2 Gelegenheit

Der Traum der Wasserseherin

Luet hatte noch nie versucht, einen Traum absichtlich, unter Zwang, herbeizuführen, und so war ihr noch nie in den Sinn gekommen, daß sie sich nicht einfach schlafenlegen und träumen konnte, nur weil sie es wollte. Ganz im Gegenteil — zweifellos hatte das Gefühl der Dringlichkeit sie wachgehalten und ihr zu träumen unmöglich gemacht. Sie war wütend und beschämt, daß sie von der Überseele nichts hatte erfahren können, bevor Tante Rasa eine Entscheidung treffen mußte, was mit diesem Soldaten, Smelost, zu tun sei. Um so schlimmer wurde alles noch, weil sie überzeugt war, obwohl die Überseele ihr nichts gesagt hatte, daß es ein Fehler war, Smelost zu den Gorajni zu schicken. Der Gedanke, weil Gaballufix ein Feind der Gorajni gewesen war, würden die Gorajni Gaballufix’ Feind automatisch willkommen heißen und ihm Schutz gewähren, kam ihr zu einfach vor.

Luet hatte das Wort ergreifen und ihr sagen wollen: »Tanta Rasa, die Gorajni sind nicht unbedingt unsere Freunde.« Sie hätte es vielleicht sogar gesagt, doch Rasa war mit Vas aus dem Haus gestürmt, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie Smelost die Vorräte einpackte, die die Dienstboten ihm brachten, und dann durch die Hintertür hinausschlüpfte.

Warum hatte Rasa nicht nur einen Augenblick länger nachgedacht? Wäre es nicht besser gewesen, Smelost zu Wetschik in die Wüste zu schicken? Aber er war nicht mehr der Wetschik, oder? Er war jetzt nur noch Volemak, der Mann, der Wetschik gewesen war, bis Gaballufix ihm den Titel genommen hatte. Wann war das gewesen? Erst gestern? Nur noch Volemak — doch Luet wußte, daß Volemak von allen großen Männern Basilikas der einzige war, der Teil der Pläne der Überseele war.

Die Überseele hatte all diese Probleme ausgelöst, indem sie Volemak eine Vision gegeben hatte, in der er ein brennendes Basilika gesehen hatte. Sie hatte ihn gewarnt, daß ein Bündnis mit Potokgavan zur Vernichtung Basilikas führen würde. Sie hatte nicht verkündet, daß Basilika die Gorajni unbesehen für Freunde halten durfte. Und nach allem, was Luet über die Gorajni wußte — die Naßköpfe, wie sie genannt wurden, weil sie ihr Haar einölten —, war es eine schlechte Idee, Smelost zu ihnen zu schicken, damit er um ihren Schutz bat. Das würde bei den Gorajni den falschen Eindruck erwecken. Es würde sie zu der Annahme führen, daß ihre Verbündeten in Basilika nicht sicher waren. Konnte sie das vielleicht nicht dazu verleiten, genau das zu tun, wovon alle sie abhalten wollten — die Stadt zu überfallen und zu erobern?

Nein, es war ein Fehler, Smelost zu ihnen zu schicken. Doch da Luet nicht als Wasserseherin zu dieser Schlußfolgerung gelangt war, sondern sie statt dessen aufgrund eigener Überlegungen erreicht hatte, würde niemand auf sie hören. Sie war ein Kind, abgesehen von den Gelegenheiten, wenn die Überseele in ihr war, und so brachte man ihr nur Respekt entgegen, wenn sie nicht sie selbst war. Es machte sie wütend, doch was konnte sie schon dagegen tun, abgesehen zu hoffen, daß sie sich irrte, was Smelost und die Gorajni betraf, und dann ungeduldig zu warten, bis sie endgültig zu einer Frau wurde?

Vielleicht noch größere Sorgen bereitete ihr die Tatsache, daß es Rasa gar nicht ähnlich sah, so falsche Schlüsse zu ziehen. Rasa schien aus Furcht zu handeln, ohne richtig nachzudenken. Und worauf konnte Luet sich überhaupt noch verlassen, wenn Rasas Urteilsfähigkeit getrübt war?

Ich will mit jemandem sprechen, dachte sie. Nicht mit ihrer Schwester Huschidh — die liebe Schuja war sehr klug und freundlich und würde ihr zuhören, doch alles, was außerhalb von Basilika vor sich ging, war ihr einfach gleich gültig. Das war das Problem mit den Entwirrerinnen. Huschidh lebte im ständigen Bewußtsein aller Verbindungen und Beziehungen zwischen den Menschen in ihrer Nähe. Dieser Netz-Sinn war natürlich das Wichtigste in ihrem Leben; sie beobachtete, wie Menschen sich zusammentaten und wieder voneinander trennten, Gemeinschaften bildeten und wieder auflösten. Und dem allem lag Schujas starkes Verständnis von der Struktur Basilikas selbst zugrunde. Sie liebte die Stadt — aber sie kannte sie so gut, hatte sich so sehr darauf konzentriert, daß sie einfach keine Vorstellung davon hatte, in welchem Verhältnis Basilika zur Außenwelt stand. Solche Beziehungen waren zu groß und unpersönlich.

Luet hatte sogar versucht, diese Angelegenheit mit ihr zu besprechen, doch Huschidh war fast sofort eingeschlafen. Luet konnte ihr keine Vorwürfe machen. Schließlich dämmerte es fast schon, und sie hatten die Nacht über kaum geschlafen. Luet war ebenfalls sehr müde.

Wenn ich doch nur mit Nafai oder Issib sprechen könnte. Besonders mit Nafai — er kann mit der Überseele sprechen, wenn er wach ist. Vielleicht stellen sich bei ihm nicht die Visionen ein, die ich habe, vielleicht sieht er nicht mit der Tiefe und Klarheit einer Wasserseherin, doch er kann Antworten bekommen. Praktische, einfache Antworten. Und er muß nicht schlafen, um sie zu erhalten. Wäre er doch nur hier! Und doch hat die Überseele ihn und seinen Vater und all seine Brüder fortgeschickt, hinaus in die Wüste. Dorthin hätte auch Smelost gehen sollen. Zu Nafai. Wenn nur jemand wüßte, wo er ist.

Schließlich, endlich sanken Luets aufgebrachte Gedanken in den chaotischen Geisteszustand des Schlafes, und aus ihrem unsteten Schlummer kam ein Traum, ein Traum, an den sie sich erinnern würde, denn er kam nicht aus ihr, sondern von außen, und hatte eine Bedeutung, die über die zufälligen Zündungen ihres Gehirns während des Schlafs hinausging.

»Wach auf«, sagte Huschidh.

»Ich bin wach«, sagte Luet.

»Diese Antwort hast du mir schon zweimal gegeben, Lutja, und jedesmal hast du weitergeschlafen. Es ist Morgen, und die Dinge stehen noch schlimmer, als wir gedacht haben.«

»Wenn du das jedesmal gesagt hast, als ich aufgewacht bin«, sagte Luet, »ist es kein Wunder, daß ich weitergeschlafen habe.«

»Du hast lange genug geschlafen«, sagte Huschidh und schickte sich dann an, ihr alles zu erzählen, was sich in der vergangenen Nacht in Kokors Haus zugetragen hatte.

Luet konnte kaum begreifen, daß so etwas tatsächlich geschehen war — nicht bei jemandem, der mit Rasas Haus in Verbindung stand. Und doch war es mehr als nur ein Gerücht. »Deshalb hat Vas Tante Rasa mitgenommen«, sagte Luet.

»Du hast des Morgens einen so wachen Verstand.«

Ihre Gedanken waren so schwerfällig, daß Luet einen Augenblick lang brauchte, um zu begreifen, daß Huschidh ironisch war. »Ich habe geträumt«, sagte sie, um ihre Dummheit zu erklären.

