7 Töchter

Der Traum der Herrin

Rasa schlief nach den Eheschließungen schlecht. Sie hatte, wie man es von einer Lehrerin in Basilika erwartete, ihre bösen Vorahnungen für sich behalten, doch es belastete sie gefühlsmäßig, ihre liebe, schwache Dolja einem Mann zu geben, den Rasa so wenig ausstehen konnte wie Mebbekew, den Sohn des Wetschik. Sicher, der Junge war stattlich und charmant — Rasa war nicht blind, sie wußte genau, wie attraktiv er sein konnte —, und unter normalen Umständen hätte sie nichts dagegen gehabt, daß er Doljas erster Gatte wurde, denn Dolja war nicht dumm und hätte sich nach einem Jahr mit Sicherheit entschieden, den Vertrag nicht zu verlängern. Aber sobald sie in der Wüste waren, standen Verlängerungen nicht mehr zur Debatte. Wohin auch immer diese Reise sie führen würde — Nafais unwahrscheinlicher Theorie zufolge auf die Erde —, dort würde es nicht die gelassene Einstellung zur Ehe geben, die in Basilika vorherrschte, und obwohl sie sie mehr als nur einmal gewarnt hatte, wußte sie, daß zumindest Meb und Dolja ihren Warnungen nicht die geringste Beachtung schenkten.

Denn Rasa war natürlich davon überzeugt, daß Meb nicht beabsichtigte, Basilika zu verlassen. Durch die Ehe mit Dol hatte er nun ein Bleiberecht erworben — er war Bürger der Stadt, und so würde er über jeden Versuch, ihn aus Basilika zu bringen, nur lachen. Hätten keine Gorajni-Soldaten vor dem Haus gestanden, wäre Meb noch an diesem Abend mit Dolja verschwunden und hätte sich nie wieder blicken lassen, bis die anderen es aufgegeben und die Stadt verlassen hätten. So hielt im Augenblick nur die Tatsache, daß Rasa unter Hausarrest stand, Meb bei der Stange. Nun ja, so sei es. Die Überseele würde die Dinge regeln, wie sie es für richtig hielt, und Mebbekew war wohl kaum jemand, der ihre Pläne durchkreuzen konnte.

Meb und Dolja, Elja und Edhja … Nun, sie hatte schon öfter mitansehen müssen, daß Nichten von ihr schlechte Ehen eingegangen waren. Hatte sie es nicht sogar bei ihren beiden Töchtern miterleben müssen? Nun ja, eigentlich hatte lediglich Kokor eine schlechte Wahl getroffen – Obring war lediglich anständiger als Mebbekew, weil er zu schwach und furchtsam und dumm war, um Frauen so geschickt wie Meb zu betrügen und auszubeuten. Sevet hingegen hatte eigentlich ziemlich gut geheiratet, und Vas’ Verhalten während der letzten Tage hatte Rasa ziemlich beeindruckt. Er war ein guter Mann, und nachdem Sevet nun ihre Stimme verloren hatte, würde der Schmerz sie vielleicht in eine gute Frau verwandeln. Es waren schon seltsamere Dinge geschehen.

Doch als Rasa nach den Eheschließungen zu Bett ging und nicht einschlafen konnte, war es die Ehe zwischen ihrem Sohn Nafai und ihrer liebsten Nichte Luet, die sie bekümmerte und wachhielt. Luet war so jung und Nafai ebenfalls. Wie konnte man sie so früh als Mann und Frau zusammenfügen, obwohl ihre Kindheit doch längst noch nicht abgeschlossen war? Beiden war etwas Kostbares gestohlen worden. Und die naive Freude, mit der sie an die Sache herangingen und versuchten, sich unbedingt ineinander zu verlieben, brach Rasas Herz nur noch um so mehr.

Überseele, du mußt so viele Fragen beantworten. Ist deine Sache dieses Opfer wirklich wert? Mein Sohn ist erst vierzehn, doch deinetwegen hat er das Blut eines Menschen an den Händen, und nun teilen er und Luet ein Ehebett miteinander, während sie doch noch in einem Alter sind, in dem sie sich schüchterne Blicke zuwerfen und sich fragen sollten, ob sich eines Tages der jeweils andere in ihn oder sie verliebt.

Sie wälzte sich im Bett hin und her. Die Nacht war warm und dunkel — zwar standen die Sterne am Himmel, doch der Mond schien kaum, und die Lampen beleuchteten die Straßen, über die das Ausgangsverbot verhangen worden war, nur schwach. Sie konnte fast nichts in ihrem Zimmer sehen, wollte das Licht aber nicht einschalten; ein Dienstmädchen würde es sehen, glauben, sie brauchte etwas, und diskret hereinkommen und sich erkundigen. Ich muß allein sein, dachte sie und blieb deshalb in der Dunkelheit liegen.

Was für Pläne schmiedest du, Überseele? Ich stehe unter Arrest, niemand kann mein Haus betreten oder verlassen. Muuzh hat mich von allem abgeschnitten, so daß ich nur ahnen kann, wem in Basilika ich vertrauen könnte und wem nicht, und deshalb muß ich hier warten, bis sich seine und deine Pläne entwickelt haben. Wer wird hier triumphieren, Muuzh mit seinem feindseligen Vorhaben oder du, Überseele?

Was willst du von meiner Familie? Was wirst du mit meiner Familie tun, mit denen, die mir am liebsten sind? Einigem davon stimme ich zu, wenn auch nur zögernd: der Ehe zwischen Njef und Lutja zum Beispiel. Was Issib und Huschidh betrifft, so werde ich zustimmen, wenn es soweit ist und Schuja einverstanden ist, denn ich habe mir immer gewünscht, daß Issib eine liebe Frau findet, die an seiner Zerbrechlichkeit vorbeisieht und den Mann in ihm entdecken will, den Gatten, der er sein könnte — und wer wäre besser dazu geeignet als meine mir teure Entwirrerin, meine stille, kluge Schuja?

Aber diese Reise in die Wildnis — wir sind nicht darauf vorbereitet und können uns hier in diesem Haus auch nicht darauf vorbereiten. Was unternimmst du bei all deinen Plänen in dieser Hinsicht? Sind dir die Dinge bei all dem, was nun vorgeht, vielleicht nicht etwas über den Kopf gewachsen? Hast du wirklich vorausgeplant? Bei Expeditionen wie dieser ist ein wenig Planung erforderlich. Wetschik und seine Jungs konnten von einem Augenblick zum anderen in die Wüste hinaus, weil sie alle Ausrüstung hatten, die sie brauchten, und über große Erfahrung mit Kamelen und Zelten verfugten. Hoffentlich erwartest du nicht, daß ich oder meine Mädchen dazu imstande sind!

Dann, etwas beschämt, weil sie die Überseele so geradeheraus angezweifelt hatte, murmelte Rasa ein wesentlich bescheideneres Gebet. Laß mich schlafen, betete sie und tauchte die Finger in das Gebetsbecken neben dem Bett. Gib mir jetzt Ruhe, und wenn es Ihr nicht zu viel ausmacht, zeige mir auch eine Vision von deinen Plänen für uns. Dann küßte sie das Gebetswasser von ihren Fingern.

Und dabei glitten weitere Worte durch ihren Kopf, wie ein schnoddriger Nachsatz zu ihrem Gebet. Und während du mir deine Pläne verrätst, liebe Überseele, habe keine Angst, mich um meinen Rat zu fragen. Ich habe einige Erfahrungen mit dieser Stadt, und ich liebe und begreife diese Menschen mehr und besser als du, und du hast bislang gar kein so gutes Werk getan; diesen Anschein hat es zumindest für mich.

Oh, verzeihe mir! rief sie stumm und beschämt.

Und dann: Ach, vergiß es. Und sie drehte sich auf die Seite, schlief ein und ließ ihre Finger in der schwachen Brise trocknen, die durch die Fenster in ihre Kammer wehte.

Endlich schlief sie — und träumte.

In ihrem Traum saß sie in einem Boot auf dem See der Frauen, und ihr gegenüber — am Steuer — saß die Überseele. Rasa hatte die Überseele zwar noch nie gesehen, aber schließlich war dies ein Traum, und so erkannte sie sie sofort. Die Überseele sah fast genauso aus, wie Wetschiks Mutter ausgesehen hatte — eine strenge Frau, aber nicht unfreundlich.

»Rudere weiter«, sagte die Überseele.

Rasa sah hinab und stellte fest, daß sie an den Rudern saß. »Aber ich habe nicht die Kraft dafür.«

»Laß dich überraschen.«

»Ich würde lieber nicht rudern«, sagte Rasa. »Ich würde lieber deine Aufgabe übernehmen. Du bist die Gottheit hier, du hast unbegrenzte Macht. Du ruderst. Ich steuere.«

»Ich bin nur ein Computer«, sagte die Überseele. »Ich habe weder Arme noch Beine. Du mußt das Rudern übernehmen.«

»Ich kann deine Arme und Beine sehen, und sie sind viel stärker als meine. Überdies weiß ich nicht, wohin du uns führst. Ich kann nicht sehen, wohin wir fahren, weil ich dir gegenüber sitze und rückwärts rudere.«

»Ich weiß«, sagte die Überseele. »So hast du dein ganzes Leben verbracht, rückwärts sehend. Mit dem Versuch, eine ruhmreiche Vergangenheit wiederherzustellen.«

»Wenn du dies mißbilligst, habe doch wenigstens die Klugheit, wenn schon nicht den Anstand, die Plätze mit mir zu tauschen. Laß mich in die Zukunft sehen, während du zur Abwechslung einmal ruderst.«

»Ihr alle stoßt mich schon herum«, sagte die Überseele. »Allmählich bedauere ich, euch überhaupt gezüchtet zu haben. Wenn ihr mich zu gut kennt, verliert ihr den Respekt.«

»Das ist wohl kaum unsere Schuld«, sagte Rasa. »Wir können nicht Seite an Seite sitzen, dazu ist das Boot zu schmal, und wir werden kentern. Krieche zwischen meine Beine, dann wird das Boot nicht überlaufen.«

»Siehst du?« grollte die Überseele, als sie kroch. »Kein Respekt.«

»Ich respektiere dich«, sagte Rasa. »Ich habe nur keine Illusionen mehr darüber, daß du immer recht hast. Nafai und Issib behaupten, du bist ein Computer. Eigentlich ein Programm, das in dem Computer lebt. Also bist du nicht klüger als die, die dich programmiert haben.«

»Vielleicht haben sie mich programmiert, Klugheit zu lernen. Nach vierzig Millionen Jahren bin ich vielleicht von allein auf ein paar ganz gute Ideen gekommen.«

»Oh, davon bin ich überzeugt. Eines Tages mußt du mir, eine davon zeigen — bislang hast du dich wirklich nicht so gut geschlagen.«

»Vielleicht weißt du einfach nicht, was ich schon alles getan habe.«

Rasa machte es sich im Heck des Bootes bequem und legte die Hand auf den Bug, und dann sah sie zu ihrer Zufriedenheit, daß die Überseele die Ruder ergriffen hatte und sich kräftig in die Riemen legte.

Doch das Boot machte nur einen kleinen Satz vorwärts und blieb dann stehen. Rasa sah sich um, um den Grund dafür herauszufinden, und stellte fest, daß sie sich gar nicht mehr auf Wasser befanden, sondern inmitten einer Einöde aus windgekräuseltem Sand.

»Nun, damit haben die Dinge sich aber wirklich nicht zum Besten gewendet«, sagte Rasa.

»Deine Steuermannkunst beeindruckt mich nicht besonders«, sagte die Überseele. »Hoffentlich erwartest du nicht, daß ich jetzt noch ernsthaft rudere.«

»Meine Steuermannkunst«, sagte Rasa. »Du hast uns doch in die Wüste gebracht.«

»Und du hättest es besser machen können?«

»Das will ich doch hoffen. Wo sind zum Beispiel die Kamele? Wir brauchen Kamele. Und Zelte! Genug für … ach, wie viele sind wir? Elemak und Eiadh, Mebbekew und Dol, Nafai und Luet — und Huschidh natürlich. Das wären sieben. Und ich. Und dann nehmen wir lieber auch Sevet und Kokor mit und ihre Ehemänner, falls sie dazu bereit sind — das wären zwölf. Habe ich noch etwas vergessen? Ja, natürlich — Schedemei und all ihre Keimlinge und Embryos — wie viele Trockenbehälter? Ich weiß es nicht mehr — allein für ihr Projekt mindestens sechs Kamele. Und unsere Vorräte? Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich die berechnen soll. Dreizehn Personen — da werden wir eine Menge hungriger Mäuler stopfen müssen.«

»Warum sagst du mir das?« fragte die Überseele. »Glaubst du etwa, ich hätte ein paar binäre Kamele und Zelte in meinem Speicher?«

»Aha, genau, wie ich dachte. Du hast überhaupt nichts für die Reise vorbereitet. Weißt du nicht, daß man nicht einfach so in die Wüste hinausmarschieren kann? Wenn du mir schon nicht helfen kannst, bringe mich wenigstens zu jemandem, der es kann.«

Die Überseele führte sie zu einem fernen Hügel. »Du bist so bestimmend«, sagte sie. »Würdest du dich freundlicherweise daran erinnern, daß ich der Wächter der Menschheit bin?«

»Das ist in Ordnung, solange du deine Aufgabe erledigst, während ich mich um die Menschen kümmere, die ich liebe. Wer wird sich um meinen Haushalt kümmern, wenn ich fort bin? Hast du jemals daran gedacht? So viele Kinder und Lehrerinnen, die von mir abhängig sind.«

»Sie werden alle nach Hause gehen. Sie werden andere Lehrerinnen oder Stellungen finden. Du bist nicht unentbehrlich.«

Sie hatten den Gipfel des Hügels erreicht — wie in allen Träumen konnten sie sich mitunter nur ganz langsam, mitunter aber auch ganz schnell bewegen. Als Rasa nun auf der Spitze des Hügels stand, sah sie, daß sie sich auf der Straße vor ihrem eigenen Haus befand. Sie hatte gar nicht gewußt, daß es von ihrer Straße aus einen Weg den Hügel hinab und direkt in die Wüste gab. Sie sah sich um, wollte herausfinden, über welchen Weg die Überseele sie hergeführt hatte, mußte jedoch feststellen, daß sie einem Soldaten direkt ins Gesicht sah. Zu ihrer Erleichterung war es kein Gorajni, sondern einer der Offiziere der Wache Basilikas.

