General Vozmuzhalnoi Vozmozhno erwachte schwitzend und stöhnend aus seinem Traum. Er öffnete die Augen, streckte die Hand aus und schloß die Finger. Eine andere Hand berührte die seine, hielt sie fest.
Die eines Mannes. Es war General Plodorodnui. Sein vertrauenswürdigster Leutnant. Sein bester Freund. Sein innigster Gefährte.
»Du hast geträumt, Muuzh.« Es war der Spitzname, mit dem nur Plod ihn anzusprechen wagte.
»Ja, allerdings.« Vozmuzhalnoi — Muuzh — erschauerte, als er daran dachte. »Ein eindringlicher Traum.«
»War er unheilvoll?«
»Auf jeden Fall entsetzlich.«
»Erzähle ihn mir. Ich kann mit Träumen etwas anfangen.«
»Ja, ich weiß genau, wie du mit Frauen etwas anfangen kannst. Wenn du mit ihnen fertig bist, sagen sie genau das, was du von ihnen hören willst!«
Plod lachte, wartete dann jedoch. Muuzh wußte nicht, warum er zögerte, Plod diesen Traum zu erzählen. Er hatte ihm so viele andere erzählt. »Na schön, das also war mein Traum. Ich sah einen Mann, der auf einer Lichtung stand, und überall um ihn herum waren schreckliche Flugwesen — keine Vögel, sie waren fellbesetzt, aber viel größer als Fledermäuse. Sie kreisten am Himmel, stießen nieder, berührten ihn. Er stand da und tat nichts. Und als ihn schließlich alle berührt hatten, flogen sie weg, bis auf ein Wesen, das sich auf seine Schulter niederließ.«
»Ah«, sagte Plod.
»Ich bin noch nicht fertig. Augenblicklich kamen riesige Ratten, die aus Erdhöhlen ausschwärmten. Sie waren mindestens einen Meter lang — halb so groß wie der Mann. Und erneut kamen sie, bis alle ihn berührt hatten …«
»Womit? Den Zähnen? Den Pfoten?«
»Und den Nasen. Sie haben ihn berührt, mehr weiß ich nicht. Lenke mich nicht ab.«
»Verzeih mir.«
»Als alle ihn berührt hatten, gingen sie davon.«
»Bis auf eine.«
»Ja. Sie schmiegte sich an sein Bein. Du begreifst das Muster.«
»Was geschah dann?«
Muuzh erschauerte. Es war das Schrecklichste überhaupt gewesen, und doch begriff er nicht, wieso, als die Worte nun über seine Lippen kamen. »Menschen.«
»Menschen? Sie kamen und berührten ihn?«
»Sie … haben ihn geküßt. Seine Hände, seine Füße. Sie haben ihn angebetet. Tausende. Aber sie haben nicht nur den Mann geküßt. Sie haben auch das … Flugding geküßt. Und die Riesenratte, die sich an sein Bein schmiegte. Sie haben sie alle geküßt.«
»Ah«, sagte Plod. Er wirkte besorgt.
»Und? Was hat der Traum zu bedeuten? Was sagt er voraus?«
»Offensichtlich ist der Mann, den du gesehen hast, der Imperator.«
Manchmal klangen Plods Interpretationen wie die Wahrheit, doch diesmal rebellierte Muuzh’ Herz bei der Vorstellung, den Imperator mit dem Mann in dem Traum in Verbindung zu bringen. »Warum ist das offensichtlich? Er sah gar nicht aus wie der Imperator.«
»Natürlich, weil die gesamte Natur und die Menschheit ihn verehrt hat.«
Muuzh zuckte mit den Schultern. Das war wohl kaum eine von Plods scharfsinnigsten Interpretationen. Und er hatte nie davon gehört, daß Tiere den Imperator mochten, der sich für einen großen Jäger hielt. Natürlich jagte er nur in einem seiner Parks, in denen alle Tiere gezähmt waren und die Furcht vor Menschen verloren hatten und in denen alle Raubtiere darauf dressiert waren, sich wild zu gebärden, aber niemals zuzuschlagen. Der Imperator bekam die Gelegenheit, seine Rolle in dem großen Schauspiel des Kampfes zwischen Mensch und Tier zu spielen, geriet aber niemals in Gefahr, da das Tier sich arglos seinem schnellen Pfeil, seinem sicheren Speerwurf, seiner gnadenlosen Klinge darbot. Falls dies Verehrung war, falls dies Natur war, ja, dann konnte man sagen, daß die gesamte Natur den Imperator verehrte und anbetete …
Plod wußte natürlich nichts von Muuzh’ Gedanken in dieser Hinsicht; wenn man schon das Unglück hatte, ätzend scharfe Gedanken über den Imperator zu hegen, achtete man sorgsam darauf, seine Freunde nicht damit zu belasten.
Also fuhr Plod mit seiner Interpretation von Muuzh’ Traum fort. »Was für ein Vorzeichen liegt in dieser Verehrung des Imperators? An sich gar keins. Aber die Tatsache, daß du dich aufgelehnt hast, daß du entsetzt zurückgeschreckt bist …«
»Sie haben eine Ratte geküßt, Plod! Sie haben dieses abscheuliche Fluggeschöpf geküßt …«
Doch Plod sagte nichts, als er mitten im Satz verstummte. Sagte nichts und beobachtete ihn.
»Mich entsetzt keineswegs der Gedanke, daß Menschen den Imperator verehren. Ich habe selbst vor dem Unsichtbaren Thron gekniet und die Ehrfurcht seiner Gegenwart verspürt. Es war nicht schrecklich, es war … adelnd.«
»Das sagst du«, erwiderte Plod. »Aber Träume lügen nicht. Vielleicht mußt du dich von etwas Bösem in deinem Herzen säubern.«
»Hör mal, du hast doch gesagt, ich hätte den Imperator in meinem Traum gesehen. Wieso kann dieser Mann nicht der … keine Ahnung … der Herrscher Basilikas gewesen sein?«
»Weil die elende Stadt Basilika von Frauen beherrscht wird.«
»Dann eben nicht Basilika. Aber ich glaube trotzdem, der Traum galt …«
»Ja? Wem?«
»Woher soll ich das wissen? Ich werde mich reinigen, nur für den Fall, daß du recht haben solltest. Ich bin schließlich kein Traumdeuter.« Das bedeutete, daß er heute einige Stunden im Zelt des Fürsprechers verschwenden mußte. Es war so ermüdend, doch es war auch politisch notwendig, jeden Monat dort eine gewisse Zeit zu verbringen, oder Berichte über die Gottlosigkeit des Betreffenden gelangten schon bald nach Gollod, wo der Imperator von Zeit zu Zeit entschied, wer eines Kommandos und wer der Erniedrigung oder des Todes würdig war. Muuzh mußte sich sowieso bald im Tabernakel des Fürsprechers sehen lassen, doch er konnte den Gedanken daran nicht ausstehen, wie ein kleiner Junge den Gedanken an ein Bad nicht ausstehen konnte. »Laß mich allein, Plod. Du hast mich sehr unglücklich gemacht.«
Plod kniete vor ihm nieder und nahm Muuzh’ rechte Hand zwischen die seinen. »Ach, verzeih mir.«
Muuzh verzieh ihm natürlich sofort, denn sie waren Freunde. Später an diesem Morgen brach er auf und tötete die Vorsteher eines Dutzends Khlami-Dörfer. Augenblicklich schworen die Dörfler dem Imperator ihre ewige Liebe und Hingabe, und als General Vozmuzhalnoi Vozmozhno an diesem Abend ins heilige Tabernakel ging, um sich zu reinigen, verzieh der Fürsprecher ihm recht bereitwillig, denn er hatte an diesem Tag viel dazu beigetragen, die Ehre und Erhabenheit des Imperators zu vergrößern.
Sie kamen, um Kokor singen zu hören, kamen aus ganz Basilika zusammen, und Kokor erfreute sich daran, wie ihre Gesichter sich aufhellten, als sie — endlich — auf die Bühne trat und die Musiker sanft an den Saiten zupften oder in der leisen Unterströmung der Töne, die stets ihre Begleitung darstellten, Atem durch ihre Instrumente streichen ließen. Kokor wird endlich für uns singen, sagten ihre Gesichter. Sie mochte diesen Ausdruck auf ihren Gesichtern mehr als jeden anderen, den sie je gesehen hatte, mehr als den Ausdruck eines Mannes, den in den letzten Augenblicken vor der Befriedigung die Lust überwältigte. Denn sie wußte sehr wohl, daß es einem Mann ziemlich gleichgültig war, wer ihm das Vergnügen der Liebe schenkte, während das Publikum unbedingt wollte, daß Kokor auf die Bühne trat und den Mund öffnete, damit es die hohen, immer höher steigenden Töne ihrer unglaublich süßen Gesangsstimme vernehmen konnte, die wie Blütenblätter auf einem Bach über die Musik trieben.
Zumindest wollte sie, daß es so war, und stellte es sich genauso vor, bis sie dann tatsächlich auf die Bühne trat und sah, wie das Publikum sie betrachtete. Heute bestand es hauptsächlich aus Männern. Männer, die sie mit den Blicken geradezu verschlangen. Ich sollte mich weigern, in Komödien zu singen, sagte sie sich wieder. Ich sollte darauf bestehen, genauso ernst genommen zu werden, wie sie meine geliebte Schwester Sevet mit ihrer männlich tiefen, froschartigen, gekünstelten Stimme ernst nehmen. Oh, sie betrachten sie mit Gesichtern der ästhetischen Ekstase. Männer genau wie Frauen. Ihren Körper verschlingen sie nicht mit den Blicken, um zu sehen, wie er sich unter dem Stoff ihres Gewandes bewegt. Was natürlich zum Teil auch daran liegen mochte, daß ihr Körper dermaßen schlaff und weich war, daß es kein Vergnügen war, ihn zu beobachten, und daß er sich wie Kies unter ihrem Kostüm bewegte. Das arme Ding. Natürlich schließen sie die Augen und lauschen ihrer Stimme — das ist doch viel, viel schöner, als ihren Körper zu betrachten.
Was für eine Lüge. Was für eine Lügnerin bin ich doch, sogar, wenn ich nur mit mir selbst spreche!
