5 Gatten

Der Traum der heiligen Frau

In der Sprache ihrer Heimat lautete ihr Name Torstiga, doch in diesem Land weit im Osten war sie schon so lange nicht mehr gewesen, daß sie sich nicht einmal an die Sprache ihrer Kindheit erinnerte. Ihr Onkel hatte sie in die Sklaverei verkauft, als sie sieben Jahre alt gewesen war, und man hatte sie nach Westen gebracht, nach Seggidugu, und dort wurde sie erneut verkauft. Die Sklaverei war nicht unerträglich — ihre Herrin war streng, aber nicht ungerecht, und ihr Herr hielt seine Hände bei sich. Sie wußte sehr wohl, daß es hätte viel schlimmer kommen können — doch es war nicht die Freiheit.

Sie betete ständig für die Freiheit. Sie betete zu Fackla, der Göttin ihrer Kindheit, und nichts geschah. Sie betete zu Kui, dem Gott der Seggidugu, und noch immer war sie Sklavin. Dann hörte sie Geschichten von der Überseele, der Göttin Basilikas, der Stadt der Frauen, ein Ort, an dem kein Mann Besitz erwerben und jede Frau frei war. Sie betete und betete, und eines Tages, als sie zwölf Jahre alt war, wurde sie verrückt und fiel in die Trance der Überseele.

Da viele Sklaven vorgeben, gott-verrückt zu sein, um ihre Freiheit zu erlangen, wurde Torstiga eingesperrt und mußte während ihres Wahns hungern. Sie hatte nichts gegen die Dunkelheit in der winzigen Kammer, in der man sie festhielt, denn sie sah die Visionen, die die Überseele ihr eingab. Erst, als die Visionen endeten, nahm sie ihre körperlichen Beschwerden wahr. Das vermutete zumindest ihre Herrin, denn sie rief in ihrem Gefängnis immer und immer wieder: »Durstig! Durstig! Durstig!«

Sie verstanden nicht, daß sie dieses eine Wort nicht etwa rief, weil sie trinken mußte — obwohl sie schon längst ausgetrocknet war —, sondern weil es ihr Name war, Torstiga, übersetzt in die Sprache von Basilika. Die Sprache der Überseele. Sie rief ihren eigenen Namen, weil sie sich inmitten ihrer Visionen verloren hatte; sie hoffte, daß, wenn sie ihn lange und laut genug rief, das Mädchen, das sie einmal gewesen war, ihn vielleicht hören würde, und antworten, und vielleicht zurückkehren und wieder in ihrem Körper leben würde.

Später begriff sie dann, daß ihr wahres Ich sie niemals verlassen hatte, sondern in der Verwirrung und Ekstase und dem Entsetzen ihrer ersten starken Visionen verwandelt worden war; sie würde nie wieder die Zwölfjährige sein, die sie einmal gewesen war. Als man sie aus ihrem Verschlag ließ und warnte, nie wieder so zu tun, als wäre sie gott-verrückt, stritt sie nicht mit ihnen und versuchte ihnen auch nicht zu erklären, was wirklich geschehen war. Sie trank einfach, was man ihr zu trinken gab, und aß, bis die Speisen, die man ihr vorgesetzt hatte, aufgegessen waren, und widmete sich dann wieder ihrer Arbeit.

Doch bald merkten die anderen, daß eine Sklavin ausnahmsweise einmal nicht so tat als ob. Sie sah eines Tages ihren Herren an und begann zu weinen, und niemand konnte sie trösten. Als er an diesem Nachmittag den Bau eines schönen, neuen Hauses für einen der reichsten Männer der Stadt beaufsichtigte, wurde er von einem Stein getroffen, der dem Arbeitertrupp, der ihn an Ort und Stelle einzusetzen versuchte, aus den Händen fiel. Zwei Sklaven zogen sich bei dem Unglück Knochenbrüche zu, doch Durstigs Herr fiel auf die Straße, und ein Pferd trat ihn gegen den Kopf. Er siechte einen Monat dahin, erlangte das Bewußtsein nie wieder, trank die kleinen Schlucke, die seine Frau ihm jede halbe Stunde gab, doch erbrach jede feste Nahrung, die sie seine Kehle hinab bekam. Er verhungerte buchstäblich.

»Warum hast du an diesem Tag geweint?« fragte seine Witwe.

»Weil ich sah, wie er auf die Straße fiel und von einem Pferd getreten wurde.«

»Warum hast du ihn nicht gewarnt?«

»Die Überseele hat es mir gezeigt, Herrin, doch sie hat mir verboten, es zu erzählen.«

»Dann hasse ich die Überseele!« rief die Frau. »Und ich hasse auch dich, wegen deines Schweigens!«

»Bitte bestrafe mich nicht, Herrin«, sagte Durstig. »Ich wollte es dir erzählen, aber sie hat es nicht zugelassen.«

»Nein«, sagte die Witwe. »Nein, ich werde dich nicht bestrafen, weil du getan hast, was die Göttin von dir verlangt hat.«

Nach der Beerdigung des Herren verkaufte seine Witwe die meisten Sklaven, denn sie konnte sich einen schönen Haushalt in der Stadt nicht mehr leisten und würde auf das Anwesen ihres Vaters zurückkehren müssen. Durstig verkaufte sie nicht. Statt dessen schenkte sie ihr die Freiheit.

Die Freiheit, doch sonst nichts. Und so begann Durstig ihre Zeit als Wilde, nicht, weil die Über seele sie in die Wüste getrieben hatte, sondern weil sie Hunger hatte und in jeder Stadt die anderen Bettler sie verjagten, nicht, weil das Wenige, das sie gegessen hätte, ihnen etwas genommen hätte, sondern weil sie schlank und schmächtig war und daher eins der wenigen Geschöpfe auf der Welt, die zu verjagen sie die Macht hatten.

Sie fand sich also in der Wüste wieder, aß Heuschrecken und Eidechsen und trank aus den Wasserpfützen, die man nach jedem Regensturm in den Schatten und in Höhlen fand. Nun wurde sie ihrem Namen gerecht, denn mit der Zeit wurde sie tatsächlich eine Wilde, und nicht nur, was das Aussehen und die Lebensweise betraf. Denn sie war schmutzig, und sie war nackt, und sie verhungerte in der Wüste wie jede anständige heilige Frau — doch in ihrem Herzen wütete sie gegen die Überseele, denn sie war verbittert und zornig darüber, wie die Überseele ihre Gebete beantwortet hatte. Ich habe um Freiheit gebeten, heulte sie die Überseele an. Ich habe dich nie gebeten, meinen guten Herren zu töten und meine gute Herrin in die Armut zu treiben! Ich habe dich nie gebeten, mich in die Wüste zu treiben, wo meine Haut verbrennt, wenn ich nicht genug Schweiß produziere, daß der Staub an meinem nackten Körper klebt und mich schützt. Ich habe nie um Visionen oder Prophezeiungen gebeten. Ich habe nur darum gebeten, eine freie Frau zu sein, wie meine Mutter eine war. Jetzt kann ich mich nicht einmal an ihren Namen erinnern.

Doch die Überseele war noch nicht mit ihr fertig, und so konnte sie noch keinen Frieden finden. Als sie — nach ihrem besten Wissen — erst vierzehn Jahre alt war, hatte sie einen Traum von einem Ort, der gebirgig war und doch so wuchernd vor Leben, daß selbst die steilsten Klippen noch mit üppigem Grün bedeckt waren. In ihrer Vision sah sie einen Mann, und die Überseele sagte ihr, er sei ihr wahrer Gatte. Sie gab nichts um diese Information — sie sah nur, daß dieser Mann Nahrung in der Hand hielt und daß zu seinen Füßen ein Bach floß. Also wanderte sie nach Norden, bis sie das grüne Land und den Bach fand. Sie wusch sich und trank und trank und trank. Und dann, eines Tages, als sie sauber und zufrieden war, sah sie, daß er sein Pferd zum Wasser führte.

Sie wäre beinah davongelaufen. Sie wäre fast vor dem Willen der Überseele geflohen, denn sie wollte jetzt keinen Gatten, und am Ufer des Baches gab es genug Beeren, daß sie nichts begehrte, was er ihr anzubieten hatte.

Doch er sah sie und starrte sie an. Sie bedeckte ihre Brüste mit den Händen, da sie verschwommen wußte, daß die Männer dies begehrten, daß sie dies betrachteten; sie hatte keine Erfahrung mit Männern, denn die Überseele hatte sie bislang vor Wüstenwanderern geschützt.

»Gott verbietet mir, dich zu berühren«, sagte er leise. Er sprach die Sprache Basilikas, doch mit einem Akzent, der sich sehr von dem unterschied, den man in Seggidugu sprach.

»Das ist eine Lüge«, sagte sie. »Die Überseele hat mich zu deiner Frau gemacht.«

»Ich habe keine Frau«, erwiderte er. »Und wenn ich eine hätte, würde ich kein winziges Kind wie dich nehmen.«

»Gut«, sagte sie. »Denn ich will dich auch nicht. Soll die Überseele eine alte Frau für dich suchen, wenn sie dir eine Gattin besorgen will.«

Er lachte. »Dann sind wir einer Meinung. Du hast nichts von mir zu befürchten.«

Er nahm sie mit nach Hause, kleidete sie ein und gab ihr zu essen, und zum ersten Mal in ihrem Leben war sie glücklich. Nach einem Monat hatte sie sich in ihn verliebt und er sich in sie, und er nahm sie, wie ein Mann eine Frau nimmt, doch ohne Zeremonie. Seltsam war jedoch, daß sie davon überzeugt war, die Überseele verlange von ihm, sie zu heiraten, während er davon überzeugt war, lediglich dem Willen Gottes zu trotzen, indem er sie in sein Bett holte. »Ich werde Gott trotzen, wo ich nur kann«, sagte er. »Aber ich hätte dich niemals gegen deinen Willen genommen, auch nicht, um meinem Feind zu trotzen.«

»Dann ist Gott dein Feind?« flüsterte sie.

Einen Monat lang waren sie zusammen. Dann kam der Wahnsinn über sie, und sie floh in die Wüste.

Es geschah erneut, mehrere Jahre später, doch diesmal warteten sie keinen Monat lang, und sie fand ihn auch nicht in seinem Heimatland, sondern in einem ziemlich kalten fremden Land, mit Kiefern und einer Spur von Schnee auf dem Boden, und diesmal gab es keinen Monat der Keuschheit, bevor sie als Mann und Frau zusammenlagen. Und erneut wurde sie nach einem Monat gott-verrückt und floh in die Wüste.

Beide Male empfing sie ein Kind. Beide Male sehnte sie sich danach, ihm seine Tochter zu bringen und das Baby zu seinen Füßen zu legen und ihre Rechte als Gattin zu beanspruchen. Doch die Überseele verbat es, und statt dessen brachte sie das Baby in die Stadt der Frauen, nach Basilika, in das Haus, das die Überseele ihr in einem Traum gezeigt hatte, und beide Male legte sie das Kind in die Arme einer Frau, die die Überseele fürwahr liebte.

Durstig beneidete diese Frau so sehr, denn wenn einem die Liebe der Überseele gehört, bekommt man ein Haus und Freiheit und Glück, und man ist von Töchtern und Freunden umgeben. Doch Durstig hatte nur den Haß der Überseele, und so lebte sie allein in der Wüste.

Bis vor zehn Jahren der Wahn sie dann endgültig verließ — zumindest glaubte sie das. Sie verließ die Wüste und ging ins Land Potokgavan, wo freundliche Fremde sie aufnahmen. Sie war nicht schön oder begehrenswert, doch auf seltsame Art und Weise eindrucksvoll, und ein guter, einfacher Bauer mit einem stattlichen Haus, das auf dicken Stelzen stand, bat sie, seine Frau zu werden. Sie willigte ein, und sie hatten sieben Kinder zusammen.

Aber sie konnte nie ihre Zeit als heilige Frau vergessen, als die Überseele sie haßte, und sie vergaß nie die beiden Töchter, die sie dem Fremden geschenkt hatte, der der Gatte war, den die Überseele ihr gegeben hatte. Die ältere Tochter hatte sie Huschidh genannt, was auch der Name einer Wüstenblume war, die süß roch, aber auch oft die Larven der giftigen Säbelfliege barg. Die jüngere Tochter hatte sie Luet genannt, nach der Ljuti-Pflanze, deren Blätter nach oben gerichtet waren und die eingeweicht den heiligen Tee ergaben, der den Frauen, die die Überseele verehrten, manchmal half, in Trance zu fallen und ihnen wahre Visionen zu geben. Sie dachte immer an ihre Töchter und betete jeden Morgen für sie, obwohl sie weder ihrem Mann noch ihren Kindern von den beiden Töchtern erzählte, die sie in die Hände einer anderen Frau hatte legen müssen.

Dann, eines Nachts, träumte sie erneut einen gott-verrückten Traum. Sie sah sich wieder in der Gegenwart des Gatten, den die Überseele ihr gegeben hatte, des Vaters ihrer ersten beiden Töchter. Doch nun war er älter, und sein Gesicht war schrecklich und traurig. In dem Traum ließ er seine beiden Töchter knien, die jüngere neben ihm, die ältere vor ihm, und Durstig sah, wie sie zu ihm ging, ihn an der Hand nahm und sagte: »Gatte, werde ich nun, da du Anspruch auf deine Töchter erhoben hast, vor den Augen der Menschen als auch vor der der Überseele deine Gattin sein?«

Sie haßte diesen Traum. Haßte ihn zutiefst, denn er verleugnete den Gatten, den sie jetzt hatte, und setzte die Kinder zurück, die sie mit ihm hatte. Warum hast du mich freigelassen, damit ich dieses Leben in Potokgavan führe, o grausame Überseele, falls du mich von vornherein von “ihnen fortreißen wolltest? Und wenn du wolltest, daß ich bei meinen beiden ersten Töchtern bleibe, hättest du mich von vornherein bei ihnen lassen können. Du bist zu grausam zu mir, Überseele! Ich werde dir nicht gehorchen!

Doch jede Nacht träumte sie denselben Traum. Erneut und erneut, die ganze Nacht lang, bis sie glaubte, sie würde verrückt werden. Aber sie wurde nicht verrückt.

Dann, eines Morgens, am Ende derselben unaufhörlichen Vision, kam etwas Neues in ihren Traum. Ein süßer, hoher, scharfer Ton. Und in ihrem Traum schaute sie sich um und sah ein Pelzwesen durch die Luft fliegen, und sie wußte, daß der süße, hohe Ton der Gesang dieses Engels war. Der Engel kam in dem Traum zu ihr, landete, auf ihrer Schulter und klammerte sich an sie, hüllte seine ledrigen Schwingen um sie, und sein Gesang klang in ihrem Ohr durchdringend und strahlend.

»Was soll ich tun, süßer Engel?« fragte sie ihn in dem Traum.

Zur Antwort warf sich der Engel vor ihr zu Boden und lag dort im Staub. Und als er dort lag, hilflos und bloßgestellt, die Schwingen nutzlos und verletzbar und schlaff, kamen Wesen, bei denen es sich von ihrer Größe her zuerst um Paviane zu handeln schien, doch dann erkannte sie sie an ihren Zähnen und Augen und Schnauzen als Ratten. Sie kamen zu dem Engel und rochen an ihm, und als er sich nicht bewegte oder davonflog, begannen sie an ihm zu nagen. Oh, es war wirklich schrecklich, und die ganze Zeit über betrachteten seine Augen Durstig mit einem furchtbar traurigen Blick.

Ich muß ihn retten, dachte Durstig. Ich muß diese schrecklichen Feinde verscheuchen. Doch in dem Traum konnte sie ihn nicht retten. Sie konnte sich überhaupt nicht bewegen.

Als die Pelzkreaturen schließlich abzogen, war der Engel nicht tot. Doch sie hatten ihm die Schwingen abgenagt, und an ihrer Stelle saßen nur zwei spindeldürre, zerbrechliche Arme, und kaum ein Hautbesatz unter ihnen deutete an, wo einst die Schwingen gewesen waren. Dann kniete sie neben ihm, nahm ihn in ihre Arme und weinte um ihn. Weinte und weinte und weinte.

»Mutter«, sagte ihr mittlerer Sohn. »Mutter, ich glaube, du weinst in einem Traum. Wach auf.«

Sie wachte auf.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte er. Er war ein guter Junge, und sie wollte ihn nicht allein lassen.

»Ich muß eine Reise unternehmen«, sagte sie.

»Wohin?«

»An einen fernen Ort, doch ich werde zurückkommen, falls die Überseele es zuläßt.«

»Warum mußt du gehen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Die Überseele hat mich gerufen, und ich weiß nicht, warum. Dein Vater arbeitet bereits auf den Feldern. Sage es ihm nicht, bis er zum Nachmittagsmahl nach Hause kommt. Bis dahin werde ich zu weit fort sein, als daß er mich verfolgen könnte. Sage ihm, daß ich ihn liebe und zu ihm zurückkehren werde. Wenn er mich nach meiner Rückkehr bestrafen will, werde ich mich seiner Strafe gern unterwerfen. Denn ich möchte lieber hier bei ihm sein und bei unseren Kindern, als eine Königin in irgendeinem anderen Land.«

»Mama«, sagte der Junge, »ich weiß seit einem Monat, daß du gehen wirst.«

»Woher weißt du das?« fragte sie. Und einen Augenblick lang befürchtete sie, daß auch er mit der Stimme der Überseele in seinem Herzen verflucht sein könnte.

