiten. Aber etwas hat sich verändert. Etwas ist anders geworden, weil ich hierher gekommen bin.

Ich hoffe, es ist eine Veränderung zum Besseren.

Die Überseele antwortete in seinem Kopf: Das hoffe ich auch.

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