Aber Huschidh war nicht an ihrem Traum interessiert. »Für die arme Tanta Rasa fängt der Alptraum an, wenn sie aufwacht.«

Luet versuchte, etwas Positives zu sehen. »Zumindest kann sie sich damit trösten, daß Kokor und Sevet die Nichten von Dhelembuvex waren — es wird nicht auf ihr Haus zurückfallen …«

»Nicht zurückfallen … Sie sind ihre Töchter, Lutja. Und Tantchen Dhel war ständig mit ihnen hier in diesem Haus, als sie aufwuchsen. Das hat nichts mit ihrer Erziehung zu tun. Das kommt davon, wenn man Gaballufix’ Tochter ist. Wie feinsinnig ironisch, daß in derselben Nacht, in der er stirbt, eine seiner Töchter der anderen mit einem Schlag gegen den Hals die Stimme nimmt.«

»Mit jedem Wort strömt süße Freundlichkeit von deinen Lippen, Schuja.«

Huschidh funkelte sie an. »Du hast Tanta Rasas Töchter genausowenig ausstehen können wie ich. Komm mir jetzt also nicht auf die Tour.«

In Wirklichkeit interessierte Luet sich nicht besonders für Rasas Töchter. Sie war zu jung gewesen, als sie zum letzten Mal in Rasas Haus waren, um sich mit ihnen anzufreunden. Doch die ältere Huschidh konnte sich genau daran erinnern, wie es gewesen war, sie ständig im Haus zu haben, während Kokor tatsächlich am Unterricht teilnahm und beide von Freiern umgeben waren. Huschidh hatte oft den Witz gerissen, daß in einem Bordell auch nicht mehr Pheromone herumschwirren konnten, doch Huschidhs Abscheu für Kokor und Sevet hatte nichts damit zu tun, daß die Männer sie so attraktiv fanden. Er hatte vielmehr etwas mit ihrer heftigen Eifersucht auf jedes Mädchen zu tun, das sich Rasas Liebe und Respekt verdient hatte. Huschidh war keine Rivalin für sie, und doch hatten sie beide ihr gnadenlos nachgesetzt und sie verspottet, wenn die Lehrerinnen es nicht hören konnten, bis sie gewissermaßen zu einem Geist in Rasas Haus geworden war, sich bis zum Unterrichtsbeginn versteckt hatte und danach davongelaufen war, die gemeinsamen Mahlzeiten gemieden hatte, vor Parties und Feiern zurückgeschreckt war, bis Kokor und Sevet in gnädig jungen Jahren geheiratet hatten — mit vierzehn beziehungsweise fünfzehn Jahren — und ausgezogen waren. Sevet war damals schon eine bekannte Sängerin gewesen, und ihr Üben — und auch Kokors — hatte das Haus wie mit Vogelgesang erfüllt. Doch weder sie noch Kokor hatten wahre Musik in Rasas Haus gebracht. Im Gegenteil, die Musik kehrte zurück, nachdem sie endlich gegangen waren. Und Huschidh war allen außer Luet gegenüber still und schüchtern geblieben. So interessierte sich Huschidh natürlich mehr für die bittere Tragödie, die Rasas Töchter inszeniert hätten. Luet war nur betroffen darüber, weil es Tanta Rasa traurig machen würde.

»Schuja, das ist doch nur ein Skandal. Was sagt man über diesen Soldaten? Und über Gaballufix’ Tod?«

Huschidh blickte auf ihren Schoß hinab. Sie wußte, daß Luet sie in Wirklichkeit tadelte, weil sie trivialen Angelegenheiten eine falsche Priorität gegeben hatte; doch sie akzeptierte den Tadel und verteidigte sich nicht. »Es heißt, Smelost sei von Anfang an Nafais Mitverschwörer gewesen. Raschgallivak verlangt, daß der Rat feststellt, wer Smelost die Flucht aus der Stadt ermöglicht hat, obwohl kein Haftbefehl oder so gegen ihn ausgestellt war, als er Basilika verließ. Rasa versucht, die Stadtwache unter die Kontrolle der Palwaschantu zu bringen. Eine sehr häßliche Lage.«

»Und was, wenn Tante Rasa als Smelosts Komplizin verhaftet wird?«

»Komplizin wobei?« fragte Huschidh. Nun war sie Huschidh die Entwirrerin, die über die Stadt Basilika sprach, und nicht die Schülerin Schuja, die eine häßliche Geschichte über ihre Peinigerinnen erzählte. Luet hieß die Veränderung willkommen, wenngleich sie mit sich brachte, daß Huschidh sich so offen erstaunt über Luets Mangel an Verständnis zeigte. »Was glaubst du, wie verrückt können die Leute überhaupt werden? Raschgallivak kann versuchen, sie aufzuhetzen, aber er ist kein Gaballufix — er hat nicht die magnetische Persönlichkeit, die man braucht, sollen die Leute einem über einen langen Zeitraum folgen. Tante Rasa wird sich im Rat gegen ihn durchsetzen, und dann ist er erledigt.«

»Ja, ich glaube schon«, sagte Luet. »Aber Gaballufix hatte so viele Soldaten, und jetzt verfügt Raschgallivak über sie …«

»Rasch hat keine guten Beziehungen«, sagte Huschidh. »Die Leute haben ihn immer gemocht und respektiert, aber nur als Verwalter — insbesonders als Wetschiks Verwalter —, und sie werden ihm wohl kaum von Anfang an die volle Ehre erweisen, die dem Wetschik gebührt, ganz zu schweigend von dem Respekt, den Gaballufix als Kopf der Palwaschantu bekam. Er hat nicht halb soviel Macht, wie er sich vorstellt — aber genug, um Ärger zu machen, und das ist sehr beunruhigend.«

Luet war endlich völlig wach und kroch zum Rand ihres Bettes. Ihr fiel ein, daß sie noch etwas erzählen mußte. »Ich habe geträumt«, sagte sie.

»Das hast du schon gesagt.« Dann begriff Huschidh, was sie meinte. »Oh. Etwas spät, meinst du nicht auch?«

»Nicht von Smelost. Über etwas … sehr Seltsames. Und doch kam es mir wichtiger vor als alles, was zur Zeit um uns herum geschieht.«

»Ein Wahrtraum?« fragte Huschidh.

»Ich bin mir nie sicher, aber ich glaube schon. Ich erinnere mich so deutlich daran, daß die Überseele ihn mir geschickt haben muß.«

»Dann erzähle ihn mir, während wir zum Frühstück gehen. Es ist schon fast Mittag, aber Tante Rasa hat die Köchin angewiesen, uns trotzdem etwas zuzubereiten, weil wir die halbe Nacht aufgewesen sind.«

Luet zog ein Gewand über den Kopf, schlüpfte in Sandalen und folgte Huschidh die Treppe hinab in die Küche. »Ich habe von fliegenden Engeln geträumt.«

»Engel! Und was hat das zu bedeuten, abgesehen davon, daß du im Schlaf abergläubisch bist?«

»Sie sahen nicht aus wie auf den Bildern in den Kinderbüchern, falls du das meinst. Nein, sie ähnelten eher großen, grazilen Vögeln. Eigentlich Fledermäusen, denn sie hatten ein Fell. Aber mit sehr intelligenten und ausdrucksstarken Gesichtern, und irgendwie habe ich in dem Traum gewußt, daß sie Engel waren.«

»Die Überseele bedarf keiner Engel. Die Überseele spricht direkt zum Verstand einer jeden Frau.«

»Und eines jeden Mannes, obwohl kaum noch jemand zuhört, genau, wie du mir nicht zuhörst, Schuja. Soll ich dir den Traum erzählen oder nur Brot und Honig und Rahm essen und mir dabei denken, daß die Überseele nichts zu sagen hat, das dich interessieren könnte?«

»Sei nicht so abscheulich zu mir, Luet. Du magst ja diese wunderbare Wasserseherin oder sonstwer sein, aber wenn du so schnippisch zu mir bist, bist du nur meine dumme, kleine Schwester.«

Die Köchin funkelte sie an. »Ich versuche, in einer Küche voller Licht und Harmonie zu wirtschaften«, sagte sie.

Verlegen nahmen sie das heiße Brot, das sie ihnen reichte, und setzten sich an den Tisch, wo bereits ein Krug mit Rahm und einer mit Honig warteten. Huschidh brach, wie immer, ihr Brot in eine Schüssel und goß den Rahm und den Honig darüber; Luet strich, wie immer, den Honig auf das Brot und trank den Rahm getrennt davon aus der Schüssel. Beide gaben vor, die Eßgewohnheiten der jeweils anderen zu verabscheuen. »Trocken wie Staub«, flüsterte Huschidh. »Feucht und schleimig«, erwiderte Luet. Dann lachten beide laut auf.

»Schon besser«, sagte die Köchin. »Ihr solltet es doch besser wissen, als euch ständig zu streiten.«

»Der Traum«, sagte Huschidh mit vollem Mund.

»Engel«, sagte Luet.