Aber der Junge hatte keinen Gott-Wahn — sondern nur einen gesunden Menschenverstand. »Du siehst seit einem Monat nach Nordwesten, und Vater erzählt uns manchmal, daß du von dort gekommen bist. Ich dachte, du würdest gern nach Hause zurückkehren.«

»Nein«, sagte sie. »Ich möchte nicht nach Hause, denn ich bin zu Hause, genau hier. Aber diesen Botengang muß ich hinter mich bringen, und dann werde ich zu euch zurückkehren.«

»Falls die Überseele dich zurückkehren läßt.«

Sie nickte. Dann nahm sie ein kleines Bündel Vorräte und eine lederne Wasserflasche und brach zu Fuß auf.

Ich hatte nicht die Absicht, dir zu gehorchen, Überseele, sagte sie. Aber als ich diesen Engel sah, dessen Flügel weggefressen wurden, weil ich nichts unternommen habe, um ihm zu helfen, als er mich brauchte, wußte ich nicht, ob dieser Engel meine Töchter darstellt oder den Mann, der sie mir schenkte, oder vielleicht sogar dich — ich weiß nur, daß ich nicht zu Hause bleiben und zusehen kann, wie etwas Schreckliches passiert, obwohl ich nicht weiß, worum es sich bei diesem Schrecklichen handelt, oder was ich tun muß, um es zu verhindern. Ich weiß nur, daß ich dorthin gehen werde, wohin du mich führst, und wenn ich dort ankomme, werde ich versuchen, Gutes zu tun. Wenn das auch deinen Zwecken dient, Überseele, werde ich es trotzdem tun.

Aber wenn es getan ist … bitte, oh, bitte, laß mich nach Hause zurückkehren!

In Basilika, und nicht in einem Traum

Es war nun an der Zeit, sich Rasas Erlaubnis zu holen, und Elemak war keineswegs sicher, daß er sie auch bekommen würde. Im Haus wurde das Gerücht verbreitet, sie sei in einer ausgesprochen elenden Stimmung von ihrem Gespräch mit dem Gorajni-General zurückgekehrt, und niemand konnte die Tatsache übersehen, daß auf der Straße vor dem Haus Gorajni-Soldaten standen. Doch ganz gleich, was in Basilika geschehen würde, Elemak würde nicht ohne Gattin in die Wüste zurückkehren. Und da sie dazu bereit war, würde es Eiadh sein, ob nun mit oder ohne Rasas Erlaubnis. Aber besser mit ihrer Erlaubnis. Es war besser, wenn Rasa selbst die Zeremonie vornahm.

»Das ist eine ungünstige Zeit«, sagte Rasa.

»Bitte sprich nicht wie eine alte Frau, Tante Rasa«, sagte Eiadh. Ihre Stimme war so weich und süß, daß Rasa sich von dem, was nur als Ungehörigkeit aufzufasssen war, nicht beleidigt zeigte. »Vergiß nicht, daß junge Frauen nicht furchtsam sind. Wir heiraten am bereitwilligsten, wenn unsere Männer in den Krieg ziehen müssen, oder wenn die Zeiten schwer sind.«

»Du weißt nichts vom Leben in der Wüste.«

»Aber du bist gelegentlich mit Wetschik in die Wüste gezogen.«

»Zweimal, und beim zweitenmal nur, weil ich meiner Erinnerung daran zu mißtrauen begann, wie sehr ich es das erste Mal verabscheut hatte. Ich kann dir versprechen, daß du nach einer Woche in der Wüste bereit sein wirst, in Basilika als Schulddiener zu arbeiten, nur damit du zurückkehren darfst.«

»Meine Herrin Rasa«, setzte Elemak an.

»Wenn du noch einmal etwas sagst, lieber Elemak, werde ich dich aus dem Zimmer schicken«, sagte Rasa im liebenswürdigsten Tonfall. »Ich versuche, deiner Geliebten Vernunft einzubläuen. Aber du mußt dir keine Sorgen machen. Eiadh ist dermaßen erfüllt von ihrer Liebe zu deiner … zu was, deiner Kraft? Wie ich vermute, hat sie Visionen von perfekter Männlichkeit in ihrem Herzen, und du erfüllst all diese Phantasien.«

Eiadh errötete. Elemak bemühte sich, ein Lächeln zu unterdrücken. Darauf hatte er von Anfang an gehofft — daß Eiadh keinen Wert auf Wohlstand oder gesellschaftliche Stellung legte, sondern eher auf Mut und Stärke. Mit Kühnheit, nicht mit Protzerei würde er ihr Herz für sich gewinnen: Das hatte Elemak zu Anfang seines Werbens erkannt, und es hatte sich als richtig erwiesen. Rasa selbst hatte es bestätigt. Elemak hatte ein Mädchen gewählt, das ihn nicht liebte, weil er des Wetschiks Erbe war, sondern jene Tugenden hatte, die sich draußen in der Wüste am wertvollsten erweisen würden — die Eignung, die Befehlsgewalt zu übernehmen und schnelle, kühne Entscheidungen zu treffen; seine körperliche Ausdauer; seine Kenntnisse über das Leben in der Wüste.

»Welche Träume auch immer sie in ihrem Herzen hat«, sagte Elemak, »ich werde mein Bestes geben, sie zu verwirklichen.«

»Sei vorsichtig mit dem, was du versprichst«, sagte Rasa. »Eiadh ist durchaus imstande, einem Mann mit ihrer Hingabe das Leben auszusaugen.«

»Tante Rasa!« sagte Eiadh ehrlich entsetzt.

»Herrin Rasa«, sagte Elemak, »mir ist unbegreiflich, welche grausame Absicht dich dazu treibt, so etwas über diese Frau zu sagen.«

»Verzeih mir«, sagte Rasa. Sie wirkte aufrichtig betroffen. »Ich dachte, ihr würdet meine Worte als Hänselei verstehen, doch mir fehlt im Augenblick der Sinn für die dazu nötige Leichtigkeit, und so wurde eine Beleidigung daraus. Das war nicht meine Absicht.«

»Herrin Rasa«, sagte Elemak, »alles ist vergeben, wenn Soldaten der Naßköppe auf der Straße vor deinem Haus stehen und Wache halten.«

»Glaubt ihr, das würde mich interessieren?« sagte Rasa. »Wenn ich eine Entwirrerin und eine Wasserseherin in meinem Haus habe? Die Soldaten sind unbedeutend. Um meine Stadt habe ich Angst.«

»Die Soldaten sind nicht unbedeutend«, sagte Elemak. »Man hat mir erzählt, wie Huschidh die Soldaten des armen Raschgallivak von ihrer Treue für ihn entbunden hat, doch du darfst nicht vergessen, daß Raschgallivak ein schwacher Mann war, der gerade erst die Stellung meines Bruders angetreten hatte.«

»Und auch die deines Vaters«, sagte Rasa.

»Beide hat er an sich gerissen«, sagte Elemak. »Und die Soldaten, die Schuja von ihm gelöst hat, waren Söldner. Von Muuzh jedoch heißt es, er sei der größte General seit tausend Jahren, und seine Soldaten würden ihn über jede Vernunft hinaus lieben und ihm vertrauen. Schuja wird feststellen, daß es nicht einfach sein wird, diese Bande zu lösen.«

»Bist du plötzlich ein Experte für die Gorajni?«

»Ich bin Experte dafür, wie Männer einen starken Führer lieben und ihm vertrauen«, sagte Elemak. »Ich weiß, welche Gefühle die Männer meiner Karawanen mir entgegengebracht haben. Fürwahr, sie wußten, daß ich sie bezahlen würde. Aber sie wußten auch, daß ich ihr Leben nicht unnötig aufs Spiel setzen würde und sie ihr Geld auch nach dem Ende der Reise ausgeben können, wenn sie mir in allen Belangen folgen. Ich habe meine Männer geliebt, und sie haben mich geliebt, doch wie ich von General Muuzh gehört habe, lieben seine Soldaten ihn noch zehnmal mehr. Er hat sie zum stärksten Heer der Westküste gemacht.«

»Und zu den Herren über Basilika, ohne daß auch nur einer von ihnen getötet worden ist«, sagte Rasa.

»Er hat Basilika noch nicht unterworfen«, sagte Elemak. »Und mit dir zur Feindin, Herrin Rasa, weiß ich nicht, ob ihm das jemals gelingen wird.«

Rasa lachte verbittert auf. »Oh, in der Tat, mich hat er als Bedrohung von Anfang an ausgeschaltet.«

»Was ist mit unserer Ehe?« fragte Eiadh. »Wir sind doch zusammengekommen, um darüber zu sprechen, nicht wahr?«

Rasa betrachtete sie … ja, wie, mitleidig? Ja, dachte Elemak. Sie hat keine sehr hohe Meinung von dieser ihrer Nichte. Diese Bemerkung, die sie fallen ließ, diese Beleidigung war nicht als Scherz beabsichtigt gewesen. Mit ihrer Verehrung einem Mann das Leben aussaugen — was hatte das zu bedeuten? Mache ich einen Fehler? Ich wollte nur dafür sorgen, daß Eiadh mich begehrt; ich habe mich niemals gefragt, ob auch ich sie begehre.

»Ja, meine Liebe«, sagte Rasa. »Du darfst diesen Mann heiraten. Du darfst ihn zu deinem ersten Gatten nehmen.«

»Eigentlich«, sagte Elemak, »ging es uns nicht um deine Erlaubnis, denn sie ist ja volljährig.«

»Und ich werde die Zeremonie vornehmen«, sagte Rasa müde. »Aber sie wird aus offensichtlichen Gründen in diesem Haus stattfinden müssen, und die Gästeliste wird sich auf jene Personen beschränken müssen, die sich zur Zeit in diesem Gebäude aufhalten. Und wir alle müssen beten, daß Gorajni-Soldaten nicht uneingeladen an der Zeremonie teilnehmen werden.«

»Wann?« fragte Eiadh.

»Heute abend«, sagte Rasa. »Das ist doch früh genug, nicht wahr? Oder juckt euch eure Kleidung so stark, daß ihr sie schon zum Mittag ablegen wollt?«

Schon wieder eine unerträgliche Beleidigung, und doch schien Rasa einfach nicht zu merken, daß sie grausam war. Statt dessen erhob sie sich und schritt aus dem Zimmer, ließ Eiadh rot angelaufen und wütend auf der Bank zurück, auf der sie saß.

»Nein, meine Edhja«, sagte Elemak. »Sei nicht wütend. Deine Tante Rasa hat heute viel verloren, und da kann man verstehen, daß sie bei dem Gedanken, auch dich zu verlieren, etwas gemein wird.«

»Es klingt ganz so, als wäre sie froh, mich loszuwerden, so sehr muß sie mich hassen«, sagte Eiadh. Und eine Träne glitt aus ihrem Auge und fiel, einen Moment lang in der Luft funkelnd, auf ihren Schoß.

Da nahm Elemak sie in die Arme und hielt sie fest, und sie drückte sich an ihn, als wolle sie auf ewig ein Teil von ihm werden. Das ist Liebe, dachte er. Das ist jene Liebe, von der Lieder und Geschichten erzählen. Sie wird mir in die Wüste folgen, und mit ihr an meiner Seite werde ich einen Stamm gründen, ein Königreich, dessen Königin sie sein wird. Denn was auch immer dieser General Muuzh vollbringen kann, kann auch ich vollbringen. Ich bin ein besserer Gatte, als jeder Naßkopp es jemals sein könnte. Eiadh sehnt sich nach einem überlegenen Mann. Ich bin dieser Mann.

Bitanke war nicht glücklich über das, was in den letzten paar Tagen in Basilika geschehen war. Besonders, da er das Gefühl nicht loswurde, alles könne vielleicht seine Schuld sein. Nicht, daß er in diesen Augenblicken am Tor eine große Wahl gehabt hätte. Seine Männer hatten tapfer gekämpft, doch es waren nur so wenige, und der Mob der Palwaschantu-Söldner hätte den Sieg davongetragen. Welche Hoffnung hätte er gehabt, wenn er es auch noch mit den Gorajni-Soldaten hätte aufnehmen müssen, die aus dem Nichts kamen und ihm ihre Unterstützung versprachen?

Ich hätte mich an die Palwaschantu-Söldner wenden und sie bitten können, sich mit mir gegen die Gorajni zusammenzuschließen — vielleicht hätte es geklappt. Doch damals hatte der Gorajni-General so aufrichtig gewirkt. Und da waren diese vielen Lichter der Lagerfeuer in der Wüste gewesen. Ich hatte geglaubt, einem Herr von hunderttausend Mann gegenüberzustehen. Wie hätte ich wissen können, daß ihre gesamte Streitmacht vor dem Tor stand? Und selbst dann hätten wir nicht gegen sie bestehen können.

Aber wir hätten kämpfen können. Wir hätten sie Soldaten und Zeit kosten können. Wir hätten andere Wachen alarmieren und die Stadt warnen können. Ich hätte dort sterben können, mit einem Gorajni-Pfeil im Herzen, statt zu überleben und mitanzusehen, wie sie meine Stadt, meine geliebte Stadt, erobert haben, ohne daß auch nur einer von ihnen eine Verletzung erlitt, die so ernsthaft wäre, daß er nicht mehr kühn dorthin stolzieren kann, wohin es ihm beliebt.

Und doch empfand Bitanke selbst jetzt, da er zu einem weiteren Gespräch mit General Muuzh gerufen wurde, unwillkürlich Bewunderung für diesen Mann, seine Kühnheit, seinen Mut, seine Brillanz. In so kurzer Zeit so weit marschiert zu sein, mit so wenigen Männern eine Stadt genommen zu haben und sich selbst jetzt noch durchzusetzen, wo die Zahl der Stadtwachen die seiner Männer doch bei weitem überstieg. Wer konnte sagen, ob Basilika mit Muuzh als Hüter nicht besser dran war? Besser als unter dem Schwein Gaballufix oder dem verachtenswerten Raschgallivak. Besser sogar als unter Roptat. Und besser als unter den Frauen, die sich als schwach und töricht erwiesen hatten, indem sie Muuzh’ offensichtlichen Lügen über die Herrin Rasa Glauben schenkten.

Sahen sie nicht, wie Muuzh sie manipulierte, Zwietracht unter ihnen säte und sie dazu brachte, die einzige Frau zu ignorieren, die sie zu wirksamem Widerstand hätte führen können? Nein, natürlich sahen sie es nicht — genausowenig, wie Bitanke es an jenem ersten Abend hatte sehen können, als der Fremde aus dem Volk der Gorajni ihm nicht etwa geholfen hatte, sondern ihn unter Kontrolle gebracht und verführt hatte, seine Stadt zu verraten, ohne es überhaupt zu bemerken.

Wenn ein kluger Mann erscheint, stehen wir alle als Narren da.

»Mein lieber Freund«, sagte General Muuzh.

Bitanke schüttelte die angebotene Hand nicht.

»Ah, du bist wütend auf mich«, sagte Muuzh.

»Du bist mit dem Brief der Herrin Rasa hergekommen, und jetzt hast du sie unter Arrest gestellt.«

»Ist sie dir so teuer?« fragte Muuzh. »Ich versichere dir, ihr Hausarrest ist nur befristet und dient einzig und allein zu ihrem Schutz. Derzeit werden in der Stadt schreckliche Lügen über sie verbreitet, und wer kann schon sagen, was ihr zustoßen könnte, wenn ihr Haus nicht abgeriegelt wäre?«

»Lügen, die du erfunden hast.«

»Über meine Lippen ist nie ein Ton gekommen, der nicht meine große Bewunderung für Herrin Rasa zum Ausdruck gebracht hat. Sie ist die Beste der Frauen dieser Stadt und hat den Verstand und Mut eines Mannes. Ich werde niemals dulden, daß ihr auch nur ein Haar gekrümmt wird. Wenn du das nicht von mir weißt, Bitanke, mein Freund, weißt du überhaupt nichts über mich.«

Was fast uneingeschränkt der Wahrheit entspricht, dachte Bitanke. Ich weiß nichts über dich. Niemand weiß etwas über dich.