»Herrin Rasa«, sagte er ehrfürchtig.

»Ich habe eine Aufgabe für dich«, sagte sie. »Die Überseele hätte es dir bereits mitgeteilt, doch sie hat sich entschieden, diese besondere Angelegenheit mir zu überlassen. Hoffentlich hast du nichts dagegen.«

»Ich möchte nur der Überseele dienen«, sagte er.

»Nun, dann hoffe ich, daß du erfolgreich sein und all diese Aufgaben anständig erledigen wirst, denn ich bin keine Expertin und muß mich auf deine Einschätzung verlassen. Wir werden dreizehn Personen sein.«

»Dreizehn Personen wobei?«

»Eine Reise in die Wüste.«

»General Muuzh hat euch unter Hausarrest gestellt.«

»Ach, darum wird sich die Überseele kümmern. Ich kann nicht alles erledigen.«

»Na schön«, sagte der Offizier. »Eine Reise in die Wüste. Dreizehn Personen.«

»Wir brauchen Kamele, auf denen wir reiten, und Zelte, in denen wir schlafen können.«

»Große Zelte oder kleine?«

»Wie groß ist groß, und wie klein ist klein?«

»Große Zelte können bis zu einem Dutzend Personen aufnehmen, aber die sind nicht einfach aufzustellen. Kleine Zelte sind für zwei Personen bestimmt.«

»Kleine«, sagte Rasa. »Alle werden zu zweit schlafen, bis auf ein Zelt für drei Personen, für mich und Huschidh und Schedemei.«

»Huschidh die Entwirrerin? Sie verläßt die Stadt?«

»Kümmere dich nicht darum, um welche Personen es sich handelt, das geht dich nichts an«, sagte Rasa.

»Ich glaube, Muuzh möchte nicht, daß Huschidh Basilika verläßt.«

»Er will auch nicht, daß ich die Stadt verlasse — noch nicht«, sagte Rasa. »Ich hoffe, du schreibst dir alles auf.«

»Ich kann es mir auch so merken.«

»Gut. Kamele zum Reiten und Zelte zum Schlafen und dann Kamele, die die Zelte tragen, und auch die Vorräte für … oh, für wie viele Tage? Ich weiß es nicht mehr … zehn Tage sollten reichen.«

»Das sind aber viele Kamele.«

»Ich kann nichts daran ändern. Du bist Offizier, du weißt doch bestimmt, wo es Kamele gibt und wie man sie sich besorgen kann.«

»Das weiß ich.«

»Und noch etwas. Zusätzlich ein halbes Dutzend Kamele, die Schedemeis Trockenbehälter tragen. Vielleicht hat sie sie aber auch schon selbst besorgt — du mußt dich bei ihr erkundigen.«

»Wann wirst du all das brauchen?«

»Sofort«, sagte Rasa. »Ich habe keine Ahnung, wann wir diese Reise antreten werden — wie du vielleicht gehört hast, stehen wir im Augenblick unter Hausarrest …«

»Ja, das ist mir bekannt.«

»Aber wir müssen innerhalb von einer Stunde aufbrechen können, wenn es so weit ist.«

»Herrin Rasa, ich kann diese Dinge nicht ohne Muuzh’ Erlaubnis arrangieren. Er beherrscht jetzt die Stadt, und ich bin nicht einmal Kommandant der Wache.«

»Na schön«, sagte Rasa. »Ich gebe dir hiermit Muuzh’ Erlaubnis.«

»Die kannst du mir nicht geben«, sagte der Offizier.

»Überseele?« sagte Rasa. »Ist es nicht an der Zeit, daß du eingreifst und etwas unternimmst?«

Augenblicklich erschien Muuzh persönlich neben dem Offizier. »Du hast mit Herrin Rasa gesprochen«, sagte er streng.

»Sie ist zu mir gekommen«, sagte der Offizier.

»Das ist in Ordnung. Hoffentlich hast du dir alles gemerkt, was sie gesagt hat.«

»Also befugst du mich, ihre Anordnungen auszuführen?«

»Das kann ich im Augenblick nicht«, sagte Muuzh. »Nicht offiziell, denn im Augenblick weiß ich noch nicht, ob ich möchte, daß du dies tust. Also mußt du alles sehr verstohlen durchführen, so verstohlen, daß noch nicht einmal ich davon erfahre. Hast du verstanden?«

»Hoffentlich bekomme ich keinen allzu großen Ärger, wenn du es doch herausfindest.«

»Nein, überhaupt nicht. Ich werde es nicht herausfinden, solange du nicht unvorsichtig bist oder es mir sagst.«

»Das ist eine Erleichterung.«

»Wenn die Zeit kommt, da ich den Beginn dieser Reise wünsche, werde ich dir befehlen, alle Vorbereitungen zu treffen. Du mußt nur sagen: Ja, Herr, es kann sofort erledigt werden. Bitte versetze mich nicht in eine peinliche Lage, indem du darauf hinweist, daß du schon seit Mittag daran arbeitest. Erwecke ja nicht den Anschein, meine Befehle kämen nicht aus dem Augenblick heraus. Hast du verstanden?«

»Sehr wohl, Herr.«

»Ich will dich nicht töten müssen, also bringe mich bitte nicht in eine peinliche Lage, ja? Vielleicht brauche ich dich später noch.«

»Wie du es wünschst, Herr.«

»Du darfst gehen«, sagte Muuzh.

Augenblicklich verschwand der Offizier der Wache.

Muuzh verwandelte sich augenblicklich in Rasas Traumbild der Überseele. »Damit wäre das wohl geregelt, Rasa«, sagte sie.

»Ja, das glaube ich auch«, sagte Rasa.

»Schön«, sagte die Überseele. »Du kannst jetzt aufwachen. Der echte Muuzh wird bald vor deiner Tür stehen, und du willst doch für ihn bereit sein.«

»Oh, vielen Dank auch«, sagte Rasa mehr als nur etwas verschnupft. »Ich habe kaum geschlafen, und du willst mich schon wieder aufwachen lassen?«

»Ich bin für den Zeitablauf nicht verantwortlich«, sagte die Überseele. »Wenn Nafai nicht wie ein Halbgescheiter in den frühen Morgenstunden losgelaufen wäre und noch vor Sonnenaufgang ein Gespräch mit Muuzh gefordert hätte, hättest du durchaus ausschlafen können.«

»Wie spät ist es denn?«

»Ich habe dir doch gesagt, wach auf und sieh auf die Uhr.«

Damit verschwand die Überseele, und Rasa war wach und sah auf die Uhr. Der Himmel draußen wurde gerade erst grau, und sie konnte nicht erkennen, wie spät es war, ohne aufzustehen und genau hinzusehen. Müde stöhnte sie auf und schaltete ein Licht an. Viel, viel zu früh, um aufzustehen. Aber so seltsam der Traum auch gewesen sein mochte, eine Wahrheit enthielt er: Jemand läutete an der Tür.

Das Personal wußte, daß es zu solch einer Stunde nicht befugt war, die Tür zu öffnen, bis Rasa selbst die Anweisung dazu gegeben hatte, doch es war überrascht, sie so schnell in die Halle kommen zu sehen.

»Wer?« fragte sie.

»Dein Sohn, Herrin Rasa. Und General Vozmozhno … der General.«

»Öffne die Tür, und dann darfst du dich zurückziehen«, sagte Rasa.

Die Nachtglocke war nicht so laut, daß das ganze Haus davon aufgewacht wäre, und so war die Halle fast leer. Als die Tür geöffnet wurde, traten Nafai und Muuzh gemeinsam ein. Niemand sonst. Keine Soldaten — obwohl sie zweifellos auf der Straße warteten. Dennoch erinnerte Rasa sich unwillkürlich an zwei frühere Besuche von Männern, die geglaubt hatten, Basilika zu beherrschen. Sowohl Gaballufix als auch Raschgallivak hatten Soldaten mitgebracht, holographisch maskiert, aber weniger, um ihr Angst, als sich selbst Mut zu machen. Es war bedeutsam, daß Muuzh dieses Bedürfnis nach Begleitung nicht verspürte.

»Ich habe nicht gewußt, daß mein Sohn zu so früher Stunde unterwegs ist«, sagte Rasa. »Daher weiß ich deine Freundlichkeit zu schätzen, ihn zu mir nach Hause zu .bringen.«

»Jetzt, da er verheiratet ist«, sagte Muuzh, »wirst du sein Kommen und Gehen nicht mehr so genau unter Beobachtung halten, nicht wahr?«

Rasa zeigte Nafai ihre Ungeduld. Was hatte er sich dabei gedacht, einfach zu erzählen, daß er gerade die Wasserseherin geheiratet hatte? Verfügte er nicht über die geringste Diskretion? Nein, natürlich nicht, oder er wäre nicht einmal draußen gewesen, um sich von Muuzh’ Soldaten aufgreifen zu lassen. Hatte er etwa zu fliehen versucht?

Aber nein, da war doch etwas gewesen … in dem Traum, ja, die Überseele hatte gesagt, daß Nafai wie ein Halbgescheiter losgezogen sei und um ein Gespräch mit Muuzh gebeten habe. »Hoffentlich hat er dir keine Unannehmlichkeiten bereitet«, sagte Rasa.

»Ein paar, wenn ich ehrlich bin«, sagte Muuzh. »Ich hatte gehofft, er könne mir dabei helfen, Basilika zu der Größe zu führen, die diese Stadt verdient, doch er hat diese Ehre zurückgewiesen.«

»Verzeih mir meine Unwissenheit, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie mein Sohn eine Stadt zu Größe führen sollte, die bereits auf der gesamten Welt eine Legende ist. Gibt es irgendeine Stadt, die älter oder heiliger ist als Basilika? Gibt es irgendeine andere Stadt, in der so lange Frieden geherrscht hat?«

»Eine einzigartige Stadt, Herrin«, sagte Muuzh. »Eine einsame Stadt. Eine Stadt für Pilger. Doch bald, so hoffe ich, eine Stadt für Botschafter aus allen großen Königreichen der Welt.«

»Die zweifellos auf einem Meer aus Blut hierher segeln werden.«

»Nicht, wenn alles gut verläuft. Nicht, wenn ich die erwünschte Zusammenarbeit bekomme.«

»Von wem?« fragte Rasa. »Von mir? Von meinem Sohn?«

»Ich würde gerne, obwohl ich weiß, daß ich ungelegen komme, zwei deiner Nichten kennenlernen. Die eine von ihnen ist Nafais junge Braut. Die andere ist ihre unverheiratete Schwester.«

»Ich wünsche nicht, daß du sie kennenlernst.«

»Aber sie werden mich kennenlernen wollen. Glaubst du nicht auch? Da Huschidh sechzehn Jahre alt ist und damit dem Gesetz zufolge den Besuch empfangen kann, den sie empfangen möchte, und da Luet verheiratet ist und daher ebenfalls jeden Besuch empfangen kann, wirst du hoffentlich sowohl das Gesetz als auch die Höflichkeit respektieren und sie informieren, daß ich sie kennenzulernen wünsche.«

Obwohl Rasa ihn fürchtete, mußte sie ihn unwillkürlich auch bewundern — denn in einem Augenblick, da Gabja oder Rasch sich einfach aufgeplustert oder gedroht hätten, bestand Muuzh lediglich auf Höflichkeit. Er machte sich nicht die Mühe, sie an seine tausend Soldaten zu erinnern, an seine weltliche Macht. Er verließ sich einfach auf ihre guten Manieren, und sie war ihm hilflos ausgeliefert, denn das Recht war nicht eindeutig auf ihrer Seite.

»Ich habe das Personal fortgeschickt. Ich werde hier mit dir warten, während Nafai sie holt.«

Als Muuzh nickte, ging Nafai schnellen Schrittes zu dem Flügel des Hauses, in dem die frisch vermählten Ehepaare die Nacht verbracht hatten. Rasa fragte sich verschwommen, wann Elemak und Eiadh, Mebbekew und Dol aufstehen und was sie von der Tatsache halten würden, daß Nafai zu General Muuzh gegangen war. Vielleicht würden sie seinen Mut bewundern, doch Elemak würde ihn zweifellos wegen seiner Aufdringlichkeit verabscheuen, wegen seiner Neigung, sich in Angelegenheiten einzumischen, die ihn nichts angingen. Rasa hingegen verabscheute Nafais Unfähigkeit, sich daran zu erinnern, daß er nur ein Junge war, nicht — statt dessen fürchtete sie genau deshalb um ihn.