Ich darf nicht so ungeduldig sein. Es ist nur eine Frage der Zeit. Sevet ist älter — ich bin gerade mal achtzehn Jahre alt.
Auch sie mußte in Komödien auftreten, eine Zeitlang, bis sie bekannt war.
Kokor erinnerte sich daran, was ihre Schwester in jenen frühen Tagen gesagt hatte — vor über zwei Jahren, als Sevets siebzehnter Geburtstag nahte. Ständig hatte sie die Leidenschaft ihrer Bewunderer dämpfen müssen, die die unangenehme Eigenschaft hatten, in Erwartung augenblicklicher Liebe ihre Garderobe zu betreten, bis sie schließlich einen Leibwächter anheuern mußte, der die leidenschaftlichsten von ihnen entmutigen sollte. »Es geht nur um Sex«, hatte Sevet damals gesagt. »Die Lieder, die Aufführungen, alles dreht sich nur um Sex, und nur davon träumt das Publikum. Man muß nur darauf achten, daß man es nicht zu gut träumen läßt — oder zu spezifisch!«
Ein guter Rat? Wohl kaum. Je mehr das Publikum von dir träumt, desto größer ist der Wert deines Namens auf den Handzetteln, mit denen für das Stück geworben wird. Bis du schließlich, falls du Glück hast, so gut bist, daß auf den Flugblättern der Titel des Stücks gar nicht mehr erscheint. Sondern nur dein Name und der Ort und der Tag und die Stunde … und wenn du auftrittst, sind sie alle da, Hunderte von ihnen, und wenn die Musik zu spielen beginnt, sehen sie dich nicht mehr an, als wärest du die letzte Hoffnung eines ausgehungerten Mannes, sondern der höchste Traum eines erhabenen Geistes.
Kokor schritt zu ihrem Platz auf der Bühne — und es gab Applaus, als sie auftrat. Sie drehte sich zum Publikum um und stieß einen hohen Triller aus.
»Was soll das?« fragte Gulja, der Schauspieler, der den Wüstling darstellte. »Schreist du schon? Ich habe dich doch noch nicht mal angefaßt.«
Das Publikum lachte — aber nicht laut genug. Dieses Stück steckte in Schwierigkeiten. Sie hatte genau gewußt, daß dieses Stück von Anfang an seine Schwächen gehabt hatte, aber bei einem so oberflächlichen Gelächter wie diesem war es nicht mehr zu retten. In ein paar Tagen würde sie also wieder mit neuen Proben anfangen müssen. Ein anderes Stück.
Andere dumme Texte und dumme Melodien, die sie sich einprägen mußte.
Sevet konnte selbst entscheiden, was sie sang. Die Komponisten kamen zu ihr und baten sie zu singen, was sie geschrieben hatten. Sevet mußte ihre Stimme nicht mißbrauchen, nur, um die Leute zum Lachen zu bringen.
»Ich habe nicht geschrien«, sang Kokor.
»Aber jetzt schreist du!« sang Gulja, während er sich an sie heranmachte und sie zu befummeln begann. Sein tiefer Baß war immer gut für einen Lacher, wenn er ihn auf diese Weise einsetzte, und er hatte das Publikum im Griff. Vielleicht konnten sie das Stück ja doch noch aus dem Dreck ziehen.
»Aber jetzt faßt du mich an!« Und ihre Stimme hob sich zu ihrem höchsten Ton und hing in der Luft …
Wie ein Vogel, wie ein sich aufschwingender Vogel, falls sie die Schönheit des Tons nur zu schätzen wußten.
Gulja zog eine schreckliche Grimasse und nahm die Hand von ihrer Brust. Augenblicklich ließ sie den Ton um zwei Oktaven fallen. Sie bekam den Lacher. Den besten Lacher der Szene bis jetzt. Aber sie wußte, daß die Hälfte des Publikums lachte, weil Gulja so eine komische Miene zog, als er die Hand von ihrer Brust nahm. Er war ein Meister, ein wirklicher Meister des Fachs. Schade, daß seine Art der Komik in letzter Zeit etwas aus der Mode gekommen war. Er war mit dem Alter nur besser geworden, und doch entglitt ihm das Publikum. Es bevorzugte die verbitterteren, garstigeren, körperbezogenen Komödien der jungen Satiriker. Die brutalen, gewalttätigen Komödien, die zumindest immer die Illusion vermittelten, jemanden zu verletzen.
Die Szene ging weiter. Die Lacher kamen. Die Szene endete. Applaus. Kokor hastete erleichtert von der Bühne — und enttäuscht. Niemand im Publikum intonierte ihren Namen; noch nicht einmal einer hatte auch nur gepfiffen. Wie lange würde sie noch warten müssen?
»Zu nett«, sagte Tumannu, die Bühnenbesitzerin, mit verdrossenem Gesicht. »Der Ton soll klingen, als würdest du den sexuellen Höhepunkt erreichen. Und nicht wie ein Vogelschrei.«
»Ja, ja«, sagte Kokor. »Es tut mir leid.« Sie pflichtete immer allen bei und tat dann, was sie wollte. Diese Komödie war ihrer nicht würdig, wenn sie nicht zumindest dann und wann ihre Stimme in ihrem besten Licht präsentieren konnte. Und mit ihrem Triller hatte sie doch die Lacher bekommen, oder etwa nicht? Also konnte niemand behaupten, sie habe etwas falsch gemacht. Tumannu wollte nur, daß sie gehorsam war. Gehorsam war etwas für Kinder und Ehemänner und Haustiere.
»Nicht wie ein Vogel«, sagte Tumannu erneut.
»Wie wäre es denn mit einem Vogel, der den sexuellen Höhepunkt erreicht?« sagte Gulja, der direkt nach ihr die Bühne verlassen hatte.
Kokor kicherte, und sogar Tumannu zeigte ihr verdrossenes, verkniffenes Lächeln.
»Jemand wartet auf dich, Kjoka«, sagte Tumannu.
Es war ein Mann. Aber kein Liebhaber ihrer Kunst, oder er wäre im Publikum gewesen und hätte ihre Darstellung beobachtet. Sie hatte ihn schon einmal gesehen. Ja, genau – er ließ sich gelegentlich sehen, wenn Mutters ständiger Gatte, Wetschik, zu Besuch kam. Er war Wetschiks oberster Diener, nicht wahr? Verwalter der Gärtnerei für exotische Blumen, wenn Wetschik mit einer Karawane unterwegs war. Wie hieß er noch gleich?
»Ich bin Raschgallivak«, sagte er. Er wirkte sehr ernst.
»Ach?« sagte sie.
»Ich bedaure zutiefst, dir mitteilen zu müssen, daß deinen Vater durch brutale Gewalt sein Schicksal ereilt hat.«
Was für eine außergewöhnliche Mitteilung. Sie könnte ihr im ersten Augenblick kaum Sinn entnehmen. »Jemand hat ihn verletzt?«
»Letal, gnädiges Fräulein.«
»Oh«, sagte sie. Irgendeine Bedeutung lag dahinter, und sie würde sie finden. »Oh, das heißt also, er ist … tot?«
»Auf der Straße angesprochen und kaltblütig ermordet«, sagte Raschgallivak.
Es kam eigentlich gar nicht überraschend, wenn man darüber nachdachte. Vater hatte sich in letzter Zeit zu einem wahren Tyrannen entwickelt und all diese maskierten Soldaten auf die Straßen gebracht. Jeden in Angst und Schrecken versetzt. Andererseits war Vater so stark und mächtig, daß man sich kaum vorstellen konnte, jemand könne längerfristig seine Pläne durchkreuzen. Ganz bestimmt nicht auf Dauer. »Es besteht keine Hoffnung auf … Genesung?«
Gulja stand ganz in ihrer Nähe, so daß er sich nun problemlos an dem Gespräch beteiligen konnte. »Es scheint sich um einen normalen Todesfall zu handeln, mein Fräulein, was bedeutet, daß die Prognose nicht gerade besonders gut ist.«Er kicherte.
Raschgallivak stieß ihn ziemlich kräftig an, und er taumelte zurück. »Das war nicht lustig«, sagte er.
»Läßt man die Kritiker jetzt hinter die Bühne?« sagte Gulja. »Während der Vorstellung?«
»Verschwinde, Gulja«, sagte Kokor. Es war ein Fehler gewesen, mit dem alten Mann zu schlafen. Seitdem glaubte er, irgendeinen Anspruch auf eine intime Beziehung mit ihr zu haben.
»Natürlich wäre es am besten, wenn du mich begleiten würdest«, sagte Raschgallivak.
»Aber nein«, sagte Kokor. »Nein, das wäre nicht am besten.« Wer war der Mann? Er war nicht mit ihr verwandt; zumindest nicht, daß sie wüßte. Sie mußte zu Mutter gehen. Wußte Mutter es schon? »Weiß Mutter …«
»Natürlich habe ich es ihr als erste gesagt, und sie hat mir gesagt, wo ich dich finden kann. Wir haben sehr gefährliche Zeiten, und ich habe ihr versprochen, dich zu beschützen.«
Kokor wußte natürlich, daß er log. Warum sollte dieser Fremde sie beschützen? Wovor? Sie brauchte ihn doch überhaupt nicht. Aber die Männer waren immer so, beharrten darauf, daß eine Frau, die nicht das geringste zu befürchten hatte, behütet werden mußte. Besitzrecht, das meinten Männer immer, wenn sie von Schutz sprachen. Wenn sie wollte, daß ein Mann sie besaß, konnte sie auf ihren Gatten zurückgreifen. Es war wohl kaum nötig, daß dieser alte Graubart auf sie aufpaßte.
»Wo ist Sevet?«
»Wir haben sie noch nicht gefunden. Ich muß darauf bestehen, daß du mich begleitest.«
Jetzt mußte sich auch noch Tumannu einmischen. »Sie geht nirgendwohin. Sie hat noch drei Szenen, einschließlich des Höhepunkts.«
Raschgallivak drehte sich zu ihr um, und nun hatte er eine gewisse Erhabenheit an sich und nicht mehr nur diese verschwommene Verstörtheit. »Ihr Vater wurde getötet«, sagte er. »Und du gehst davon aus, sie wird hierbleiben, um ein Stück zu Ende zu spielen?« Oder war die Erhabenheit schon immer vorhanden gewesen, und sie hatte sie einfach nur nicht bemerkt?