»Warum hast du mich rufen lassen?« fragte Bitanke. »Willst du der Stadtwache Basilikas noch mehr Macht nehmen? Oder hast du eine abscheuliche Aufgabe für uns, die uns zusätzlich erniedrigen und demoralisieren wird?«

»So wütend«, sagte Muuzh. »Aber denke einmal nach, Bitanke. Du schreckst nicht davor zurück, so etwas zu mir zu sagen, und befürchtest auch nicht, daß ich dir den Kopf abschlage. Kommt dir das vor wie Tyrannei? Deine Soldaten haben ihre Waffen behalten und bewahren nun den Frieden in dieser Stadt — klingt das danach, als wäre ich ein verräterischer Feind?«

Bitanke sagte nichts, war entschlossen, sich nicht wieder von Muuzh’ glatten Worten einnehmen zu lassen. Und doch fühlte er einen Stich des Zweifels in seinem Herzen, wie schon so oft zuvor. Muuzh hatte die Stadtwache nicht in ihren Rechten beschränkt. Er hatte keine Gewalt gegen irgendwelche Bürgerinnen ausgeübt. Vielleicht wollte er Basilika nur als Stützpunkt benutzen und dann weiterziehen.

»Bitanke, ich brauche deine Hilfe. Ich will diese Stadt zu jener ehemaligen Stärke führen, die sie hatte, bevor Gaballufix sich einmischte.«

O ja, ich bin sicher, mehr willst du nicht — Muuzh der Altruist, der all dies auf sich nimmt, um der Stadt der Frauen zu helfen. Danach wirst du mit deinen Männern davonmarschieren, belohnt durch ein strahlendes Glühen im Herzen, weil du weißt, daß du so viel Glück zurückläßt.

Aber Bitanke sagte nichts. Zu solch einer Zeit hörte man lieber zu, als etwas zu sagen.

»Ich will nicht abstreiten, daß ich die Dinge hier zu meinem Vorteil wenden will. Es steht ein großer Kampf zwischen den Gorajni und den elenden Pfützenschwimmern von Potokgavan bevor. Wir wissen, daß sie die Herrschaft über Basilika an sich reißen wollten — Gaballufix war ihr Mann. Er wollte die Stadt der Frauen unterwerfen und durch seine Schläger herrschen. Und nun bin ich mit meinen Soldaten hier. Habe ich oder haben meine Männer jemals etwas getan, das Anlaß zu der Vermutung gibt, unsere Absichten wären so ruchlos oder brutal wie die des Gaballufix?«

Muuzh wartete, und schließlich antwortete Bitanke. »Nein, so offensichtlich seid ihr nicht vorgegangen.«

»Ich will dir sagen, was ich von Basilika brauche. Ich muß mich darauf verlassen können, daß die, die hier herrschen, Freunde der Gorajni sind, daß ich mit Basilika in meinem Rücken keinen Verrat von dieser Stadt befürchten muß. Dann kann ich Nachschublinien durch die Wüste zu diesem Ort errichten und damit die Nakavalnu und Izmennik und Seggidugu vollständig umgehen. Du weißt, daß dies eine gute Strategie ist, mein Freund. Potokgavan rechnet damit, daß wir uns den Weg nach Süden, zu den Städten der Ebene, freikämpfen müssen; sie haben darauf gezählt, mindestens ein Jahr, vielleicht sogar mehrere, zu haben, um ihre Position hier zu stärken — und vielleicht ein Heer hierher zu bringen, das gegen unsere Streitwagen bestehen kann. Doch nun werden wir die Städte der Ebene beherrschen — wenn mein Heer in Basilika steht, wird niemand Widerstand leisten. Und dann werden Nakavalnu und Izmennik und Seggidugu nicht wagen, ein Bündnis mit Potokgavan einzugehen. Ohne Eroberungen, ohne Krieg werden wir die gesamte Westküste für den Imperator sichern können, Jahre, bevor Potokgavan dies für möglich gehalten hätte. Das will ich. Das ist alles, was ich will. Und um das zu erreichen, muß ich Basilika nicht brechen, muß ich euch nicht wie ein unterworfenes Volk behandeln. Ich muß nur sicher sein können, daß Basilika treu zu mir steht. Und dieses Ziel läßt sich besser durch Liebe als durch Furcht erreichen.«

»Liebe!« sagte Bitanke höhnisch.

»Bislang«, sagte Muuzh, »mußte ich nichts tun, daß von den Bürgerinnen Basilikas nicht dankbar hingenommen wurde. Hier herrscht jetzt mehr Friede und Sicherheit als in den letzten Jahren. Glaubst du, sie wüßten das nicht?«

»Und glaubst du, die schlechteren Männer aus der Hundestadt und der Torstadt und der Hohen Straße hofften nicht darauf, daß du sie in die Stadt kommen und hier herrschen läßt? Dann hättest du deine treuen Bundesgenossen — wenn du ihnen gibst, was Gaballufix ihnen versprochen hat, die Gelegenheit, diese Frauen zu beherrschen, die sie seit Jahrtausenden von den Bürgerrechten ausgeschlossen haben.«

»Ja«, sagte Muuzh. »Das hätte ich tun können. Ich könnte es noch immer tun.« Er beugte sich über den Tisch vor und sah Bitanke in die Augen. »Aber du wirst mir doch helfen, nicht wahr, damit ich so etwas Schreckliches nicht tun muß?«

Ah. Das war also die Wahl, die man ihm ließ. Entweder, sich mit Muuzh zu verschwören, oder die Vernichtung der Struktur Basilikas mitanzusehen. Alles, was in dieser Stadt schön und heilig war, diente nun als Faustpfand; Muuzh drohte, es den habsüchtigen Männern außerhalb der Stadtmauern zu überlassen. Hatte Bitanke nicht miterlebt, wie furchtbar das gewesen war? Wie konnte er zulassen, daß es noch einmal geschah?

»Was willst du von mir?«

»Hilfe«, sagte Muuzh. »Beratung. Der Stadtrat ist kein zuverlässiges Kontrollinstrument mehr. Er kann Gesetze erlassen, die örtliche Angelegenheiten regeln, doch wer kann schon sagen, daß sich nicht innerhalb einer Woche eine Fraktion bildet, die mit meinem Ziel nicht einverstanden ist, ein festes Bündnis mit dem Heer des Imperators zu schließen? Also muß ich eine einzelne Person als … als was? … einsetzen.«

»Als Diktator?«

»Keineswegs. Diese Person wäre lediglich das Antlitz, das Basilika der Außenwelt zeigt. Er, sie — wer immer es ist — wird das Versprechen geben können, daß Gorajni-Heere hier durchmarschieren dürfen, daß Vorräte hier gelagert und die Potokgavan hier keine Freunde oder Verbündete finden werden können.«

»Das kann der Stadtrat garantieren.«

»Du weißt es besser.«

»Der Rat wird sein Wort halten.«

»Du hast doch noch am heutigen Tag gesehen, wie verräterisch und unfair er gegenüber der Herrin Rasa war, die ihm ihr ganzes Leben lang treu gedient hat. Wie wird er sich dann mit einem Fremden befassen? Das Leben meiner Männer, die Macht des Imperators, das alles wird von der Loyalität Basilikas abhängen — und dieser Stadtrat hat unter Beweis gestellt, daß er nicht einmal seiner würdigsten Schwester gegenüber loyal ist.«

»Du hast diese Gerüchte über sie in die Welt gesetzt«, sagte Bitanke, »und nun benutzt du sie, um mir zu zeigen, wie unwürdig der Rat ist?«

»Ich streite vor Gott ab, daß ich die Herrin Rasa in irgendeiner Hinsicht verleumdet habe — ich bewundere sie mehr als jede andere Frau, der ich je begegnet bin. Doch es spielt keine Rolle, wer das Gerücht in die Welt gesetzt hat, Bitanke, wichtig ist nur, daß man ihm Glauben geschenkt hat. Der Stadtrat hat diesem Gerücht geglaubt, und das zeigt mir, daß ich ihm das Leben meiner Männer nicht anvertrauen kann. Wer soll Potokgavan davon abhalten, eigene Gerüchte in die Welt zu setzen? Sag mir ehrlich, Bitanke, wenn du an meiner Stelle wärest und meine Verantwortung tragen müßtest … würdest du diesem Stadtrat vertrauen?«

»Ich habe diesem Rat mein ganzes Leben lang gedient, Herr, und ich vertraue ihm«, sagte Bitanke.

»Das habe ich dich nicht gefragt«, sagte Muuzh. »Ich bin hier, um dem Imperator zu dienen. Traditionsgemäß schlachten wir die herrschende Klasse des Landes ab, das wir erobert haben, und ersetzen sie durch Männer, deren Volk seit langem von den Besiegten unterdrückt wurde. Weil ich diese Stadt liebe, möchte ich hier eine andere Möglichkeit finden. Aber dabei gehe ich ein großes Risiko ein.«

»Du hast nur eintausend Mann«, sagte Bitanke. »Du willst Basilika ohne Blutvergießen unterwerfen, weil du dir keine Verluste leisten kannst.«

»Du siehst nur die halbe Wahrheit«, sagte Muuzh. »Ich muß hier siegen. Wenn es ohne Blutvergießen vonstatten geht, werden die Städte der Ebene sagen, daß die Macht Gottes mit mir ist, und werden sich meinen Befehlen unterwerfen. Aber ich kann dieses Ziel auch mit Schrecken erreichen. Wenn ich die Führer dieser Städte hierher bringen lasse, und sie sehen, daß diese Stadt in Schutt und Asche liegt, Häuser und Wälder niedergebrannt, und der See der Frauen mit Blut gefüllt ist, werden sie sich ebenfalls unterwerfen. So oder so, Basilika wird meinen Zwecken dienen.«

»Du bist fürwahr ein Ungeheuer«, sagte Bitanke. »Du sprichst von Sakrilegen und einem Gemetzel an Unschuldigen, und dann bittest du mich, dir zu vertrauen.«

»Ich spreche von Notwendigkeiten«, sagte Muuzh, »und bitte dich, mir zu helfen, damit ich kein Ungeheuer sein muß. Du hast einem höheren Zweck gedient — dem Willen des Rates. Manchmal hast du in seinem Namen etwas getan, das du lieber nicht getan hättest, wenn es nach dir gegangen wäre. Ist dem nicht so?«

»Das bedeutet es, Soldat zu sein«, sagte Bitanke.

»Ich bin ebenfalls Soldat«, sagte Muuzh. »Ich muß ebenfalls einem höheren Zweck dienen, dem Willen meines Herren, des Imperators. Und so werde ich sogar ein Ungeheuer sein, wenn es sich nicht vermeiden läßt, um diesen Zweck zu erreichen. Wie du Männer und Frauen verhaften mußtest, die du für unschuldig gehalten hast.«

»Eine Verhaftung ist kein Gemetzel.«

»Bitanke, mein Freund, ich hoffe weiterhin, daß du dich als der Mann erweisen wirst, für den ich dich gehalten habe, als ich dich zum erstenmal sah, damals, als du tapfer am Tor gekämpft hast. Ich habe an diesem Abend angenommen, daß du nicht für irgendeine Einrichtung gekämpft hast, nicht für diesen schwachen Stadtrat, der alle Gerüchte glaubt, die in der Stadt verbreitet werden, sondern für etwas Höheres. Für die Stadt selbst. Für den Begriff der Stadt. Warst du nicht bereit, am Tor dafür zu sterben?«

»Ja«, sagte Bitanke.

»Jetzt biete ich dir die Gelegenheit, der Stadt erneut zu dienen. Du weißt, daß Basilika eine große Stadt war, schon lange, bevor es einen Rat gab. Damals, als Basilika von den Priesterinnen beherrscht wurde. Schon damals war die Stadt Basilika. Und sie war auch Basilika, als sie von einer Königin beherrscht wurde. Und als die Stadt dem großen General Snakietel das Kommando über ihr Heer gab und er die Seggidugu-Krieger zurückschlug und danach das Wasser aus dem See der Frauen trinken durfte, war sie auch schon Basilika.«

Gegen seinen Willen sah Bitanke ein, daß Muuzh recht hatte. Die Stadt der Frauen war nicht der Rat. Die Regierungsform hatte sich schon oft geändert und würde sich auch weiterhin ändern. Wichtig war nur, daß Basilika die heilige Stadt der Frauen blieb, jener eine Ort auf dem Planeten Harmonie, wo die Frauen herrschten. Und wenn Basilika sich für kurze Zeit den Gorajni unterwerfen mußte, weil große Ereignisse über die Westküste hinwegzogen, spielte es auch keine Rolle — solange die Herrschaft der Frauen innerhalb dieser Mauern bestehen blieb.

»Während du nachdenkst«, sagte Muuzh, »denke auch darüber nach. Ich hätte versuchen können, dir Angst einzujagen. Ich hätte dich belügen, versuchen können, dir einzureden, ich sei etwas anderes als der kühl überlegende General, der ich bin. Statt dessen habe ich als Freund zu dir gesprochen, offen und frei, denn ich möchte deine bereitwillige Hilfe, nicht deinen bloßen Gehorsam.«

»Meine Hilfe wobei?« fragte Bitanke. »Ich werde den Rat nicht verhaften, falls du darauf hoffst.«

»Ihn verhaften! Hast du mich denn überhaupt nicht verstanden? Der Rat muß bestehen bleiben — kein einziges seiner Mitglieder darf ausgetauscht werden! Die Bürgerinnen Basilikas sollen sehen, daß ihre Selbstverwaltung unverändert bestehen bleibt. Aber ich brauche auch einen Konsul des Volkes, jemanden, der über dem Rat steht und die äußeren Angelegenheiten Basilikas regelt. Der eine Allianz mit uns eingeht, die Bestand haben wird. Der die Wachen an den Stadttoren kommandiert.«

»Das haben deine Männer bereits übernommen.«

»Aber ich will, daß deine Männer es tun.«

»Ich bin nicht der Befehlshaber der Wache.«

»Du bist einer ihrer führenden Offiziere«, sagte Muuzh. »Ich möchte, daß du ihr Befehlshaber wirst, denn du bist ein besserer Soldat als irgendeiner der Männer, die im Rang über dir stehen. Doch hätte ich dir das Amt des Kommandanten versprochen, würdest du glauben, ich wolle dich bestechen, und du würdest mich zurückweisen und dieses Haus als mein Feind verlassen.«

Bitanke verspürte eine gewaltige Erleichterung. Muuzh wußte also, daß Bitanke kein Verräter war. Daß Bitanke niemals aus reinem Eigennutz handeln würde, sondern nur zum Wohl der Stadt.

»Die Männer der Wache werden nicht bereit sein«, sagte Bitanke, »Befehle von einem anderen als ihrem Kommandanten entgegenzunehmen, der vom Stadtrat erkannt worden ist.«

»Aber stell dir einmal vor, der Rat würde jemanden einstimmig zum Konsul der Stadt ernennen und die Wache bitten, diesem Konsul zu gehorchen.«

»Das wäre bedeutungslos, wenn die Wache diesen Konsul lediglich für eine Puppe der Gorajni hielte. Die Wächter sind nicht dumm, und wir sind auch keine Verräter.«

»So. Du verstehst also mein Dilemma. Ich muß jemanden haben, der die Notwendigkeit einsieht, daß Basilika dem Imperator gegenüber loyal bleibt, doch dieser Konsul wird nur vernünftige Arbeit leisten können, wenn die Bürgerinnen Basilikas einsehen, daß er — oder sie — der Stadt treu ergeben und kein bloßer Strohmann ist.«

Bitanke lachte. »Hoffentlich nimmst du keinen Augenblick lang an, daß ich dieser Konsul sein könnte. Schon genug Leute flüstern, ich müsse deine Marionette sein, weil ich dich überhaupt in die Stadt gelassen habe.«

»Ich weiß«, sagte Muuzh. »Zuerst habe ich an dich gedacht, doch dann wurde mir klar, daß du Basilika — und auch meinen Zwecken — nur dienen kannst, wenn du bleibst, wo du bist, und keinen ersichtlichen Vorteil durch meinen Einfluß in der Stadt gewinnst.«

»Warum bin ich dann hier?«

»Um mich zu beraten, wie ich es dir schon erklärt habe. Du sollst mir sagen, wem in dieser Stadt, würde er — oder sie — zum Konsul ernannt werden, die Wache und die Stadt als Ganzes folgen und gehorchen würden.«

»Solch ein Wesen gibt es nicht.«

»Wenn du dies sagst, könntest du mich genausogut auffordern, das Blut und die Asche der Stadt in den See der Frauen zu schütten.«

»Drohe mir nicht!«

»Ich drohe dir nicht, Bitanke, ich sage dir lediglich, was ich zuvor getan habe und was ich nicht wieder tun möchte. Ich bitte dich, mir zu helfen, diese schreckliche Lösung zu verhindern.«

»Laß mich nachdenken.«

»Um mehr bitte ich dich nicht.«

»Laß mich morgen zu dir kommen.«

»Ich muß heute handeln.«

»Gib mir eine Stunde.«

»Kannst du hier nachdenken? Kannst du nachdenken, ohne das Haus zu verlassen?«

»Dann stehe ich unter Arrest?«

»Dieses Haus wird von tausend Augen beobachtet, mein Freund. Wenn man sieht, daß du gehst und eine Stunde später zurückkehrst, wird es heißen, daß du General Vozmuzhalnoi Vozmozhno zu viele Besuche abstattest. Aber wenn du gehen möchtest, darfst du gehen.«

»Ich bleibe.«

»Dann lasse ich dich zur Bibliothek führen und dir einen Computer geben, auf dem du schreiben kannst. Es wird dir beim Nachdenken helfen, wenn du die Namen und die Gründe aufschreibst, weshalb sie für diese Aufgabe geeignet wären oder weshalb nicht. Komme in einer Stunde mit deiner Namensliste zu mir zurück.«

»Für Basilika tue ich das, nicht für dich.« Und nicht, weil ich einen Vorteil davon hätte.