»Die Halle ist nicht sehr bequem«, sagte Muuzh. »Vielleicht gibt es ein Privatzimmer, in dem wir nicht von Frühaufstehern gestört werden.«

»Aber warum sollten wir uns in ein Privatzimmer begeben, wenn du noch nicht einmal weißt, ob meine Nichten dich empfangen werden?«

»Deine Nichte und deine Schwiegertochter«, sagte Muuzh.

»Eine noch neue Beziehung; doch sie könnte uns nicht einander näher bringen, als wir es schon sind.«

»Du liebst die Mädchen sehr«, sagte Muuzh.

»Ich würde mein Leben für sie geben.«

»Aber du hast trotzdem kein Privatzimmer, in dem sie einen fremden Besucher empfangen können?«

Rasa funkelte ihn wütend an und führte ihn zum Säulengang — zum abgetrennten Bereich, von dem aus man das Klippental nicht sehen konnte. Doch Muuzh machte keine Anstalten, sich auf die Bank zu setzen, auf die sie deutete. Statt dessen ging er zu der Balustrade hinter den Abschirmungen. Es war Männern verboten, dort zu stehen und diesen Anblick zu sehen; und doch wußte Rasa, daß der Versuch, es ihm zu verbieten, sie schwächen würde. Es wäre … pathetisch.

Also erhob sie sich statt dessen, trat neben ihn und sah über das Tal hinaus.

»Du siehst, was nur wenige Männer gesehen haben«, sagte sie.

»Dein Sohn hat es gesehen«, sagte Muuzh. »Er trieb nackt auf den Wassern des Sees der Frauen.«

»Das war nicht meine Idee«, sagte Rasa.

»Die Überseele, ich weiß«, sagte Muuzh. »Sie führt uns so verschlungene Pfade entlang. Meiner ist vielleicht der verschlungenste überhaupt.«

»Und in welcher Biegung befindest du dich gerade?«

»In der, die zu Größe und Ruhm führt. Zu Gerechtigkeit und Freiheit.«

»Für wen?«

»Für Basilika, wenn die Stadt es akzeptiert.«

»Wir haben Größe und Ruhm. Wir haben Gerechtigkeit und Freiheit. Wie kannst du glauben, daß irgendeine deiner Anstrengungen auch nur eine Winzigkeit zu dem hinzufügen könnte, was wir bereits haben?«

»Vielleicht hast du recht«, sagte Muuzh. »Vielleicht benutze ich Basilika nur, um meinem Namen Glanz hinzuzufügen, ganz am Anfang, da ich ihn noch brauche. Ist Basilikas Ruhm so gering und teuer, daß nicht ein kleiner Teil davon auf mich abfallen kann?«

»Muuzh, ich mag dich so sehr, daß ich fast das Entsetzen bedauere, daß mein Herz jedesmal ausfüllt, wenn ich an dich denke.«

»Warum? Ich will dir nicht schaden oder irgend jemandem, den du liebst.«

»Davor empfinde ich diesen Schrecken auch nicht. Sondern davor, was du meiner Stadt antun willst. Der ganzen Welt. Die Überseele wurde installiert, um einen Menschen wie dich zu verhindern. Du bist die Personifikation des Krieges, der Lust auf Macht, auf Vergrößerung.«

»Mit keinem anderen Lob hättest du mich stolzer machen können.«

Hinter ihnen erklangen Schritte. Rasa drehte sich um und sah Luet und Huschidh. Nafai blieb zurück.

»Komm zu deiner Frau und Schwägerin, Nafai«, sagte Rasa. »General Muuzh hat unseren uralten Brauch aufgehoben, zumindest für diesen Morgen, an dem die Sonne gerade hinter den Bergen aufgeht.«

Nafai gesellte sich zu ihnen, und sie nahmen ihre Plätze ein. Muuzh arrangierte sie leichter Hand und geschickt, indem er sich einfach mit dem Rücken zur Balustrade setzte, so daß er, als auch die anderen Platz nahmen, ihr Mittelpunkt, ihr Zentrum war.

»Ich bin heute morgen gekommen, um der Wasserseherin /u ihrer gestrigen Hochzeit zu gratulieren.«

Luet nickte ernst, obwohl sie — da war Rasa sich einigermaßen sicher — wußte, daß Muuzh wohl nicht diese Absicht hatte. Rasa hoffte jedoch, daß Nafai eine Vorstellung davon hatte, was der General beabsichtigte, und die Mädchen auf dem Weg hierher darüber informiert hatte.

»Eine erstaunliche Ehe, bei einem so jungen Mädchen«, sagte Muuzh. »Doch nachdem ich den jungen Nafai hier kennengelernt habe, weiß ich, daß du eine gute Wahl getroffen hast. Ein passender Gefährte für die Wasserseherin, denn Nafai ist ein tapferer und edler junger Mann. So edel sogar, daß ich ihn gebeten habe, für das Amt des Konsuls von Basilika zu nominieren.«

»Solch ein Amt gibt es nicht«, sagte Rasa.

»Es wird es wieder geben«, sagte Muuzh, »wie es es schon zuvor gegeben hat. Ein Amt, für das in Friedenszeiten kaum Bedarf besteht, das in einem Kriegsfall jedoch sehr nützlich ist.«

»Wenn du nur wieder gehen würdest, hätten wir auch keinen Krieg.«

»Das spielt kaum eine Rolle, denn dein Sohn hat die Ehre abgelehnt. Gewissermaßen ist es fast ein Glück. Nicht, daß kein hervorragender Konsul aus ihm geworden wäre. Das Volk hätte ihn akzeptiert, denn er ist nicht nur der Bräutigam der Wasserseherin, sondern hört auch selbst die Stimme der Überseele. Ein Prophet und eine Prophetin, gemeinsam in der höchsten Stadtkammer. Und denen, die befürchtet hätten, er wäre ein Schwächling, eine Marionette des Gorajni-Herrschers, hätten wir nur in Erinnerung zurückrufen müssen, daß Nafai schon lange, bevor der alte General Muuzh eintraf, aufgrund des direkten Befehls der Überseele mutig eine große Bedrohung der Freiheit Basilikas beendet und die Exekution eines gewissen Gaballufix vollzogen hat, der die Todesstrafe verdient hatte, weil er die Ermordung Roptats befohlen hatte. Oh, das Volk hätte Nafai bereitwillig akzeptiert, und er wäre ein kluger und fähiger Herrscher gewesen. Besonders, wenn Herrin Rasa ihm mit ihrem Rat zur Seite gestanden hätte.«

»Aber er hat abgelehnt«, sagte Rasa.

»Allerdings.«

»Welchen Grund gibt es also, uns weiterhin zu schmeicheln?«

»Weil es für mich mehr als nur einen Weg gibt, dasselbe Ziel zu erreichen«, sagte Muuzh. »Zum Beispiel könnte ich Nafai des feigen Mordes an Gaballufix beschuldigen und Raschgallivak als den Mann herausstellen, der heldenhaft versucht hat, in einer Zeit der Unruhen die Ordnung in der Stadt zu wahren. Wäre es nicht zu der bösartigen Einmischung einer Entwirrerin namens Huschidh gekommen, wäre es ihm wohl gelungen — denn jeder weiß, daß Raschgallivaks Hände nicht mit irgendwelchem Blut befleckt sind. Ganz im Gegenteil, er war der fähige Verwalter, der versucht hat, die Haushalte sowohl Wetschiks als auch Gaballufix’ zusammenzuhalten. Während Nafai und Huschidh wegen ihrer Verbrechen vor Gericht gestellt werden, wird Raschgallivak zum Konsul der Stadt ernannt. Und natürlich nimmt er, wie es sein gutes Recht ist, die Töchter des Gaballufix unter seinen Schutz, nach Nafais Hinrichtung auch dessen Witwe und auch die Entwirrerin, nachdem man sie für ihr Verbrechen begnadigt hat. Der Stadtrat wird nicht wollen, daß diese armen Frauen auch nur noch einen Tag unter dem Einfluß der gefährlichen, selbstsüchtigen Herrin Rasa stehen.«

»Also-sprichst du doch Drohungen aus«, sagte Rasa.

»Herrin Rasa, ich beschreibe Möglichkeiten, die durchaus eintreten könnten — Entscheidungen, die ich treffen kann und die mich so oder so zu dem Ziel führen, das ich erreichen werde. Basilika wird sich freiwillig mit mir verbünden. Basilika wird meine Stadt sein, bevor ich aufbreche, um die tyrannische Herrschaft des Gorajni-Imperators zu beenden.«

»Gibt es eine andere Möglichkeit?« fragte Huschidh ruhig.

»Ja, und vielleicht ist sie sogar die beste überhaupt«, sagte Muuzh. »Deshalb hat Nafai mich zu seinem Heim mitgenommen — damit ich vor die Entwirrerin treten und sie bitten kann, mich zu heiraten.«

Rasa war entsetzt. »Dich zu heiraten!«

»Trotz meines Spitznamens habe ich keine Frau«, sagte Muuzh. »Es ist nicht gut für einen Mann, zu lange allein zu sein. Ich bin dreißig Jahre alt — hoffentlich nicht zu alt für dich, um mich als deinen Gatten akzeptieren zu können, Huschidh.«

»Sie ist für meinen Sohn bestimmt«, sagte Rasa.

Muuzh drehte sich zu ihr um, und zum ersten Mal wurde seine Freundlichkeit durch eine scharfe, gefährliche Wut ersetzt. »Ein Krüppel, der sich in der Wüste versteckt, ein Männlein, das dieses hübsche Mädchen niemals als Gatten begehrt hat und auch jetzt nicht begehrt!«

»Du irrst dich«, sagte Huschidh. »Ich begehre ihn.«

»Aber du hast ihn nicht geheiratet«, sagte Muuzh.

»Das habe ich nicht.«

»Dann besteht kein legaler Hinderungsgrund für die Ehe zwischen uns«, sagte Muuzh.

»Nein.«

»Dringe in dieses Haus ein und töte uns alle«, sagte Rasa, »aber ich werde nicht zulassen, daß du dieses Mädchen gewaltsam nimmst.«

»Mache doch kein Drama daraus«, sagte Muuzh. »Ich habe nicht die Absicht, irgend etwas gewaltsam zu tun. Wie ich schon sagte, mir stehen mehrere Wege offen. Nafai kann jederzeit sagen: >Ich werde der Konsul sein!<, woraufhin Huschidh die schwere Last meines Heiratsantrags nicht mehr als so bedrückend empfinden wird — doch ich werde ihn nicht zurückziehen, wenn sie gern meine Zukunft mit mir teilen möchte. Denn ich versichere dir, Huschidh, möge kommen, was will, mein Leben wird ruhmreich sein, und der Name meiner Frau wird gemeinsam mit dem meinen ewig in allen Liedern darüber gesungen werden.«

»Die Antwort lautet nein«, sagte Rasa.

»Dir habe ich diese Frage nicht gestellt«, sagte Muuzh.

Huschidh sah von einem zum anderen, sagte aber nichts. Statt dessen sah sie wohl, so vermutete Rasa, nicht ihre Gesichter, sondern die Fäden der Liebe und Treue, die sie miteinander verbanden.

»Tante Rasa«, sagte Huschidh schließlich, »ich hoffe, du wirst mir verzeihen, daß ich deinen Sohn enttäusche.«

»Laß dich von ihm nicht einschüchtern«, sagte Rasa heftig. »Die Überseele wird nicht zulassen, daß er Nafai hinrichtet — das ist doch nur ein dummes Poltern.«

»Die Überseele ist ein Computer«, sagte Huschidh. »Sie ist nicht allmächtig.«

»Huschidh, es gibt Visionen, die dich mit Issib verbinden. Die Überseele hat euch füreinander bestimmt!«

»Tante Rasa«, sagte Huschidh, »ich kann dich nur bitten, Schweigen zu bewahren und meine Entscheidung zu akzeptieren. Denn ich habe Fäden gesehen, die mich mit diesem Mann verbinden und von denen wir nie vermutet haben, daß es sie gibt. Als ich hörte, sei Name sei Muuzh, habe ich nicht gedacht, ich sei die eine Frau, die das Recht hat, ihn bei diesem Namen zu nennen.«

»Huschidh«, sagte Muuzh, »ich hatte mich entschlossen, dich aus politischen Gründen zu heiraten, ohne dich zuvor gesehen zu haben. Doch ich habe gehört, daß du klug bist, und ich habe sofort gesehen, daß du schön bist. Jetzt habe ich erfahren, wie du denkst, und gehört, wie du sprichst, und ich weiß, daß ich dir nicht nur Macht und Ruhm bringen kann, sondern auch die zarten Gaben eines wahren Ehemannes.«

»Und ich werde dir die Hingabe einer wahren Ehefrau schenken«, sagte Huschidh, stand auf und ging zu ihm. Er griff nach ihr, und sie akzeptierte seine sanfte Umarmung und den Kuß auf ihre Wange.

Rasa war wie am Boden zerstört und konnte nichts sagen.