»Ja, und sie flogen. Haarige Engel, wie fette Fledermäuse. Das habe ich schon mitbekommen.«

»Nicht fett.«

»Aber auf jeden Fall Fledermäuse.«

»Grazil«, sagte Luet. »In die Lüfte aufstrebend, so waren sie. Und ich war einer davon und flog und flog. Es war so schön und friedlich. Und dann sah ich den Fluß, und ich flog zu ihm hinab und nahm am Ufer den Lehm und machte eine Statue daraus.«

»Engel, die im Dreck spielen?«

»Nicht seltsamer als Fledermäuse, die Statuen machen«, gab Luet zurück. »Und dein Kinn läuft Milch hinab.«

»Na ja, dafür klebt an deiner Nase Honig.«

»Und auf deinem Kopf ist ein großes, häßliches Geschwür … oh, nein, das ist dein …«

»Mein Gesicht, ich weiß. Erzähl mir den Traum zu Ende.«

»Ich machte den Lehm weich, indem ich ihn in den Mund nahm, so daß ich, als ich — als Engel, versteh mich nicht falsch — die Statue machte, etwas von mir in ihr war. Ich glaube, das ist sehr bedeutungsvoll.«

»Ah, ziemlich symbolisch, ja.« Huschidhs Stimme klang scherzhaft, aber Luet wußte, daß sie genau zuhörte.

»Und es waren keine Statuen von Menschen oder Engeln oder so. Manche von ihnen hatten Gesichter, aber es waren keine Porträts, nicht mal Gegenstände. Die Statuen sahen genauso aus, wie sie aussehen sollten … aussehen mußten. Keine zwei von ihnen waren gleich, und doch wußte ich in diesem Augenblick, daß die Statue, die ich machte, die einzig mögliche war, die ich machen konnte. Ergibt das Sinn?«

»Es ist ein Traum, es muß keinen Sinn ergeben.«

»Aber wenn es ein Wahrtraum ist, muß er doch Sinn ergeben.«

»Irgendwann einmal«, sagte Huschidh. Dann führte sie einen weiteren Löffel voll schlabbrigem Honig und Milch zum Mund.

»Als wir fertig waren«, sagte Luet, »brachten wir sie auf einen hohen Felsen und stellten sie zum Trocknen in die Sonne, und dann flogen wir unentwegt herum, und jeder betrachtete die Statuen der anderen. Dann flogen die Engel davon, und jetzt war ich nicht mehr bei ihnen. Ich war kein Engel mehr, ich war einfach da, beobachtete die Felsen, auf denen die Statuen standen, und die Sonne ging unter, und in der Dunkelheit …«

»Du konntest im Dunkeln sehen?«

»Ich konnte in meinem Traum sehen«, sagte Luet. »Auf jeden Fall kamen des Nachts diese riesigen Ratten, und eine nahm jeweils eine Statue und trug sie hinab, in Löcher in der Erde/ ganz tief hinab zu Gehegen und Höhlen, und jede Ratte, die eine Statue gestohlen hatte, gab sie einer anderen, und gemeinsam nagten sie daran, durchnäßten sie mit ihrem Speichel und rieben sie über ihre Felle. Bedeckten sich mit dem Ton. Ich war so wütend, Huschidh. Diese wunderschönen Statuen, und sie machten sie kaputt, verwandelten sie wieder in Lehm und rieben sich damit ein — selbst ihre Geschlechtsteile, überall.«

»Sie wissen Schönheit eben zu schätzen«, sagte Huschidh.

»Es ist mir ernst. Es hat mir das Herz gebrochen.«

»Aber was hat der Traum zu bedeuten?« fragte Huschidh. »Wen stellen die Engel dar und wen die Ratten?«

»Ich weiß es nicht. Wenn die Überseele einen Traum schickt, ist die Bedeutung für gewöhnlich offensichtlich.«

»Dann war es vielleicht einfach nur ein Traum.«

»Das glaube ich nicht. Er war so anders und so klar, und ich erinnere mich so deutlich daran. Schuja, ich glaube, das ist vielleicht der wichtigste Traum, den ich je hatte.«

»Zu schade, daß niemand ihn begreifen kann. Vielleicht ist es eine dieser Prophezeiungen, von der alle sagen werden, ah, ja, das war damit gemeint, aber erst, nachdem sie eingetreten ist und es zu spät ist, noch etwas zu ändern.«

»Vielleicht kann Tante Rasa ihn deuten.«

Huschidh zog ein skeptisches Gesicht. »Sie ist im Augenblick nicht besonders gut drauf.«

Insgeheim war Luet erleichtert, daß ihr nicht als einziger aufgefallen war, daß Rasa im Augenblick nicht die besten Entscheidungen ihres Lebens traf. »Dann sollte ich ihn ihr vielleicht nicht erzählen.«

Plötzlich setzte Huschidh ihr verkniffenes, kleines Lächeln auf, das andeutete, daß sie wirklich mit sich zufrieden war. »Willst du eine weit hergeholte Vermutung hören?« fragte sie.

Luet nickte und biß dann, als sie zuhörte, kräftig von ihrem lange ignorierten Brot ab.

»Die Engel sind die Frauen Basilikas«, sagte Huschidh. »All diese Jahrtausende hier in dieser Stadt haben wir eine Gesellschaft geschaffen, die sehr feinfühlig und empfindlich ist, und wir haben sie aus einem Teil unserer selbst geschaffen, genau, wie die Fledermäuse in deinem Traum ihre Statuen aus Speichel gemacht haben. Und jetzt stellen wir unser Werk zum Trocknen auf, und in der Dunkelheit werden unsere Feinde kommen und stehlen, was wir geschaffen haben. Aber sie sind so dumm, daß sie nicht einmal begreifen, daß es sich um Statuen handelt. Sie betrachten sie und sehen nur Brocken aus getrocknetem Lehm. Also machen sie sie naß und wälzen sich darin und sind so stolz, weil sie alles bekommen haben, was Basilika geschaffen hat, aber in Wirklichkeit haben sie überhaupt nichts von Basilika bekommen.«

»Das ist sehr gut«, sagte Luet ehrfürchtig.

»Das glaube ich auch«, sagte Huschidh.

»Aber wer sind unsere Feinde?«

»Ganz einfach«, sagte Huschidh. »Die Männer.«

»Nein, das ist zu einfach«, sagte Luet. »Obwohl Basilika eine Stadt der Frauen ist, tragen die Männer, die sie betreten, genausoviel zu der Schönheit hinzu, die wir erschaffen, wie die Frauen. Sie sind Teil der Gemeinschaft, auch wenn sie kein Land besitzen oder nicht innerhalb der Stadtmauern bleiben dürfen, wenn sie nicht mit einer Frau verheiratet sind.«

»In dem Augenblick, da du von riesigen Ratten gesprochen hast, war ich mir sicher, daß du Männer meinst.«

Die Köchin machte sich an dem Fleischeintopf zu schaffen, den sie für das Mittagessen vorbereitete.

»Es muß etwas anderes damit gemeint sein«, beharrte Luet. »Vielleicht Potokgavan.«

»Vielleicht nur Gaballufix’ Männer«, sagte Huschidh. »Die Tolschocks und dann seine Soldaten in diesen schrecklichen Masken.«

»Oder vielleicht jemand, der noch nicht hier ist«, sagte Luet. Und dann, voller Verzweiflung: »Oder der Traum hat vielleicht gar nichts mit Basilika zu tun. Wer kann das schon sagen? Aber das war mein Traum.«

»Er verrät uns nicht gerade, wohin wir Smelost hätten schicken sollen.«

Luet zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist die Überseele der Ansicht, daß wir genug Grips haben, es selbst herauszufinden.«

»Ob sie damit recht hat?« fragte Huschidh.

»Ich bezweifle es«, sagte Luet. »Es war ein Fehler, ihn zu den Gorajni zu schicken.«

»Das weiß ich nicht unbedingt«, sagte Huschidh. »Dein Brot trocken zu essen — das ist ein Fehler.«

»Nicht für uns, die wir Zähne haben«, sagte Luet. »Wir müssen unser Brot nicht aufweichen, um es essen zu können.«

Was zu einer spöttischen Streiterei führte, die so kindisch und laut wurde, daß die Köchin sie aus der Küche warf, was aber nicht weiter schlimm war, da sie mit dem Frühstück ohnehin fertig waren. Es war wunderschön, sich auch nur ein paar Minuten lang wie die Kinder benehmen zu können. Denn sie wußten, daß sie, ob nun zum Guten oder Schlechten, beide in die Ereignisse verwickelt werden würden, die nun über Basilika hineinbrechen würden. Nicht, daß sie unbedingt darin verwickelt werden wollten. Aber ihre Begabungen machten sie wichtig für die Stadt, und deshalb würden sie ihr Bestes geben, um Basilika zu dienen.

Luet ging pflichtgemäß zur Ratsversammlung und erzählte ihren Traum, der sorgfältig niedergeschrieben und dann den weisen Frauen ausgehändigt wurde, damit sie ihn auf seine Bedeutung und auf Vorzeichen untersuchten. Luet erzählte ihnen, wie Huschidh ihn interpretiert hatte, und sie dankten ihr freundlich und verrieten ihr damit, daß es in Ordnung war, Träume zu haben — jedes idiotische Kind konnte träumen —, aber wirkliche Expertinnen nötig waren, um ihre Bedeutung zu entschlüsseln.