»Für Basilika bitte ich dich darum«, sagte Muuzh. »Obwohl meine erste Treuepflicht dem Imperator gehört, hoffe ich, diese Stadt vor der Zerstörung bewahren zu können.«

Das Gespräch war beendet. Bitanke verließ den Raum und wurde augenblicklich von einem Gorajni-Soldaten zur Bibliothek eskortiert. Muuzh hatte nichts zu diesem Soldaten gesagt, und doch wußte er, wohin er ihn zu bringen hatte. Wußte er, daß er ihm einen Computer zur Verfügung stellen mußte. Entweder bedeutete dies, daß der General seine Offiziere bei seinen Verhandlungen zuhören ließ, was fast undenkbar war, oder es bedeutete, daß Muuzh diese Befehle gegeben hatte, noch bevor Bitanke eingetroffen war.

War es möglich, daß Muuzh alles geplant hatte, jedes einzelne Wort, das sie gewechselt hatten? War es möglich, daß Muuzh die Kunst der Manipulation derart perfekt beherrschte, daß er den Ausgang dieses Gesprächs im voraus gekannt hatte? In diesem Fall wäre Bitanke wohl nur ein weiterer Narr, der seine Stadt verriet, weil man ihn dazu gebracht hatte, alles zu glauben, was Muuzh sagte.

Nein, das war es ganz und gar nicht. Muuzh hat einfach darauf vertraut, mich überzeugen zu können, klug und zum Besten Basilikas vorzugehen. Und deshalb werde ich Kandidaten für ihn suchen, falls es möglich ist, mir jemanden vorzustellen, der als Konsul dienen könnte, weil die Gorajni es so wollen, und dem trotzdem das Volk, der Rat und die Wache treu ergeben sind. Falls es möglich ist, werde ich dem General solch einen Namen nennen.

»Ich muß mit meinen Kindern sprechen«, sagte Rasa. »Mit ihnen allen.«

Luet musterte sie einen Augenblick lang und wußte nicht, was sie tun sollte. So verhielt sich vielleicht eine Herrin gegenüber ihren Dienstboten: sie gab Befehle, ohne daß es diesen Anschein hatte. Doch Luet war kein Dienstmädchen in diesem Haus, war nie eins gewesen, und deshalb erwartete man von ihr, solche Äußerungen von Wünschen zu ignorieren. Doch Rasa schien nicht zu begreifen, daß sie wie zu einem Dienstmädchen gesprochen hatte, während doch gar keins anwesend war. »Herrin«, sagte sie, »schickst du mich auf diesen Botengang?«

Rasa sah sie fast überrascht an. »Es tut mir leid, Luet. Ich vergaß, wer bei mir ist. Ich habe nicht meinen besten Tag. Würdest du bitte meine Kinder und die meines Mannes suchen und ihnen sagen, daß ich sie jetzt sprechen möchte?«

Nun war es ein Ersuchen, eine Bitte, die sie ihr persönlich gestellt hatte, und so verbeugte Luet sich natürlich und ging, um das Personal zu bitten, ihr zu helfen. Nicht, daß Luet die Aufgabe nicht bereitwillig persönlich ausgeführt hätte, aber Rasas Haus war groß, und wenn Rasas Bitte dringend war — wie es den Anschein hatte —, machten sich besser mehrere Leute auf die Suche. Außerdem würde das Personal wahrscheinlich sowieso wissen, wo die Gesuchten sich aufhielten.

Es war kein Problem, herauszufinden, wo sich Nafai, Elemak, Sevet und Kokor aufhielten, und Dienstboten auszuschicken, sie zu holen. Mebbekew jedoch hatte man seit einigen Stunden nicht mehr gesehen, nicht mehr, seitdem er das Haus betreten hatte. Schließlich erwähnte Izdavat, ein junges Dienstmädchen, dessen Eifer größer war als sein Verstand, zögernd, es habe Mebbekews Frühstück in Dols Zimmer gebracht. »Aber das war schon vor geraumer Zeit, Herrin.«

»Ich bin nur Schwester oder Luet, bitte.«

»Soll ich nachsehen, ob er noch dort ist, Schwester?«

»Nein, danke«, sagte Luet. »Es wäre unschicklich für ihn, sich noch dort aufzuhalten, und deshalb werde ich Dolja fragen, wo er ist.«

Luet war nicht überrascht, daß es Mebbekew bereits gelungen war, eine Frau für sich einzunehmen, selbst in diesem Haus, in dem man die Frauen lehrte, oberflächliche Männer zu durchschauen. Doch es überraschte sie wirklich, daß Dolja dem Jungen ein gemütliches Nest bot. In ihrer Zeit beim Theater war sie von zahlreichen erfahrenen Schmeichlern und Speichelleckern bearbeitet worden; sie hätte Mebbekew nicht die geringste Beachtung schenken sollen, außer, um insgeheim über ihn zu lachen.

Andererseits jedoch wußte Luet ganz genau, daß sie Schmeicheleien leichter durchschaute als die meisten Frauen, denn die Schmeichler versuchten niemals ernsthaft, sie mit ihrer verführerischen Magie zu umgarnen. Wasserseherinnen standen im Ruf, Lügen zu durchschauen — doch um die Wahrheit zu sagen, konnte Luet nur sehen, was die Überseele ihr zeigte, und die Überseele war nicht gerade bekannt dafür, einer Tochter bei derem Liebesleben zu helfen. Als ob ich ein Liebesleben hätte, dachte Luet. Als ob ich eins brauchte. Die Überseele hat mir meinen Weg gezeigt. Und wo mein Weg das Leben anderer Menschen berührt, wird die Überseele ihnen ihren Willen kundtun. Darauf vertraue ich. Mein Gatte wird mich als seine Ehefrau entdecken, wenn die Überseele es für richtig hält. Und damit bin ich zufrieden.

Zufrieden … sie hätte fast über sich gelacht. All meine Träume sind mit diesem Jungen verknüpft, wir standen gemeinsam auf der Schwelle des Todes, und doch verzehrt er sich in seiner Sehnsucht nach Eiadh. Besteht das Leben eines Mannes lediglich aus den Absonderungen überaktiver Drüsen? Können sie die Welt, die sie umgibt, nicht analysieren und verstehen, wie die Frauen es tun? Kann Nafai nicht einsehen, daß Eiadhs Liebe so beständig sein wird wie Regen, daß sie verdunsten wird, sobald der Sturm vorbeigezogen ist? Edhja braucht einen Mann wie Elemak, der ihr streunendes Herz nicht dulden wird. Während Nafais Herz wegen ihrer Untreue brechen würde, wäre Elemak brutal wütend, und Eiadh, das arme, törichte Geschöpf, würde sich nur wieder von vorn in ihn verlieben.

Nicht, daß Luet das alles selbst gesehen hätte. Huschidh nahm all diese Zusammenhänge wahr, all diese Fäden, die die Menschen verbanden; Huschidh hatte ihr erklärt, daß Nafai keine Notiz von Luet nahm, weil er so verliebt in Eiadh war. Und Huschidh hatte auch die Verbindung zwischen Elemalk und Eiadh gesehen und verstanden, wieso sie so gut zueinander paßten.

Und nun Mebbekew und Dol. Nun, das war ein weiteres Teil des Puzzles, nicht wahr? Als Luet ihre Vision von den Frauen im Wald hinter Rasas Haus gehabt hatte, in jener Nacht, als sie zurückgekehrt war, nachdem sie Wetschik gewarnt hatte, daß sein Leben in Gefahr war, hatte die Vision keinen Sinn für sie ergeben. Doch jetzt wußte sie, warum sie Dolja gesehen hatte. Sie würde Mebbekew begleiten, wie Eiadh Elemak begleiten würde. Schedemei würde auch mit in die Wüste kommen, oder zumindest etwas mit ihrer Reise zu tun haben und Keimlinge und Embryos für sie zusammentragen. Und Huschidh würde auch mitkommen. Und Tante Rasa. Luets Vision hatte den Frauen gegolten, die in die Wüste hinausgerufen wurden.

Arme Dolja. Wenn sie gewußt hätte, daß sie alles in die Wege geleitet hatte, Basilika zu verlassen, als sie Mebbekew in ihr Zimmer geholt hatte, hätte sie ihm einen Tritt in den Hintern gegeben und, wenn nötig, ihn gebissen und geschlagen, um ihn wieder hinauszuwerfen! Wie die Dinge standen, nahm Luet jedoch an, sie beide dort zu finden.

Sie klopfte an Dols Tür. Wie erwartet, vernahm sie dahinter die Geräusche hastiger Bewegungen. Und ein leises, dumpfes Poltern.

»Wer ist da?« fragte Dol.

»Luet.«

»Ich bin im Augenblick nicht passend gekleidet.«

»Das bezweifle ich nicht«, sagte Luet, »doch Herrin Rasa hat mich mit einer dringenden Nachricht geschickt. Darf ich hereinkommen?«

»Ja, natürlich.«

Luet öffnete die Tür und fand Dolja im Bett vor, die Laken bis zu den Schultern hochgezogen. Von Mebbekew war natürlich nichts zu sehen, aber das Bett war zerwühlt, in die Badewanne war graues Wasser eingelassen, und ein paar Weintrauben lagen auf dem Boden — eine viel zu große Unordnung, als daß Dolja lediglich ein kleines Mittagsschläfchen gehalten hätte.

»Was will Tante Rasa von mir?« fragte Dol.

»Von dir nichts, Dol«, sagte Luet. »Sie will, daß all ihre Kinder und die des Wetschiks sofort zu ihr kommen.«

»Warum klopfst du dann nicht an Sevets oder Kokors Tür? Sie sind nicht hier.«

»Mebbekew weiß, weshalb ich hier bin«, sagte Luet. Sie erinnerte sich an das dumpfe Poltern, und in Anbetracht der Tatsache, wie wenig Zeit vergangen war, bis sie die Tür geöffnet hatte, konnte sie einen Rückschluß auf seinen derzeitigen Aufenthaltsort ziehen. »Wenn ich die Tür wieder schließe, kann er sich vom Boden hinter deinem Bett erheben, sich anziehen und zu Herrin Rasas Zimmer kommen.«

Dol schaute betroffen drein. »Verzeihe mir, daß ich versucht habe, dich zu täuschen, Wasserseherin«, flüsterte sie.

Manchmal wollte Luet vor Wut schreien, weil jeder anzunehmen schien, daß es sich um eine Enthüllung der Überseele handeln mußte, wenn sie auch nur den Funken von Intelligenz bewies — als wäre Luet nicht imstande, eigene Schlüsse zu ziehen. Doch Luet mußte eingestehen, daß dies auch ganz nützlich sein konnte. Nützlich in der Hinsicht, daß die Menschen eher dazu bereit waren, ihr die Wahrheit zu sagen, weil sie glaubten, Luet würde sie sowieso bei ihren Lügen ertappen. Doch der Preis für diese Wahrheitsliebe bestand darin, daß sie sich in ihrer Gesellschaft nicht wohl fühlten und sie mieden. Nur Freunde teilten solche Vertraulichkeiten miteinander, und auch nur freiwillig. Da sie gezwungen waren — wie sie zumindest glaubten —, ihre Geheimnisse mit Luet zu teilen, enthielten sie ihr ihre Freundschaft vor, und Luet konnte daher am Leben der meisten Frauen in ihrer Umgebung nicht teilnehmen. Sie betrachteten sie mit fürchterlicher Ehrfurcht: Deshalb fühlte sich Luet in ihrer Gesellschaft unwürdig und war darüber gleichzeitig wütend.

Dieser Zorn brachte Luet dazu, Mebbekew zu quälen, indem sie ihn zwang, etwas zu sagen. »Hast du mich verstanden, Mebbekew?«

Ein langes Warten. Dann: »Ja.«

»Ich werde Herrin Rasa mitteilen«, sagte Luet, »daß du ihre Nachricht erhalten hast.«

Sie kehrte zur Tür zurück und zog sie hinter sich zu, als sie Dols Stimme hörte. »Luet … warte.«

»Ja?«

»Seine Kleidung … sie wird gerade gewaschen …«

»Ich werde sie ihm bringen lassen.«

»Glaubst du, sie ist schon trocken?«

»Trocken genug«, sagte Luet. »Meinst du nicht auch, Mebbekew?«

Mebbekew setzte sich auf, so daß auf der anderen Seite des Bettes sein Kopf erschien. »Ja«, sagte er verdrossen.

»Feuchte Kleidung wird dich abkühlen«, sagte Luet. »Es ist so ein heißer Tag, zumindest in diesem Zimmer.« Es war ein so guter Witz, dachte sie, doch niemand lachte darüber.

Schedemei folgte schnellen Schrittes dem Weg, der zu Wetschiks Kühlhaus führte, das sich genau dort außerhalb der Stadtmauer, wo diese sich um das Alte Orchester krümmte, an den Hang eines schmalen Tales schmiegte und von hohen Bäumen beschattet wurde. Nun stand ihr der letzte und, wie sie befürchtete, schwerste Teil ihrer Aufgabe bevor, für das verrückte Projekt einer Reise durchs All, zurück zum legendären, verlorenen Planeten Erde, die Flora und Fauna zusammenzutragen. Ich nehme all diese Mühen auf mich, weil ich einen Traum hatte und ihn von einer Träumerin deuten ließ. Eine Reise auf Kamelen, und sie glauben, sie wird sie zur Erde führen.

Doch der Traum war noch in ihr lebendig. Das Leben, das sie auf der Wolke mit sich führte.

So kam sie zur Tür von Wetschiks Kühlhaus und wußte nicht, ob sie wirklich darauf hoffen sollte, einen seiner Bediensteten als Verwalter vorzufinden.

Niemand öffnete, als sie in die Hände klatschte. Aber vielleicht übertönten ja die Maschinen, die das Innere des Hauses kalt hielten, auch ihr lautestes Klatschen. Also ging sie zur Tür und drückte die Klinke hinab. Abgeschlossen.

Natürlich. Wetschik war doch schon vor Wochen in die Wüste gegangen. Und Raschgallivak, sein Verwalter und angeblich der neue Wetschik, hatte sich seitdem irgendwo versteckt gehalten. Wer würde hier also weiterhin arbeiten, nachdem beide verschwunden waren?

Abgesehen davon, daß die Maschinen noch in Betrieb waren, oder etwa nicht? Und das bedeutete, daß sich irgend jemand um das Kühlhaus kümmern wußte. Oder aber, sie hatten die Maschinen einfach nicht abgeschaltet und waren davongelaufen, und nun kümmerte sich niemand mehr um die Pflanzen im Kühlhaus.

Das war natürlich durchaus möglich. Die kalte Luft würde die eigens gezüchteten Pflanzen tagelang am Leben erhalten, und das Kühlhaus, das seine Energie von den Solarschaufeln an den Stangen bekam, die sich hoch über das Dach erhoben, konnte ewig die eingestellte Temperatur halten und war noch nicht einmal auf die Energieversorgung der Stadt angewiesen.

Und doch wußte Schedemei, daß sich jemand um das Haus kümmerte, wenngleich sie nicht sagen konnte, woher sie es wußte. Und überdies wußte sie, daß die betreffende Person sich im Augenblick im Kühlhaus befand, wußte, daß sie hier war, und wollte, daß sie wieder ging. Wer auch immer im Kühlhaus war, er hielt sich versteckt.

Und wer mußte sich im Augenblick verstecken?

»Raschgallivak«, rief Schedemei. »Ich bin es nur, Schedemei. Du kennst mich, und ich bin allein, und ich werde niemandem sagen, daß du hier bist, aber ich muß mit dir sprechen.« Sie wartete. Keine Antwort. »Es hat nichts mit der Stadt zu tun oder mit dem, was gerade dort vorgeht«, rief sie laut. »Ich möchte nur ein paar Geräte von dir kaufen.«

Sie hörte, wie die Tür von innen entriegelt wurde. Dann schwang sie auf ihren schweren Scharnieren auf. Raschgallivak stand da; er sah verloren und erschöpft aus. Er hielt keine Waffe in der Hand.

»Wenn du hier bist, um mich zu verraten, heiße ich es als Erleichterung willkommen.«

Schedemei hätte ihm gern gesagt, daß solch ein Verrat nur der Gerechtigkeit Genüge getan hätte, nachdem Raschgallivak das Haus Wetschiks verraten und sich mit Gaballufix verbündet hatte, um den Platz seines ehemaligen Herren einnehmen zu können. Aber sie hatte hier etwas zu erledigen;

sie mußte nicht dafür sorgen, daß die Gerechtigkeit zu ihrem Sieg kam.