»Sevet sollte es erfahren«, sagte Kokor.
»Wir werden es ihr sagen, sobald wir sie gefunden haben.«
Wer ist wir! Schon gut, dachte Kokor. Ich weiß, wo man sie finden kann. Ich kenne all ihre Treffpunkte, zu denen sie ihre Liebhaber bestellt, um ihren armen Gatten Vas in der Öffentlichkeit nicht bloßzustellen. Sevet und Vas führten genau wie Kokor und Obring eine anpassungsfähige Ehe, doch Vas schien nicht so zufrieden damit zu sein wie Obring. Manche Männer waren so … besitzergreifend. Wahrscheinlich lag es daran, daß Vas Wissenschaftler und kein Künstler war. Obring hingegen verstand das Künstlerleben. Er würde niemals auf den Gedanken kommen, von Kokor zu verlangen, ihren Ehevertrag buchstabengetreu zu erfüllen. Manchmal machte er ziemlich fröhliche Witze über die Männer, mit denen sie sich traf.
Aber Kokor würde Obring natürlich niemals beleidigen, indem sie selbst sie erwähnte. Es war eine Sache, ein Gerücht über einen Liebhaber zu hören. Wenn er sie darauf ansprach, schüttelte sie einfach den Kopf und sagte: »Du Dummerchen. Du bist der einzige Mann, den ich liebe.«
Und auf eine seltsame Weise stimmte das auch. Obring war so ein Schatz, auch wenn er nicht das geringste schauspielerische Talent hatte. Er bedachte sie immer mit Geschenken und erzählte ihr den wunderbarsten Klatsch. Kein Wunder, daß sie den Vertrag mit ihm schon zweimal erneuert hatte — die Leute ließen oft Bemerkungen darüber fallen, wie treu sie doch war, im dritten Jahr noch mit ihrem ersten Gatten verheiratet zu sein, wo sie doch jung und wunderschön war und jeden heiraten konnte. Fürwahr, sie hatte ihn eigentlich nur geheiratet, um seiner Mutter einen Gefallen zu tun, der alten Dhel, die als ihre Tante gedient hatte und Mutters beste Freundin war. Aber sie hatte Obring mögen gelernt, sie mochte ihn tatsächlich. Es war sehr angenehm und nett, mit ihm verheiratet zu sein. Solange sie mit jedem schlafen konnte, mit dem sie schlafen wollte.
Es würde Spaß machen, Sevet zu suchen und zu überraschen und herauszufinden, mit wem sie heute nacht schlief. Kokor hatte ihr schon seit Jahren keins mehr so richtig auswischen können. Sie mit irgendeinem nackten, schwitzenden Mann im Bett zu finden, ihr zu sagen, daß Vater tot war, und dann das Gesicht dieses armen Mannes zu beobachten, der allmählich begriff, daß es für diese Nacht mit der Liebe vorbei war!
»Ich werde es Sevet mitteilen«, sagte Kokor.
»Du wirst mit mir kommen«, beharrte Raschgallivak.
»Du bleibst und spielst das Stück zu Ende«, sagte Tumannu.
»Das Stück ist nur ein … ein Otsoss«, sagte Kokor und benutzte das schlimmste Schimpfwort, das ihr einfiel.
Tumannu keuchte auf, und Raschgallivak errötete, und Gulja ließ sein leises, tiefes Kichern los. »Das ist ein Wort«, sagte er.
Kokor versetzte Tumannu einen Klaps auf den Arm. »Schon in Ordnung«, sagte sie. »Ich bin gefeuert.«
»Ja, allerdings!« schrie Tumannu. »Und wenn du jetzt nicht weiterspielst, ist deine Karriere beendet.«
Raschgallivak schnaubte. »Mit ihrem Anteil an der Hinterlassenschaft ihres Vaters kann sie deine kleine Bühne und deine Mutter noch dazu kaufen.«
Tumannu schaute trotzig drein. »Ach, wirklich? Wer war denn ihr Vater? Gaballufix?«
Raschgallivak schaute ehrlich überrascht drein. »Hast du das nicht gewußt?«
Tumannu hatte es eindeutig nicht gewußt. Kokor dachte kurz darüber nach und begriff, daß sie es Tumannu gegenüber nicht einmal erwähnt hatte. Und das bedeutete, daß Kokor nicht wegen des Namens und Ansehens ihres Vaters bevorzugt behandelt worden war, sondern diese Rolle aus eigener Kraft bekommen hatte. Wie wunderbar!
»Ich habe gewußt, daß sie die Schwester der großen Sevet ist«, sagte Tumannu. »Warum hätte ich sie sonst engagiert? Aber ich hätte mir nie träumen lassen, daß sie denselben Vater haben.«
Einen Augenblick lang blitzte in Kokor Wut auf, so heiß wie ein Schmelzofen. Doch sie hielt sie augenblicklich im Zaum, beherrschte sie perfekt. Sie durfte solch eine Flamme niemals offen brennen lassen. Man konnte unmöglich voraussagen, was sie tun oder sagen würde, wenn sie in solch einem Augenblick die Beherrschung verlor.
»Ich muß Sevet suchen«, sagte Kokor.
»Nein«, sagte Raschgallivak. Vielleicht hatte er mehr sagen wollen, doch in diesem Augenblick legte er eine Hand auf Kokors Arm, um sie zu mäßigen, und natürlich trat sie ihm kräftig zwischen die Beine, wie alle Komödiantinnen es lernen, um sich gegen unwillkommene Bewunderer zu schützen, die zu aufdringlich werden. Es war ein Reflex. Sie hatte es eigentlich gar nicht tun wollen. Und erst recht nicht mit solcher Heftigkeit. Er war nicht besonders stark gebaut, und der Tritt haute ihn glatt um.
»Ich muß Sevet suchen«, sagte Kokor wie zur Erklärung. Er hörte sie wahrscheinlich gar nicht. Er stöhnte viel zu laut, während er sich auf dem Holzboden hinter der Bühne wälzte.
»Wo ist die Zweitbesetzung?« sagte Tumannu. »Dem armen kleinen Ding bleiben nicht mal drei Minuten zur Vorbereitung.«
»Tut es weh?« fragte Gulja Raschgallivak. »Ich meine, was ist Schmerz, wenn man wirklich darüber nachdenkt?«
Kokor wanderte in die Dunkelheit davon, in Richtung Dauberville. Ihr Schenkel pochte dicht über dem Knie, wo sie es so kräftig in Raschgallivaks Schritt gestoßen hatte. Wahrscheinlich würde sie dort einen blauen Fleck bekommen, und dann mußte sie undurchsichtige Strümpfe tragen. So ein Ärgernis.
Vater ist tot. Ich muß es Sevet sagen. Hoffentlich findet niemand sie vor mir. Und er wurde ermordet. Die Leute werden jahrelang davon sprechen. Ich werde im Trauerweiß ziemlich gut aussehen. Arme Sevet — wenn sie Weiß trägt, sieht ihre Haut immer aus wie rote Bete. Aber sie wird es nicht wagen, die Trauerkleidung vor mir abzulegen. Und vielleicht trauere ich jahrelang um Papa.
Kokor lachte und lachte vor sich hin, während sie durch die Dunkelheit ging.
Und dann wurde ihr klar, daß sie gar nicht lachte, sondern weinte. Warum weine ich? fragte sie sich. Weil Vater tot ist. Das muß es sein, darum dreht sich dieser ganze Aufruhr. Vater, armer Vater. Ich muß ihn geliebt haben, denn ich weine jetzt, ohne es zu wollen, und dabei sieht überhaupt keiner zu. Wer hätte schon ahnen können, daß ich ihn geliebt habe?
»Wach auf.« Es war ein eindringliches Flüstern. »Tante Rasa will uns sprechen. Wach auf!«
Luet verstand nicht, warum Huschidh dies sagte. »Ich habe gar nicht geschlafen«, murmelte sie.
»O doch, du hast geschlafen«, sagte ihre Schwester Huschidh. »Du hast geschnarcht.«
Luet setzte sich auf. »Ich habe bestimmt gesägt wie ein Zimmermann.«
»Geblökt wie ein Esel«, sagte Huschidh, »doch meine Liebe für dich hat das Geräusch in Musik verwandelt.«
»Deshalb schnarche ich«, sagte Luet. »Damit du des Nachts Musik hören kannst.« Sie griff nach ihrem Hauskleid und zog es über den Kopf.
»Tanta Rasa möchte uns sprechen«, drängte Huschidh. »Komm schnell.« Sie glitt aus dem Zimmer, bewegte sich in einer Art Tanz, und ihr Gewand schwebte hinter ihr her. In Schuhen oder Sandalen wirkte Huschidh immer schwerfällig, doch barfüßig bewegte sie sich wie eine Frau in einem Traum, wie eine Baumwoll-Flaumflocke im Wind.
Luet folgte ihrer Schwester auf den Gang; sie war noch damit beschäftigt, das Hauskleid zuzuknöpfen. Was konnte passiert sein, daß Rasa mit ihr und Huschidh sprechen wollte? Bei all den Scherereien, zu denen es in letzter Zeit gekommen war, befürchtete Luet das Schlimmste. War es möglich, daß Rasas Sohn Nafai doch nicht aus der Stadt entkommen war? Erst gestern hatte Luet ihn über verbotene Pfade geführt, zum See hinab, den nur Frauen sehen durften. Denn die Überseele hatte ihr gesagt, daß Nafai ihn sehen müsse, auf ihm treiben müsse wie eine Frau, wie eine Wasserseherin — wie Luet selbst. Also hatte sie ihn dorthin gebracht, und er war wegen seiner Blasphemie nicht erschlagen worden. Dann hatte sie ihn durch das Privattor und den Pfadlosen Wald aus der Stadt geführt. Sie hatte geglaubt, er sei in Sicherheit. Aber natürlich war er nicht in Sicherheit. Denn Nafai war wohl kaum einfach in die Wüste zurückgekehrt, zum Zelt seines Vaters — nicht ohne das Ding, das zu holen sein Vater ihn geschickt hatte.