»Kann meine Tante Rasa die Zeremonie durchführen?« fragte Huschidh. »Wie ich annehme, möchtest du aus … politischen Gründen … sehr bald Hochzeit feiern.«

»Bald, aber Rasa kann die Zeremonie nicht abhalten«, sagte Muuzh. »Ihr Ruf ist im Augenblick nicht besonders gut, wenngleich ich davon überzeugt bin, daß sich dies bald nach der Hochzeit aufklären wird.«

»Kann ich einen letzten Tag mit meiner Schwester haben?«

»Du gehst du deiner Hochzeit, nicht zu deiner Beerdigung«, sagte Muuzh. »Du wirst noch viele Tage mit deiner Schwester haben. Aber die Hochzeit wird heute stattfinden. Zur Mittagsstunde. Im Orchester, damit die ganze Stadt ihr beiwohnen kann. Und deine Schwester Luet wird die Zeremonie durchführen.«

Es war zu schrecklich. Muuzh verstand es nur allzugut, alles zu seinem Vorteil zu wenden. Wenn Luet die Zeremonie abhielt, würde ihr Ansehen auf seine Ehe fallen. Muuzh würde als edler Bürger Basilikas akzeptiert werden, und sein Marionetten-Konsul war damit überflüssig geworden. Irgendwann würde man ihn selbst als Konsul vorschlagen, und Huschidh würde seine Gefährtin sein, die erste Dame Basilikas. Sie würde in ihrer Rolle glänzen und ihr in jeder Hinsicht würdig sein — einmal abgesehen davon, daß niemand diese Rolle übernehmen sollte und Muuzh Basilika mit seinem Ehrgeiz zerstören würde.

Basilika zerstören …

»Überseele!« rief Rasa aus tiefstem Herzen. »Hast du das von Anfang an geplant?«

»Natürlich hat sie das«, entgegnete Muuzh. »Wie Nafai mir selbst erzählt hat, wurde ich von Gott selbst hierher geschickt. Aus welchem anderen Grund, wenn nicht, um eine Frau zu finden?« Er wandte sich wieder an Huschidh, die noch immer zu ihm aufsah, ihn noch immer mit der Hand am Arm berührte. »Meine liebe Herrin«, sagte Muuzh, »wirst du mich jetzt begleiten? Während deine Schwester sich auf die Zeremonie vorbereitet, müssen wir uns über vieles unterhalten, und du solltest bei mir sein, wenn wir heute morgen den Stadtrat über unsere Hochzeit informieren.«

Luet stand auf und ging zu ihm. »Ich habe nicht eingewilligt, bei dieser abscheulichen Farce mitzuspielen!«

»Lutja«, sagte Nafai.

»Du kannst sie nicht zwingen!« rief Rasa triumphierend.

Aber Huschidh, nicht Muuzh, antwortete ihr. »Schwester, wenn du mich liebst, wenn du mich je geliebt hast, dann bitte ich dich, komme zum Orchester und vollziehe die Zeremonie.« Huschidh betrachtete sie alle. »Tante Rasa, du mußt kommen. Und bringe deine Töchter und deren Gatten mit, und Nafai, bringe deine Brüder und deren Gattinnen mit. Bringt alle Lehrerinnen und Schülerinnen dieses Hauses mit, auch die, die nicht hier wohnen. Werdet ihr sie mitbringen, damit alle sehen, wie ich einen Mann nehme? Werdet ihr mir diese Höflichkeit erweisen, im Andenken an all meine glücklichen Jahre in diesem guten Haus?«

Die Formalität ihrer Ansprache, ihr abweisendes Benehmen brachen Rasa das Herz, und sie weinte, während sie zustimmte. Auch Luet versprach, die Zeremonie abzuhalten.

»Du wirst sie die Hochzeit doch besuchen lassen, nicht wahr?« fragte Huschidh Muuzh.

Er lächelte sie zärtlich an. »Eine Eskorte wird sie zum Orchester geleiten«, sagte er, »und dann wieder zurück nach Hause.«

»Um mehr bitte ich nicht«, sagte Huschidh. Und dann verließ sie den Säulengang an Muuzh’ Arm.

Als sie fort waren, sank Rasa auf die Bank und weinte bitterlich. »Warum haben wir ihr all diese Jahre gedient?« fragte Rasa. »Wir sind nichts für sie. Nichts!«

»Huschidh liebt uns«, sagte Luet.

»Sie spricht nicht von Huschidh«, sagte Nafai.

»Die Überseele!« rief Rasa. Dann brüllte sie das Wort hinaus, als wolle sie es in die aufgehende Sonne schleudern. »Überseele!«

»Wenn du das Vertrauen in die Überseele verloren hast«, sagte Nafai, »habe wenigstens Vertrauen in Huschidh. Begreift ihr denn nicht, daß sie noch immer darauf hofft, die Dinge würden sich so wenden, wir wir es gern hätten? Sie hat Muuzh’ Angebot angenommen, weil sie irgendeinen Plan darin sah. Vielleicht hat die Überseele es ihr sogar befohlen. Daran habt ihr noch nicht gedacht?«

»Ich habe daran gedacht«, sagte Luet, »aber ich kann es mir kaum vorstellen. Die Überseele hat uns gegenüber keinerlei diesbezügliche Andeutungen fallen lassen.«

»Anstatt miteinander zu sprechen«, sagte Nafai, »und anstatt wütend zu werden, sollten wir dann vielleicht lieber lauschen. Vielleicht wartet die Überseele nur darauf, daß wir ihr unsere Aufmerksamkeit schenken, damit sie uns sagen kann, was vor sich geht.«

»Dann werde ich warten«, sagte Rasa. »Aber hoffentlich ist es ein guter Plan.«

Sie warteten, alle drei mit ihren eigenen Fragen in ihren Herzen.

Dem Ausdruck auf Nafais und Luets Gesichtern nach zu urteilen, bekamen sie ihre Antworten zuerst. Und während Rasa wartete, länger und immer länger, begriff sie, daß sie überhaupt keine Antwort bekommen würde.

»Hast du es gehört?« fragte Nafai.

»Nichts«, sagte Rasa. »Überhaupt nichts.«

»Vielleicht bist du zu wütend auf die Überseele, um etwas von ihr zu hören«, sagte Luet.

»Oder sie bestraft mich vielleicht«, sagte Rasa. »Gehässige Maschine! Was hatte sie zu sagen?«

Nafai und Luet sahen einander an. Also war die Nachricht nicht gut.

»Die Überseele hat die Lage nicht gerade unter Kontrolle«, sagte Luet schließlich.

»Es ist meine Schuld«, sagte Nafai. »Daß ich zum General gegangen bin, hat die Dinge mindestens um einen Tag beschleunigt. Er hatte bereits vor, eine von ihnen zu heiraten, aber er hätte die Lage noch mindestens einen Tag lang überdacht.«

»Ein Tag! Wieso macht ein Tag einen solchen Unterschied?«

»Die Überseele weiß nicht genau, ob sie ihren besten Plan so schnell in die Wege leiten kann«, sagte Luet. »Aber wir können Nafai nicht die Schuld dafür geben. Muuzh ist impulsiv und brillant und hätte dies vielleicht auch so getan. Vielleicht bedurfte es dazu gar nicht Nafais …«

»Dummheit«, sagte Nafai.

»Kühnheit«, sagte Luet.

»Also sind wir dazu verdammt, als Muuzh’ Werkzeuge hierzubleiben?« fragte Rasa. »Nun, er kann uns wohl kaum achtloser mißbrauchen, als die Überseele es getan hat.«

»Mutter«, sagte Nafai, und sein Tonfall war ziemlich scharf. »Die Überseele hat uns nicht mißbraucht. Ob Huschidh nun Muuzh heiratet oder nicht, wir werden trotzdem zu unserer Reise aufbrechen. Wenn sie als Muuzh’ Frau endet, wird sie ihren Einfluß benutzen, um uns zu befreien — sobald seine Position in der Stadt gesichert ist, wird er keinen Bedarf mehr für uns haben.«

»Uns?« fragte Rasa. »Uns befreien?«

»Uns alle, die wir die Reise bereits geplant haben, sogar Schedemei.«

»Und was ist mit Huschidh?« fragte Rasa.

»Das ist der Überseele nicht möglich«, sagte Luet. »Wenn sie die Hochzeit nicht verhindern kann, wird Huschidh bleiben.«

»Ich werde die Überseele auf ewig hassen«, sagte Rasa. »Wenn sie der lieben Huschidh dies antut, werde ich der Überseele nie wieder dienen. Habt ihr mich verstanden?«

»Beruhige dich, Mutter«, sagte Nafai. »Hätte Huschidh ihn zurückgewiesen, hätte ich eingewilligt, Konsul zu werden, und Luet und ich wären zurückgeblieben. So oder so, es wäre auf jeden Fall geschehen.«

»Soll das etwa ein Trost für mich sein?« fragte Rasa verbittert.

»Ein Trost für dich!« fragte Luet. »Für dich, Herrin Rasa? Huschidh ist meine Schwester, meine einzige Verwandte — wohingegen dir noch alle Kinder bleiben, die du jemals auf die Welt gebracht hast, und dein Mann. Was verlierst du denn, verglichen mit dem, was ich verlieren werde? Doch siehst du mich weinen?«

»Du solltest weinen«, sagte Rasa.

»Ich werde auf dem ganzen Weg durch die Wüste weinen«, sagte Luet. »Aber jetzt bleiben uns noch ein paar Stunden, in denen wir uns vorbereiten müssen.«

»Oh, soll ich dir die Zeremonie erklären?«

»Das wird fünf Minuten dauern«, sagte Luet, »und die Priesterinnen werden mir sowieso helfen. Wir müssen die Zeit, die uns bleibt, dazu nutzen, für die Reise zu packen.«

»Für die Reise«, sagte Rasa verbittert.

»Wir müssen alles bereithalten, damit wir die Kamele in fünf Minuten beladen können«, sagte Luet. »Nicht wahr, Nafai?«

»Es besteht noch immer die Möglichkeit, daß alles ein gutes Ende nimmt«, sagte Nafai. »Mutter, jetzt ist nicht der richtige Augenblick, einfach aufzugeben. Mein ganzes Leben lang hast du stets standgehalten, ganz gleich, wie ernst die Lage war. Brichst du jetzt zusammen, da wir dich am dringendsten brauchen, um die anderen bei der Stange zu halten?«

»Erwartest du, daß wir Sevet und Vas, Kokor und Obring dazu bringen, für eine Wüstenreise zu packen?« fragte Luet.

»Glaubst du, Elemak und Mebbekew werden diese Anweisungen von mir entgegennehmen?« fragte Nafai.

Rasa trocknete ihre Augen. »Ihr verlangt zu viel von mir«, sagte sie. »Ich bin nicht so jung wie ihr. Ich bin nicht so elastisch.«

»Du kannst dich beugen, so tief es nötig ist«, sagte Luet. »Aber sag uns jetzt bitte, was wir tun sollen.«

Also schluckte Rasa ihren Kummer für den Augenblick herunter und nahm ihre alte Familienrolle wieder an. Innerhalb von ein paar Minuten war das gesamte Haus in Bewegung; das Personal packte und bereitete alles vor, die Schriftführer setzten Empfehlungsschreiben für jede Lehrerin auf, die zurückgelassen wurde, und Berichte über die Fortschritte der Kinder, damit alle problemlos neue Schulen finden konnten, nachdem Rasa fort und die Schule geschlossen war.

Dann ging Rasa den langen Korridor zu Elemaks Brautkammer entlang und bereitete sich auf die grausame Aufgabe vor, die zögernden Reisenden zu informieren, daß sie der Hochzeit beiwohnen würden, da Soldaten sie dorthin eskortieren würden, und daß sie sich auf eine Wüstenreise vorbereiten würden, da die Überseele aus irgendeinem Grund zu dem Schluß gekommen war, daß sie noch nicht genug gelitten hatten, bis sie sich draußen zwischen den Skorpionen befanden.

Im Orchester und nicht in einem Traum

Elemak hatte den Morgen nach seiner Hochzeit nicht gerade auf diese Weise verbringen wollen. Dies sollte eigentlich eine Mußezeit sein, in der man dösen und miteinander schlafen, sich unterhalten und gegenseitig aufziehen konnte. Statt dessen wurden überstürzte Vorbereitungen getroffen — hoffnungslos unzureichende Vorbereitungen, da sie sich angeblich auf eine Wüstenreise vorbereiteten und weder Kamele noch Zelte noch Vorräte hatten. Und es störte ihn sehr, wie schlecht sich Eiadh der veränderten Situation anpaßte. Während Mebbekews Dol augenblicklich kooperativ war — hilfsbereiter als Meb selbst, der alte Faulpelz —, verschwendete Eiadh Elemaks Zeit mit Protesten und Streitereien. Können wir nicht zurückbleiben und uns später zu ihnen gesellen? Warum müssen wir gehen, nur weil Tante Rasa unter Arrest steht?

Schließlich schickte er Eiadh zu Luet und Nafai, damit sie Antworten auf ihre Fragen bekam, während er das Packen überwachte und überflüssige Kleidung aussortierte — was bitterböse Streitereien mit Rasas Tochter Kokor zufolge hatte, die nicht begreifen konnte, wieso ihre leichten und provokativen Kleidchen in der Wüste nicht besonders nützlich sein würden. Schließlich war er explodiert, vor ihrer Schwester und ihren beiden Gatten. »Hör zu, Kokor«, sagte er, »der einzige Mann, den du da draußen haben kannst, ist dein Ehemann, und wenn du ihn verführen willst, kannst du dein Kleid ausziehen.« Mit diesen Worten hatte er ihr Lieblingskleid ergriffen und es entzwei gerissen. Natürlich hatte sie getobt und geweint — doch später sah er, wie sie großzügig ihre Lieblingskleider verschenkte oder vielleicht gegen praktischere Kleidung eintauschte, denn Kokor besaß wahrscheinlich kein einziges nützliches Stück.