»Politik interessiert mich nicht«, sagte sie, »und du interessierst mich auch nicht. Ich möchte nur ein Dutzend Trockenbehälter kaufen. Die tragbaren, wie Karawanen sie benutzen.«

Er schüttelte den Kopf. »Wetschik hat mir befohlen, sie alle zu verkaufen.«

Schedemei schloß einen Augenblick lang erschöpft die Augen. Er zwang sie, Dinge zu sagen, die sie ihm nicht ins Gesicht hatte werfen wollen. »Ach, Raschgallivak, erwarte doch bitte nicht von mir, daß ich glaube, du hättest sie tatsächlich verkauft. Ich weiß doch, das du vorhattest, die Herrschaft über das Haus des Wetschik zu übernehmen. Dazu mußt du jedoch das Geschäft auch weiterhin betreiben.«

Raschgallivak errötete — vor Scham, wie Schedemei hoffte. »Und doch habe ich sie verkauft, wie man es mir befohlen hat.«

»Und wer hat sie gekauft?« fragte Schedemei. »Ich will die Trockenbehälter, nicht dich.«

Raschgallivak antwortete nicht.

»Ah«, sagte Schedemei. »DM hast sie gekauft.«

»Wofür brauchst du sie?« fragte er nach einer Weile.

»Du forderst mich auf, mich zu rechtfertigen?« sagte Schedemei.

»Ich frage, weil ich weiß, daß du in deinem Laboratorium viele Trockenbehälter hast. Lediglich Karawanen können mit den tragbaren Modellen etwas anfangen, und von diesem Geschäft verstehst du nichts.«

»Dann werde ich zweifellos getötet oder ausgeraubt werden. Aber das geht dich nichts an. Und vielleicht wird man mich ja doch nicht töten oder ausrauben.«

»In diesem Fall«, sagte Raschgallivak, »würdest du deine Pflanzen in fernen Ländern verkaufen und wärest damit eine direkte Konkurrentin von mir. Warum sollte ich der Konkurrenz die tragbaren Trockenbehälter verkaufen, die sie braucht?«

Schedemei lachte ihm ins Gesicht. »Glaubst du etwa, hier könnte man noch wie früher Geschäfte betreiben? Ich gehe nicht auf eine Handelsreise, du armer, törichter Mann. Ich bringe mein gesamtes Labor und mich an einen Ort, an dem ich meine Forschungen ungefährdet fortsetzen kann, ohne von bewaffneten Verrückten unterbrochen zu werden, die die Stadt plündern und in Brand setzen.«

Erneut errötete er. »Als sie unter meinem Kommando standen, haben sie niemandem etwas angetan. Ich war kein Gaballufix.«

»Nein, Rasch. Du bist kein Gaballufix.«

Das konnte man so oder so verstehen, doch Rasch faßte es anscheinend als Bestätigung ihres Glaubens an seinen grundlegenden Anstand auf. »Du bist nicht mein Feind, nicht wahr, Schedja?«

»Ich will nur Trockenbehälter.«

Er zögerte noch einen Augenblick lang, trat dann zurück und bedeutete ihr, ihm ins Kühlhaus zu folgen.

Im Eingang des Gebäudes war es nicht so kalt wie in den Innenräumen, und Rasch hatte ihn in einen bemitleidenswerten Wohnraum umgewandelt. Ein behelfsmäßiges Bett, ein großer Zuber, der einmal Pflanzen beherbergt hatte, nun jedoch als Badewanne und Waschkübel für seine schmutzige Wäsche zweckentfremdet wurde. Sehr primitiv, aber auch einfallsreich. Schedemei mußte den Mann bewundern — er hatte nicht verzweifelt, obwohl sich alles gegen ihn zu verschworen haben schien.

»Ich bin allein hier«, sagte er. »Die Überseele weiß bestimmt, daß ich Geld dringender brauche als Trockenbehälter. Und der Stadtrat hat all meine Geldmittel beschlagnahmt. Du könntest mich nicht einmal mehr bezahlen, weil ich kein Konto mehr habe, auf das du das Geld deponieren könntest.«

»Das dürfte kein Problem sein«, sagte Schedemei. »Wie du dir vorstellen kannst, ziehen derzeit viele Leute ihr Geld von den Stadtkonten ab. Ich kann dich mit Edelsteinen bezahlen — obwohl sich der Preis für Gold und kostbare Steine seit den letzten Unruhen verdreifacht hat.«

»Glaubst du etwa, ich wüßte nicht, daß ich wohl kaum in der Position bin, mit dir feilschen zu können?«

»Staple die Trockenbehälter vor der Tür auf«, sagte Schedemei. »Ich werde Männer schicken, die sie aufladen und mir in die Stadt bringen. Ich werde dir einen fairen Preis dafür bezahlen. Sag mir, wohin ich die Juwelen bringen soll.«

»Komm allein hierher«, sagte Rasch. »Und übergib sie mir persönlich.«

»Mach dich doch nicht lächerlich«, sagte Schedemei. »Ich werde nie wieder hierher kommen, und wir haben uns auch nie getroffen. Sag mir, wo ich die Juwelen hinterlegen soll.«

»Im Raum für Reisende in Wetschiks Haus.«

»Ist es leicht zu finden?«

»Ganz leicht.«

»Dann werde ich dort sein, sobald ich die Trockenbehälter bekommen habe.«

»Es erscheint mir kaum fair, daß ich dir vollständig vertrauen soll, du mir aber nicht das geringste Vertrauen entgegenbringen mußt.«

Schedemei fiel darauf keine Erwiderung ein, die nicht grausam gewesen wäre.

Nach einer Weile nickte er. »Na schön«, sagte er. »Auf dem Besitz des Wetschik stehen zwei Häuser. Hinterlege die Juwelen in dem Raum für Reisende des kleineren, älteren Hauses. Auf einen der Dachsparren. Ich werde sie schon finden.«

»Sobald die Trockenbehälter in meinem Labor sind«, sagte Schedemei.

»Glaubst du etwa, mir stünden noch ein paar treu ergebene Männer zur Verfügung, die dich in einen Hinterhalt locken werden?« fragte Raschgallivak verbittert.

»Nein«, sagte Schedemei. »Aber da du weißt, daß du das Geld bald haben wirst, stünde dir jetzt nichts im Wege, sie schnell anzuheuern.«

»Also wirst du entscheiden, wann du mich bezahlst und wieviel du mir gibst, und ich habe in dieser Angelegenheit nichts zu sagen.«

»Rasch«, sagte Schedemei, »ich werde dich viel anständiger behandeln, als du den Wetschik und seine Söhne behandelt hast.«

»Innerhalb von einer halben Stunde werden ein Dutzend Trockenbehälter vor der Tür stehen.«

Schedemei stand auf und ging. Sie hörte, daß er hinter ihr die Tür schloß, und stellte sich ihn vor, wie er furchtsam die Riegel vorlegte, voller Angst, jemand könne herausfinden, daß der Mann, der einen Tag lang über die Macht sowohl des Gaballufix als auch des Wetschik verfügt hatte, sich nun in diesen verbarrikadierten Mauern versteckte.

Schedja kehrte durch das Musiktor zurück, an dem die Gorajni-Wachen schnell ihre Identität überprüften und sie durchließen. Es störte sie noch immer, diese Uniformen in den Stadttoren Basilikas zu sehen, doch wie alle anderen gewöhnte sie sich allmählich an die perfekte Disziplin der Soldaten und die neue Ordnung, die nun an den ehemals chaotischen Eingängen zur Stadt herrschte. Jeder reihte sich nun geduldig in die Schlange ein.

Und da war noch etwas. Mehr Menschen wollten die Stadt betreten als verlassen. Vertrauen kehrte zurück. Vertrauen in die Stärke der Gorajni. Wer hätte sich vorstellen können, wie schnell die Leute dem Naßköppe-Feind vertrauen würden?

Nachdem sie an der Stadtmauer entlang zum Markttor gegangen war, machte Schedemei den Maultiertreiber ausfindig, den sie angeheuert hatte. »Alles in Ordnung«, sagte Schedemei. »Ein Dutzend Behälter werden vor der Tür stehen.« Der Maultiertreiber verbeugte sich und lief los. Sie bezweifelte nicht, daß er diese Geschwindigkeit nur so lange beibehalten würde, wie sie ihn sehen konnte, doch sie wußte trotzdem zu schätzen, daß er so tat, als würde er sich sputen. Der Maultiertreiber wußte also, was Schnelligkeit war, und bemühte sich, ihr zumindest die Illusion davon zu geben.

Dann wählte sie einen der Botenjungen aus der Schlange aus, die mitten im Markttor auf Aufträge warteten. Sie schrieb eine Nachricht auf einen Zettel, den sie an der Botenstation bekam. Auf die Rückseite schrieb sie auf, wie man zu Wetschiks Haus gelangte und wohin der Junge den Zettel legen sollte. Dann tippte sie in den Computer der Station den Lohn ein, den der Junge bekam. Als er sah, welchen Bonus sie ihm zahlte, damit er sich beeilte, grinste er, schnappte sich den Zettel und lief wie ein geölter Blitz los.

Raschgallivak würde natürlich wütend sein, nicht die Juwelen selbst, sondern nur eine Zahlungsanweisung auf einen der Juwelenhändler im Markttor vorzufinden. Doch Schedemei hatte nicht die Absicht, einen so hohen Betrag in Juwelen persönlich zu einem so abgelegenen Ort zu bringen oder einen Boten damit zu beauftragen. Rasch brauchte das Geld — also mußte er auch das Risiko eingehen. Wenigstens hatte sie die Anweisung auf einen der Juwelenhändler ausgestellt, der auch außerhalb des Markttors einen Tisch unterhielt, so daß Rasch nicht an den Wachen vorbei mußte, um seine Bezahlung zu bekommen.

Rasa sah ihren Sohn und ihre Töchter an, und die beiden Söhne Wetschiks von anderen Frauen. Nicht unbedingt die besten Menschen auf der Welt, dachte sie. Ich würde mich den beiden älteren Söhnen Volemaks gegenüber vielleicht etwas verächtlicher zeigen, würden meine beiden kostbaren Töchter mich nicht daran erinnern, daß ich auch nicht die hervorragendste Mutter gewesen bin. Und um fair zu sein … all diese jungen Menschen haben ihre Gaben und Talente. Doch lediglich Nafai und Issib, die beiden Kinder, die ich mit Volja habe, haben sich als integer, anständig und gut erwiesen.

»Warum habt ihr Issib nicht mitgebracht?«

Elemak seufzte. Armer Junge, dachte Rasa. Zwingt die alte Herrin dich wieder, ihr etwas zu erklären? »Wir wollten uns auf dieser Reise nicht mit seinem Stuhl oder den Flossen befassen müssen«, sagte er.

»Er wäre doch sowieso nur hier bei uns eingesperrt«, sagte Nafai.

»Ich glaube nicht, daß der General uns lange unter Arrest halten wird«, sagte Rasa. »Sobald ich gründlich in Mißkredit gebracht worden bin, hat er keinen Grund mehr zu dieser eindeutig überzogenen Maßnahme. Er versucht, sich als Befreier und Beschützer darzustellen, und es gibt kein gutes Bild ab, wenn er seine Soldaten auf der Straße aufmarschieren läßt.«

»Und dann brechen wir auf?« fragte Nafai.

»Nein, wir schlagen hier Wurzeln«, sagte Mebbekew. »Natürlich brechen wir dann auf.«

»Ich will nach Hause«, sagte Kokor. »Obwohl Obring ein verdammtes, elendes Spottbild von Ehemann ist, vermisse ich ihn.«

Sevet sagte nichts.

Rasa sah Elemak an, auf dessen Zügen ein leichtes Lächeln lag. »Und du, Elemak, kannst du es auch nicht abwarten, mein Haus zu verlassen?«

»Ich bin dankbar für deine Gastfreundschaft«, sagte er. »Und wir werden uns immer an dein Heim erinnern als das letzte zivilisierte Haus, in dem wir seit vielen Jahren gewohnt haben.«

»Sprich für dich selbst, Elja«, sagte Mebbekew.

»Wovon spricht er?« fragte Kokor. »Auf mich wartet ein zivilisiertes Heim.«

Sevet gab ein ersticktes Lachen von sich.

»Wenn ich du wäre, würde ich nicht prahlen, wie zivilisiert dein Haus ist«, sagte Rasa. »Aber ich sehe auch, daß Elemak der einzige ist, der eure wahre Lage begreift.«

»Ich begreife sie auch.«

Natürlich funkelte Elemak seinen Halbbruder unter zusammengekniffenen Lidern an. Nafai, du törichter Junge, dachte Rasa. Mußt du immer das sagen, was deine Brüder am stärksten erzürnen wird? Glaubst du, ich hätte vergessen, daß du die Stimme der Überseele gehört hast, daß du viel mehr begreifst als deine Brüder und Schwestern? Kannst du nicht darauf vertrauen, daß ich mich an deine Würdigkeit erinnere und einfach Schweigen bewahren?

Nein, er konnte es nicht. Nafai war jung, zu jung, um die Folgen seines Vorgehens zu sehen, zu jung, um seine Gefühle für sich zu behalten.

»Dennoch wird Elemak uns unsere Lage erklären.«

»Wir können nicht in dieser Stadt bleiben«, sagte Elemak. »In dem Augenblick, in dem die Soldaten abgezogen werden, müssen wir sofort fliehen.«

»Warum?« fragte Mebbekew. »Die Herrin Rasa steckt in Schwierigkeiten, nicht wir.«

»Bei der Überseele, du bist dumm«, sagte Elemak.

Welche erfrischend direkte Art, es auszudrücken, dachte Rasa. Kein Wunder, daß deine Brüder dich geradezu verehren, Elja.

»Solange Herrin Rasa unter Arrest steht, muß Muuzh dafür sorgen, daß niemandem in diesem Haus etwas zustößt. Doch er wird es so einrichten, daß Rasa danach jede Menge Feinde in der Stadt haben wird. Sobald er seine Soldaten abzieht, wird es hier zu einigen sehr bösen Vorfällen kommen.«

»Um so mehr Grund für uns, Mutters Haus zu verlassen«, sagte Kokor. »Mutter kann ja fliehen, wenn sie will, aber gegen mich haben die Leute nichts.«

»Sie haben etwas gegen uns alle«, sagte Elemak. »Meb und Nafai und ich sind Flüchtlinge, und Nafai wird zweier Morde beschuldigt, von denen er einen tatsächlich begangen hat. Kokor wird des Mordversuchs an ihrer eigenen Schwester beschuldigt. Und Sevet ist eine Ehebrecherin, die man in flagranti erwischt hat, und da sie die Ehe auch noch mit dem Gatten ihrer eigenen Schwester gebrochen hat, kann man auch noch die Inzestgesetze hinzuziehen.«

»Sie würden es nicht wagen«, sagte Kokor. »Mich anzuklagen!«

»Und warum sollten sie es nicht wagen?« fragte Elemak. »Nur der große Respekt und die Zuneigung der Leute für die Herrin Rasa hat dich überhaupt vor einer sofortigen Verhaftung geschützt. Nun, diese Zuneigung besteht nicht mehr oder ist zumindest geringer geworden.«

»Man würde mich niemals verurteilen«, sagte Kokor.

»Und die Gesetze gegen Ehebruch sind seit Jahrhunderten nicht mehr durchgesetzt worden«, sagte Meb. »Und die Leute bringen einem Inzest zwischen verschwägerten Personen Abscheu entgegen, doch solange sie volljährig sind …«

»Sind denn hier alle dümmer, als die Stadtwache erlaubt?« fragte Elemak. »Nein, ich habe ja ganz vergessen — Nafai versteht alles.«

»Nein«, sagte Nafai, »Ich weiß, daß wir in die Wüste gehen müssen, weil die Überseele es befohlen hat, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst.«

Rasa mußte unwillkürlich lächeln. Nafai konnte manchmal töricht sein, doch seine Ehrlichkeit und Direktheit waren auch entwaffnend. Ohne es zu wollen, hatte Nafai sich bei Elemak wieder beliebt gemacht, indem er sich erniedrigt und Eljas größere Klugheit eingestanden hatte.

»Dann werde ich es erklären«, sagte Elemak. »Die Herrin Rasa ist eine mächtige Frau — selbst jetzt noch, weil die klügsten Menschen in Basilika die Gerüchte über sie keinen Augenblick lang glauben. Es genügt Muuzh nicht, sie nur in Mißkredit zu bringen. Er muß sie entweder vollständig unter seiner Kontrolle haben oder töten. Um das erstere zu erreichen, muß er nur eins oder alle ihrer Kinder wegen Mordes anklagen lassen — oder auch Vaters Söhne, was das betrifft —, und sie wird völlig hilflos sein. Herrin Rasa ist eine tapfere Frau, aber ich glaube nicht, daß sie es über sich bringen wird, ihre Kinder oder Vaters Söhne ins Gefängnis gehen zu lassen, nur damit sie Politik betreiben kann. Und falls sie so skrupellos wäre, würde Muuzh den Einsatz einfach erhöhen. Wen von uns würde er zuerst töten? Muuzh ist ein kluger Mann — er würde nur soviel unternehmen, daß seine Botschaft auch verstanden wird. Ich glaube, als ersten würde er dich töten lassen, Meb, weil du der wertloseste bist und derjenige, den Vater und Herrin Rasa am wenigsten vermissen würden.«

Meb sprang auf. »Ich habe genug von dir, du Dreckskerl!«

»Setz dich, Mebbekew«, sagte Herrin Rasa. »Begreifst du denn nicht, daß er dich nur etwas anstacheln möchte?«

Elemak grinste Mebbekew an, der aber keineswegs besänftigt war. Mebbekew warf düstere Blicke um sich, als er sich wieder setzte.