In Khlam und nicht in einem Traum

Ein heißer, trockener Sturm wehte aus dem Nordwesten, was bedeutete, daß er durch die Wüste kam, ohne ein Tröpfchen Feuchtigkeit darin, nur Sand und Kies und, so hieß es, die ausgegrabenen Knochen von Menschen und Tieren, die tausend Kilometer entfernt von dem Staub überrascht worden waren, der Staub ihres Fleisches und, wenn man genau zuhörte, das Heulen ihrer Seelen, als der Wind sie immer weiter trug und keine einzige von ihnen losließ. Die Berge hielten das Schlimmste des Sturms ab, aber dennoch erzitterten und schwankten die Zelte von Muuzh’ Heer, die Laschen der Zelte knallten, die Fahnen tanzten wie verrückt, und dann und wann wurde eins vom Boden hochgepeitscht und taumelte durch eine staubige, ausgetretene Gasse zwischen den Zelten, während oftmals arme Soldaten versuchten, es einzuholen und festzuhalten.

Muuzh’ großes Zelt erzitterte auch im Wind, obwohl es vom Imperator gesegnet worden war. Natürlich war dieser Segen völlig ausreichend … doch Muuzh vergewisserte sich auch, daß die Pfosten tief und fest eingeschlagen waren. Er saß im Kerzenlicht am Tisch und betrachtete sehnsüchtig die Karte, die vor ihm ausgebreitet war. Sie zeigte alle Länder am Westufer der Erdgebundenen See. Im Norden waren die Länder der Gorajni rot umrissen, die Länder des Imperators, der natürlich die Inkarnation Gottes auf Erden und daher berechtigt war, die gesamte Menschheit zu beherrschen, etc. pp. Vor seinem geistigen Auge zog Muuzh die nicht markierten Grenzen der Nationen, die zumindest so alt waren wie die der Gorajni, und einige von ihnen waren noch viel älter und konnten auf eine stolze Geschichte zurückblicken — Nationen, die es nun nicht mehr gab, an die man sich nicht einmal mehr erinnerte, weil es Verrat war, ihren Namen auszusprechen, und es einem Todesurteil gleichkam, ihre alten Grenzen auf dieser Karte mit dem Finger nachzuziehen.

Doch Muuzh mußte die Grenzen nicht nachziehen. Er kannte die Grenzen seines Heimatlandes Pravo Gollossa, des Landes der Sotschitsija, seines Stammes. Sie waren tausend Jahre vor den Gorajni aus dem Norden durch die Wüste gekommen, doch einst waren sie von derselben Herkunft, derselben Sprache gewesen. Doch die Sotschitsija hatten sich in den saftigen, gut bewässerten Tälern des Skrezhet-Gebirges niedergelassen, hatten sowohl das Nomadendasein als auch die Kriegszüge aufgegeben und waren zu einer Nation freier Menschen geworden. Sie lernten von dem Volk, das in ihrer Nachbarschaft lebte. Nicht von den Ploschudu oder den Khlami oder den Izmennikoj, denn das waren zähe Bergvölker ohne Kultur, aber voller Hunger und Stärke und dem Willen, trotz allem zu überleben. Nein, die Sotschitsija, das Volk von Pravo Gollossa, hatte von den Händlern gelernt, die von Seggidugu, von Ulje, von den Städten der Ebene /u ihnen kamen. Und vor allem von den Karawanen aus Basilika mit ihren seltsamen Liedern und ihrem genauso seltsamen Saatgut, mit den Bildern in Glas und den ausgeklügelten Werkzeugen, unmöglichen Stoffen, die mit der jeweiligen Tagesstunde die Farben änderten, und ihren Gedichten und Geschichten, die die Sotschitsija lehrten, wie klug und gebildet Männer und Frauen sprachen und dachten und träumten und lebten.

Das war die Glanzzeit der Pravo Gollossa, denn von diesen Karawanengängern übernahmen sie die Vorstellung eines Rates, der die Entscheidungen mit den Stimmen von Ratsmitgliedern traf, die wiederum von den Bürgern gewählt worden waren. Aber von diesen Karawanen aus Basilika erfuhren sie auch von einer Stadt, die von Frauen beherrscht wurde, in der Männer nicht einmal Land besitzen durften … und doch war die Stadt nicht zusammengebrochen, weil die Frauen unfähig waren zu herrschen, und doch hatten die Männer nicht rebelliert und die Stadt erobert, und die Frauen hatten nicht nur ein politisches Wahlrecht, sondern auch das, sich am Ende eines jeden Jahres von ihren Männern scheiden zu lassen und einen anderen zu heiraten, wenn sie es so wollten. Der ständige Druck dieser neuen Vorstellungen schwächte die Sotschitsija und verwandelte die einst starken Krieger und Herrscher des Stammes in Narren mit den Herzen von Frauen, und zu den Zeiten von Muuzh’ Urgroßvätern verliehen sie den Frauen schließlich das Wahlrecht und wählten Frauen, die über sie herrschen sollten.

Dann kamen die Gorajni, denn sie wußten nun, daß die Sotschitsija in ihren Herzen endlich Frauen geworden und daher der Freiheit nicht mehr würdig waren. Die Gorajni ließen ein großes Heer an der Grenze aufmarschieren, und die Frauen des Rates — genau so viele Männer wie Frauen, doch nichtsdestotrotz alles Weiber — entschieden sich dafür, nicht zu kämpfen, sondern die Oberhoheit der Gorajni zu akzeptieren, wenn diese ihnen in allen bis auf militärische Belange die Selbstverwaltung zubilligten. Es war eine schändliche Kapitulation, die endgültige Kastration der Sotschitsija, ihre Erniedrigung vor der gesamten Welt, und Muuzh’ eigener Urgroßvater war der Delegierte, der die Bedingungen ihrer Kapitulation mit den Gorajni aushandelte.

Fünfzig Jahre lang hatte die Vereinbarung Bestand — die Sotschitsija bestimmten über sich selbst. Doch mit der Zeit erklärten die Gorajni immer mehr Belange der Sotschitsija zu militärischen Angelegenheiten, bis der Rat schließlich nur noch ein Haufen alter, verängstigter Männer und Frauen war, die die Erlaubnis des Imperators einholen mußten, wenn sie pinkeln gehen wollten. Erst dann erinnerten sich einige Sotschitsija an ihre Männlichkeit. Sie warfen die Frauen hinaus, die sie beherrschten, und erklärten sich wieder zu einem Stamm, zu Wüstenwanderern, und schworen, die Gorajni bis zum letzten Mann zu bekämpfen. Die Gorajni brauchten drei Tage, um diese tapferen, aber nicht ausgebildeten Rebellen auf dem Schlachtfeld zu besiegen, und ein weiteres Jahr, um sie in den Bergen aufzuspüren und alle zu töten. Danach gab es keinen Vorwand mehr, daß die Sotschitsija noch irgendwelche Rechte hatten. Es war verboten, den Sotschitsija-Dialekt zu sprechen; Kinder, die ertappt wurden, wie sie ihn sprachen, hatten das Privileg, mitanzusehen, wie man ihren Eltern die Zunge abschnitt, einen Zentimeter für jeden Verstoß gegen das Gebot. Doch nur noch wenige Sotschitsija erinnerten sich überhaupt noch an ihre Sprache; die meisten davon waren alt, und viele hatten keine Zunge mehr.

Aber Muuzh kannte die Sprache. Muuzh trug sie in seinem Herzen. Obwohl er der erfolgreichste, der gefährlichste General des Imperators war, wußte er in seinem Herzen, daß seine wahre Sprache Sotschitsija war, nicht Gorajni. Und obwohl seine vielen Siege in Schlachten die großen Küstennationen Uslavat und Ulje unter die Herrschaft des Imperators gebracht hatten, obwohl seine klugen Strategien die dornigen Bergkönigreiche Plosch und Khlam unterworfen hatten, ohne daß eine einzige Schlacht geschlagen werden mußte, verabscheute Muuzh den Imperator insgeheim und trotzte ihm in seinem Herzen.

Denn Muuzh wußte besser als die meisten anderen, daß der Imperator fürwahr Gott höchstpersönich war, Muuzh konnte die Macht Gottes spüren, die ihn zu unterwerfen versuchte. Er hatte sie zuerst in seiner Jugend wahrgenommen, als er einen Platz im Gorajni-Heer suchte. Gott sprach nicht zu ihm, als er lernte, ein starker Soldat zu sein, mit muskelbepackten Armen und Schenkeln, imstande, eine Streitaxt durch das Rückgrat des Feindes zu treiben und ihn in zwei Hälften zu spalten. Doch als Muuzh sich als Offizier vorstellte, als General, der Heere führte, kam auch das schwerfällige, dumme Gefühl, das ihn dazu bringen wollte, solche Träume zu vergessen. Muuzh begriff — Gott wußte von seinem Haß auf den Imperator und wollte dafür sorgen, daß einer wie Muuzh niemals eine Macht bekam, die über die Kraft seiner Arme hinausging.