Als wäre die Mühsal des Packens nicht genug gewesen, kam danach noch der ärgerliche Zug durch die Stadt. Fürwahr, die Soldaten bemühten sich um Diskretion — keine feste Phalanx oder brutale Männer im Stechschritt. Doch es waren trotzdem noch Gorajni-Soldaten, und deshalb machten die Passanten — die meisten von ihnen waren ebenfalls auf dem Weg zum Orchester — einen Bogen um sie und gafften sie nur an. »Sie sehen uns an, als wären wir Verbrecher«, sagte Eiadh. Doch Elemak versicherte ihr, die meisten Gaffer würden sie wahrscheinlich für Ehrengäste mit einer militärischen Eskorte halten, worauf Eiadh sich dann einiges einbildete. Irgendwie störte es Elemak ein wenig, daß Eiadh so kindisch war. Hatte Vater ihn nicht gewarnt, daß jüngere Ehefrauen zwar einen schlankeren, leichteren Körper, aber auch einen ebensolchen Verstand hatten? Eiadh war einfach jung; Elemak konnte kaum erwarten, daß sie ernste Dinge auch ernst nahm oder auch nur begriff, was überhaupt ernst war.

Nun nahmen sie ihre Ehrenplätze ein, nicht oben auf den Bänken auf den Hängen des Amphitheaters, sondern unten im Orchester selbst, auf der rechten Seite der niedrigen Plattform, die in der Mitte der Bühne für die Zeremonie aufgebaut worden war. Sie stellten die Gäste der Braut dar; auf der anderen Seite saßen die des Bräutigams, zahlreiche Mitglieder des Stadtrats, aber auch Offiziere der Stadtwache Basilikas und ein paar — nur eine Handvoll — Gorajni-Offiziere. Es gab nicht das geringste Anzeichen für eine Gorajni-Herr-schaft. Nicht, daß man deutlich darauf hinweisen mußte.

Elemak wußte, daß zahlreiche Gorajni-Soldaten und Mitglieder der Stadtwache diskret außer Sichtweite, aber nah genug postiert waren, um sofort eingreifen zu können, falls etwas Unerwartetes geschehen sollte. Falls zum Beispiel ein Attentäter oder auch nur ein Schaulustiger versuchen sollte, den freien Raum zwischen den Bänken und den Hochzeitsgästen auf der Plattform zu überwinden, würde er schnell einen Pfeil irgendwo in seinem Körper spüren, abgeschossen von einem der Soldaten in den Logen der Souffleure und Musiker.

Wie schnell die Dinge sich doch ändern, dachte Elemak. Erst vor ein paar Wochen bin ich von einer erfolgreichen Karawane nach Hause gekommen und habe mir vorgestellt, ich sei jetzt bereit, meinen Platz in Basilika einzunehmen. Gaballufix war damals für mich der mächtigste Mann der ganzen Welt, und meine Zukunft als Wetschiks Sohn und Gabjas Bruder kam mir in der Tat sehr hell vor. Seitdem ist nichts mehr auch nur einen oder zwei Tage lang gleich geblieben. Hätte er vor einer Woche, als sein Körper und auch Geist in der Wüste vertrockneten, geglaubt, in nicht einmal einer Woche in Rasas Haus Eiadh heiraten zu können? Und hätte er sich auch nur gestern abend, als er und Eiadh der Mittelpunkt der Hochzeitszeremonie gewesen waren, vorstellen können, daß sie am Mittag des nächsten Tages auf einer Plattform sitzen und Nafai und Luet, die kindischen, elenden Anhängsel seiner Hochzeit, nun die Hauptpersonen sein würden, indem Luet die Zeremonie durchführte und General Muuzh sich mit Nafai schmückte?

Nafai! Ein Vierzehnjähriger! Und General Muuzh hatte ihn gebeten, dafür einzutreten, als Bürger Basilikas aufgenommen zu werden und ihm Huschidh zur Frau zu geben, als wäre Nafai irgendein wichtiger Mann in der Stadt. Nun ja, er war wichtig — aber nur als der Gatte der Wasserseherin. Niemand würde sich der Illusion hingeben, daß er diese Ehre aus sich heraus verdient hatte.

Wasserseherin, Entwirrerin … Elemak hatte solchen Dingen nie große Beachtung geschenkt. Das Priestergewerbe mochte zwar profitabel sein, aber er brachte ihm nicht viel Geduld entgegen. Wie der törichte Traum, den Elemak in der Wüste gehabt hatte — es war so leicht, einen bedeutungslosen Traum in den Entwurf für eine Handlung zu verwandeln, weil es diese dämlichen Narren gab, die glaubten, die Überseele sei irgend ein edles Wesen und nicht bloß ein Computerprogramm, dessen Aufgabe darin bestand, Daten und Dokumente über Satelliten von einer Stadt zur anderen zu befördern. Sogar Nafai gestand ein, daß die Überseele nur ein Computer war, und doch erzählten er und Luet und Huschidh und Rasa ständig Geschichten darüber, daß die Überseele versuchte, die Dinge so zu arrangieren, daß die Eheschließung nicht stattfand und sie alle in der Wüste enden würden, bevor der Tag vorüber war, bereit für die Reise. Konnte ein Computerprogramm Kamele aus dem Nichts erscheinen lassen? Konnte es Zelte aus dem Staub wachsen lassen? Konnte es Felsen und Sand in Käse und Getreide verwandeln?

»Sieht er nicht tapfer und gut aus?« fragte Eiadh.

Elemak drehte sich zu ihr um. »Wer? Ist General Muuzh hier?«

»Ich meine deinen Bruder. Sieh doch.«

Elemak schaute zur Plattform und war nicht der Ansicht, daß Nafai besonders tapfer aussah. Eigentlich sah er sogar lächerlich aus, wie ein Junge, der sich gekleidet hatte, als wäre er ein Mann.

»Ich kann kaum glauben, daß er einfach zu den Gorajni-Soldaten gegangen ist«, sagte Eiadh. »Und mit General Vozmuzhalnoi Vozmozhno persönlich gesprochen hat — während alle anderen noch geschlafen haben!«

»Was war denn tapfer daran? Es war gefährlich und töricht, und sieh doch, wozu es geführt hat — daß Huschidh diesen Mann heiraten muß.«

Eiadh sah ihn verblüfft an. »Elja, sie heiratet den mächtigsten Mann auf der Welt! Und Nafai wird sein Berater sein.«

»Nur, weil er mit der Wasserseherin verheiratet ist.«

Eiadh seufzte. »Sie ist ein so unscheinbares, kleines Ding.

Aber diese Träume — ich habe auch schon versucht, Träume zu haben, aber niemand nimmt sie ernst. Erst gestern nacht hatte ich einen sehr seltsamen Traum. Ein haariger, fliegender Affe mit häßlichen Zähnen warf sich auf mich, eine Riesenratte schoß ihn mit Pfeil und Bogen aus dem Himmel — kannst du so etwas Dummes glauben? Kannst du mir sagen, warum ich keine Träume von der Überseele haben kann?«

Elemak hörte ihr kaum zu. Statt dessen dachte er darüber nach, daß Eiadh eindeutig neidisch war, weil Huschidh den mächtigsten Mann auf der Welt heiratete. Und wie sie Nafai für seine verdammenswerte Unverschämtheit bewunderte, mitten in der Nacht das Haus zu verlassen und General Muuzh aufzusuchen. Was hatte er damit erreichen können, außer, den Mann zu erzürnen? Es war reines Glück gewesen, daß Nafai jetzt auf dieser Plattform saß. Aber es ärgerte Elemak trotzdem, daß Nafai jetzt dort saß und alle Blicke Basilikas sich auf ihn richteten. Daß man leise über Nafai flüsterte, Nafai, den Gatten der Wasserseherin, den Schwager der Entwirrerin. Und wenn Muuzh sich als König einsetzte — o ja, das offizielle Wort dafür lautete Konsul, doch es bedeutete trotzdem dasselbe —, war Nafai der Schwager der Majestät und der Gatte der großen Frau, Elemak hingegen weiterhin nur ein Wüstenhändler. Oh, natürlich würden sie Vater wieder als Wetschik einsetzen, sobald Vater begriffen hatte, daß die Überseele doch nicht imstande war, irgend jemanden aus Basilika zu holen. Und Elemak würde erneut sein Erbe sein, aber was würde dieser Titel schon bedeuten? Am schlimmsten war die Tatsache, daß er seinen Rang und seine Zukunft als Geschenk von Nafai zurückbekommen würde. Das ließ ihn innerlich kochen.

»Nafai ist so ungestüm«, sagte Eiadh. »Bist du nicht stolz auf ihn?«

Konnte sie nicht aufhören, von Nafai zu sprechen? Bis zu diesem Morgen war Elemak der Meinung gewesen, mit Eiadh die beste Frau geheiratet zu haben, die es in dieser Stadt für einen Mann gab. Doch nun begriff er, insgeheim gedacht zu haben, sie sei die beste erste Ehefrau, die ein junger Mann nehmen konnte. Eines Tages würde er eine echte Frau brauchen, eine Gefährtin, und es bestand kein Grund zu der Annahme, daß Eiadh in solch eine Rolle hineinwachsen würde. Sie würde wahrscheinlich immer flach und leichtfertig bleiben, genau jene Eigenschaften behalten, die ihn anfangs so angezogen hatten. Als sie gestern nacht zu ihm gesungen hatte, mit einer einstudierten Leidenschaft in der kehligen Stimme, hatte er geglaubt, er könne ihrem Gesang ewig lauschen. Jetzt sah er zur Plattform und begriff, daß es wahrscheinlich Nafai war, der eine Ehe geschlossen hatte, die auch noch in dreißig Jahren Bestand haben würde.

Na schön, dachte Elemak. Da wir Basilika nun doch nicht verlassen werden, behalte ich Eiadh ein paar Jahre lang und schiebe sie dann freundlich ab. Wer weiß? Luet bleibt vielleicht nicht bei Nafai. Wenn sie älter wird, wünscht sie sich vielleicht einen starken Mann neben sich. Wir können diese ersten Ehen dann als kindische Phasen betrachten, die wir in unserer Jugend durchlaufen haben. Dann werde ich der Schwager des Konsuls sein.

Und was Eiadh betrifft … nun ja, mit etwas Glück schenkt sie mir vielleicht einen Sohn, bevor wir miteinander fertig sind. Aber wäre das wirklich ein Glück? Soll mein ältester Sohn, mein Erbe, eine so oberflächliche Frau zur Mutter haben? Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die Söhne meiner späteren Ehen, meiner reifen Ehen, wesentlich würdiger sein, meine Nachfolge anzutreten.

Dann, wie eine plötzliche Verdauungsstörung, kam die Erkenntnis, daß auch Vater so empfinden mochte. Schließlich hatte er als reifer Mann Herrin Rasa geheiratet, und Issib und Nafai waren die Söhne aus dieser Ehe. War Mebbekew nicht der wandelnde Beweis der unglücklichen Ergebnisse früher Ehen?

Aber nicht ich, dachte Elemak. Ich war nicht der Sohn einer leichtfertigen frühen Ehe. Ich bin ein Sohn, den er sich nicht einmal zu wünschen gewagt hätte — der Sohn seines Tantchens, Hosnis Sohn, der nur geboren wurde, weil sie den jungen Volemak so bewundert hatte, daß sie ihn in die Vergnügungen des Bettes einführte. Hosni war eine ehrbare Frau, und Vater vertraut mir und bewundert mich mehr, als es bei seinen anderen Kindern der Fall ist. Oder hat mich zumindest bewundert, bis er Visionen von der Überseele bekam und Nafai dies zu seinem Vorteil nutzen konnte, indem er vorgab, ebenfalls Visionen zu haben.

Elemak war voller Zorn — eine alte, tiefe Wut und eine heiße, neue Eifersucht wegen Eiadhs Bewunderung für Nafai. Doch am heißesten und tiefsten brannte seine Furcht, daß Nafai nicht so tat als ob, daß aus irgendeinem unbekannten Grund die Überseele tatsächlich Vaters jüngsten und nicht seinen ältesten Sohn als seinen wahren Erben erwählt hatte. Als die Überseele Issibs Stuhl übernommen und Elemak daran gehindert hatte, Nafai in diesem Hohlweg außerhalb der Stadt zu verprügeln, hatte die Überseele doch so etwas gesagt. Daß Nafai eines Tages seine Brüder führen würde … darauf lief es jedenfalls hinaus.

Nun, liebe Überseele, dazu wird es nicht kommen, wenn Nafai stirbt. Hast du daran schon einmal gedacht? Wenn du mit ihm sprechen kannst, kannst du auch mit mir sprechen, und es wird langsam Zeit, daß du damit anfängst.

Ich habe dir den Traum der Gattinnen gegeben.

Der Satz erklang so deutlich in Elemaks Gehirn, als wäre er laut ausgesprochen worden. Elemak lachte.

»Worüber lachst du, Elja, Liebling?« fragte Eiadh.

»Darüber, wie leicht man sich selbst täuschen kann«, sagte Elemak.

»Die Leute sprechen ständig darüber, daß man sich selbst belügen kann, aber ich habe das nie verstanden«, sagte Eiadh. »Wenn du dich selbst belügst, weiß du doch, daß es eine Lüge ist, oder?«

»Ja«, sagt Elemak. »Du weißt, daß du lügst, und du weißt, was wahr ist. Aber manche Menschen verlieben sich in die Lüge und geben die Wahrheit völlig auf.«

Wie du es jetzt tust, sagte die Stimme in seinem Kopf. Du ziehst es vor, die Lüge zu glauben, daß ich weder zu dir noch zu sonst jemandem sprechen kann, und deshalb lehnst du mich ab.