»Irgendeinen wird er töten«, sagte Elemak, »nur als Warnung. Natürlich werden nicht seine Soldaten die Tat begehen. Aber er weiß genau, daß Herrin Rasa seine Rolle in diesem Spiel durchschaut. Und sollte es nicht ausreichen, uns als Geiseln zu halten, damit wir uns gut benehmen, hat Muuzh bereits den Grundstein dafür gelegt, Herrin Rasa selbst zu ermorden. Es dürfte kein Problem sein, eine erzürnte Bürgerin zu finden, die versessen darauf ist, sie wegen ihres angeblichen Verrats zu töten; Muuzh müßte nur eine Gelegenheit einrichten, bei der diese Attentäterin zuschlagen kann. Es wäre ganz einfach. Sobald die Soldaten von der Straße vor diesem Haus abgezogen werden, sind wir wirklich in Gefahr. Wir müssen uns also darauf vorbereiten, Basilika augenblicklich, verstohlen und für immer zu verlassen.«

»Basilika zu verlassen!« rief Kokor. Ihr ehrlicher Abscheu bedeutete, daß sie endlich den Ernst ihrer Lage begriffen hatte.

Sevet verstand ihn auch, soviel war sicher. Sie schaute zu Boden, doch Rasa konnte die Tränen auf ihren Wangen sehen.

»Es tut mir leid, daß eure enge Verbindung zu mir euch so viel kostet«, sagte Rasa. »Aber all diese Jahre lang, meine lieben Töchter, mein lieber Sohn, meine geliebten Schülerinnen, habt ihr vom Ansehen meines Hauses profitiert, wie auch von der großen Ehre des Wetschik. Nun, da sich die Lage in Basilika gegen uns gewendet hat, müßt ihr auch den Preis dafür zahlen. Das ist unangenehm, aber nicht ungerecht.«

»Für immer«, murmelte Kokor.

»Allerdings«, sagte Elemak, »für immer. Aber ich werde nicht ohne meine Frau in die Wüste ziehen. Ich hoffe, meine Brüder haben ebenfalls ähnliche Vorkehrungen getroffen. Aus diesem Grund sind wir ja hergekommen.«

»Obring«, sagte Kokor. »Wir müssen Obring holen!«

Sevet hob das Kinn und sah ihrer Mutter ins Gesicht. Sevets Augen schimmerten vor Tränen, und auf ihrem Antlitz stand eine ängstliche Frage.

»Ich glaube, Vas wird dich begleiten, wenn du ihn darum bittest«, sagte Rasa. »Er ist ein kluger und versöhnlicher Mann, und er liebt dich viel mehr, als du es verdient hast.« Die Worte waren kalt, doch Sevet nahm sie dennoch als Trost auf.

»Aber was ist mit Obring?« beharrte Kokor.

»Er ist ein so schwacher Mann«, sagte Rasa. »Du kannst ihn bestimmt überreden, dich zu begleiten.«

Mittlerweile hatte sich Mebbekew an Elemak gewandt. »Deine Frau?« fragte er.

»Herrin Rasa wird heute abend die Zeremonie für Eiadh und mich durchführen«, sagte Elemak.

Mebbekews Gesicht legte Zeugnis von einem starken Gefühl ab — Wut, Eifersucht? Hatte auch Mebbekew Eiadh haben wollen, genau wie der arme Nafai?

»Du heiratest sie heute abend!« fragte Mebbekew.

»Wir wissen nicht, wann Muuzh den Hausarrest aufheben wird, und ich möchte den Bund der Ehe schließen, wie es sich gehört. Sobald wir in der Wüste sind, möchte ich keine Diskussionen darüber hören, wer mit wem verheiratet ist.«

»Aber sobald unsere Verträge ausgelaufen sind, können wir uns doch anderweitig orientieren«, sagte Kokor.

Alle sahen sie an.

»Die Wüste ist nicht Basilika«, sagte Rasa. »Wir werden nur eine Handvoll Menschen sein. Die Ehen werden von Dauer sein. Gewöhne dich schon jetzt an die Vorstellung.«

»Das ist doch absurd«, sagte Kokor. »Ich komme nicht mit, und ihr könnt mich nicht dazu zwingen.«

»Nein, ich kann dich nicht dazu zwingen«, sagte Rasa. »Doch wenn du bleibst, wirst du sehr schnell herausfinden, wie anders das Leben ist, wenn du nicht mehr die Tochter der Herrin Rasa bist, sondern bloß eine junge Sängerin, von der man weiß, daß sie ihre viel berühmtere Schwester mit einem Schlag ihrer Hand zum Verstummen gebracht hat.«

»Damit kann ich leben!« sagte Kokor trotzig.

»Dann möchte ich dich gar nicht bei uns haben«, sagte Rasa wütend. »Welchen Nutzen kann auf der schrecklichen Reise, die vor uns liegt, ein Mädchen ohne Gewissen für uns haben?« Ihre Worte waren barsch, doch Rasa konnte ihre Enttäuschung über Kokor auf der Zunge schmecken wie ein übles Gift. »Ich habe alles gesagt, was ich zu sagen habe. Ihr alle habt zu arbeiten und Entscheidungen zu treffen. Trefft sie und bereitet alles vor.«

Damit waren sie entlassen, und Kokor und Sevet erhoben sich und gingen sofort, wobei Kokor die Nase in die Höhe reckte und noch einmal gekonnt ihren Hochmut unter Beweis stellte.

Mebbekew machte sich an Rasa heran — konnte der Junge nicht einfach ganz natürlich gehen, ohne gleich wie ein Spitzel oder Spion zu wirken? — und stellte seine Frage. »Ist Eljas Hochzeit heute abend nur auf ihn beschränkt?«

»Jeder im Haus ist herzlich eingeladen, der Feier beizuwohnen«, sagte Rasa.

»Nein, ich meine … wenn ich auch jemanden heiraten würde, würdest du die Zeremonie dann auch für mich durchführen?«

»Jemanden heiraten? Ich versichere dir, Dolja mag zwar indiskret gewesen sein, doch es würde mich überraschen, wenn sie dich zum Gatten nehmen würde, Mebbekew.«

Meb schaute wütend drein. »Luet hat es dir erzählt.«

»Natürlich hat sie es mir erzählt«, sagte Rasa. »Ein halbes Dutzend Dienstboten und Dolja selbst hätten es mir noch vor Anbruch der Dämmerung erzählt. Glaubst du wirklich, jemand könne solch ein Geheimnis in meinem eigenen Haus vor mir verbergen?«

»Wirst du die Zeremonie auch für uns durchführen«, sagte Meb, und dann nahm seine Stimme einen unglaublich sarkastischen Tonfall an, »wenn ich sie überreden könnte, ein so unwürdiges Stück Scheiße wie mich zu akzeptieren?«

»Es wäre gefährlich, dich ohne Frau in die Wüste mitzunehmen«, sagte Rasa. »Dolja wäre für dich die richtige Frau, obwohl sie sich selbst kaum etwas Schlimmeres antun könnte.«

Mebbekews Gesicht war rot vor Zorn. »Ich habe nichts getan, daß du mich so verächtlich behandeln müßtest.«

»Du hast alles getan, um dir meine Verachtung zuzuziehen«, sagte Rasa. »Du hast meine Nichte unter meinem eigenen Dach verführt, und nun überlegst du, sie zu heiraten — und glaube ja nicht, mich täuschen zu können. Du willst sie nur heiraten, um in Basilika bleiben zu können und nicht mit uns zu deinem Vater in die Wüste ziehen zu müssen. Sobald wir fort sind und du deinen Ehevertrag hast, wirst du ihr untreu werden.«

»Und ich schwöre dir bei den Augen der Überseele, daß ich Dolja mit in die Wüste nehmen werde, so wahr Elja Eiadh mitnehmen wird.«

»Sei vorsichtig, wenn du deine Eide vor der Überseele machst«, sagte Rasa. »Sie kennt Wege und Möglichkeiten, dich beim Wort zu nehmen.«

Mebbekew hätte fast etwas anderes gesagt, überlegte es sich dann jedoch anders und verließ Rasas privaten Empfangsraum. Zweifellos, um Dolja zu überreden, die Ehe mit ihm einzugehen.

Und es wird klappen, dachte Rasa verbittert. Weil dieser Junge, für den sonst so wenig spricht, mit Frauen umgehen kann. Habe ich nicht von den Müttern so vieler Mädchen in der Puppenstadt und Dauberville von seinen Heldentaten gehört? Arme Dolja. Hat das Leben dich so hungrig belassen, daß du sogar diese schlechte Imitation von Liebe schluckst?

Jetzt waren nur noch Elemak und Nafai bei ihr.

»Ich will meine Zeremonie nicht mit Mebbekew teilen«, sagte Elemak kalt.

»Es ist tragisch, daß wir auf dieser Welt nicht immer das bekommen, was wir haben wollen«, sagte Rasa. »Jeder, der heute abend heiraten möchte, wird auch heiraten. Wir haben nicht die Zeit, deine Eitelkeit zu befriedigen, und das weißt du selbst am besten. Wenn du mir einen unparteiischen Rat geben würdest, würdest du selbst darauf bestehen.« )

Elemak betrachtete kurz ihr Gesicht. »Ja«, sagte er dann. »Du bist sehr weise.« Dann ging auch er.

Doch Rasa verstand ihn, und zwar besser, als er glaubte. Sie wußte, daß er sie abgeschätzt hatte. In Basilika mochte sie zwar mächtig sein, aber in der Wüste war sie es nicht mehr. Er würde sich heute abend ihrer Herrschaft beugen, doch sobald sie in der Wüste waren, würde er seine Freude daran nehmen, sie zu unterwerfen. Nun, ich habe keine Angst davor, erniedrigt zu werden, dachte Rasa. Ich kann mehr ertragen, als du es dir vorstellst. Was bedeuten mir schon die Qualen, die du mir zufügst, wenn ich den Schmerz meiner geliebten Stadt spüre und weiß, daß ich in meinem Exil gar nichts tun kann, um sie doch noch zu retten?

Nur Nafai war jetzt noch bei ihr.

»Mutter«, sagte er, »was ist mit Issib? Und Gaballufix’ Schatzmeister Zdorab? Sie brauchen ebenfalls Frauen. Und Elemak hat in seinem Traum gesehen, daß wir alle Frauen hatten.«

»Dann muß die Überseele Frauen für sie bereitstellen, meinst du nicht auch?«

»Schedemei wird kommen«, sagte er. »Auch sie hatte einen Traum. Die Überseele wird sie zu uns schicken. Und Huschidh. Sie gehört dazu, nicht wahr? Auch sie wird die Überseele zu uns führen. Für Issib oder für Zdorab.«

»Warum fragst du sie nicht?« sagte Rasa.

»Sie ist nicht für mich bestimmt«, sagte Nafai.

»Du hast mir erzählt, die Überseele hätte gesagt, eines Tages würdest du deine Brüder führen. Wie kann das geschehen, wenn du nicht einmal die Kraft findest, einem so netten und großmütigen Mädchen wie Schuja in die Augen zu sehen?«

»Dir mag sie nett vorkommen«, sagte Nafai. »Aber mir … und sie so etwas zu fragen …«

»Sie weiß, daß ihr Jungs zurückgekommen seid, um Frauen zu holen, du törichtes Kind. Glaubst du, sie könnte nicht zählen? Sie ist eine Entwirrerin — glaubst du, sie hätte die Verbindungen noch nicht gesehen?«

Er war verlegen. »Nein, daran habe ich nicht gedacht. Wahrscheinlich weiß sie mehr über das alles als ich.«

»Nur über einige Dinge«, sagte Rasa. »Und du schreckst noch immer vor der wichtigsten Frage überhaupt zurück.«

»Nein, das tue ich nicht«, sagte Nafai. »Ich weiß, daß ich Luet heiraten soll, und ich weiß, daß ich sie bitten werde, die Ehe mit mir einzugehen. Ich brauche deinen Rat in dieser Angelegenheit nicht.«

»Dann habe ich nichts um dich zu fürchten, mein Sohn«, sagte Rasa.

Die Soldaten brachten Raschgallivak und warfen ihn, wie Muuzh ihnen zuvor befohlen hatte, brutal zu Boden. Als die Soldaten gegangen waren, berührte Raschgallivak seine Nase. Sie war nicht gebrochen, doch sie blutete vom Aufprall auf dem Boden, und Muuzh reichte ihm nichts, womit er das Blut hätte abwischen können. Da die Soldaten Raschgallivak nackt ausgezogen hatten, bevor sie ihn hierher gebracht hatten, mußte Raschgallivak das Blut einfach in seinen Mund und sein Kinn hinab fließen lassen.

»Ich wußte, daß ich dich früher oder später sehen würde«, sagte Muuzh. »Ich mußte nicht nach dir suchen. Ich wußte, die Zeit würde kommen, da du dir einbildest, du hättest etwas, das von Wert für mich ist, und dann würdest du zu mir kommen und mit mir zu verhandeln versuchen. Aber ich kann dir versichern, ich brauche nichts, das du hast.«

»Also bringe es hinter dich und töte mich«, sagte Raschgallivak.

»Sehr dramatisch«, sagte Muuzh. »Ich habe gesagt, ich brauche nichts, was du hast, aber vielleicht will ich etwas, und vielleicht will ich es so dringend, daß ich dich nicht blenden oder kastrieren lasse oder sonst etwas mit dir anstelle, bevor ich dich als Verräter an deiner Stadt verbrennen lasse.«

»Ja, so sehr liegt Basilika dir am Herzen«, sagte Raschgallivak.

»Du hast mir diese Stadt gegeben, du armer Narr. Deine” Dummheit und Brutalität haben sie mir in den Schoß fallen lassen. Nun ist sie das strahlendste Juwel in meinem Besitz. Ja, Basilika liegt mir sehr am Herzen.«

»Nur, wenn du die Stadt auch behalten kannst«, sagte Raschgallivak.

»Oh, ich versichere dir, ich werde dieses Juwel behalten. Entweder, indem ich es trage, um mich damit zu schmücken oder indem ich es zu Pulver zermahle und verschlucke.«

»So furchtlos bist du also, tapferer General. Und doch hast du Herrin Rasa unter Hausarrest gestellt.«

»Es gibt noch immer viele Wege, denen ich folgen kann«, sagte Muuzh. »Aber ich kenne keinen, der nicht zu deinem augenblicklichen Tod führt. Also mußt du schon etwas mehr bieten, als mir zu sagen, was ich sowieso schon weiß.«

»Ob es dir gefällt oder nicht«, sagte Raschgallivak, »ich bin der rechtmäßige Wetschik und Führer des Palwaschantu-Klans, und obwohl mir im Augenblick niemand viel Liebe entgegenbringt, würden die besitzlosen Männer außerhalb der Stadtmauern zu mir überlaufen, wenn sie sehen, daß ich in deiner Gunst stehe und etwas Macht zu vergeben habe. Ich könnte dir nützlich sein.«

»Wie ich sehe, hegst du ein paar pathetische Träume, mir die Macht hier streitig zu machen.«

»Nein, General«, sagte Raschgallivak. »Ich war mein ganzes Leben lang Verwalter und habe lediglich versucht, das Haus Wetschik aufzubauen und zu stärken. Gaballufix hat mir eingeredet, einem Ehrgeiz gemäß zu handeln, den ich niemals hatte, bis er ihn mich spüren ließ. Ich hatte seitdem genug Gelegenheit zu bereuen, auf ihn gehört zu haben, und mich dafür zu verachten, herumstolziert zu sein, als wäre ich ein großer Führer, wo ich in Wirklichkeit doch ein geborener Verwalter bin. Ich war war glücklich, als ich einem Mann diente, der stärker war, als ich es bin. Ich war stolz darauf, immer dem stärksten Mann Basilikas gedient zu haben.