Tante Rasa wartete in ihrem Zimmer, aber sie war nicht allein. Ein Soldat war bei ihn. Keiner von Gaballufix’ Männern — von seinen Söldnern, seinen Schlägern, die vorgaben, die Miliz der Familie Palwaschantu zu sein. Nein, dieser Soldat war einer der Stadtwachen, ein Torwächter.
Sie sah ihn jedoch kaum an, warf nur einen kurzen Blick auf seine Insignien, denn Rasa wirkte so … nein, eigentlich nicht erschreckt. So eine Regung hatte Luet bei ihr noch nie gesehen. Ihre Augen waren groß und trüb vor Tränen, ihr Gesicht war nicht fest, sondern schlaff, erschöpft, als geschähen in ihrem Herzen Dinge, die ihr Antlitz nicht ausdrücken konnte.
»Gaballufix ist tot«, sagte Rasa.
Das erklärte vieles. Gaballufix war seit einigen Monaten ihr Feind; seine bezahlten Tolschocks terrorisierten die Menschen auf den Straßen, und seine maskierten und anonymen Soldaten hatten sie noch mehr verängstigt, als sie angeblich die Straßen Basilikas für die Bürger der Stadt >sicher< machten. Doch obwohl er ihr Feind war, war er auch Rasas Gatte gewesen und der Vater ihrer beiden Töchter Sevet und Kokor. Sie hatten sich einmal geliebt, und Familienbande waren nicht so leicht zu durchtrennen, nicht für eine so aufrichtige Frau wie Rasa. Luet war im Gegensatz zu ihrer Schwester Huschidh keine Entwirrerin, wußte jedoch, daß Rasa noch immer mit Gaballufix verbunden war, obwohl sie alles, was er in letzter Zeit getan hatte, verabscheute.
»Seine Witwe tut mir leid«, sagte Luet, »doch für die Stadt freue ich mich.« , Huschidh hingegen betrachtete nachdenklich den Soldaten. »Ich glaube, dieser Mann hat dir nicht diese Nachricht überbracht.«
»Nein«, sagte Rasa. »Nein, ich habe von Raschgallivak von Gaballufix’ Tod erfahren. Anscheinend wurde Raschgallivak zum … neuen Wetschik ernannt.«
Luet wußte, daß dies ein verheerender Schlag war. Es bedeutete, daß Rasas Gatte Volemak, der früher Wetschik gewesen war, nun keinen Besitz, keine Rechte, keinen Rang mehr im Klan der Palwaschantu hatte. Und Raschgallivak, der sein von ihm geschätzter Verwalter gewesen war, hatte nun seine Stellung übernommen. Gab es auf dieser Welt keine Ehre mehr? »Wann wurde Raschgallivak diese Ehre zuteil?«
»Vor Gaballufix’ Tod — Gab hat ihn natürlich ernannt, und ich bin überzeugt, daß er es gern getan hat. Es liegt also eine gewisse Gerechtigkeit in der Tatsache, daß Rasch nun auch die Führung des Palwaschantu-Klans und damit Gabs Rang übernommen hat. Ja, du hast also recht damit, daß Rasch ziemlich schnell aufsteigt. Während andere fallen. Auch Roptat ist heute nacht umgekommen.«
»Nein«, flüsterte Huschidh.
Roptat war Anführer der Pro-Gorajni-Partei gewesen, der Gruppe, die versucht hatte, Basilika aus dem bevorstehenden Krieg zwischen Gorajni und Potokgavan herauszuhalten. Welche Chance blieb dem Frieden noch, nachdem er tot war?
»Ja, beide sind in dieser Nacht gestorben«, sagte Rasa. »Die Anführer der beiden Parteien, die unsere Stadt auseinandergerissen haben. Aber das Schlimmste kommt noch. Die Gerüchte besagen, daß mein Sohn Nafai sie beide getötet hat.«
»Das ist nicht wahr«, sagte Luet. »Unmöglich.«
»Das dachte ich auch«, sagte Rasa. »Wegen dieser Gerüchte habe ich euch nicht wecken lassen.«
Nun verstand Luet vollends den Aufruhr in Tanta Rasas Gesicht. Nafai war Tante Rasas ganzer Stolz, ein brillanter junger Mann. Und mehr noch — denn Luet wußte sehr genau, daß Nafai auch der Überseele nahe stand. Was mit ihm geschah, war nicht nur wichtig für die, die ihn liebten, sondern auch wichtig für die Stadt, vielleicht sogar für die ganze Welt. »Dann weiß dieser Soldat also etwas über Nafai?«
Rasa nickte dem Soldaten zu, der bis jetzt schweigend dort gesessen hatte.
»Mein Name ist Smelost«, sagte er und erhob sich, wie es sich geziemte, als er sie ansprach. »Ich habe das Tor bewacht. Ich sah zwei Männer kommen. Einer von ihnen hat den Daumen auf den Scanner gedrückt, und der Computer Basilikas erkannte ihn als Zdorab, den Schatzmeister von Gaballufix’ Haus.«
»Und der andere?« fragte Huschidh.
»Maskiert, aber gekleidet wie Gaballufix, und Zdorab nannte ihn Gaballufix und versuchte mich zu überreden, ihm keinen Daumenabdruck abzunehmen. Aber er mußte den Daumen auf den Scanner legen, denn Roptat war ermordet worden, und wir wollten verhindern, daß dem Mörder die Flucht aus der Stadt gelang. Man hatte uns gesagt, Nafai, der jüngste Sohn der Herrin Rasa, sei der Mörder. Gaballufix hat dies gemeldet.«
»Also hast du darauf bestanden, daß Gaballufix den Daumen auf den Scanner legt?« sagte Luet.
»Er beugte sich zu mir vor und flüsterte mir ins Ohr: >Und was, falls der Mann, der diese absurde Lüge verbreitet, selbst der Mörder war?< Na ja, das dachten einige von uns auch schon — daß Gaballufix Nafai des Mordes an Roptat beschuldigte, um seine eigene Schuld zu vertuschen. Und dann legte dieser Soldat — den Zdorab mit Gaballufix ansprach — den Daumen auf den Scanner, und der Stadtcomputer wies seinen Namen als Nafai aus.«
»Was hast du daraufhin getan?« fragte Luet.
»Ich habe gegen meinen Eid und gegen meine Befehle verstoßen. Ich löschte seinen Namen augenblicklich und ließ ihn passieren. Ich habe ihm geglaubt … daß er unschuldig ist. Des Mordes an Roptat. Aber der Computer hat gespeichert, daß er die Stadt verließ, und daß ich ihn passieren ließ, obwohl ich wußte, wer er war. Ich habe mir nichts dabei gedacht — die Klage kam ja ursprünglich von Gaballufix, und Gaballufix’ Schatzmeister hat den Jungen doch begleitet. Ich dachte, Gaballufix könne nichts dagegen haben, wenn sein eigener Mann ihn begleitete. Schlimmstenfalls würde ich meine Stellung verlieren.«
»Du hättest ihn sowieso passieren lassen«, sagte Huschidh. »Auch, wenn Gaballufix’ Mann nicht bei ihm gewesen wäre.«
Smelost betrachtete sie einen Augenblick lang und setzte dann zu einem Lächeln an. »Ich war ein Gefolgsmann Roptats. Der Gedanke, Wetschiks Sohn könne ihn getötet haben, ist ein schlechter Witz.«
»Nafai ist erst vierzehn Jahre alt«, sagte Luet. »Schon der Gedanke, er könne überhaupt jemanden getötet haben, ist ein schlechter Witz.«
»Keineswegs«, sagte Smelost. »Denn wir bekamen die Mitteilung, daß man Gaballufix’ Leiche gefunden hat. Geköpft. Und seine Kleidung fehlte. Was sollte ich denn annehmen? Doch, daß Nafai Gaballufix’ Leiche ausgezogen hatte. Daß Nafai und Zdorab ihn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit getötet hatten. Nafai ist groß für einen Vierzehnjährigen, wenn er wirklich erst so alt ist. Ein Mann seiner Größe hätte es tun können. Zdorab — wohl kaum.« Smelost kicherte trocken. »Es spielt jetzt kaum noch eine Rolle, daß ich wegen dieser Sache meine Stellung verlieren werde. Ich befürchte vielmehr, daß man mich wegen Beihilfe zum Mord hängen wird, oder weil ich sie entkommen ließ. Deshalb kam ich her.«
»Zu der Witwe des Ermordeten?« fragte Luet.
»Zu der Mutter des angeblichen Mörders«, berichtigte Huschidh sie. »Dieser Mann liebt Basilika.«
»Allerdings«, sagte der Soldat, »und ich bin froh, daß du dies weißt. Ich habe nicht meine Pflicht getan, sondern das, was ich für richtig hielt.«
»Ich brauche Rat«, sagte Rasa und sah von Luet zu Huschidh und wieder zu Luet. »Dieser Mann, Smelost, hat mich um Schutz gebeten, weil er meinen Sohn gerettet hat. Mittlerweile wurde mein Sohn des Mordes bezichtigt, und ich bin nun der Ansicht, daß er tatsächlich schuldig sein könnte. Ich bin keine Wasserseherin. Ich bin keine Entwirrerin. Was ist richtig und gerecht? Was will die Überseele? Ihr müßt es mir sagen. Ihr müßt mir Rat geben!«
»Die Überseele hat mir nichts gesagt«, erwiderte Luet. »Ich weiß nur, was ich gerade hier erfahren habe.«
»Und was das Entwirren betrifft«, sagte Huschidh, »so sehe ich nur, daß dieser Mann Basilika liebt und du selbst in einem Netz der Liebe verstrickt bist, was bewirken könnte, daß du gegen deine eigenen Interessen verstoßen mußt. Der Vater deiner Töchter ist tot, und du liebst sie — und auch ihn, du liebst sogar ihn. Und doch glaubst du, daß Nafai ihn getötet hat, und deinen Sohn liebst du sogar noch mehr. Du ehrst auch diesen Soldaten, bist ihm mit einer Ehrenschuld verpflichtet. Am meisten jedoch liebst du Basilika. Doch du weißt nicht, was du zum Besten deiner Stadt tun sollst.«
»Mein Dilemma kenne ich, Schuja. Ich suche den Ausweg daraus.«
»Ich muß aus der Stadt fliehen«, sagte Smelost. »Ich dachte, du könntest mich schützen. Ich kenne dich als Nafais Mutter, aber ich hatte vergessen, daß du Gaballufix’ Witwe bist.«
»Nicht seine Witwe«, sagte Rasa. »Ich habe unseren Vertrag schon vor Jahren nicht mehr erneuert. Ich glaube, er war seitdem ein dutzendmal verheiratet. Mein Gatte ist jetzt Wetschik. Oder besser gesagt der Mann, der Wetschik war und nun ein landloser Flüchtling ist, dessen Sohn ein Mörder sein könnte.« Sie lächelte verbittert. »Dagegen kann ich kaum etwas tun, aber ich kann dich schützen, und das werde ich auch.«
»Nein, das kannst du nicht«, sagte Huschidh. »Du stehst dem Mittelpunkt all dieser Geheimnisse zu nah, Tanta Rasa. Der Rat von Basilika wird immer auf dich hören, aber die Ratsfrauen werden lediglich auf deine Bitte hin nicht einen Soldaten schützen, der seine Pflicht verletzt hat. Damit werdet ihr beide nur um so schuldiger wirken.«
»Spricht jetzt die Entwirrerin?« fragte Rasa.