Doch Muuzh weigerte sich, die Niederlage einzugestehen. Wann immer er spürte, daß Gott ihn eine Vorstellung vergessen ließ, klammerte er sich an sie — er schrieb sie nieder und prägte sie sich ein, er machte in der Sotschitsija-Sprache ein Gedicht daraus, damit er sie niemals vergessen konnte. Und so baute er, Stück für Stück, in seinem Herzen eigene Regeln der Kriegsführung auf, auf jedem Schritt des Weges von Gott geleitet, denn von welchen Gedanken auch immer Gott ihn abhalten wollte, er wußte, genau daran mußte er denken, tief und gründlich.

Diese geheime Herausforderung Gottes erhob Muuzh über die einfachen Mannschaftsränge und machte ihn zum Hauptmann, als sein Regiment in Gefahr lief, von den Piraten von Revis aufgerieben zu werden. Alle anderen Offiziere waren gefallen, doch als Muuzh auf den Gedanken kam, den Befehl zu übernehmen und die wenigen Überlebenden außer ihm bei einem Gegenangriff auf die Flanke der unbeherrschten, siegreichen Reviti zu führen, verspürte er die Stumpfheit des Geistes, die ihm immer verriet, daß Gott nicht wollte, daß er dieser Idee nachging. Also schrie er die Stimme Gottes nieder und führte seine Männer bei einem törichten Angriff, der die Piraten dermaßen überraschte, daß sie ihre Schlachtformation aufgaben und flohen, und die anderen Gorajni faßten sich ein Herz und folgten Muuzh bei seinem jähzornigen Angriff, bis sie die Piraten am Flußufer stellten und alle töteten und ihre Schiffe verbrannten. Dann trugen sie Muuzh auf einem Triumphzug durch die Stadt Gollod, wo der Imperator Kamelmilchbutter in sein Haar rieb und ihn zu einem Helden der Gorajni ausrief. Doch in seinem Herzen wußte Muuzh, daß Gott zweifellos vorgehabt hatte, diesen Sieg einem treuen Sohn der Gorajni zufallen zu lassen. Nun, wie schade für den Imperator — wenn die Inkarnation Gottes nicht wußte, daß sie gerade ihrem Feind das Haar gesalbt hatte, konnte es mit ihr nicht weit hergeholt sein.

Schritt für Schritt hatte Muuzh die Befehlsleiter erklommen, bis er nun einem gewaltigen Heer vorstand. Die meisten seiner Männer waren nun allerdings in Ulje stationiert, denn der Imperator hatte befohlen, den Angriff auf Nakavalnu noch einen Monat zurückzustellen, bis das Wetter besser wurde und sie die Streitwagen einsetzen konnten, womit sie einen beträchtlichen Vorteil erringen würden. Hier in Khlam stand ihm nur ein Regiment zur Verfügung, doch mehr benötigte er auch nicht. Schritt für Schritt würde er die Gorajni weiterführen, Nation um Nation unterwerfen, bis alle Städte an der Küste gefallen waren. Dann würde er gegen die Heere Potokgavans marschieren.

Und was dann? An manchen Tagen spielte Muuzh mit dem Gedanken, er würde seine Rache nehmen, indem er eine vollständige und endgültige Niederlage aller Heere der Gorajni orchestrierte. Er würde ihre gesamte militärische Macht an einer Stelle konzentrieren und dann dafür sorgen, daß alle Soldaten getötet wurden, er selbst auch. Dann, nachdem die Gorajni vernichtend geschlagen waren und Potokgavan über die gesamte Ebene herrschte — dann würden sich die Sotschitsija erheben und ihre Freiheit beanspruchen.

An anderen Tagen jedoch stellte Muuzh sich vor, daß er Potokgavans Heer vernichten würde. Dann gab es am gesamten Westufer der Erdgebundenen See keinen Rivalen mehr, der die Vorherrschaft der Gorajni herausfordern konnte. Dann würde er vor dem Imperator stehen, und wenn der Imperator die Hand ausstreckte, um sein Haar mit Kamelmilchbutter zu salben, würde Muuzh ihm den Kopf mit einem Hirschfänger abtrennen, ihm die Kamelhöckermütze abnehmen und sich selbst aufsetzen und erklären, daß das Reich, das ein Sotschitsija geschaffen hatte, nun auch von den Sotschitsija beherrscht wurde. Er würde der Imperator sein, und anstatt die Inkarnation Gottes zu sein, würde er der Feind Gottes sein, und die Sotschitsija würden als die größte Nation der Menschheit gelten und nicht mehr als Nation von Weibern.

Das waren seine Gedanken, als er die Karte studierte, während der Sturm Sand in sein Zelt blies und versuchte, es aus dem Boden zu reißen.

Plötzlich wurde er wach. Das Geräusch hatte sich verändert. Es war nicht mehr nur der Wind; jemand kratzte an seinem Zelt. Wer konnte so dumm sein, bei diesem Wetter vor die Tür zu gehen? Plötzlich verspürte er Furcht — war es vielleicht ein Attentäter, den der Imperator geschickt hatte, um zu verhindern, daß er den Verrat beging, von dem Gott mit Sicherheit wußte, daß er in seinem Herzen war?

Doch als er die Zeltklappe aufband und öffnete, kam mit dem Gestöber aus Sand und heißem Wind kein Meuchelmörder hinein, sondern Plod, sein bester Freund und Kamerad, begleitet von einem anderen Mann, einem Fremdem, der eine militärische Aufmachung trug, die Muuzh unbekannt war.

Plod befestigte die Zeltklappe persönlich — es wäre unangemessen gewesen, daß Muuzh dies tat, war doch ein rangniedrigerer Offizier anwesend, der es übernehmen konnte. Also konnte Muuzh den Fremden genau mustern. Er war kein Soldat, wirklich nicht — sein Brustkorb war stämmig, seine Klinge scharf, seine Kleidung ordentlich, und er hielt sich aufrecht wie ein Mann. Doch seine Haut war weich, und seinen Muskeln fehlte es an der Härte eines Mannes, der im Kampf ein Schwert geschwungen hatte. Er war einer jener Soldaten, die an einem Palast oder einer Mautstraße Wache standen, die gewöhnliche Bürger schikanierten, sich aber niemals einer angreifenden Feindeshorde stellen mußten, niemals einem Kriegswagen gefolgt waren, niemals all jene getötet hatten, die den Klingen entgangen waren, die sich mit den Radnaben der Streitwagen drehten.

»Welches Tor bewachst du?« fragte Muuzh.

Der Mann schaute verblüfft drein und warf Plod einen Blick zu.

Plod lachte nur. »Niemand hat ihm etwas gesagt, armer Mann. Glaubst du, du könntest General Vozmuzhalnoi Vozmozhno gegenübertreten und vor seinen Blicken etwas verheimlichen?«

»Mein Name ist Smelost«, sagte der weiche Soldat, »und ich bringe einen Brief von Herrin Rasa von Basilika.«

Er sprach den Namen aus, als müßte Muuzh ihn kennen. So waren diese Städter eben; sie gingen davon aus, daß Ruhm in ihrer Stadt gleichbedeutend mit Ruhm auf der ganzen Welt war.

Muuzh streckte die Hand aus und nahm den Brief entgegen. Natürlich war er nicht in den Blockbuchstaben des Gorajni-Alphabets verfaßt — das sie vor Jahrhunderten den Sotschitsija gestohlen hatten. Statt dessen war er in der schnörkeligen, vertikalen Kursivschrift Basilikas gehalten. Doch Muuzh war ein gebildeter Mann. Er konnte ihn problemlos lesen.

»Dieser Mann scheint unser Freund zu sein, lieber Plod«, sagte Muuzh. »Weil er einem Meuchelmörder zur Flucht verhelfen hat, ist sein Leben in Basilika nicht mehr sicher — aber der Meuchelmörder war auch unser Freund, da er einen Mann namens Gaballufix getötet hat, der dafür eingetreten ist, daß Basilika ein Bündnis mit Potokgavan eingeht und die Städte der Ebene gegen uns in den Krieg führt.«

»Ach«, sagte Plod.

»Wir haben nie gewußt, wie viele liebe Freunde wir in Basilika haben«, sagte Muuzh.

Plod lachte.

Smelost schaute mehr als nur etwas unbehaglich drein.