»Küß mich«, sagte Elemak.

»Wir sind mitten im Orchester, Elja!« sagte sie, doch er wußte, daß sie ihn küssen wollte.

»Um so besser«, sagte er. »Wir haben gestern abend geheiratet — die Leute rechnen damit, daß wir alles andere um uns herum vergessen haben werden.«

Also küßte sie ihn, und er ließ sich in den Kuß fallen, bis in seinem Kopf nur noch Begierde vorhanden war. Als sie sich endlich voneinander lösten, erklang donnernder Applaus – die Leute hatten es bemerkt, und Eiadh war hocherfreut.

Natürlich schlug Mebbekew Dol augenblicklich vor, daß sie sich ebenfalls küßten, doch sie war vernünftig und lehnte es ab. Dennoch beharrte Mebbekew, bis sich Elemak vorbeugte. »Meb«, sagte er zu ihm, »ein Antiklimax ist immer schlechtes Theater — hast du mir das nicht selbst gesagt?«

Meb schaute wütend drein und gab die Idee auf.

Ich beherrsche die Dinge noch immer, dachte Elemak. Und ich werde nicht glauben, daß es Stimmen in meinem Kopf gibt, nur weil ich sie mir herbeiwünsche. Ich bin nicht wie Vater und Nafai und Issib, die entschlossen an eine Phantasievorstellung glauben, weil der Gedanke, ein höheres Wesen würde sich um alles kümmern, so warm und behaglich ist. Ich kann mich mit der kalten, harten Wahrheit befassen. Und für einen echten Mann reicht das immer aus.

Die Hörner erschallten. Auf den Minaretten, die das Amphitheater umgaben, begannen sie mit ihrem klagenden Schreien. Das waren uralte Instrumente, nicht die fein gestimmten Hörner der Theater oder Konzerte, und sie versuchten nicht einmal, irgendeine Harmonie zu erzeugen. Jedes Horn hielt eine gewisse Zeit einen Ton, lang und laut, bis dem Bläser dann der Atem ausging. Die Töne überlagerten einander, manchmal mit einer erbärmlichen Dissonanz, manchmal mit einem erstaunlichen Gleichklang; doch stets war es ein eindringliches, wundervolles Geräusch.

Es brachte die Gäste zum Schweigen, die sich auf den Bänken versammelt hatten, und ließ Elemak vor Erwartung zittern, wie jede andere Person im Orchester auch, wie er wußte. Die Hochzeit konnte beginnen.

Durstig stand am Tor von Basilika und fragte sich, warum die Überseele sie nun im Stich ließ. Hatte sie ihr nicht bei jedem Schritt des langen Weges von Potokgavan beigestanden? Sie war auf ein Kanalschiff getreten und hatte gebeten, mitfahren zu dürfen, und die Besatzung hatte sie ohne eine einzige Frage an Bord genommen, obwohl sie das Fahrgeld nicht entrichten konnte. In dem großen Hafen hatte sie dem Kapitän eines Freibeuterschiffs kühn gesagt, die Überseele verlange, sie schneller nach Rotküste zu bringen, als je ein Schiff gefahren sei, und er hatte gelacht und sich gebrüstet, solange er keine Fracht aufnähme, könne er es bei einem so gut stehenden Wind in einem Tag schaffen. In Rotküste war eine feine Dame auf der Straße von ihrem Pferd abgestiegen und hatte es Durstig angeboten.

Auf diesem Pferd erreichte Durstig das Tiefe Tor, und sie erwartete, sofort eingelassen zu werden, wie es bei Frauen stets der Fall war, ob sie nun Bürgerinnen waren oder nicht. Statt dessen wurde das Tor von Gorajni-Soldaten bewacht, und sie wiesen alle zurück.

»In der Stadt findet eine große Hochzeit statt«, erklärte ihr einer der Soldaten. »General Muuzh heiratet eine Dame aus Basilika.«

Ohne den Grund dafür zu kennen, wußte Durstig augenblicklich, daß sie wegen dieser Hochzeit hier war.

»Dann mußt du mich einlassen«, sagte sie, »denn ich gehöre zu den geladenen Gästen.«

»Nur die Bürgerinnen und Bürger Basilikas sind zu der Hochzeit eingeladen, und auch nur die, die sich bereits in den Stadtmauern befinden. Unsere Befehle lassen keine Ausnahmen zu, nicht einmal für stillende Mütter, deren Kleinkinder sich in der Stadt befinden, nicht einmal für Ärzte, deren Patienten in der Stadt im Sterben liegen.«

»Die Überseele hat mich eingeladen«, sagte Durstig, »und aufgrund dieser Autorität hebe ich jeden Befehl auf, den euch ein Sterblicher gegeben hat.«

Der Soldat lachte, aber nur leise, denn sie hatte laut gesprochen, und die Menge am Tor beobachtete sie und lauschte ihnen. Diese Leute waren ebenfalls abgewiesen worden und würden beim geringsten Anlaß verdrossen reagieren.

»Laß sie ein«, sagte einer der Soldaten, »wenn auch nur, um die Menge ruhig zu halten.«

»Sei kein Narr«, sagte ein anderer. »Wenn wir sie einlassen, müssen wir alle einlassen.«

»Sie alle wollen, daß ich die Stadt betrete«, sagte Durstig.

Die Menge murmelte ihre Zustimmung. Durstig wunderte sich darüber — daß die Bewohner Basilikas die Überseele so deutlich hören konnten, während die Gorajni-Sol-daten taub für ihren Einfluß waren. Vielleicht war das der Grund, weshalb die Gorajni eine so böse Rasse waren, wie sie in Potokgavan gehört hatte: weil sie die Stimme der Überseele nicht hören konnten.

»Mein Gatte wartet in der Stadt auf mich«, sagte Durstig, obwohl sie erst, als sie ihre eigenen Worte hörte, auch wußte, daß sie der Wahrheit entsprachen.

»Dein Gatte wird warten müssen«, sagte ein Soldat.

»Oder sich eine Liebhaberin nehmen müssen«, sagte ein anderer, und sie lachten.

»Oder sich selbst befriedigen müssen«, sagte der erste, und sie johlten.

»Wir sollten sie einlassen«, sagte einer der Soldaten. »Was, wenn Gott sie erwählt hat?«

Augenblicklich zog einer der anderen Soldaten mit der linken Hand sein Messer und hielt es an den Hals desjenigen, der gesprochen hatte. »Du weißt, welche Warnung man uns gegeben hat. Wenn wir wollen, daß jemand die Stadt betritt, müssen wir es gerade bei dieser Person verhindern!«

»Aber sie muß dort sein«, sagte der Soldat, der für die Überseele empfänglich war.

»Sag noch ein Wort, und ich töte dich.«

»Nein!« rief Durstig. »Ich gehe. Das ist nicht das Tor für mich.«

In ihrem Inneren verspürte sie einen immer stärkeren Drang, die Stadt zu betreten; doch sie würde nicht zulassen, daß man diesen Mann tötete, weil sie trotzdem keinen Zutritt zur Stadt bekommen würde. Statt dessen zog sie das Pferd herum und ritt zurück durch die Menge, die sich vor ihr teilte. Sie schlug den steilen Pfad ein, der zum Karawanentor führte, machte sich jedoch nicht die Mühe, es am Markttor zu versuchen; sie ritt die Hohe Straße entlang, versuchte es jedoch auch nicht am Hohen Tor oder am Rauchfang-Tor. Sie führte ihr Tier schnell über den Dunklen Pfad, der sich durch tiefe Schluchten wand und dann die bewaldeten Hügel im Norden der Stadt hinaufführte, bis sie die Waldstraße erreichte — aber sie folgte ihm nicht zum Hinteren Tor hinab.

Statt dessen stieg sie ab, drang in das dichte Unterholz des Pfadlosen Waldes ein und eilte zum Privattor, von dem nur die Frauen wußten, das nur die Frauen benutzten. Es hatte sie eine Stunde gekostet, um die Stadt zu reiten, und sie hatte auch noch den langen Weg nehmen müssen — aber an der Ostmauer, die steil zu den Klippen und Abgründen hinabfiel, gab es keinen Weg, den ein Pferd hätte benutzen können, und es hätte viel länger gedauert, diese Strecke zu Fuß zurückzulegen. Nun schien der Wald selbst nach ihr zu greifen, sie festzuhalten, obwohl sie wußte, daß die Überseele jeden Schritt lenkte, den sie tat, damit sie den schnellsten Weg zum Privattor fand. Doch .selbst, nachdem sie durch dieses Tor Einlaß gefunden hatte, mußte sie noch quer durch die Stadt, und sie hörte bereits, daß die Hörner mit ihrer klagenden Serenade begangen. Die Zeremonie würde in wenigen Augenblicken beginnen, und Durstig würde nicht dort sein.

Luet bewegte sich und sprach, so langsam sie konnte, doch während sie die einzelnen Schritte der Zeremonie vollzog, blieb ihr die Möglichkeit verwehrt, das zu tun, was sie in ihrem Herzen wünschte — die Hochzeit abzubrechen und Muuzh vor den versammelten Bürgern brandzumarken. Bestenfalls würde man sie lediglich von der Plattform drängen, noch bevor sie ein Wort sagen konnte, und eine pflichtbewußtere Priesterin würde die Aufgabe übernehmen; schlimmstenfalls würde sie tatsächlich ein paar Worte über die Lippen bringen, bevor sie dann von einem Pfeil aufgehalten werden würde, und dann würden Aufruhr und Blutvergießen folgen, und Basilika würde vielleicht noch vor dem nächsten Morgen zerstört sein. Doch was würde sie damit erreichen?

Also vollzog sie die Zeremonie — mit Bedacht, mit langen Pausen, ohne jedoch vollständig innezuhalten, ohne die geflüsterten Anweisungen der Priesterinnen zu ignorieren, die neben ihr standen und ihr alles vorsagten.

Doch trotz ihres eigenen inneren Aufruhrs konnte sie an Huschidh nichts als perfekte Ruhe ausmachen. War es möglich, daß Huschidh diese Ehe tatsächlich willkommen hieß, um ein Leben als Frau eines Krüppels zu vermeiden? Nein – Schuja war aufrichtig gewesen, als sie gesagt hatte, die Überseele habe sie mit dieser Zukunft ausgesöhnt. Ihre Ruhe mußte einem völligen Vertrauen in die Überseele entspringen.

»Sie tut recht daran, Vertrauen zu haben«, sagte eine Stimme — eigentlich ein Flüstern. Einen Augenblick lang dachte sie, es wäre die Überseele gewesen, doch dann begriff sie, daß Nafai zu ihr gesprochen hatte, als sie während der Blumenprozession an ihm vorbeigegangen war. Wie hatte er wissen können, welche Wörter in diesem Augenblick nötig waren, um so perfekt ihre eigenen Gedanken zu beantworten? Hatte die Überseele eine noch engere Verbindung zwischen ihnen geschmiedet? Oder sah Nafai selbst so tief in ihr Herz, daß er wußte, was er nun zu sagen hatte?

Laß es wahr sein, daß Schuja aus gutem Grund der Überseele vertraut. Laß es wahr sein, daß wir sie nicht hier zurücklassen müssen, wenn wir zu unserer Reise in die Wüste aufbrechen, zu einem anderen Stern. Denn ich könnte es nicht ertragen, sie zu verlieren. Vielleicht werde ich irgendwann wieder Freude empfinden; vielleicht kann mein neuer Gatte mir ein Gefährte sein, wie Huschidh mir eine liebe Gefährtin war. Aber es würde immer ein Schmerz in mir sein, eine Leere, eine Trauer, die niemals ersterben wird, eine Trauer um meine Schwester, meine einzige Verwandte auf der Welt, meine Entwirrerin, die, als ich noch ein kleines Kind war, den Knoten knüpfte, der uns auf ewig verbindet.

Und dann war endlich der Augenblick gekommen, da sie die Eide ablegen mußten. Luets Hände ruhten auf ihren Schultern — auf Muuzh’ Schulter, so hoch oben, so hart und groß und fremd, und auf Huschidhs Schulter, so vertraut, so zerbrechlich im Vergleich mit der des Mannes. »Die Überseele macht eine Seele aus der Frau und dem Mann«, sagte Luet. Ein Atemzug. Eine endlose Pause. Und dann die Worte, die sie einfach nicht aussprechen konnte, aber sagen mußte, und deshalb sagte sie sie. »Es ist vollbracht.«

Die Bürger Basilikas erhoben sich von ihren Sitzen, als hätten sie einen einzigen Körper, und jubelten und klatschten und riefen ihre Namen: Huschidh! Entwirrerin! Muuzh! General! Vozmuzhalnoi! Vbzmozhno!

Muuzh küßte Huschidh, wie ein Ehemann eine Frau küßt — aber sanft, sah Luet. Dann drehte er sich um und führte Huschidh zum Rand der Plattform. Hundert, tausend Blumen schwebten in der Luft und flogen nach vorn; die, die die Gäste ganz hinten im Amphitheater geworfen hatten, wurden aufgehoben und erneut geworfen, bis die Blumen die freie Fläche zwischen der Plattform und der ersten Bankreihe bedeckten.