»Jetzt spricht deine Schülerin«, sagte Huschidh, »die dir sagt, was du auch selbst wissen würdest, wärest du nicht so verwirrt.«
Eine Träne quoll aus Rasas Auge und glitt ihre Wange hinab. »Was wird geschehen?« sagte Rasa. »Was wird jetzt aus meiner Stadt werden?«
Luet hatte sie niemals so verängstigt, so unsicher erlebt. Rasa war eine hervorragende Lehrerin, eine weise und ehrenhafte Frau; jede junge Frau Basilikas wäre sehr stolz darauf, eine ihrer Nichten zu sein, eine der Schülerinnen, die eigens auserwählt waren, in ihrem Haushalt zu leben; das hatte Luet zumindest immer geglaubt. Und doch sah sie Rasa nun voller Angst und Unsicherheit. Sie hätte niemals geglaubt, daß so etwas möglich war.
»Wetschik — mein Volemak — hat gesagt, die Überseele würde ihn führen«, sagte Rasa, spuckte die Worte verbittert aus. »Was für eine Führung ist das? Hat die Überseele ihm befohlen, meine Jungs zurück in die Stadt zu schicken, wo sie fast umgebracht worden wären? Hat die Überseele meinen Sohn zu einem Mörder und Flüchtling gemacht? Was tut die Überseele überhaupt? Wahrscheinlich ist es gar nicht die Überseele. Gaballufix hatte recht — mein geliebter Volemak hat den Verstand verloren, und unsere Söhne werden von seinem Wahnsinn verschluckt.«
Luet hatte genug davon gehört. »Schäm dich«, sagte sie.
»Sei still, Lutja!« rief Huschidh.
»Schäm dich, Tante Rasa«, beharrte Luet. »Nur, weil es dir erschreckend und verwirrend vorkommt, heißt das noch lange nicht, daß die Überseele es nicht versteht. Ich weiß, daß die Überseele Wetschik und auch Nafai lenkt. Das alles wird irgendwie zu Basilikas Bestem führen.«
»Da irrst du dich«, sagte Rasa. »Die besondere Liebe der Überseele gilt keineswegs Basilika. Sie hütet die ganze Welt. Was, wenn die ganze Welt irgendwie einen Vorteil daraus ziehen sollte, wenn Basilika zerstört wird? Wenn meine Jungen getötet werden? Für die Überseele haben kleine Städte und kleine Menschen keine Bedeutung — sie webt ein großes Muster.«
»Dann müssen wir uns ihr beugen«, sagte Luet.
»Beuge dich, wem immer du willst«, sagte Rasa. »Ich werde mich der Überseele nicht beugen, wenn sie meine Jungen in Mörder und meine Stadt in Staub verwandelt. Wenn die Überseele das beabsichtigt, sind die Überseele und ich Feinde. Hast du mich verstanden?«
»Sprich leiser, Tanta Rasa«, sagte Huschidh. »Sonst weckst du die anderen.«
Rasa verstummte kurz. »Ich habe gesagt, was ich zu sagen habe«, murmelte sie dann.
»Du bist nicht der Feind der Überseele«, sagte Luet. »Bitte warte eine Weile. Laß mich versuchen, den Willen der Überseele in diesem Plan herauszufinden. Deshalb hast du mich doch kommen lassen, nicht wahr? Damit ich dir sage, was die Überseele vorhat?«
»Ja«, sagte Rasa.
»Ich kann der Überseele keine Befehle erteilen«, sagte Luet. »Aber ich werde sie bitten. Warte hier, und ich …«
»Nein«, sagte Rasa. »Du kannst nicht zum See hinabgehen. Dazu bleibt uns nicht die Zeit.«
»Nicht zum See hinab«, sagte Luet. »Auf mein Zimmer. Um zu schlafen. Zu träumen. Auf die Stimme zu hören, auf die Vision zu warten. Falls sie kommt.«
»Dann beeil dich«, sagte Rasa. »Uns bleibt nur noch vielleicht eine Stunde, dann werde ich etwas unternehmen müssen — immer mehr Leute werden hierher kommen, und ich muß etwas unternehmen.«
»Ich kann der Überseele keine Befehle erteilen«, wiederholte Luet. »Und die Überseele hat ihren eigenen Fahrplan. Sie folgt nicht dem deinen.«
Kokor ging zu Sevets Lieblingsversteck, wohin sie ihre Liebhaber mitnahm, damit Vas nichts von ihnen erfuhr, und Sevet war nicht dort. »Sie kommt nicht mehr hierher«, sagte Iliva, Sevets Freundin. »Und auch nicht mehr zu den anderen Verstecken in Dauberville. Vielleicht ist sie treu geworden!« Dann lachte Iliva und wünschte ihr eine gute Nacht.
Also konnte Kokor ihr doch keins auswischen. Das war sehr enttäuschend.
Warum hatte Sevet ein neues Versteck gewählt? Hatte sich ihr Gatte Vas auf die Suche nach ihr gemacht? Dafür war er doch viel zu würdevoll! Und doch blieb die Tatsache bestehen, daß Sevet ihre alten Verstecke aufgegeben hatten, obwohl Iliva und Sevets andere Freundinnen ihr liebend gern auch weiterhin Unterschlupf gewährt hätten.
Das konnte nur eins bedeuten. Sevet hatte einen neuen Liebhaber gefunden, war ein richtiges Verhältnis eingegangen, nicht nur eine schnelle Liebschaft, und dieser Mann hatte einen so bedeutenden Rang in der Stadt inne, daß sie für ihre Schäferstündchen neue Verstecke suchen mußten, weil der Skandal, wäre er bekannt geworden, sonst mit Sicherheit Vas zu Ohren gekommen wäre.
Wie köstlich, dachte Kokor. Sie versuchte sich vorzustellen, wer es sein könnte, wer von den bekanntesten Männern der Stadt Sevets Herz gewonnen haben könnte. Natürlich mußte es sich um einen verheirateten Mann handeln; wenn er nicht mit einer Frau Basilikas verheiratet war, hatte kein Mann das Recht, auch nur eine einzige Nacht in der Stadt zu verbringen. Wenn Kokor Sevets Geheimnis also schließlich herausfinden würde, würde es in der Tat einen wunderbaren Skandal geben, denn eine verletzte Ehefrau würde dazu beitragen, daß Sevet sich nur noch mehr wie eine Schlampe fühlen würde.
Und ich werde es erzählen, dachte Kokor. Denn da sie diese Liaison vor mir verborgen gehalten und mir nichts davon erzählt hat, bin ich nicht verpflichtet, ihr Geheimnis zu bewahren. Sie hat mir nicht vertraut; warum sollte ich mich also als vertrauenswürdig erweisen?
Kokor würde es natürlich nicht selbst von den Dächern pfeifen. Doch sie kannte viele Satiriker im Offenen Theater, die liebend gern davon erfahren würden; jeder von ihnen wollte der erste sein, der in einem Stück mit spitzen Pfeilen auf die süße Sevet und ihren Liebhaber schießen konnte. Und sie würde ihm keinen hohen Preis für die Geschichte abknöpfen — nur die Gelegenheit, Sevet zu spielen, wenn man mit Pfeilen auf sie schoß. Das würde Tumannus Drohung, sie auf die schwarze Liste zu setzen, schnell ein Ende bereiten.
Ich werde Sevets Stimme imitieren, dachte Kokor, und dabei ihren Gesang durch den Kakao ziehen. Niemand kann ihr so ähnlich klingen wie ich. Niemand kennt die Schwächen ihrer Stimme so genau wie ich. Sie wird es bedauern, mich nicht in ihr Geheimnis eingeweiht zu haben! Und doch werde ich maskiert sein, wenn ich sie verspotte, und ich werde alles abstreiten, alles abstreiten; und sogar, wenn Mutter mich bitten sollte, bei der Überseele darauf zu schwören, werde ich es abstreiten. Sevet ist nicht die einzige, die ein Geheimnis für sich behalten kann.
Es war spät, nur ein paar Stunden vor der Morgendämmerung, doch die letzten Komödien würden erst in einer Stunde enden. Wenn sie zum Theater zurückeilte, könnte sie wahrscheinlich wenigstens zum Finale wieder auf der Bühne stehen. Doch sie konnte sich nicht dazu bringen, die Szene zu spielen, die sie Tumannu vorspielen mußte — sie um Verzeihung bitten, etwas weinen und ihr schwören, nie wieder ein Stück im Stich zu lassen. Das wäre zu erniedrigend. Keine Tochter Gaballufix’ sollte vor einer einfachen Bühnenbesitzerin kriechen müssen.