Der bist im Augenblick du, und wenn du mich am Leben läßt und Verwendung für mich findest, wirst du feststellen, daß ich ein Mann mit vielen nützlichen Talenten bin.«

»Darunter auch bedingungslose Treue?«

»Ich weiß, daß du mir nie vertrauen wirst. Ich habe den Wetschik verraten … zu meiner Schande. Aber das tat ich erst, als Volemak schon im Exil und machtlos war. Du wirst niemals schwach sein oder versagen, und daher kannst du mir bedingungslos vertrauen.«

Muuzh mußte unwillkürlich lachen. »Du sagst mir, ich könne dir vertrauen, weil du ein zu großer Feigling bist, um einen starken Mann zu verraten?«

»Ich hatte genügend Zeit, mich wirklich kennenzulernen, General Vozmuzhalnoi Vozmozhno. Ich habe nicht den Wunsch, entweder dich oder mich zu betrügen.«

»Ich könnte jeden beliebigen Mann als Führer des Pöbels einsetzen, der sich Palwaschantu nennt«, sagte Muuzh. »Oder ich könnte ihn selbst führen. Warum soll ich dich am Leben lassen, wenn ich von deinem öffentlichen Geständnis und deiner Hinrichtung doch viel mehr gewinnen kann?«

»Du bist ein brillanter General und Anführer, aber du kennst Basilika noch immer nicht.«

»Ich kenne die Stadt so gut, um sie zu beherrschen, ohne auch nur einen einzigen meiner Männer verloren zu haben.«

»Wenn du so allwissend bist, General Vozmuzhalnoi Vozmozhno, weiß du natürlich auch, warum es so wichtig ist, daß Schedemei heute ein Dutzend Trockenbehälter von mir gekauft hat.«

»Spiele keine Spielchen mit mir, Raschgallivak. Du weißt, daß ich keine Ahnung habe, wer dieser Schedemei ist oder was es zu bedeuten hat, daß er Trockenbehälter gekauft hat.«

»Schedemei ist eine Frau, Herr. Eine berühmte Wissenschaftlerin. Eine sehr begabte Genetikerin — sie hat unter anderem einige sehr beliebte neue Pflanzen entwickelt.«

»Wenn du auf etwas Bestimmtes hinaus willst …«

»Schedemei ist auch eine Lehrerin in Rasas Haus und eine ihrer geschätztesten Nichten.«

Aha. Also hatte Raschgallivak vielleicht doch etwas Interessantes anzubieten. Muuzh wollte mehr erfahren.

»Trockenbehälter werden dazu benutzt, Keimlinge und Embryos über große Entfernungen hinweg zu transportieren, ohne sie einzufrieren. Sie hat mir gesagt, daß sie ihr gesamtes Labor an einen entfernten Ort verlegen will und dafür Trockenbehälter braucht.«

»Und du hast ihr nicht geglaubt.«

»Es ist unvorstellbar, daß Schedemei ihr Labor ausgerechnet jetzt verlegen will. Die Gefahr ist eindeutig vorbei, und normalerweise hätte sie sich einfach in ihre Arbeit vergraben. Sie ist eine sehr hingebungsvolle Wissenschaftlerin. Sie nimmt die Welt um sie herum kaum wahr.«

»Also vermutest du, daß dieser Plan von Rasa kommt.«

»Rasa ist seit vielen Jahren mit Wetsch verheiratet — mit Volemak, dem ehemaligen Wetschik. Er hat die Stadt vor einigen Wochen verlassen, angeblich, weil eine Vision der Überseele es ihm befohlen hat. Seine Söhne kamen in die Stadt zurück und versuchten, Gaballufix den Palwaschantu-Index abzukaufen.«

Raschgallivak hielt inne, als wartete er darauf, daß Muuzh einen Zusammenhang sah; aber natürlich wußte Raschgallivak, daß es Muuzh an den notwendigen Informationen mangelte, irgendeine Schlußfolgerung zu ziehen. Raschgallivak versuchte auf diese Weise, Muuzh klarzumachen, daß er ihn brauchte. Aber Muuzh hatte nicht die Absicht, sich auf dieses Spiel einzulassen. »Entweder du sagst es mir, oder du sagst es mir nicht«, erklärte er. »Dann werde ich entscheiden, ob ich dich brauchen kann oder nicht. Wenn du weiterhin glaubst, du könntest mein Urteil beeinflussen, erweist du dich nur als wertlos für mich.«

»Es ist klar, daß Volemak noch immer davon träumt, hier in Basilika zu herrschen. Warum sonst wollte er den Index haben? Er ist nur von Wert als Symbol der Macht unter den Palwaschantu; er erinnert sie an die sehr, sehr lange zurückliegende Zeit, als sie nicht von Frauen beherrscht wurden. Rasa ist seine Frau und eine sehr mächtige obendrein. Sie kann dir schon allein gefährlich werden — gemeinsam mit ihrem Mann wäre sie eine wahrhaft furchtbare Bedrohung. Wer sonst könnte die Stadt gegen dich vereinen? Schedemei würde sich nicht auf diese Reise vorbereiten, wenn Rasa sie nicht darum gebeten hätte. Daher müssen Rasa und Volemak einen Plan haben, zu dessen Durchführung sie Trockenbehälter benötigen.«

»Und was für ein Plan wäre das?«

»Wie ich schon sagte, Schedemei ist eine brillante Genetikerin. Was, wenn sie irgendeinen Schimmel oder Pilz entwickelt, der sich wie eine Krankheit in Basilika ausbreitet? Und nur Rasas und Volemaks Gefolgsleute hätten das Mittel, mit dem man ihn abtöten kann?«

»Ein Pilz. Und du glaubst, das wäre eine Waffe gegen die Soldaten der Gorajni?«

»Noch nie wurde so etwas als Waffe benutzt, Herr«, sagte Raschgallivak. »Ich kann es mir selbst kaum vorstellen. Aber stelle dir einmal vor, wie gut deine Soldaten kämpfen würden, wenn ihre Körper mit einem scheußlichen, unerträglichen Juckreiz bedeckt wären.«

»Ein Juckreiz«, echote Muuzh. Es klang absurd, lachhaft. Und doch könnte es vielleicht funktionieren — Soldaten, die von einem juckenden, nicht auszurottenden Pilz befallen waren, würden nicht gut kämpfen. Noch konnte man die Stadt problemlos beherrschen, wenn die Menschen unter solch einer Krankheit litten. Regierungen wurden nie geliebt, wenn sie mit Krankheiten oder Hungersnöten nicht fertig wurden. Muuzh hatte diese Tatsache schon oft gegen Feinde des Imperators benutzt. War es möglich, daß Rasa und Volemak so klug, so bösartig waren, daß sie sich eine so unvorstellbare Waffe vorstellen konnten? Eine Wissenschaftlerin als Waffenschöpferin zu mißbrauchen — wie konnte Gott zulassen, daß so etwas Abscheuliches über die Welt kam?

Außer …

Außer, Rasa und Volemak haben gelernt, genau wie ich, sich Gott zu widersetzen. Warum sollte ich der einzige sein, der die Kraft hat, Gottes Bemühungen zu ignorieren, die Menschen dumm zu machen, wenn sie versucht sind, die Straße zu betreten, die zur Macht führt?

Andererseits jedoch konnte Raschgallivak ein Werkzeug Gottes sein, das ihn in die Irre führen sollte. Es war schon viele Tage lang her, daß Gott versucht hatte, ihn von irgendwelchen Unternehmungen abzuhalten. War es möglich, daß Gott nun versuchte, Muuzh zu kontrollieren, indem er ihn auf törichte, eingebildete Verschwörungen ansetzte, nachdem es ihm nicht gelungen war, ihn direkt zu beherrschen? Viele Generale waren von solchen Phantasievorstellungen wie der vernichtet worden, die Raschgallivak ihm gerade unterbreitet hatte.

»Könnten die Trockenbehälter nicht für etwas anderes bestimmt sein?« fragte Muuzh versuchshalber.

»Natürlich«, sagte Raschgallivak. »Ich habe nur auf die gefährlichsten Möglichkeiten hingewiesen. Trockenbehälter sind auch ideal dafür, Vorräte durch die Wüste zu transportieren. Volemak und seine Söhne — insbesonders Elemak, sein ältester Junge — sind mit der Wüste vertrauter als die meisten anderen. Sie fürchten sie nicht. Vielleicht wollen sie ein Heer aufbauen. Du hast doch nur tausend Mann hier.«

»Das restliche Heer der Gorajni wird bald hier sein.«

»Vielleicht braucht Volemak deshalb nur zwölf Trockenbehälter — er muß sein kleines Heer nur für eine kurze Zeit unterhalten.«

»Heer«, sagte Muuzh verächtlich. »Zwölf Trockenbehälter. Man hat dich mit einer Zahlungsanweisung für Juwelen von sehr hohem Wert aufgegriffen. Woher weiß ich, daß man dich nicht bestochen hat, mir törichte Lügen zu erzählen und meine Zeit zu verschwenden?«

»Man hat mich nicht aufgegriffen, Herr. Ich habe mich deinen Soldaten freiwillig gestellt. Und ich habe die Zahlungsanweisung statt der Juwelen mitgebracht, damit du sehen kannst, daß Schedemei sie eigenhändig ausgestellt hat. Dieser Betrag ist viel höher, als es dem Wert der Trockenbehälter angemessen wäre. Sie versucht eindeutig, mein Schweigen zu kaufen.«

»Soweit ist es also mit dir gekommen, Raschgallivak. Vor ein paar Tagen hast du dich noch für den Herren der Stadt gehalten. Und jetzt verrätst du deinen ehemaligen Herren erneut, um dich bei einem neuen beliebt zu machen. Erkläre mir, warum ich mich bei deinem Anblick nicht übergeben sollte.«

»Weil ich dir nützlich sein kann.«

»Ja, das kann ich mir vorstellen, wie ein bösartiger, aber hungriger Hund. Raschgallivak, welchen Knochen soll ich dir vorwerfen?«

»Mein Leben, Herr?«

»Dein Leben wird nie wieder dir gehören, solange du lebst. Also frage ich dich erneut, an welchem Knochen du nagen willst.«

Raschgallivak zögerte.

»Wenn du vorgibst, mir oder dem Imperator oder der Stadt aus irgendwelchen selbstlosen Motiven dienen zu wollen, werde ich dich ausweiden und noch in dieser Stunde auf dem Marktplatz verbrennen lassen.«

»Verräter werden hier nicht verbrannt. Dann würden die Bürgerinnen Basilikas dich für ein Ungeheuer halten.«

»Ganz im Gegenteil«, sagte Muuzh. »Wenn ich dir diese Behandlung angedeihen ließe, würden sie sich freuen. Niemand ist so zivilisiert, daß er keinen Geschmack an dieser Rache finden würde, auch wenn er sich später schämen würde, daß er das Leiden seines Feindes so genossen hat.«

»Hör auf, mir zu drohen, General«, sagte Raschgallivak. »Ich habe ein Leben in Schrecken geführt und es gerade erst aufgegeben. Töte mich oder auch nicht, lasse mich foltern oder auch nicht, es interessiert mich nicht: Nur entscheide dich, was du tun möchtest.«

»Sag mir zuerst, was du willst. Dein geheimes Begehren. Dein Traum. Den besten Ausgang, den diese Ereignisse für dich nehmen konnten.«

Erneut zögerte er. Doch diesmal fand er die Kraft, seiner Begierde Ausdruck zu verleihen. »Herrin Rasa«, flüsterte er.

Muuzh nickte leicht. »Also ist der Ehrgeiz in dir doch noch nicht gestorben«, sagte er. »Du träumst noch immer davon, unendlich weit über deiner eigentlichen Stellung zu leben.«

»Ich habe es dir gesagt, weil du darauf bestanden hast, Herr. Ich weiß, daß es niemals Wirklichkeit werden kann.«

»Raus hier«, sagte Muuzh. »Meine Männer werden dafür sorgen, daß du baden kannst. Und dir neue Kleidung geben. Du wirst noch mindestens eine weitere Nacht lang leben.«

»Danke, Herr.«

Die Soldaten kamen herein und führten Raschgallivak ab — aber diesmal, ohne ihm zuzusetzen, ohne Brutalität. Nicht, daß Muuzh den Entschluß gefaßt hätte, Raschgallivak zu benutzen. Seine Tod war noch immer eine attraktive Möglichkeit — Muuzh konnte sich am eindrucksvollsten zum Herren von Basilika ausrufen, wenn er die Gerechtigkeit so öffentlich vollzog, und damit auch so deutlich gegen alle Gesetze und Gebräuche Basilikas und gegen jeden Anstand verstieß. Dem Volk würde es gefallen, und weil es ihm gefiel, würde es aufhören, das alte Basilika zu bilden. Es würde zu etwas Neuem werden. Zu einer neuen Stadt.

Meiner Stadt.

Raschgallivak mit Rasa verheiratet. Das war ein häßlicher Gedanke, den ein abscheulicher, kleiner Geist ersonnen hatte. Und doch konnte man Rasa damit erniedrigen, und viele Bürgerinnen Basilikas würden sie dann endgültig für eine Verräterin halten. Und doch wäre sie noch immer eine der führenden Bürgerinnen Basilikas und von einer Aura der Legitimität umgeben. Schließlich stand sie auf Bitankes Liste. Wie auch Raschgallivak.

Es war eine gute Liste gewesen. Gut durchdacht und ziemlich gewagt. Bitanke war ein kluger Mann und sehr nützlich. Zum Beispiel war er immerhin so klug, Muuzh’ Überzeugungskraft nicht zu unterschätzen. Er hatte niemanden nicht auf die Liste gesetzt, nur weil er sich vorstellte, der oder die Betreffende wäre nicht bereit, Muuzh zu dienen, indem er Basilika für ihn beherrschte.

Also überraschte es ihn nicht, daß die Namen, die Raschgallivak als die möglicher Rivalen genannt hatte, ganz oben auf der Liste standen: Volemak und Rasa. Auch Raschgallivaks Name war auf der Liste. Und der von Volemaks Sohn und Erbe, Elemak, sowohl wegen seiner Befähigung als auch wegen seiner Herkunft. Und auch Volemaks und Rasas jüngster Sohn, Nafai — weil er diese beiden großen Namen verband und weil er Gaballufix mit eigenen Händen getötet hatte.

War jeder, der Muuzh’ Zwecken dienen könnte, irgendwie mit Rasas Haus verbunden? Auch das überraschte ihn nicht — in den meisten Städten, die er erobert hatte, gab es höchstens zwei oder drei Klans, die eliminiert oder zur Zusammenarbeit gezwungen werden mußten, um die Bevölkerung zu kontrollieren. Fast alle anderen auf Bitankes Liste waren viel zu schwach, um die Stadt ohne ständige Hilfe von Muuzh zu beherrschen, wie Bitanke selbst klargestellt hatte: Sie waren zu eng mit bestimmten Fraktionen verbunden oder zu isoliert, um überhaupt Unterstützung zu bekommen.

Die beiden einzigen, die nicht verwandtschaftlich mit Volemak oder Rasa verbunden waren, waren Nichten in Rasas Haus: die Wasserseherin Luet und die Entwirrerin Huschidh. Sie waren natürlich noch Kinder und kaum imstande, ein schwieriges Regierungsamt zu übernehmen. Doch sie hatten bei den Frauen Basilikas ein gewaltiges Ansehen, besonders die Wasserseherin. Sie wären nur Galionsfiguren, doch wenn in Wirklichkeit Raschgallivak die Dinge handhabte und Bitanke Raschgallivak im Auge behielt und die Galionsfiguren davor schützte, gegen Muuzh’ Interessen manipuliert zu werden, würde in der Stadt Ruhe und Ordnung herrschen, während Muuzh seine Aufmerksamkeit den wirklichen Problemen zuwenden konnte — den Städten der Ebene und dem Imperator.

Raschgallivak und Rasa als Ehepaar. Es klang so angenehm dynastisch. Zweifellos sahen Rasch’ Träume auch vor, Muuzh eines Tages zu verdrängen und aus eigenem Recht zu herrschen. Nun ja, Muuzh konnte ihm diese Träume kaum verübeln. Aber es würde bald eine Dynastie geben, die Rasch’ armselige Träume bei weitem übertreffen würde. Rasch konnte die Herrin Rasa zur Frau nehmen, doch was war das schon angesichts der ruhmreichen Ehe zwischen der Wasserseherin oder der Entwirrerin und General Muuzh persönlich? Das wäre eine Dynastie, die tausend Jahre lang Bestand haben konnte. Das wäre eine Dynastie, die das schwache Haus dieses armseligen, kleinen Mannes stürzen konnte, der es wagte, sich als Inkarnation Gottes auszugeben — der Imperator, dessen Macht nichts sein würde, wenn Muuzh sich entschloß, gegen ihn zu ziehen.

Am besten daran war jedoch, daß Muuzh den Triumph erringen würde, an dem ihm am meisten lag, wenn er eine dieser erwählten Sprecherinnen der Überseele heiratete und benutzte: den Triumph über Gott. Du warst nie stark genug, mich zu beherrschen, o Allmächtiger. Und nun werde ich deine auserwählte Tochter nehmen, die mit deinen Visionen erfüllt ist, und sie zur Mutter einer Dynastie machen, die dir trotzen und all deine Pläne und Werke vernichten wird.

Halte mich auf, wenn du kannst! Ich bin viel zu stark für dich!