Inmitten des Tumults wurde Luet gewahr, daß Muuzh etwas rief. Da er ihr den Rücken zuwandte, konnte sie die Worte selbst nicht verstehen, nur sehen, daß er etwas sagte. Allmählich bekamen die Gäste auf der ersten Reihe mit, was er rief, und intonierten seine Worte als Sprechgesang. Erst jetzt begriff Luet, wie er seine eigene Hochzeit nun in einen klaren politischen Vorteil verwandeln wollte. Denn er sagte nur ein einziges Wort, wiederholte es immer und immer wieder, bis die gesamte Menschenmenge es aufgenommen hatte und mit unerträglich lauter Stimme rief.

»Basilika! Basilika! Basilika!«

Es ging ewig so weiter, ewig.

Luet weinte, denn sie wußte nun, daß die Überseele versagt hatte, daß Huschidh mit einem Mann verheiratet war, der sie niemals lieben würde, sondern nur die Stadt, die er als ihre Mitgift bekommen hatte.

Endlich hob Muuzh die Hände — die linke Hand höher, um Schweigen zu gebieten, während er mit der rechten noch Huschidhs Hand hielt. Er hatte nicht die Absicht, seine Verbindung mit ihr zu brechen, denn sie war seine Verbindung mit der Stadt. Langsam verstummte der Sprechgesang, und schließlich legte sich ein Vorhang des Schweigens über das Orchester.

Seine Rede war einfach, aber eloquent. Eine Beteuerung seiner Liebe für diese Stadt, seiner Dankbarkeit für das Privileg, Frieden und Ordnung wiederhergestellt zu haben, und nun auch seiner Freude, als Bürger willkommen geheißen zu werden, der Gatte dieser freundlichen und einfachen Schönheit einer wahren Tochter der Überseele zu sein. Er erwähnte auch Luet und Nafai und daß er sich geehrt fühlte, nun mit den besten und tapfersten Kindern Basilikas verwandt zu sein.

Luet wußte, was nun kommen würde. Die Abordnung des Stadtrats hatte sich bereits von ihren Plätzen erhoben und war bereit, vorzutreten und zu bitten, die Stadt möge Muuzh als Konsul akzeptieren, damit er Basilikas Heer führen und über die auswärtigen Angelegenheiten entscheiden könne. Man konnte mit einiger Sicherheit davon ausgehen, daß die Mehrheit des Volkes, überwältigt von der Ekstase und Erhabenheit des Augenblicks, die Entscheidung bejubeln würde. Erst später würden die Menschen begreifen, was sie getan hatten, doch selbst dann würden die meisten ihren Entschluß für klug und gut halten.

Muuzh’ Rede näherte sich ihrem Ende — und es würde ein ruhmreiches Ende sein. Das Volk würde sie trotz seines nördlichen Akzents, der in anderen Zeiten lächerlich gemacht und verachtet worden wäre, gut aufnehmen.

Er zögerte. An einer unerwarteten Stelle seiner Rede. Einer unangemessenen Stelle. Aus dem Zögern wurde eine Pause, und Luet sah, daß er etwas oder jemanden betrachtete, den sie nicht sehen konnte. Also trat sie vor, und Nafai war augenblicklich neben ihr; gemeinsam taten sie die wenigen Schritte, die nötig waren, daß sie links von Muuzh standen, noch hinter ihm, aber nun imstande, ebenfalls zu sehen, was er sah.

Eine Frau. Eine Frau im einfachen Gewand einer Bäuerin aus Potokgavan — fürwahr ein seltsamer Aufzug für diesen Anlaß. Sie stand am Fuß der mittleren Treppe, die zum Amphitheater hinaufführte; sie machte keine Anstalten, die Treppe hinaufzusteigen, so daß weder die Bogenschützen der Gorajni noch die beiden basilikanischen Wachen hinter ihr Anstalten machten, sie aufzuhalten, bis jetzt zumindest.

Denn der General hatte nichts gesagt, und die Soldaten wußten nicht, was sie tun sollten — sollten sie die Frau ergreifen und davonzerren?

»Du«, sagte Muuzh. Also kannte er sie.

»Was tust du?« fragte sie. Ihre Stimme war nicht laut, und doch konnte Luet sie deutlich verstehen. Wieso konnte sie sie so deutlich verstehen?

Weil ich ihre Worte im Geist eines jeden Anwesenden hier wiederhole, sagte die Überseele.

»Ich heirate«, sagte Muuzh.

»Es hat keine Eheschließung gegeben«, sagte sie — erneut leise, und erneut wurde sie von allen gehört.

Muuzh deutete auf die Gemeinde der Gäste. »Sie alle haben es gesehen.«

»Ich weiß nicht, was sie gesehen haben«, sagte die Frau. »Aber ich sehe einen Mann, der die Hand seiner Tochter hält.«

Unter den Gästen hob sich Gemurmel.

»Gott, was hast du getan«, flüsterte Muuzh. Doch nun trug die Überseele auch seine ganz leise Stimme in ihre Ohren.

Nun trat die Frau vor, und die Soldaten machten keine Anstalten, sie aufzuhalten, denn sie begriffen, daß hier etwas viel Größeres geschah als lediglich ein Attentat.

»Die Überseele brachte dich zu mir«, sagte sie. »Zweimal hat sie dich zu mir geführt, und beide Male habe ich Töchter empfangen und auf die Welt gebracht. Aber ich war nicht deine Frau. Statt dessen war ich der Körper, den die Überseele benutzen wollte, um ihre Töchter zu gebären. Ich brachte die Töchter der Überseele zur Herrin Rasa, die die Überseele auserwählt hatte, sie großzuziehen und zu unterrichten, bis der Tag gekommen war, sie als ihre eigenen Kinder auszuweisen.«

Die Frau drehte sich zu Rasa um, deutete auf sie. »Herrin Rasa, kennst du mich? Als ich zu dir kam, war ich nackt und schmutzig. Erkennst du mich jetzt?«

Tante Rasa erhob sich zitternd. »Du bist diejenige, die sie mir gebracht hat. Zuerst Huschidh, dann Luet. Du hast mir gesagt, ich solle sie großziehen, als wären es meine eigenen Töchter, und das habe ich getan.«

»Sie waren nicht deine Töchter. Sie waren nicht meine Töchter. Sie sind die Töchter der Überseele, und dieser Mann — der von den Gorajni Vozmuzhalnoi Vozmozhno genannt wird — ist der Mann, den die Überseele zu ihrem Muuzh erwählt hat.«

Muuzh. Muuzh. Das Flüstern breitete sich in der Menge aus.

»Die Eheschließung, die ihr heute gesehen habt, fand nicht zwischen diesem Mann und diesem Mädchen statt. Sie war nur die Stellvertreterin ihrer Mutter. Er ist der Gatte der Überseele geworden! Und da dies die Stadt der Mutter ist, ist er auch der Gatte Basilikas geworden! Ich sage dies, weil die Überseele mir die Worte in den Mund legt! Jetzt müßt ihr es sagen! Ganz Basilika muß es sagen! Gatte! Gatte!«

Sie nahmen den Sprechgesang auf. Gatte! Gatte! Gatte! Und dann, allmählich, veränderte er sich, zu einem anderen Wort mit derselben Bedeutung. Muuzh! Muuzh! Muuzh!

Während die Menge das Wort intonierte, schritt die Frau zu der niedrigen Plattform. Huschidh lief? Muuzh’ Hand los und trat vor, kniete vor der Frau nieder; Luet tat es ihr gleich, zu verblüfft, um zu weinen, zu sehr erfüllt mit Freude darüber, was die Überseele getan hatte, um Huschidh vor dieser Ehe zu bewahren, zu sehr erfüllt mit Trauer, diese Frau, die ihre Mutter war, niemals gekannt zu haben, zu sehr erfüllt mit Staunen über die Offenbarung, daß dieser Fremde aus dem Norden, dieser schreckliche General, ihr Vater war.

»Mutter«, sagte Huschidh — und sie konnte weinen, vergoß ihre Tränen auf die Hand der Frau.

»Ich habe euch geboren, ja«, sagte die Frau. »Aber ich bin nicht eure Mutter. Die Frau, die euch großgezogen hat, sie ist eure Mutter. Und die Überseele, die dafür gesorgt hat, daß ihr geboren werdet, sie ist eure Mutter. Ich bin nur die Frau eines Bauern aus den Naßlanden Potokgavans. Dort leben die Kinder, die mich Mutter nennen, und ich muß zu ihnen zurückkehren.«

»Nein«, flüsterte Luet. »Dürfen wir dich nur einmal sehen?«

»Ich werde mich immer an euch erinnern«, sagte die Frau. »Und ihr werdet euch an mich erinnern. Die Überseele wird diese Erinnerungen in euren Herzen bewahren.« Sie streckte eine Hand aus und berührte Huschidhs Wange und die andere, um Luet zu berühren und ihr übers Haar zu streicheln. »So schön. So würdig. Wie sie dich liebt. Wie eure Mutter euch jetzt liebt.«

Dann drehte sie sich um und ging — verließ die Plattform, schritt die Rampe hinab, die zu den Umkleideräumen unter dem Amphitheater führte, und war fort. Niemand sah, wie sie die Stadt verließ, obwohl schnell Geschichten von seltsamen Wundern und ungewöhnlichen Visionen entstanden, von Dingen, die sie angeblich getan hatte, aber unmöglich hatte tun können, als sie Basilika an diesem Tag verließ.

Muuzh sah ihr nach, als sie sich umdrehte und ging und all seine Hoffnungen und Pläne und Träume mitnahm; sie nahm sein gesamtes Leben mit. Er erinnerte sich so deutlich an die Zeit, die er mit ihr verbracht hatte — sie war der Grund, weshalb er niemals geheiratet hatte, denn für welche andere Frau konnte er empfinden, was er für sie empfunden hatte? Damals war er überzeugt gewesen, daß er sie liebte, obwohl Gott dies nicht wollte, denn hatte er nicht jenes starke Verbot empfunden? War er nicht, als sie damals bei ihm gewesen war, immer wieder aufgewacht, ohne sich an sie erinnern zu können, und hatte er nicht Gottes Barrieren in seinem Geist überwunden und sie bei sich behalten und geliebt? Es war, wie Nafai gesagt hatte — sogar seine Rebellion war von der Überseele gesteuert worden.

Ich bin Gottes Narr, Gottes Werkzeug, wie alle anderen auch, und als ich glaubte, eigene Träume zu haben, selbst über mein Schicksal entscheiden zu können, hat Gott meine Schwäche bloßgestellt und mich vor allen Bürgern der Stadt gebrochen. Ausgerechnet dieser Stadt — Basilika. Basilika.

Huschidh und Luet erhoben sich am Rand der Bühne von ihren Knien; Nafai trat zu ihnen, als sie sich zu Muuzh umdrehten. Sie mußten ganz nah an ihn herantreten, damit er sie über die Sprechchöre der Menge verstehen konnte.

»Vater«, sagte Huschidh.

»Unser Vater«, wiederholte Luet.

»Ich habe nicht gewußt, daß ich Kinder habe«, sagte Muuzh. »Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte mein eigenes Gesicht sehen müssen, als ich euch ansah.« Und es stimmte — nun, da die Wahrheit bekannt war, war die Ähnlichkeit offensichtlich. Ihre Gesichter hatten nicht die normalen Züge der basilikanischen Schönheit angenommen, da ihr Vater den Sotschitsija entstammte, und nur Gott konnte wissen, woher ihre Mutter kam. Doch auf eine seltsame, exotische Art und Weise waren sie wunderschön. Sie waren wunderschön und klug und stark. Er konnte stolz auf sie sein. Während seine Laufbahn beendet war, konnte er stolz auf sie sein. Während er vor dem Imperator floh, der bestimmt wissen würde, was er mit dieser abgebrochenen Hochzeit zu erreichen versucht hatte, konnte er stolz auf sie sein. Denn sie waren das einzige, was er geschaffen hatte und was Bestand haben würde.

»Wir müssen in die Wüste ziehen«, sagte Nafai.

»Ich werde keinen Widerstand mehr leisten.«

»Wir brauchen deine Hilfe«, sagte Nafai. »Wir müssen . sofort aufbrechen.«

Muuzh warf einen Blick auf die Gäste, die auf seiner Seite der Plattform zusammengekommen waren. Bitanke. Jetzt mußte Bitanke ihnen helfen. Er winkte ihm, und Bitanke erhob sich und ging zu ihm.

»Bitanke«, sagte Muuzh. »Du mußt alle Vorbereitungen für eine Wüstenreise treffen.« Er wandte sich an Nafai. »Wie viele werdet ihr sein?«

»Dreizehn«, sagte Nafai, »wenn du dich nicht doch noch entschließt, uns zu begleiten.«

»Komm mit uns, Vater«, sagte Huschidh.

»Er kann uns nicht begleiten«, sagte Luet. »Sein Platz ist hier.«

»Sie hat recht«, sagte Muuzh. »Ich könnte niemals auf eine Reise für Gott gehen.«

»Zumindest«, sagte Luet, »wird er bei uns sein, weil sein Same Teil von uns ist.« Sie berührte Nafais Arm. »Er wird der Großvater all unserer Kinder sein und auch der von Huschidhs Kindern.«

Muuzh wandte sich wieder an Bitanke. »Dreizehn Personen. Kamele und Zelte, für eine Wüstenreise.«

»Ich werde alles bereit haben«, sagte Bitanke. Doch Muuzh entnahm seinem Tonfall, seiner zuversichtlichen Haltung und der Tatsache, daß er keine Fragen stellte, daß Bitanke von dieser Anweisung nicht überrascht war.