»Setz dich«, sagte Muuzh. »Du bist unter Freunden. Dir wird jetzt nichts geschehen. Treibe etwas Ale für ihn auf, ja, Plod? Er mag ein gewöhnlicher Soldat sein, doch er bringt uns einen Brief von einer feinen Dame, die dem Imperator nur Liebe und Sorge entgegenbringt.«

Plod hakte einen Krug vom hinteren Zeltpfosten los und gab ihn Smelost, der ihn verwirrt betrachtete.

Muuzh lachte, nahm Smelost den Krug aus den Händen und zeigte ihm, wie man ihn mit der Öffnung nach oben auf den Arm legen und schräghalten mußte, damit einem das Ale in den Mund floß. »In diesem Heer gibt es keine schönen Gläser, mein Freund. Du bist hier nicht unter den Damen Basilikas.«

»Das weiß ich selbst«, sagte Smelost.

»Dieser Brief ist so rätselhaft, mein Freund«, sagte Muuzh. »Sicher kannst du uns mehr sagen.«

»Nicht viel mehr, fürchte ich«, sagte Smelost und schluckte einen Mundvoll Ale. Es war viel süßer als Bier, und Muuzh sah, daß es ihm nicht schmeckte. Na ja, das spielte kaum eine Rolle, solange Smelost genug von der Droge aufnahm, die in dem Ale aufgelöst war und bewirkte, daß er die Wahrheit sprach. »Ich bin aufgebrochen, bevor irgend etwas klar wurde.« Er log natürlich, da er der Ansicht war, er solle nicht mehr sagen, als Herrin Rasa geschrieben hatte.

Doch bald verlor Smelost seine Zurückhaltung und erzählte Muuzh viel mehr, als er je beabsichtigt hatte. Doch Muuzh gab klug vor, das meiste davon schon zu wissen, damit Smelost nicht den Eindruck bekam, irgendwelche Geheimnisse verraten zu haben, wenn er später an das Gespräch und daran zurückdachte, wie viel er gesagt hatte.

Offensichtlich herrschte im Augenblick große Verwirrung in Basilika, doch die Teile des Bildes, auf die es Muuzh ankam, waren sehr klar. Zwei Parteien, eine, die für die Allianz mit Potokgavan, und eine, die dagegen eintrat, hatten um die Vorherrschaft in der Stadt gekämpft. Nun waren die Anführer beider Parteien tot, getötet in derselben Nacht, vielleicht von demselben Attentäter, doch Smelosts Erachtens wahrscheinlich nicht. Wilde Mordvorwürfe wurden erhoben; ein schwacher Mann beherrschte nun eine Gruppe von Söldnern, die ungebändigt durch die Straßen zog, während der Befehlshaber der Stadtwache unter Verdacht stand, weil dieser Mann, Smelost, den mutmaßlichen Attentäter vor zwei Nächten aus der Stadt hatte entkommen lassen.

»Was können wir von einer Stadt der Frauen erwarten?« sagte Muuzh, als Smelost seinen Bericht beendet hatte. »Natürlich herrscht dort Verwirrung. Frauen sind immer verwirrt, wenn die Gewalt beginnt.«

Smelost betrachtete ihn wachsam. Das war das Schöne an der Droge, die Plod ihm verabreicht hatte — das Opfer hielt sich noch immer für klug und vorsichtig, obwohl es über jedes Thema bereitwillig sein Herz ausschüttete. Muuzh war natürlich schon seit Jahren gegen die Wirkung der Droge immun, weshalb er auch nicht die geringsten Skrupel hatte, einen Schluck Ale aus demselben Krug zu trinken. Er war auch überzeugt davon, daß Plod nicht die geringste Ahnung hatte, daß er immun war, und mehr als einmal hatte er vermutet, daß Plod ihm etwas von der Droge gegeben hatte, woraufhin Muuzh immer ein paar harmlose, aber indiskret klingende Enthüllungen gemacht hatte — normalerweise nur seine persönliche Meinung über ein paar andere Offiziere. Nie etwas Belastendes. Nur soviel, daß Plod denken mußte, die Droge würde auch bei ihm zum gewünschten Ziel führen.

»Oh, du weißt, was ich meine«, sagte Muuzh. »Nichts gegen die Frauen, aber sie kommen nicht gegen ihre Biologie an, nicht wahr? So sind sie nun mal — wenn die Gewalt anfängt, müssen sie zu einem Mann laufen und sich von ihm beschützen lassen, oder sie sind verloren, meinst du nicht auch?«

Smelost lächelte schwach. »Dann kennst du die Frauen Basilikas nicht.«

»Natürlich kenne ich sie«, sagte Muuzh. »Ich kenne alle Frauen, und die Frauen, die ich nicht kenne, kennt Plod — stimmt das nicht, Plod?«

»O ja«, sagte Plod lächelnd.

Smelost blickte etwas finster drein, sagte aber nichts.

»Die Frauen von Basilika haben es mit der Angst zu tun bekommen, nicht wahr? Sie sind verängstigt und handeln überhastet. Es gefällt ihnen nicht, daß diese Soldaten durch die Straßen marschieren. Sie haben Angst davor, was passieren wird, wenn kein starker Mann sie im Zaum halten kann — aber sie fürchten sich genauso davor, was passieren wird, falls dieser starke Mann tatsächlich kommt. Wer weiß schon, wozu die Dinge führen werden, nachdem die Gewalt erst einmal angefangen hat? Auf den Straßen Basilikas fließt Blut. Der Kopf eines Mannes hat den Straßenstaub durch beide Hälften seines Halses getrunken, wie wir in Gollod sagen. In jedem Frauenherz in Basilika ist Furcht, ja, und du weißt es.«

Smelost zuckte mit den Schultern. »Natürlich haben sie Angst. Wer hätte keine?«

»Ein Mann hätte keine Angst«, sagte Muuzh. »Ein Mann würde die Gelegenheit riechen. Ein Mann würde sagen: Wenn andere Angst haben, hat jeder, der kühn spricht, die Chance, die Führung zu übernehmen. Jeder, der Entscheidungen trifft, jeder, der etwas unternimmt, kann zum Brennpunkt der Amtsgewalt werden, zur Hoffnung der Verzweifelten, zur Stärke der Schwachen, zur Seele der Mutlosen. Ein Mann würde handeln.«

»Handeln«, echote Smelost.

»Kühn handeln«, sagte Plod.

»Und doch … du bist mit dem Brief einer Frau zu uns gekommen, die um Schutz bittet.« Muuzh lächelte und zuckte mit den Schultern.

Smelost versuchte augenblicklich, sich zu verteidigen. »Soll ich mich vor Gericht für etwas anklagen lassen, von dem ich wußte, daß es richtig war?«

»Natürlich nicht. Was — von Frauen verurteilt werden?« Muuzh sah Plod an und lachte; Plod nahm den Ball auf und fiel ein. »Weil du gehandelt hast, wie ein Mann handeln muß, kühn, mit Mut — nein, dafür sollte dir nicht der Prozeß gemacht werden.«

»Also bin ich hierher gekommen.«

»Um uns um Schutz zu bitten. Damit du in Sicherheit bist, während deine Stadt in Angst lebt.«

Smelost stand auf. »Ich bin nicht hierher gekommen, um mich beleidigen zu lassen.«

Augenblicklich deutete Plods Klinge auf Smelosts Hals. »Wenn der General des Imperators sitzt, bleiben alle Männer sitzen oder werden wie Meuchelmörder behandelt.«

Smelost ließ sich behutsam wieder auf den Stuhl hinab.

»Verzeih meinem besten Freund Plod«, sagte Muuzh. »Ich weiß, daß du es nicht böse gemeint hast. Schließlich bis du zu uns gekommen, damit wir dich schützen, und nicht, um einen Krieg anzufangen!» Muuzh lachte und sah Smelost die ganze Zeit über in die Augen, bis auch der sich zu einem Lachen zwang.

Smelost konnte es eindeutig nicht ausstehen, über sich selbst zu lachen, weil er Schutz gesucht hatte, anstatt wie ein Mann zu handeln.

»Aber vielleicht habe ich dich falsch verstanden«, sagte Muuzh. »Vielleicht bist du nicht nur, wie dieser Brief behauptet, wegen dir zu uns gekommen. Vielleicht hast du irgendeinen Plan im Sinn, eine Möglichkeit, wie du deiner Stadt helfen kannst, eine Taktik, mit der du die Furcht der Frauen Basilikas lindern und sie vor dem Chaos bewahren kannst, das sie bedroht.«

»Ich habe keinen Plan«, sagte Smelost.