Aber was spielt es jetzt, wo er tot ist, noch für eine Rolle, ob ich seine Tochter bin oder nicht? Dieser Gedanke erfüllte sie mit Abscheu. Sie fragte sich, ob dieser Rasch vielleicht recht gehabt hatte, ob Vater ihr so viel Geld hinterlassen hatte, daß sie sehr reich war und ihr eigenes Theater kaufen konnte? Das wäre doch sehr schön, oder? Damit wären alle Probleme gelöst. Natürlich würde Sevet genausoviel Geld haben und sich wahrscheinlich ebenfalls ein Theater kaufen, nur, weil sie Kokor wie üblich übertreffen und ihr jede Gelegenheit nehmen mußte, Ruhm zu erlangen, doch Kokor würde sich einfach als die bessere Veranstalterin erweisen und Sevets elendiges Nachzieh-Theater in den Staub zwingen, und wenn Sevet schließlich scheiterte, würde sie ihr gesamtes Vermögen verloren haben, während Kokor die führende Gestalt in der Theaterwelt Basilikas war, und es würde der Tag kommen, da Sevet zu Kokor angekrochen kam und sie bat, ihr eine Hauptrolle in einem ihrer Stücke zu geben, und Kokor würde ihre Schwester umarmen und weinen und sagen: »Oh, meine liebe Schwester, ich würde dir liebend gern wieder auf die Beine helfen, aber ich habe eine Verpflichtung gegenüber meinen Finanziers, meine Liebe, und ich kann wohl schlecht das Risiko eingehen, ihr Geld bei einem Stück aufs Spiel zu setzen, dessen Hauptrolle eine Sängerin spielt, die ihre beste Zeit eindeutig hinter sich hat.«
Oh, war das ein köstlicher Traum! Einmal davon abgesehen, daß Sevet nur ein einziges Jahr älter war — für Kokor machte dieses eine Jahr den gesamten Unterschied aus. Sevet mochte ihr jetzt voraus sein, doch eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft würde die Jugend ihnen kostbarer sein als das Alter, und dann hatte Kokor den Vorteil. Jugend und Schönheit — Kokor würde immer mehr von beidem haben als Sevet. Und sie war mindestens genauso talentiert wie Sevet.
Nun war sie zu Hause, stand vor dem kleinen Haus, das sie und Obring in der Hügelstadt gemietet hatten. Es war bescheiden, aber mit exquisitem Geschmack eingerichtet. Zumindest das hatte sie von ihrer Tante Dhelembuvex – Obrings Mutter — gelernt: es ist besser, ein kleines, aber perfekt eingerichtetes Heim zu haben als ein großes, schlecht gepflegtes. »Eine Frau muß sich als die Blüte der Perfektion präsentieren«, sagte Tantchen Dhel immer. Kokor hatte es viel besser ausgedrückt, in einem Aphorismus, den sie veröffentlicht hatte, als sie erst fünfzehn Jahre alt gewesen war, bevor sie Obring geheiratet und Mutters Haus verlassen hatte:
Eine perfekte Knospe
von sanfter Farbe
und feinem Geruch
ist willkommener als eine protzige Blüte,
die um Aufmerksamkeit heischt, aber nichts zu bieten hat,
was man nicht auf den erste Blick sieht
oder mit dem ersten Atemzug riecht.
Kokor war am stolzesten darauf gewesen, daß die Zeilen über die perfekte Knospe aus kurzen und einfachen Ausdrücken bestanden, während die Zeilen über die protzige Blüte lang und unbeholfen waren. Doch zu ihrer Enttäuschung hatte kein bekannter Komponist aus ihrem Aphorismus eine Arie gemacht, und die jungen, die mit ihren Melodien zu ihr kamen, waren alle talentlose Blender, die nicht die geringste Ahnung hatten, wie man eine Melodie zu schaffen hatte, die einer Stimme wie der Kokors gerecht wurde. Sie hatte nicht mal mit ihnen geschlafen, abgesehen von einem, dessen Gesicht so schüchtern und süß gewesen war. Ah, aber in der Dunkelheit war er wie ein Tiger gewesen. Sie hatte ihn drei Tage lang bei sich behalten, doch er mußte unbedingt darauf bestehen, ihr seine Melodien vorzusingen, und so hatte sie ihn schließlich wieder fortgeschickt.
Wie war noch gleich sein Name gewesen?
Er lag ihr auf der Zunge, als sie das Haus betrat und in den hinteren Räumen ein seltsames Johlen hörte. Wie von den Pavianen, die am kleinen See lebten, wie ihr Keuchen, wenn sie in ihrer Nicht-Sprache vor sich hinbrabbelten. »Oh. Huh. Oo-oh. Huuuh.«
Aber es waren keine Paviane, oder? Und das Geräusch kam aus dem Schlafzimmer, die Wendeltreppe hinauf. Mondlicht, das durch das Dachfenster fiel, erhellte Kokors Weg, als sie schnell die Treppe hinauf lief, aber leise und auf Zehenspitzen, denn sie wußte, daß sie ihren Gatten Obring mit irgendeiner Hure in Kokors Bett finden würde, und das war entsetzlich, ein Verstoß gegen jede Anstandsregel, brachte er ihr denn nicht die geringste Rücksicht entgegen? Sie hatte ihre Liebhaber niemals mit nach Hause genommen, oder? Fair war fair, und es wäre doch eine prachtvolle Szene des verletzten Stolzes, wenn sie das kleine Flittchen ohne Kleider aus dem Haus werfen würde, damit es sich nackt nach Hause schleichen mußte, und dann würde Obring sich bei ihr entschuldigen, und Kokor würde ihn zappeln lassen und sich anhören, was er sich so alles ausdachte, all seine Schwüre und Entschuldigungen und sein Wimmern, aber es bestand nicht der geringste Zweifel, sie würde den Vertrag mit ihm nicht erneuern, und er würde herausfinden müssen, was einem Mann widerfuhr, der Kokor seine Treulosigkeit ins Gesicht schleuderte.
Im mondscheinerhellten Schlafzimmer fand Kokor Obring bei genau der Aktivität vor, die sie vermutet hatte. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen oder das der Frau, der er ein leidenschaftlicher Gefährte aber, aber sie brauchte weder Tageslicht noch ein Vergrößerungsglas, um zu wissen, was es zu bedeuten hatte.
»Widerlich«, sagte sie.
Es hatte genau die Wirkung, auf die sie gehofft hatte. Sie hatten sie offensichtlich nicht die Treppe hinaufkommen hören, und der Klang ihrer Stimme ließ Obring erstarren. Einen Augenblick lang bewegte er sich nicht. Dann wandte er ihr den Kopf zu und schaute ziemlich töricht drein, als er sie traurig über die Schulter ansah. »Kjoka«, sagte er. »Du bist früher nach Hause gekommen.«
»Ich hätte es wissen müssen«, sagte die Frau auf dem Bett. Ihr Gesicht war noch immer hinter Obrings nacktem Rücken verborgen, doch Kokor erkannte die Stimme sofort. »Dein Stück ist so schlecht, daß sie es mitten in der Vorstellung abgebrochen haben.«
Kokor bekam die Beleidigung kaum mit, bemerkte kaum die Tatsache, daß Sevets Stimme nicht im geringsten peinlich berührt klang. Sie konnte nur denken: Deshalb mußte sie sich ein neues Versteck suchen, nicht, weil ihr Liebhaber eine Berühmtheit ist, sondern, weil sie die Wahrheit vor mir verbergen mußte.
»Hunderte deiner Zuschauer wären jede Nacht gern mit dir ins Bett gestiegen«, flüsterte Kokor. »Aber du mußtest meinen Gatten haben.«
»Ach,-nimm es doch nicht persönlich«, sagte Sevet und richtete sich auf die Ellbogen auf. Sevets Brüste sackten zu den Seiten. Kokor gefiel es, daß ihre Brüste an den Seiten hinabhingen, daß Sevet mit neunzehn Jahren entschieden älter und dicker war als Kokor. Doch Obring hatte diesen Körper gewollt, hatte diesen Körper auf demselben Bett benutzt, auf dem er so viele Nächte lang neben Kokors perfektem Körper geschlafen hatte. Wie konnte dieser Körper ihn überhaupt erregen, nachdem er Kokor an so vielen Morgen nach ihrem Bad gesehen hatte?
»Du hast nicht mit ihm geschlafen, und er ist sehr nett«, sagte Sevet. »Wenn du dir je die Mühe gemacht hättest, ihn zu befriedigen, hätte er mich nicht angesehen.«
»Es tut mir leid«, murmelte Obring. »Ich habe es nicht gewollt.«
Das war so ungeheuerlich, daß Kokor wie ein kleines Kind ihre Wut nicht im Zaum halten konnte. Und doch hielt sie sich zurück. Sie bewahrte ihren Zorn wie einen Wirbelsturm in einer Flasche. »Das war ein Unfall?« flüsterte Kokor. »Du bist ausgerutscht, gestolpert und gestürzt, hast dabei deine Kleider verloren und bist zufällig auf meiner Schwester zu liegen gekommen?«
»Ich meine … ich wollte einen Schlußstrich ziehen, schon seit einigen Monaten …«
»Monate«, flüsterte Kokor.
»Sag lieber nichts mehr, Kleiner«, sagte Sevet, »du machst alles nur noch schlimmer.«
»Du nennst ihn >Kleiner« fragte Kokor. Das war das Wort, das sie benutzt hatten, nachdem sie gerade zu Frauen geworden waren, um die halbwüchsigen Jungs zu bezeichnen, die hinter ihnen herhechelten.
»Er war so eifrig«, sagte Sevet und glitt unter Obring hervor. »Ich konnte nicht anders, ich mußte ihn einfach so nennen, und ihm gefällt der Name.«
Obring drehte sich um und saß wie ein Häufchen Elend auf dem Bett. Er machte keine Anstalten, sich zu bedecken; es war offensichtlich, daß er für diesen Abend jedes Interesse an der Liebe verloren hatte.
»Mach dir keine Sorgen, Obring«, sagte Sevet. Sie stand auf und bückte sich, um ihre Kleidung vom Boden aufzuheben. »Sie wird den Vertrag trotzdem erneuern. Sie wird nicht wollen, daß die Leute sich diese Geschichte erzählen, und deshalb wird sie erneuern, solange du willst, nur, damit du sie nicht erzählst.«
Kokor sah, wie Sevets Bauch vorstand, wie ihre Brüste schwangen, als sie sich bückte. Und doch hatte sie Kokor den Mann weggenommen. Nach allem anderen hatte sie auch das noch tun müssen. Es war nicht zu ertragen.