Nafai fand Luet und Huschidh zusammen; sie warteten in dem geheimen Versteck auf dem Dach auf ihn. Sie schauten sehr ernst drein, was nicht dazu beitrug, die Furcht in Nafais Herz zu beruhigen. Bis jetzt hatte Nafai sich nie zu jung gefühlt; er hatte sich immer für eine vollwertige Person gehalten, die allen anderen gleichberechtigt war. Doch nun machte ihm seine Jugend zu schaffen. Er hatte bislang niemals, an eine Heirat gedacht, nicht einmal überlegt, wen er heiraten sollte. Überdies war diese Verbindung nun nicht mehr die problemlose, zeitlich befristete Vereinigung, als die er seine erste Ehe immer angesehen hatte. Seine Gattin würde wahrscheinlich die einzige für sein ganzes Leben sein, und wenn ihre Verbindung nicht funktionierte, würde es für ihn keinen Ausweg mehr geben. Als er Luet und \ 238

Huschidh sah, die ihn beide so ernst musterten, während er über das sonnenhelle Dach ging, fragte er sich erneut, ob er dazu imstande war: ob er diese Luet heiraten konnte, die in den Augen der Überseele so perfekt und weise war. Sie hatte sich der Überseele mit Liebe, Hingabe und Mut verschrieben — während er wie ein ungezogenes Kind vor sie getreten war, das seine unbekannten Eltern verspotten und auf die Probe stellen wollte. Sie hatte eine jahrelange Erfahrung mit der Kommunikation mit der Überseele; noch wichtiger war vielleicht sogar, daß sie jahrelang zu den Frauen Basilikas für die Überseele gesprochen hatte. Sie wußte, wie man andere Menschen beherrschen konnte — hatte er es nicht selbst am Ufer des Sees der Frauen erlebt, als sie den anderen getrotzt und sein Leben gerettet hatte?

Werde ich als Mann oder als Kind zu dir kommen? Als Partner oder als Schüler?

»Also ist der Familienrat vorbei«, sagte Huschidh, als er endlich so nahe war, daß er sie hören konnte.

Er setzte sich auf den Teppich unter der Markise. Der Schatten verschaffte ihm etwas Erleichterung von der Hitze. Unter seiner Kleidung tropfte Schweiß. Er ließ ihn seines eigenen nackten Körpers bewußt werden, der jetzt noch vor allen Blicken verborgen war. Wenn er Luet heiratete, würde er ihr diesen Körper heute nacht anbieten müssen. Wie oft hatte er von solch einem Angebot geträumt? Und doch hatte er kein einziges Mal daran gedacht, an ein Mädchen zu geraten, das ihn mit Ehrfurcht und Schüchternheit erfüllte, obwohl es selbst noch ohne jede Erfahrung war; in seinen Träumen war die Frau immer für ihn bereit gewesen, wie er ein kühner und erfahrener Liebhaber gewesen war. In dieser Nacht würde es nichts dergleichen geben.

Plötzlich überkam ihn ein quälender Gedanke. Was, wenn Luet noch nicht bereit war? Was, wenn sie noch nicht einmal eine Frau war? Er sprach schnell ein stummes Gebet zur Überseele, konnte es jedoch nicht beenden, weil er nicht einmal wußte, ob er darauf hoffte, daß sie eine Frau war, oder darauf, daß sie keine war.

»Wie vertraut die Bande bereits gewoben sind«, sagte Huschidh.

»Wovon sprichst du?« fragte Nafai.

»Wir sind durch so viele Fäden mit der Zukunft verbunden. Die Über seele hat der lieben Luet hier immer gesagt, sie wolle, daß die Menschen ihr freiwillig folgen. Aber ich glaube, sie hat uns in einem sehr eng gesponnenen Netz gefangen und läßt uns so viele Wahlmöglichkeiten wie einem Fisch, den man aus dem Wasser gezogen hat.«

»Wir haben Wahlmöglichkeiten«, sagte Nafai. »Wir haben immer die Wahl.«

»Wirklich?«

Ich möchte nicht mit dir sprechen, Huschidh. Ich kam her, um mit Luet zu sprechen.

»Wir haben die Wahl, der Überseele zu folgen oder nicht«, sagte Luet, und ihre Stimme klang, verglichen mit Huschidhs barscheren Tönen, ganz weich und freundlich. »Und wenn wir uns entscheiden, ihr zu folgen, verfangen wir uns nicht in ihrem Netz, sondern lassen uns vielmehr in ihrem Korb in die Zukunft tragen.«

Huschidh lächelte fahl. »Wir sind immer fröhlich, nicht wahr, Lud] a?«

Eine Flaute im Gespräch.

Wenn ich ein Mann und Gatte sein soll, muß ich lernen, kühn zu handeln, auch wenn ich Angst habe. »Luet«, begann er. Dann: »Lutja.«

»Ja?« sagte sie.

Aber er konnte nicht ignorieren, daß sich Huschidhs Blicke geradezu in ihn zu bohren schienen, daß sie Dinge in ihm sah, von denen er nicht wollte, daß sie sie sah.

»Huschidh«, sagte er, »könnte ich allein mit Luet sprechen?«

»Ich habe vor meiner Schwester keine Geheimnisse«, sagte Luet.

»Und wird das auch noch der Fall sein, wenn du einen Gatten hast?« fragte Nafai.

»Ich habe keinen Gatten«, sagte Luet.

»Aber wenn du einen hättest, würdest du doch hoffentlich mit ihm deine innersten Gedanken teilen und nicht mit deiner Schwester.«

»Wenn ich einen Gatten hätte, würde ich hoffen, daß er nicht so grausam sein wird, von mir zu verlangen, meine Schwester aufzugeben, die meine einzige Verwandte auf der ganzen Welt ist.«

»Wenn du einen Gatten hättest«, sagte Nafai, »sollte er deine Schwester lieben, als wäre es seine eigene. Aber trotzdem nicht so sehr wie dich, und deshalb solltest du seine Schwester nicht so sehr lieben, wie du ihn liebst.«

»Nicht alle Ehen werden aus Liebe geschlossen«, sagte Luet. »Einige werden geschlossen, weil man keine andere Wahl hat.«

Die Worte trafen ihn tief im Herzen. Sie wußte es natürlich — wenn die Überseele es ihm gesagt hatte, würde sie es bestimmt auch ihr gesagt haben. Und sie brachte ihm damit bei, daß sie ihn nicht liebte, daß sie ihn nur heiratete, weil die Überseele es befahl.

»Fürwahr«, sagte Nafai. »Aber das bedeutet nicht, daß der Mann und die Frau sich nicht mit Zärtlichkeit und Freundlichkeit behandeln können, bis sie gelernt haben, einander zu vertrauen. Es bedeutet nicht, daß sie nicht beschließen können, sich zu lieben, auch wenn sie die Ehe nicht aus freiem Willen geschlossen haben.«

»Ich hoffe, es stimmt, was du sagst.«

»Ich verspreche dir, es wahrzumachen, wenn du mir dasselbe versprichst.«

Luet betrachtete ihn mit einem verärgerten Lächeln auf dem Gesicht. »Oh. Fragt mein Gatte mich auf diese Weise, ob ich seine Gattin werden möchte?«

Also hatte er es falsch angefangen. Er hatte sie beleidigt, vielleicht verletzt, bestimmt enttäuscht. Wie sie die Vorstellung verabscheuen mußte, mit ihm verheiratet zu sein. Begriff sie denn nicht, daß er von sich aus ihr so etwas nie aufgezwungen hätte? Als der Gedanke sich in seinem Kopf bildete, kam er auch schon über seine Lippen. »Die Überseele hat uns füreinander bestimmt, und ich bitte dich, mich zu heiraten, obwohl ich Angst vor dir habe.«

»Angst vor mir?«

»Nicht, daß du mir schaden wolltest — du hast mir und meinem Vater das Leben gerettet. Ich habe Angst … vor der Verachtung, die du mir entgegenbringst. Ich habe Angst davor, stets vor dir und deiner Schwester erniedrigt zu werden, weil ihr beiden doch alles Schwache an mir erkennt und auf mich hinabseht. So, wie du mich jetzt siehst.«

Noch nie in seinem Leben hatte Nafai mit so brutaler Offenheit über seine Angst gesprochen; er hatte sich nie vor irgend jemandem so bloßgestellt und verletzlich gefühlt. Er wagte nicht, zu ihr aufzuschauen — zu ihnen —, weil er befürchtete, einen Ausdruck der verwunderten Verachtung auf ihren Gesichtern zu sehen.

»Oh, Nafai, es tut mir leid«, flüsterte Luet.

Ihre Worte kamen als der Schlag, den er am meisten gefürchtet hatte. Sie hatte Mitleid mit ihm. Sie sah, wie schwach und verängstigt und unsicher er war, und er tat ihr leid. Und doch verspürte er sogar im Schmerz dieses Augenblicks der Enttäuschung ein kleines, helles Freudenfeuer in sich. Ich kann es schaffen, dachte er. Ich habe diesen starken Frauen meine Schwäche eingestanden, und doch bin ich noch immer ich, ich lebe noch und wurde keineswegs unterworfen.

»Nafai, ich habe nur an meine eigene Angst gedacht«, sagte Luet. »Ich hätte nie gedacht, daß du genauso empfindest, oder ich hätte Schuja nicht gebeten, bei uns zu bleiben, als du zu mir kamst.«

»Es ist nicht gerade ein Vergnügen, hier zu sein, das kann ich dir versichern«, fügte Huschidh hinzu.

»Es war falsch von mir, dich zu zwingen, diese Dinge in Schujas Gegenwart zu sagen«, fuhr Luet fort. »Und es war falsch von mir, Angst vor dir zu haben. Ich hätte wissen müssen, daß die Überseele dich nicht erwählt hätte, wenn du kein gutes Herz hättest.«

Sie hatte Angst vor ihm?

»Willst du mich nicht ansehen, Nafai?« fragte sie. »Ich weiß, daß du mich noch nie angesehen hast, zumindest nicht mit Hoffnung oder Sehnsucht, aber nachdem die Überseele uns nun einander gegeben hat, könntest du mich nicht wenigstens mit … Freundlichkeit ansehen?«

Wie konnte er nun das Gesicht heben, da ihm doch Tränen in den Augen standen? Andererseits — wie konnte er sich weigern, nachdem sie ihn darum gebeten hatte und er sie enttäuschen würde, falls er es nicht tat? Er sah sie an, und obwohl seine Augen feucht schimmerten — vor Tränen der Freude, der Erleichterung, sogar noch stärkerer Gefühle, die er nicht verstand —, sah er sie, als sähe er sie zum ersten Mal, als wäre ihre Seele plötzlich für ihn durchsichtig geworden. Er sah die Reinheit ihres Herzens. Er sah, wie vollständig sie sich der Überseele verschrieben hatte — und Basilika und ihrer Schwester und ihm. Er sah, daß sie sich in ihrem Herzen danach sehnte, etwas Gutes und Wunderschönes zu errichten, und daß sie sich darauf freute, es gemeinsam mit diesem Jungen zu versuchen, der vor ihr saß.

»Was siehst du, wenn du mich so ansiehst?« fragte Luet mit furchtsamer Stimme, doch immerhin mutig genug, die Frage überhaupt zu stellen.

»Ich sehe, was für eine große und herrliche Frau du bist«, sagte er, »und wie wenig Grund ich hatte, dich zu fürchten, weil du weder mir noch einer anderen Seele jemals Schaden zufügen würdest.«

»Mehr siehst du nicht?« fragte sie.

»Ich sehe, daß die Überseele in dir das perfekteste Beispiel dafür gefunden hat, wozu die gesamte menschliche Rasse werden muß, falls wir unversehrt bleiben und uns nicht erneut vernichten wollen.«

»Sonst nichts?« fragte sie.

»Was kann ich Schöneres sehen als die Dinge, von denen ich gerade gesprochen habe?« /

Mittlerweile hatten sich seine Augen wieder soweit geklärt, daß er sehen konnte, daß sie nun in Tränen auszubrechen drohte — aber keineswegs in Freudentränen.

»Nafai, du armer Narr, du blinder Mann«, sagte Huschidh, »siehst du denn nicht das, von dem sie hofft, daß du es siehst?«

Nein, ich sehe es nicht, dachte Nafai. Ich weiß nicht, was ich jetzt hätte sagen sollen. Ich bin nicht wie Mebbekew, ich bin nicht klug oder taktvoll, und wenn ich spreche, beleidige ich alle, und irgendwie habe ich es schon wieder getan, obwohl ich alles, was ich gesagt habe, ehrlich meine.

Er sah sie an und kam sich ganz hilflos vor; was konnte er tun? Sie sah ihn so begierig an und wartete darauf, daß er ihr — ja, was? — gab. Er hatte sie ehrlich gelobt, ein Lob, das er keiner anderen Frau auf der ganzen Welt hätte aussprechen können, und doch bedeutete es ihr nichts, weil sie mehr von ihm wollte, und er wußte nicht, was. Er verletzte sie mit seinem Schweigen, versetzte ihr einen Stich ins Herz, das sah er — und doch konnte er nichts daran ändern.

Sie war so zerbrechlich, so jung — noch jünger als er. Er hatte das nie zuvor begriffen. Sie war immer so selbstsicher gewesen, und weil sie die Wasserseherin war, hatte er sie immer mit Ehrfurcht behandelt. Er hatte nie begriffen, wie … wie grazil sie war. Wie dünn ihre leuchtende Haut war, wie klein ihre Knochen waren. Ein winziger Stein konnte ihr einen Bluterguß zufügen, und nun habe ich sie mit viel größeren Steinen beworfen, ohne es überhaupt zu bemerken. Verzeih mir, Luet, zartes Kind, sanftes Mädchen. Ich hatte solche Angst um mich, doch es stellte sich heraus, daß ich nicht zerbrechlich war, nicht einmal, als ich glaubte, du und Huschidh, ihr beide hättet mich verhöhnt. Während du, die ich für stark gehalten habe …

Impulsiv kniete er nieder, nahm sie in die Arme und drückte sie an sich, wie man vielleicht ein weinendes Kind festhielt. »Es tut mir leid«, flüsterte er.

»Bitte, es muß dir nicht leid tun«, sagte sie, doch ihre Stimme war hoch, wie die eines Kindes, das sich bemüht, nicht zu weinen, und er fühlte, daß ihre Tränen sein Hemd durchnäßten und ihr Körper vor stillem Schluchzen zitterte.

»Es tut mir leid, daß du nur mich als Gatten bekommst«, sagte er.

»Und mir tut es leid, daß du nur mich als Frau bekommst«, sagte sie. »Nicht die Wasserseherin, nicht das prachtvolle Wesen, das du zu sehen geglaubt hast. Nur mich.«

Endlich begriff er, wonach sie die ganze Zeit über gefragt hatte, und lachte unwillkürlich laut auf, weil er es ihr gerade gegeben hatte, ohne es zu wissen. »Glaubst du etwa, ich hätte diese Dinge zur Wasserseherin gesagt?« fragte er. »Nein, du armes Ding, ich habe diese Dinge zu dir gesagt, zu Luet, zu dem Mädchen, das ich in der Schule meiner Mutter kennengelernt habe, zu dem Mädchen, das mir und allen anderen freche Widerworte gegeben hat, wenn es sich danach fühlte, zu dem Mädchen, das ich jetzt in den Armen halte.«

Da lachte sie — oder schluchzte lauter, er wußte es nicht genau. Aber er wußte, was auch immer sie jetzt tat, es war besser. Mehr hatte sie nicht gebraucht — er hatte ihr sagen müssen, daß er nicht von ihr erwartete, ständig die Wasserseherin zu sein, sondern den zerbrechlichen, keineswegs perfekten Menschen heiraten zu wollen.

Er bewegte seine Hände über ihren Rücken, um sie zu trösten; aber er fühlte auch die Rundungen ihres Körpers, die Geometrie der Rippen und des Rückgrats, die Weichheit der Haut, die straff über Muskeln gespannt war. Seine Hände erkundeten, nahmen sie auf, entdeckten zum erstenmal, wie sich der Rücken einer Frau unter den Händen eines Mannes anfühlte. Sie war wirklich und kein Traum.

»Nicht die Überseele hat dich mir gegeben«, sagte er leise. »Du gibst dich mir selbst.«

»Ja«, sagte sie. »Das stimmt.«

»Und ich gebe mich dir«, sagte er. »Obwohl auch ich der Überseele gehöre.«

Er zog sich etwas zurück, um ihren Hinterkopf in die rechte Hand nehmen zu können, als sie zu ihm aufsah, und um mit Fingern der linken Hand ihre Wange zu berühren.

Dann, plötzlich, als hätten sie beide im gleichen Augenblick denselben Gedanken gehabt — was mit einiger Wahrscheinlichkeit auch zutraf —, wandten sie den Blick voneinander ab und sahen zu der Stelle hinüber, an der Huschidh während des gesamten Gesprächs gesessen hatte.

Aber Huschidh war nicht da. Sie sahen sich wieder an, und Luet sagte bestürzt: »Ich hätte sie nicht dazu bringen sollen, mich hierher zu …«

Sie beendete den Satz nicht, denn in diesem Augenblick lernte Nafai, wie man eine Frau küßt, und obwohl Luet noch nie zuvor einen Mann geküßt hatte, wurde sie zu seiner Lehrmeisterin.

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