»Ah«, sagte Muuzh. »Oder vielleicht vertraust du uns noch nicht so, daß du ihn uns verraten würdest.« Muuzh schaute betroffen drein. »Ich verstehe. Wir sind Fremde, und das Schicksal deiner Stadt steht auf dem Spiel, einer Stadt, die du mehr liebst als das Leben selbst. Außerdem erbittest du viel mehr von uns, als ein gewöhnlicher Soldat normalerweise jemals von einem General Gorajnis zu erbitten wagte. Also werde ich dich jetzt nicht bedrängen. Geh — Plod wird dir ein Zelt zeigen, in dem du trinken und schlafen kannst, und wenn dieser Sturm nachläßt, kannst du baden und essen, und dann wirst du vielleicht genug Vertrauen zu mir haben, um mir zu sagen, was wir tun sollen, und deine schöne und geliebte Stadt vor der Anarchie zu retten.«

Als Muuzh geendet hatte, machte er eine unauffällige Handbewegung, stützte dann den Ellbogen auf die Stuhllehne und gab vor, wegen Smelosts Zögern etwas betrübt zu sein. Plod bemerkte das Zeichen natürlich und drängte Smelost augenblicklich aus dem Zelt hinaus und in den Sturm zurück.

Kaum waren sie draußen, sprang Muuzh auf, beugte sich über den Tisch und studierte die Karte. Basilika — so weit im Süden, aber im höchsten Teil des Gebirges, direkt an der Wüste, so daß es möglich war, von dort durch die Berge zu kommen. In zwei Tagen, wenn er nur ein paar hundert Mann mitnahm und ihnen alles abverlangte. Zwei Tage, und er konnte gut und gern im Besitz der größten Stadt am Westufer sein, der Stadt, deren Karawanengänger ihre Sprache zum Handelsjargon jeder Stadt und Nation von Potokgavan bis Gorajni gemacht hatten. Ganz davon zu schweigen, daß Basilika über kein nennenswertes Heer verfügte. Wichtiger war jedoch, was die Städte der Ebene davon halten würden — und Potokgavan. Sie würden nicht wissen, wie klein und schwach das Heer Gorajnis war. Sie würden nur wissen, daß der große General Vozmuzhalnoi Vozmozhno einen überraschenden Feldzug getan und eine Stadt der Legenden und Geheimnisse erobert hatte und nun nicht mehr hundertfünfzig Kilometer von ihnen entfernt im Norden saß, hinter Seggidugu, sondern ganz in ihrer Nähe aufgetaucht war und von den Türmen Basilikas aus jeden ihrer Züge beobachten konnte.

Dieser Schlag wäre für sie verheerend. Wenn Potokgavan wußte, daß Vozmuzhalnoi Vozmozhno die Ankunft ihrer Flotte beobachten konnte und genügend Zeit hatte, seine Truppen aus Basilika zu führen und ihr Heer beim Landungsversuch zu vernichten, würden sie nicht wagen, ein Expeditionskorps zu den Städten der Ebene auszuschicken. Und was die Städte selbst betraf, würden sie sich eine nach der anderen ergeben, und schon bald wäre Seggidugu umzingelt, eingeschlossen, ohne Hoffnung auf Unterstützung von Potokgavan. Sie würden einen bedingungslosen Frieden schließen. Wahrscheinlich würde es nicht einmal zu einem Kampf kommen — ein vollständiger Sieg, ohne Verluste, und das alles nur, weil in Basilika das Chaos herrschte und dieser Soldat gekommen war, um Vozmuzhalnoi Vozmozhno von seiner glorreichen Gelegenheit in Kenntnis zu setzen.

Die Zeltklappe öffnete sich wieder, und Plod trat ein. »Der Sturm läßt nach«, sagte er.

»Sehr gut«, sagte Muuzh.

»Was hatte das alles zu bedeuten?«

»Was?«

»Dieser Unsinn, den du zu diesem Soldat aus Basilika gesagt hast.«

Muuzh hatte nicht die geringste Ahnung, wovon Plod sprach. Ein Soldat aus Basilika? Er hatte nie im Leben einen Soldaten aus Basilika gesehen.

Doch Plod warf einen Blick auf einen der Stühle, und nun erinnerte Muuzh sich verschwommen daran, daß vor nicht allzu langer Zeit irgend jemand auf diesem Stuhl gesessen hatte. Jemand … ein Soldat aus Basilika? Aber das wäre doch sehr wichtig — wie konnte er es vergessen haben?

Ich habe es nicht vergessen, dachte Muuzh. Ich habe es nicht vergessen. Gott hat gesprochen, Gott hat versucht, mich dumm zu machen, aber ich habe ihm widerstanden. Ich werde mich nicht zum Gehorsam zwingen lassen.

»Wie schätzt du die Situation ein?« fragte er. Plod durfte niemals den Eindruck gewinnen, daß Muuzh verwirrt oder vergeßlich war.

»Basilika ist weit weg«, sagte Plod. »Wir können diesem Mann Schutz gewähren oder ihn töten oder zurückschicken, es spielt kaum eine Rolle. Was bedeutet Basilika schon für uns?«

Armer Narr, dachte Muuzh. Deshalb bist du nur der liebste Freund des Generals und nicht der General selbst, obwohl ich weiß, daß du es gern wärest. Muuzh wußte, was Basilika für eine Rolle spielte. Es war die Stadt der Frauen, deren Einfluß seine Vorfahren kastriert und sie die Freiheit und Ehre gekostet hatte. Es war auch die große Zitadelle, die sich über die Städte der Ebene erhob. Wenn Muuzh sie einnehmen konnte, würde er keine einzige Schlacht schlagen müssen — seine Feinde würden vor ihm zusammenbrechen. War das der Plan, den er zuvor gehabt hatte, der Plan, den Gott ihn hatte vergessen lassen wollen?

»Schreib das auf«, sagte Muuzh.

Plod öffnete seinen Computer und klappte die Tastatur aus, um Muuzh’ Worte aufzuzeichnen, »Wer immer Herr von Basilika ist, ist Herr über die Städte der Ebene.«

»Aber Muuzh, Basilika hat nie die Hegemonie über diese Städte ausgeübt.«

»Weil es eine Stadt der Frauen ist«, sagte Muuzh. »Würde sie von Männern mit einem Heer beherrscht, wäre es eine ganz andere Geschichte.«

»Wir kämen niemals dorthin, um sie einzunehmen«, sagte Plod. »Ganz Seggidugu liegt zwischen uns und Basilika.«

Muuzh betrachtete die Karte, und ein anderer Teil seines Plans fiel ihm wieder ein. »Ein Wüstenmarsch.«

»Während des Monats der Weststürme!« rief Plod. »Die Männer würden dir den Gehorsam verweigern.«

»Die Berge bieten Schutz. Dort gibt es viele Bergstraßen.«

»Nicht für ein Heer«, sagte Plod.

»Nicht für ein großes Heer«, sagte Muuzh und schmiedete beim Sprechen seinen Plan.

»Bei der Größe des Heeres, das du dorthin führen könntest, könntest du Basilika niemals gegen Potokgavan halten«, sagte Plod.

Muuzh betrachtete die Karte einen Augenblick länger. »Aber Potokgavan wird niemals kommen, nicht, wenn wir Basilika bereits halten. Sie werden nicht wissen, wie groß unser Heer ist, aber sie werden wissen, daß wir von dort aus die gesamte Küstenlinie überblicken können. Wo sollten sie mit ihrer Flotte landen, wenn sie doch wissen, daß wir sie schon aus weiter Ferne sehen und sie am Ufer begrüßen können, um sie aufzureiben, wenn sie landen?«

Plod tippte alles ein und betrachtete die Karte dann selbst. »Darin läge ein Vorzug«, sagte er.

Warum liegt ein Vorzug darin? fragte Muuzh sich insgeheim. Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum ich diesen Plan habe, abgesehen davon, daß anscheinend ein Soldat Basilikas hierher gekommen ist. Was hat er mir mitgeteilt? Warum hätte dieser Plan seine Vorzüge?

»Und bei dem derzeitigen Chaos in Basilika könntest du die Stadt wahrscheinlich einnehmen.«

Chaos in Basilika. Gut. Also habe ich mich nicht geirrt – der Soldat aus Basilika hat mich anscheinend über eine Gelegenheit informiert.

»Ja«, sagte Plod. »Wir hätten auch die perfekte Entschuldigung für unser Vorgehen. Wir kommen nicht als Invasoren, sondern um die Bürger Basilikas vor den Söldnern zu retten, die durch ihre Straßen ziehen.«

Söldner? Die Vorstellung war absurd — warum sollten auf Basilikas Straßen Söldner umherstreifen? Hatte es einen Krieg gegeben? Gott hatte Muuzh noch nie so vergeßlich gemacht, daß er sich nicht an einen gesamten Krieg erinnern konnte!