»Singe für mich«, flüsterte Kokor.
»Was?« fragte Sevet, drehte den Kopf und bedeckte sich mit ihrem Gewand.
»Sing mir mit deiner hübschen Stimme ein Lied, du Davalka.«
Sevet sah Kokor in die Augen, und der Ausdruck von gelangweilter Erheiterung wich von ihrem Gesicht. »Ich werde nicht singen, du kleine Närrin.«
»Nicht für mich«, sagte Kokor. »Für Vater.«
»Was ist mit Vater?« Sevets Gesichtsausdruck wandelte sich zu einem des spöttischen Mitgefühls. »Ach, wird die kleine Kjoka mich verpetzen?« Dann schnaubte sie. »Er wird dich auslachen. Und dann wird er mit Obring einen trinken gehen.«
»Ein Klagelied für Vater«, sagte Kokor.
»Ein Klagelied?« Sevet schaute jetzt verwirrt drein. Besorgt.
»Während du hier warst und es mit dem Mann deiner Schwester getrieben hast, hat jemand Vater umgebracht. Wenn du ein Mensch wärest, würde es dich betreffen. Sogar Paviane trauern um ihre Toten.«
»Ich habe es nicht gewußt«, sagte Sevet. »Wie hätte ich es wissen können?«
»Ich habe nach dir gesucht«, sagte Kokor. »Um es dir zu sagen. Aber du warst an keinem der Orte, die ich kenne. Ich habe mein Stück im Stich gelassen, ich habe meine Anstellung verloren, um dich zu suchen und es dir zu sagen, und hier warst du, und das hast du getan.«
»Du bist eine Lügnerin«, sagte Sevet. »Warum sollte ich dir das glauben?«
»Ich habe es nie mit Vas getrieben«, sagte Kokor. »Nicht einmal, als er mich angebettelt hat.«
»Er hat dich nie darum gebeten«, sagte Sevet. »Ich glaube deinen Lügen nicht.«
»Er hat mir gesagt, er möchte nur einmal im Leben eine wirklich wunderschöne Frau haben. Eine Frau, deren Körper jung und geschmeidig und fest ist. Aber ich habe mich geweigert, weil du meine Schwester bist.«
»Du lügst. Er hat dich nie darum gebeten.«
»Vielleicht lüge ich. Aber er hat gefragt.«
»Nicht Vas«, sagte Sevet.
»Vas, mit dem großen Muttermal auf der Innenseite seines Schenkels«, sagte Kokor. »Ich habe ihn zurückgewiesen, weil du meine Schwester bist.«
»Du lügst. Auch das mit Vater war gelogen.«
»Tot in seinem eigenen Blut. Auf der Straße ermordet. Das ist keine gute Nacht für unsere liebende Familie. Vater tot. Ich betrogen. Und du …«
»Rühr mich nicht an.«
»Sing für ihn«, sagte Kokor.
»Bei der Beerdigung, falls du nicht gelogen hast.«
»Singe jetzt«, sagte Kokor.
»Kleine Henne, kleines Entchen, ich werde niemals auf deinen Befehl singen.«
Der Vorwurf, sie würde gackern und quaken, anstatt zu singen, war nur eine alte Stichelei zwischen ihnen, war gar nichts. Doch die Verachtung in Sevets Stimme, die Abneigung, drang zu ihr durch, füllte sie aus, bis zur Neige, war mehr, als sie ertragen konnte. Keinen Augenblick länger konnte sie den Sturm zurückhalten, der in ihr zerrte.
»Genau!« kreischte Kokor. »Auf meinen Befehl wirst du niemals singen!« Und sie holte aus wie eine Katze, doch es war keine Klaue, es war eine Faust. Sevet riß die Hände hoch, um ihr Gesicht zu schützen. Doch Kokor verspürte nicht den Drang, das Gesicht ihrer Schwester zu zeichnen. Nicht ihr Gesicht haßte sie. Nein, ihre Faust traf genau dort, wohin sie gezielt hatte, unter Sevets Kinn, traf ihre Kehle dort, wo verborgen unter dem üppigen Fleisch der Kehlkopf lag, wo die Stimme ihren Ursprung hatte.
Sevet gab kein Geräusch von sich, obwohl die Wucht des Schlages sie zurückwarf. Sie stürzte, griff sich an die Kehle; sie wand sich auf dem Boden, würgte und rang nach Atem. Obring schrie auf, sprang zu ihr und kniete neben ihr nieder. »Sevet?« rief er. »Sevet, bist du in Ordnung?«
Doch Sevets einzige Antwort bestand aus einem Gurgeln und Spucken und dann aus einem Würgen und Husten. Sie hustete Blut. Ihr eigenes Blut. Kokor sah es an Sevets Händen, an Obrings Schenkeln, als er ihren Kopf auf den Schoß nahm, um sie zu stützen. Es schimmerte schwarz im Mondschein, das Blut aus Sevets Hals. Wie schmeckt es in deinem Mund, Sevet? Wie fühlt es sich auf deiner Haut an, Obring? Ihr Blut, wie das Geschenk einer Jungfrau, mein Geschenk an euch beide.
Sevet gab ein schreckliches, ersticktes Geräusch von sich. »Wasser«, sagte Obring. »Ein Glas Wasser, Kjoka — um ihren Mund auszuspülen. Siehst du nicht, daß sie blutet? Was hast du ihr angetan?«
Kokor trat zum Waschbecken — ihrem eigenen Waschbecken — und nahm eine Tasse — ihre eigene Tasse — und gab sie, mit Wasser gefüllt, Obring, der sie ihr aus der Hand nahm und versuchte, etwas von der Flüssigkeit in Sevets Mund zu gießen. Doch Sevet würgte es hoch und spuckte es aus, rang nach Atem, erstickte an dem Blut, das in ihren Hals floß.
»Einen Arzt!« rief Obring. »Rufe einen Arzt! Bustija nebenan ist Ärztin, sie wird kommen!«
»Hilfe«, murmelte Kokor. »Komm schnell. Hilfe.« Sie sprach so leise, daß sie selbst kaum etwas verstehen konnte.
Obring sprang auf und sah sie voller Wut an. »Rühr sie nicht an«, sagte er. »Ich hole die Ärztin selbst.« Er verließ den Raum schnellen Schrittes. Jetzt war er voller Kraft. Nackt wie ein mythischer Gott, wie die Bilder des Gorajni-Imperators — der Inbegriff der Männlichkeit —, so kam Obring ihr vor, als er in die Nacht hinausging, um die Ärztin zu holen, die seiner Geliebten vielleicht das Leben retten konnte.
Kokor sah zu, wie Sevets Finger über den Boden kratzten, die Haut an ihrem Hals aufrissen, als wolle sie dort ein Luftloch graben. Sevets Augen schienen aus den Höhlen zu quellen, und Blut tropfte von ihrem Mund auf den Boden.
»Du hattest alles andere«, sagte Kokor. »Alles andere. Aber du konntest nicht einmal ihn mir überlassen.«
Sevet gurgelte. Sie betrachtete Kokor gequält und voller Entsetzen.
»Du wirst nicht sterben«, sagte Kokor. »Ich bin keine Mörderin. Ich bin keine Betrügerin.«
Aber dann kam ihr in den Sinn, daß Sevet vielleicht doch sterben würde. Bei so viel Blut in der Kehle mochte sie darin ertrinken. Und dann würde man Kokor dafür zur Verantwortung ziehen. »Niemand kann mir die Schuld geben«, sagte Kokor. »Vater ist heute nacht gestorben, und ich kam nach Hause und fand dich mit meinem Mann, und dann hast du mich verspottet — niemand wird mir die Schuld geben. Ich bin erst achtzehn, ich bin noch ein Mädchen. Und es war sowieso ein Unfall. Ich wollte dir die Augen auskratzen, habe aber danebengegriffen, das ist alles.«
Sevet würgte. Sie übergab sich auf den Boden. Es stank fürchterlich. Sie machte eine furchtbare Schweinerei — alles war schmutzig, und der Gestank würde niemals wieder verschwinden. Und wenn Sevet starb, würde man Kokor die Schuld an ihrem Tod geben. Das würde Sevets Rache sein — dieser Makel würde niemals von ihr weichen. Sevets Vergeltung — sie würde sterben, und Kokor wäre auf ewig eine Mörderin.
Na warte, ich werde es dir zeigen, dachte Kokor. Ich werde dich nicht sterben lassen. Ich werde dir sogar das Leben retten.
Und so kam es, daß Obring, als er mit der Ärztin zurückkam, Kokor über Sevet kniend vorfand, wie sie in ihren Mund atmete. Obring zog sie zur Seite, damit die Ärztin an Sevet herankam. Und als Bustija die Röhre in Sevets Hals hinabstieß, als Sevets Gesicht zu einem stummen Schlund der Qual wurde, roch Obring das Blut und das Erbrochene und sah, daß Kokors Gesicht und Gewand mit beidem befleckt waren. »Du liebst sie«, flüsterte er ihr zu, als er sie in den Arm nahm. »Du konntest sie nicht sterben lassen.«
Da klammerte sie sich weinend an ihn.