»Du hast es schon gewußt«, sagte Muuzh. Er sah die anderen an. »Ihr habt es von Anfang an so geplant.«

»Nein, Herr«, sagte Nafai. »Wir haben nur gewußt, daß die Überseele versuchen wird, diese Ehe zu verhindern.«

»Glaubst du, wir hätten geschwiegen«, fragte Luet, »wenn wir gewußt hätten, daß wir deine Töchter sind?«

»Herr«, sagte Bitanke, »du mußt dich doch daran erinnern, daß du mir gemeinsam mit Herrin Rasa befohlen hast, die Kamele und Zelte und Vorräte bereitzustellen.«

»Wann habe ich dir so etwas gesagt?«

»In meinem Traum letzte Nacht«, sagte Bitanke.

Das war der vernichtende Schlag. Gott hatte ihn völlig zerstört und war sogar so weit gegangen, sich in dem prophetischen Traum eines anderen Mannes für ihn auszugeben. Er fühlte diese Niederlage wie eine schwere Last auf seinen Schultern; sie zwang ihn zu Boden.

»Herr«, sagte Nafai, »wieso bildest du dir ein, daß du zerstört worden bist? Hörst du nicht, was sie singen?«

Muuzh lauschte.

Muuzh, sagten sie. Muuzh. Muuzh. Muuzh.

»Siehst du denn nicht, daß du jetzt stärker bist denn je zuvor, obwohl du uns alle gehen läßt? Die Stadt gehört dir. Die Überseele hat sie dir gegeben. Hast du denn nicht gehört, was deine Mutter gesagt hat? Du bist der Gatte der Überseele und von Basilika.«

Muuzh hatte sie gehört, ja, doch zum ersten Mal in seinem Leben — nein, zum ersten Mal, seit er sie vor so vielen Jahren geliebt hatte, hatte er nicht sofort daran gedacht, welchen Vor- oder Nachteil ihre Worte ihm bringen könnten. Er hatte nur gedacht: Meine Liebe wurde von Gott manipuliert; meine Zukunft wurde von Gott zerstört; ich gehöre ihm, und er hat mich zugrunde gerichtet, und ich werde ihm auch weiterhin gehören.

Nun begriff er, daß Nafai recht hatte. Hatte Muuzh nicht in den letzten paar Tagen gespürt, daß Gott es sich vielleicht anders überlegt hatte und nun für ihn arbeitete? Dieses Gefühl hatte sich als richtig erwiesen. Gott wollte seine gerade erst gefundenen Töchter wegen eines unmöglichen Auftrags in die Wüste führen, doch abgesehen davon hatten Muuzh’ Pläne noch Bestand. Basilika gehörte ihm.

Muuzh hob die Hände, und die Menge — deren Gesang bereits nachgelassen hatte, in erster Linie wohl aus reiner Erschöpfung — verstummte.

»Wie groß ist die Überseele!« rief Muuzh.

Sie jubelten.

»Meine Stadt!« rief er. »Ah, meine Braut!«

Sie jubelten erneut.

Er wandte sich an die Mädchen. »Habt ihr eine Ahnung«, sagte er leise, »wie ich euch aus der Stadt bringen kann, ohne daß es so aussieht, als würde ich meine eigenen Töchter ins Exil schicken, oder als würdet ihr vor mir fliehen?«

Huschidh sah Luet an. »Die Wasser Seherin kann es.«

»Ach, vielen Dank«, sagte Luet. »Plötzlich kommt es auf mich an?«

»Ja, allerdings«, sagte Nafai. »Du kannst es.«

Luet zog die Schultern hoch, drehte sich um und ging zum Rand der Plattform. Die Menge war wieder verstummt und wartete. Luet war noch mit dem Verstärkersystem des Orchesters verbunden, doch das spielte kaum eine Rolle — die Menge war so geeint, dermaßen auf die Überseele eingestimmt, daß sie hören würde, was auch immer sie ihr sagen wollte.

»Meine Schwester und ich sind genauso erstaunt, wie ihr es seid. Wir haben niemals gewußt, wer unsere Eltern sind, denn obwohl die Überseele unser ganzes Leben lang mit uns gesprochen hat, hat sie uns nicht gesagt, daß wir ihre Töchter sind, nicht auf diese Weise, nicht so, wie ihr es gerade erfahren habt. Nun hören wir ihre Stimme, und sie ruft uns in die Wildnis. Wir müssen zu ihr gehen und ihr dienen. Doch sie gibt euch dafür ihren Gatten, unseren Vater. Sei ihm eine gute Braut, Basilika!«

Es erklang kein Jubel, nur ein lautes, summendes Gemurmel. Sie warf mit der Befürchtung, daß sie alles verdarb, einen Blick über die Schulter zurück. Doch es lag nur an ihrer Unerfahrenheit, Menschenmengen zu manipulieren — Muuzh wußte, daß sie ihre Sache gut machte. Deshalb nickte er und bedeutete ihr, sie solle fortfahren.

»Der Stadtrat hat unseren Vater bitten wollen, Konsul von Basilika zu werden. Wenn diese Entscheidung zuvor klug war, ist sie nun doppelt klug. Denn wenn die Taten der Überseele bekannt werden, werden die Nationen der ganzen Welt auf Basilika eifersüchtig sein, und dann ist es nur gut, einen solchen Mann zu haben, der der Welt gegenüber unsere Stimme sein und uns vor den Wölfen schützen wird, die uns überfallen werden!«

Nun erklang Jubel, doch er legte sich schnell wieder.

»Basilika, im Namen der Überseele, willst du Vozmuzhalnoi Vozmozhno als deinen Konsul haben?«

Das war es, erkannte Muuzh. Sie hatte ihnen endlich eine klare Frage gestellt, die sie beantworten konnten, und es war die Antwort, von der er gewußt hatte, daß sie kommen würde, ein lauter Schrei der Zustimmung aus hunderttausend Kehlen. Viel besser noch, nicht vom Stadtrat kam dieser Vorschlag, sondern die Wasserseherin bat sie, seine Herrschaft zu akzeptieren, und zwar im Namen Gottes. Wer konnte sich ihm jetzt noch widersetzen?

»Vater«, sagte sie, als der Jubel verklungen war. »Vater, wirst du eine Segnung durch die Hände deiner Töchter akzeptieren?«

Was hatte das zu bedeuten? Was hatte sie denn jetzt vor? Muuzh war einen Augenblick lang verwirrt. Bis er begriff, daß sie dies nicht für die Menge tat. Sie tat dies nicht, um die Ereignisse zu manipulieren und zu kontrollieren. Sie sprach aus ihrem Herzen; sie hatte heute einen Vater gefunden und würde ihn heute auch wieder verlieren, und deshalb wollte sie ihm zum Abschied ein Geschenk machen. Also nahm er Huschidhs Hand, und sie traten vor; er kniete zwischen ihnen nieder, und sie legten die Hände auf seinen Kopf.

»Vozmuzhalnoi Vozmozhno«, begann sie. Und dann: »Unser Vater, unser lieber Vater, die Überseele hat dich hierher gebracht, damit du diese Stadt zu ihrem Schicksal führst. Die Frauen Basilikas haben ihre Gatten Jahr für Jahr, doch die Stadt der Frauen blieb diese ganze Zeit über ehelos. Nun hat die Überseele eine Wahl getroffen, Basilika hat endlich einen würdigen Mann gefunden, und du wirst ihr einziger Gatte sein, solange diese Mauern stehen. Aber bei all den großen Ereignissen, die du sehen wirst, bei all den Menschen, die dich in den kommenden Jahren lieben und die dir folgen werden, wirst du dich an uns erinnern. Wir segnen dich, damit du dich an uns erinnerst und in der Stunde deines Todes unsere Gesichter in deiner Erinnerung siehst und die Liebe, die deine Töchter dir entgegenbringen, in deinem Herzen spürst. Es ist vollbracht.«

Sie verließen die Stadt durch das Rauchfang-Tor, und Muuzh stand neben Bitanke und Raschgallivak und verabschiedete sie mit einem militärischen Gruß. Muuzh hatte sich bereits entschlossen, Bitanke zum Kommandanten der Stadtwache zu ernennen, und Rasch würde der Gouverneur der Stadt sein, wenn Muuzh mit seinem Heer unterwegs war. Sie zogen im Gänsemarsch an ihm vorbei, und an der winkenden, weinenden und jubelnden Menge, die sich dort versammelt hatte — drei Dutzend Kamele in ihrer Karawane, beladen mit Zelten und Vorräten, Reitern und Trockenbehältern.

Das Jubeln verklang in der Ferne. Die heiße Wüstenluft schlug auf sie ein, als sie auf die Felsebene hinabstiegen, auf der die schwarzen Überreste von Muuzh’ Täuschungsfeuern noch wie die Pockennarben einer schrecklichen Krankheit sichtbar waren. Noch immer bewahrten alle ihr Schweigen, denn Muuzh’ bewaffnete Eskorte ritt neben ihnen, um sie auf ihrem Weg zu beschützen — und dafür zu sorgen, daß keiner der zögernden Reisenden umkehrte.

So ritten sie bis zum Anbruch der Dunkelheit, als Elemak entschied, wo sie die Zelte aufschlagen würden. Die Soldaten übernahmen die Arbeit für sie, doch auf Elemaks Anweisung zeigten sie vorsichtig jenen, die noch nie ein Zelt aufgeschlagen hatten, wie es gemacht wurde. Obring und Vas und die Frauen schauten entsetzt drein bei dem Gedanken, diese Arbeit demnächst selbst tun zu müssen, doch Elemak ermutigte sie, und alles lief glatt.

Doch als die Soldaten umkehrten, salutierten sie nicht Elemak, sondern der Herrin Rasa und Luet der Wasserseherin und Huschidh der Entwirrerin — und aus Gründen, die Elemak nicht einmal ansatzweise verstand, Nafai.

Sobald die Soldaten davongeritten waren, begann der Streit.

»Mögen Käfer in eure Nasen und Ohren kriechen und eure Gehirne fressen!« schrie Mebbekew Nafai an — und Rasa und alle, die in Hörweite waren. »Warum mußtet ihr mich auf diese selbstmörderische Karawane mitnehmen?«

Schedemei war nicht weniger wütend, nur ruhiger. »Ich habe nie eingewilligt, euch zu begleiten. Ich wollte euch nur lehren, wie man die Embryos wiederbelebt. Ihr hattet kein Recht, mich zu zwingen, euch zu begleiten.«

Kokor und Sevet weinten, und Obring unterstrich Mebbekews Toben mit leiserem Grollen. Nichts, was Rasa, Huschidh oder Luet sagten, konnte sie beruhigen, und als Nafai den Mund öffnete, um etwas zu sagen, warf Mebbekew ihm Sand ins Gesicht und ließ ihn keuchend und spuckend stehen — und stumm.

Elemak sah sich das alles an, und als er dann zur Ansicht gelangt war, daß sich ihr Zorn erschöpft hatte, trat er in die Mitte der Gruppe. »Ganz gleich, was wir tun, meine geliebten Mitreisenden«, sagte er, »die Sonne ist untergegangen, und es wird bald sehr kalt werden. In die Zelte, und seid leise, damit ihr in der Nacht keine Wüstenräuber anlockt.«

Natürlich bestand keine Gefahr, von Räubern überfallen zu werden, hier, so nah bei Basilika und mit so vielen Reisenden. Außerdem vermutete Elemak, daß die Gorajni-Solda-ten ihr Lager ganz in der Nähe aufgeschlagen hatten und in wenigen Minuten bei ihnen sein konnten, um sie zu beschützen, falls dies nötig sein sollte. Und natürlich, um sie daran zu hindern, nach Basilika zurückzukehren.

Aber sie waren keine Männer der Wüste, wie Elemak einer war. Wenn ich nach Basilika zurückkehren will, sagte er stumm zu den unsichtbaren Gorajni-Soldaten, werde ich nach Basilika zurückkehren, und selbst ihr, die größten Soldaten auf der Welt, werdet mich nicht daran hindern können, werden nicht einmal wissen, daß ich mich an euch vorbeigeschlichen habe.

Dann ging Elemak zu seinem Zelt, in dem Eiadh auf ihn wartete. Sie weinte leise vor sich hin, doch schon bald vergaß sie ihre Tränen. Elemak hingegen vergaß seinen Zorn nicht. Er hatte nicht getobt wie Mebbekew, hatte nicht geheult oder gejammert oder gegrollt oder gestritten. Aber das bedeutete nicht, daß er weniger wütend war als die anderen. Doch wenn er handelte, würde sich etwas daraus ergeben.

Muuzh war vielleicht nicht imstande gewesen, gegen die Ränke und Pläne der Überseele standzuhalten, doch das bedeutet nicht, daß es mir ebenfalls unmöglich ist, dachte Elemak. Und dann schlief er ein.

Über ihnen zog langsam ein Satellit hinweg; eine Nadelspitze aus Sonnenlicht, das über den Horizont fiel, spiegelte sich auf ihm. Eins der Augen der Überseele, die alles sahen, was geschah, alles empfingen, was die Menschen dachten, die unter seinen Einflußkegel gerieten. Als einer nach dem anderen einschlief, beobachtete die Überseele ihre Träume, wartete eifrig und voller Hoffnung auf eine verborgene Nachricht vom Hüter der Erde. Doch in dieser Nacht gab es keine Visionen von haarigen Engeln, von Riesenratten, keine Träume, nur die zufälligen Zündungen dreizehn schlafender menschlicher Gehirne, bedeutungslose Geschichten, die sie vergessen würden, sobald sie erwachten.

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