»Ich kann nicht schlafen«, sagte Luet verdrossen. »Wie kann ich träumen, wenn ich nicht schlafen kann?«
»Schon gut«, sagte Rasa. »Ich weiß selbst, was wir tun müssen. Die Überseele muß es mir nicht sagen. Smelost muß Basilika verlassen, denn wenn Huschidh recht hat, kann ich ihn jetzt nicht schützen.«
»Ich werde nicht gehen«, sagte Smelost. »Ich habe einen Entschluß gefaßt. Das ist meine Stadt, und ich werde die Konsequenzen meiner Tat tragen.«
»Liebst du Basilika?« fragte Rasa. »Dann gib Gaballufix’ Leuten nicht einen Sündenbock, auf den sie alle Schuld abwälzen können. Gib ihnen nicht die Gelegenheit, dich vor Gericht zu bringen und den Prozeß als Entschuldigung zu mißbrauchen, den Befehl über die Wächter zu übernehmen, so daß seine maskierten Soldaten die einzige Amtsgewalt in der Stadt haben.«
Smelost funkelte sie kurz an, nickte dann jedoch. »Ich verstehe«, sagte er. »Um Basilikas willen werde ich gehen.«
»Wohin?« fragte Huschidh. »Wohin kannst du ihn schicken?«
»Zu den Gorajni natürlich«, sagte Rasa. »Ich gebe dir genug Vorräte und Geld mit, daß du dich bis zu den Stellungen der Gorajni im Norden durchschlagen kannst. Und einen Brief, der erklärt, daß du den Mann gerettet hast, der … den Mann, der Gaballufix getötet hat. Sie werden wissen, was das bedeutet — sie müssen Spione haben, die ihnen verraten haben, daß Gaballufix versucht hat, Basilika zu einer Allianz mit Potokgavan zu überreden. Vielleicht stand auch Roptat mit ihnen in Kontakt.«
»Niemals!« rief Smelos. »Roptat war kein Verräter!«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Rasa besänftigend. »Es kommt doch nur darauf an, daß Gab ihr Feind war und du damit ihr Freund bist. Das ist das Mindeste, was sie tun können, dich aufzunehmen.«
»Wie lange werde ich fortbleiben müssen?« fragte Smelost. »Hier wohnt eine Frau, die ich liebe. Ich habe einen Sohn.«
»Nicht lange«, sagte Rasa. »Nachdem Gab tot ist, wird auch der Tumult bald ersterben. Er war die Ursache davon, und nun werden wir wieder Frieden bekommen. Möge die Überseele mir verzeihen, daß ich dies sage, doch falls Nafai ihn getötet hat, hat er damit vielleicht etwas Gutes getan, zumindest für Basilika.«
An der Tür klopfte es laut.
»Es geht schon los!« sagte Rasa.
»Sie können nicht wissen, daß ich hier bin«, sagte Smelost.
»Schuja, nimm ihn mit ihn die Küche und statte ihn mit Proviant aus. Ich werde sie an der Tür aufhalten, so lange ich kann. Luet, hilf deiner Schwester.«
Aber es waren nicht Palwaschantus Soldaten an der Tür oder Stadtwächter oder irgendwelche Amtsträger. Statt dessen war es Vas, Sevets Gatte.
»Es tut mir leid, dich zu dieser Stunde zu stören.«
»Mich und mein ganzes Haus«, sagte Rasa. »Ich weiß bereits, daß Sevets Vater tot ist, aber ich weiß auch, du hast es gut gemeint, zu mir zu kommen und …«
»Er ist tot?« sagte Vas. »Gaballufix? Dann erklärt das vielleicht … Nein, es erklärt nichts.« Er schaute verängstigt und wütend drein. Rasa hatte ihn noch nie so gesehen.
»Was ist denn los?« fragte Rasa. »Warum bist du hier, wenn du nicht weißt, daß Gab tot ist?«
»Eine von Kokors Nachbarinnen hat mich geholt. Es ist Sevet. Sie hat einen Schlag gegen den Hals abbekommen — sie wäre fast gestorben. Eine sehr schlimme Verletzung. Ich dachte, du wolltest mit mir kommen.«
»Du hast sie allein gelassen? Um zu mir zu kommen?«
»Ich war nicht bei ihr«, sagte Vas. »Sie ist in Kokors Haus.«
»Was hat Sevet denn dort zu suchen?« Einer der Diener half Rasa bereits, einen Mantel anzulegen, damit sie vor die Tür gehen konnte. »Kokor ist heute abend doch aufgetreten, oder? Ein neues Stück.«
»Sevja war bei Obring«, sagte Vas. Er führte sie hinaus auf den Säulengang; der Diener schloß die Tür hinter ihnen. »Deshalb hat Kjoka sie geschlagen.«
»Kjoka hat sie auf den … Kjoka war das?«
»Sie hat sie überrascht. So erzählt man sich die Geschichte zumindest in der Nachbarschaft. Obring war splitternackt, als er die Ärztin geholt hat, und als sie zurückkamen, war auch Sevja nackt. Kjoka hat sie beatmet, um sie zu retten. Sie haben ihr eine Röhre in den Hals geschoben, und sie atmet, sie wird nicht sterben. Das ist alles, was die Nachbarn mir erzählen konnten.«
»Daß Sevet lebt«, sagte Rasa verbittert, »und wer nackt war.«
»Ihr Hals«, sagte Vas. »Wenn der Schlag Sevet die Stimme kostet, wäre es vielleicht gnädiger von Kokor gewesen, sie einfach zu töten.«
»Arme Sevja«, sagte Rasa. Über die Straßen marschierten Soldaten, doch Rasa schenkte ihnen keine Beachtung, und sie — vielleicht, weil Vas und Rasa besorgt wirkten und es eilig hatten — machten keine Anstalten, sie aufzuhalten. »In derselben Nacht ihren Vater und ihre Stimme zu verlieren.«
»Wir alle haben heute nacht etwas verloren, nicht wahr?« sagte Vas verbittert.
»Es geht nicht um dich«, sagte Rasa. »Ich glaube, Sevet liebt dich wirklich, auf ihre Weise.«
»Ich weiß — sie hassen einander so sehr, daß sie alles tun würden, um einander zu verletzen. Aber ich dachte, es würde mit der Zeit besser werden.«
»Vielleicht wird es jetzt besser werden«, sagte Rasa. »Schlimmer kann es jedenfalls nicht mehr werden.«
»Kjoka hat es auch versucht«, sagte Vas. »Ich habe sie beide Male abgewiesen. Warum konnte Obring nicht genug Grips haben, auch Sevet zurückzuweisen?«
»Den Grips hat er«, sagte Rasa. »Es mangelt ihm nur an Stärke.«
Die Szene in Kokor s Haus war sehr rührend. Jemand hatte aufgeräumt. Das Bett war nicht mehr von Liebesspielen zerwühlt; nun war es glatt, abgesehen von der Stelle, auf der Sevet lag, prüde in einem von Kokors bescheidensten Nachthemden. Auch Obring war es gelungen, sich anzukleiden, und nun hockte er in der Ecke und tröstete eine weinende Kokor. Die Ärztin begrüßte Rasa an der Zimmertür.
»Ich habe das Blut aus den Lungen abgepumpt«, sagte sie. »Sie ist nicht mehr in Lebensgefahr, aber die Atemröhre darf noch nicht entfernt werden. Ein Halsspezialist wird bald hier sein. Vielleicht wird die Verletzung ohne Vernarbungen heilen. Ihre Karriere ist vielleicht noch nicht beendet.«
Rasa setzte sich neben ihre Tochter auf das Bett und nahm Sevjas Hand. Der Geruch nach Erbrochenem hing noch immer im Raum, obwohl der Boden noch naß vom Putzen war. »Nun, Sevja«, flüsterte Rasa, »hast du diese Runde gewonnen oder verloren?«
Eine Träne zwängte sich zwischen Sevets Lidern hinaus.
Auf der anderen Zimmerseite stand Vas vor Obring und Kokor. Sein Gesicht war rot vor — was, Wut? Oder war sein Gesicht lediglich von der Anstrengung ihres schnelles Marsches gerötet?
»Obring«, sagte Vas, »du elender kleiner Idiot. Nur ein Narr pißt in die Suppe seines Bruders.«
Obring sah mit verkniffenem Gesicht zu ihm auf und dann wieder zu seiner Frau, die um so heftiger schluchzte. Rasa kannte Kokor gut genug, um zu wissen, daß ihr Weinen zwar aufrichtig war, aber auch das größtmögliche Mitgefühl für sie hervorrufen sollte. Rasa konnte ihr fast keins geben. Sie wußte ganz genau, wie wenig ihre Töchter sich um die Exklusivklauseln ihrer Eheverträge geschert hatten, und sie hatte kein Mitgefühl für treulose Menschen, die verletzt waren, nachdem sie herausgefunden hatten, daß auch ihre Lebensgefährten untreu waren.
Es war Sevet, die wirklich litt, nicht Kokor. Rasa konnte sich von Sevets Bedürfnissen nicht ablenken lassen, nur weil Kokor so laut und Sevet leise war.
»Ich bin bei dir, meine Tochter«, sagte Rasa. »Das ist nicht das Ende der Welt. Du lebst, und dein Gatte liebt dich. Laß das für eine Weile deine Musik sein.«
Sevet hielt ihre Hand fest. Ihr Atem ging flach und keuchend.
Rasa drehte sich zu der Ärztin um. »Weiß sie, was mit ihrem Vater geschehen ist?«
»Sie weiß es«, sagte Obring. »Kjoka hat es uns gesagt.«
»Der Überseele sei Dank, daß wir nur einer Beerdigung beiwohnen müssen«, sagte Rasa.
»Kjoka hat ihrer Schwester das Leben gerettet«, sagte Obring. »Sie hat ihr Atem geschenkt.«
Nein, ich habe ihr den Atem eingegeben, dachte Rasa. Ich habe ihr den Atem geschenkt, doch leider konnte ich ihr keinen Anstand geben oder Vernunft. Ich konnte sie nicht aus dem Bett ihrer Schwester fernhalten oder von dem Mann ihrer Schwester. Aber ich habe ihr den Atem eingegeben, und vielleicht wird dieser Schmerz sie etwas lehren. Mitgefühl vielleicht. Oder zumindest etwas Selbstbeherrschung. Damit etwas Gutes aus dieser Sache erwächst. Etwas, das sie zu meiner Tochter werden läßt, und nicht zu Gaballufix’; beide waren sie bislang in erster Linie Gaballufix’ Töchter.
Hoffentlich wendet sich alles zum Guten, betete Rasa stumm vor sich hin. Doch dann fragte sie sich, zu wem sie betete. Zu der Überseele, deren Einmischung so viele andere Probleme ausgelöst hatte? Von ihr werde ich keine Hilfe bekommen, dachte Rasa. Ich bin jetzt auf mich allein gestellt, muß versuchen, meine Familie und meine Stadt über die schrecklichen Tage zu bringen, die uns bevorstehen. Ich habe keine Macht oder Befugnis, über keins der beiden, abgesehen von der Kraft, die aus Liebe und Klugheit erwächst. Die Liebe habe ich. Wenn ich nur sicher sein könnte, auch die Klugheit zu haben.