»Und die unmittelbare Provokation — die Morde. Es ist bereits Blut geflossen — wir mußten kommen, dem Blutvergießen Einhalt gebieten. Ja, damit haben wir genügend Gründe für unsere Rechtfertigung. Niemand kann uns vorwerfen, wir hätten die Stadt der Frauen überfallen, wenn wir nur gekommen sind, um sie vor Blut auf ihren Straßen zu bewahren.«

Das also ist mein Plan, dachte Muuzh. Und ein sehr guter obendrein. Nicht einmal Gott kann mich daran hindern, ihn auszuführen. »Schreib alles auf, Plod, und laß meine Adjutanten genaue Befehle für tausend Männer ausarbeiten, die in vier Kolonnen durch die Berge marschieren werden. Nur Vorräte für drei Tage — die Männer können sie auf dem Rücken tragen.«

»Drei Tage!« sagte Plod. »Und was, wenn etwas schiefgeht?«

»Wenn sie wissen, daß sie nur für drei Tage Vorräte haben, lieber Plod, werden sie wirklich sehr schnell marschieren und sich durch nichts aufhalten lassen.«

»Und was, wenn sich bei unserer Ankunft die Lage in Basilika verändert hat? Wenn wir auf heftigen Widerstand stoßen? Die Mauern Basilikas sind breit und hoch, und Streitwagen sind auf diesem Terrain nutzlos.«

»Dann ist es doch nur gut, daß wir keine Kriegswagen mitnehmen, nicht wahr? Bis auf einen vielleicht, für meinen triumphalen Einzug in die Stadt — im Namen des Imperators natürlich.«

»Sie könnten aber trotzdem Widerstand leisten, und wir haben dann kaum noch Vorräte. Wir können sie nicht gerade belagern!«

»Wir werden sie auch nicht belagern müssen. Wir werden sie nur bitten müssen, die Tore zu öffnen, und sie werden die Tore öffnen.«

»Warum?«

»Weil ich es sage«, erwiderte Muuzh. »Wann habe ich mich je geirrt?«

Plod schüttelte den Kopf. »Niemals, mein lieber Freund und geliebter General. Doch wenn wir die Erlaubnis des Imperators bekommen haben werden, nach Basilika zu marschieren, wird sich das Chaos in den Straßen dort vielleicht schon gelegt haben, und wir werden ein viel größeres Heer als eins von nur eintausend Mann brauchen, um unserer Bitte Nachdruck zu verleihen.«

Muuzh sah ihn überrascht an. »Warum sollten wir auf die Erlaubnis des Imperators warten?«

»Weil der Imperator dir verboten hat, irgendeinen Angriff zu befehlen, bis die Jahreszeit der Stürme vorbei ist.«

»Ganz im Gegenteil«, sagte Muuzh. »Der Imperator hat mir verboten, Nakavalnu und Izmennik anzugreifen. Ich greife sie auch nicht an. Ich lasse sie links liegen und marschiere so schnell wie Pferde an ihrer Flanke vorbei nach Basilika, wo ich erneut niemanden angreifen werde, sondern die Stadt nur betrete, um im Namen des Imperators die Ordnung wiederherzustellen. Nichts davon verstößt gegen irgendeinen Befehl des Imperators.«

Plods Gesicht verdüsterte sich. »Du interpretierst die Worte des Imperators, mein General, und das Recht dazu hat nur der Fürsprecher.«

»Jeder Soldat und jeder Offizier muß die Befehle interpretieren, die er bekommt. Ich wurde in diese Südlande geschickt, um das gesamte Westufer des Erdgebundenen Sees zu erobern — diesen Befehl hat der Imperator mir gegeben, und zwar mir allein. Wenn ich diese große Gelegenheit, die Gott mir gegeben hat« — ha! — »nicht ergreifen würde, wäre ich in der Tat ungehorsam.«

»Mein lieber Freund, edelster General der Gorajni, ich bitte dich, dies nicht zu versuchen. Der Fürsprecher wird es nicht als Gehorsam, sondern als Insubordination ansehen.«

»Dann ist der Fürsprecher kein wahrer Diener des Imperators.«

Plod neigte augenblicklich den Kopf. »Ich begreife, daß ich zu kühn gesprochen habe.«

Muuzh wußte sofort, dies bedeutete, daß Plod beabsichtigte, dem Fürsprecher alles zu erzählen und ihn unbedingt aufzuhalten. Wenn Plod wirklich gehorchen wollte, legte er keinen so großen Wert darauf, Gehorsam vorzutäuschen.

»Gib mir deinen Computer«, sagte Muuzh. »Ich werde die Befehle selbst schreiben.«

»Beschäme mich nicht«, sagte Plod bestürzt. »Ich muß sie schreiben, oder ich habe meine Pflicht dir gegenüber nicht erfüllt.«

»Du wirst hier bei mir sitzen«, sagte Muuzh, »und zusehen, wie ich die Befehle schreibe.«

Plod ließ sich auf den Teppichen auf die Knie fallen. »Muuzh, mein Freund, mir wäre es lieber, du würdest mich töten, als mich derart zu beschämen.«

»Ich weiß, daß du mir nicht gehorchen wolltest«, sagte Muuzh. »Lüge nicht und behaupte das Gegenteil.«

»Ich wollte die Sache verzögern«, sagte Plod. »Ich wollte dir Zeit geben, darüber nachzudenken. Ich habe gehofft, du würdest begreifen, wie gefährlich es ist, sich dem Imperator zu widersetzen, besonders so kurz nach dem Traum, den du gehabt und in dem du seine heilige Person so herabgewürdigt hast.«

Muuzh brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was Plod meinte; danach wurde sein Zorn in der Tat kalt und hart. »Wer kann von diesem Traum wissen, abgesehen von mir und meinem Freund?«

»Dein Freund liebt dich so sehr, daß er dem Fürsprecher den Traum erzählt hat«, sagte Plod, »damit deine Seele nicht in Gefahr läuft, zerstört zu werden, ohne daß du es merkst.«

»Dann muß mein Freund mich in der Tat lieben«, sagte Muuzh.

»Das tue ich«, sagte Plod. »Mit ganzem Herzen. Ich liebe dich mehr als jeder Mann oder jede Frau auf dieser Erde, abgesehen von Gott allein und seiner heiligen Inkarnation.«

Muuzh betrachtete seinen besten Freund mit eisiger Ruhe. »Benutze deinen Computer, mein Freund, und rufe den Fürsprecher zu meinem Zelt. Er soll unterwegs innehalten und den Soldaten aus Basilika mitbringen.«

»Ich werde sie persönlich holen«, sagte Plod.

»Rufe sie mit dem Computer.«

»Aber was, wenn der Fürsprecher seinen Computer im Augenblick nicht eingeschaltet hat?«

»Dann werden wir warten, bis er ihn einschaltet.« Muuzh lächelte. »Aber er benutzt ihn in diesem Augenblick, nicht wahr?«

»Vielleicht«, sagte Plod. »Woher soll ich das wissen?«

»Rufe sie. Der Fürsprecher soll anwesend sein, wenn ich den Soldaten aus Basilika verhöre. Dann wird er wissen, daß wir sofort marschieren müssen und den Befehl des Imperators nicht abwarten können.«

Plod nickte. »Sehr klug, mein Freund. Ich hätte wissen müssen, daß du den Willen des Imperators nicht verspottest. Der Fürsprecher wird dir zuhören, und dann wird er entscheiden.«

»Wir werden gemeinsam entscheiden«, sagte Muuzh.

»Natürlich.« Er benutzte die Tastatur; Muuzh machte keine Anstalten, ihn zu beobachten, doch er konnte die Worte in der Luft über dem Computer so gut ausmachen, um mitzubekommen, daß Plod dem Fürsprecher eine kurz und glatt formulierte Bitte zustellte.

»Allein«, sagte Muuzh, »Ich möchte nicht, daß es in Basilika zu Gerüchten kommt, falls wir den Entschluß fassen sollten, nicht sofort zuzuschlagen.«

»Ich habe ihn bereits gebeten, allein zu kommen«, sagte Plod.

Sie warteten und sprachen die ganze Zeit über von anderen Dingen. Von den Feldzügen der letzten Jahre. Von Offizieren, die unter ihnen gedient hatten. Von Frauen, die sie gekannt hatten.

»Hast du jemals eine Frau geliebt7.«, fragte Muuzh.

»Ich bin verheiratet«, sagte Plod.

»Und liebst du sie?«

Plod dachte einen Augenblick lang nach. »Wenn ich bei ihr bin. Sie ist die Mutter meiner Söhne.«

»Ich habe keine Söhne«, sagte Muuzh. »Überhaupt keine Kinder, von denen ich weiß. Keine Frau hat mir länger als eine Nacht gefallen.«

»Keine?« fragte Plod.

Muuzh errötete vor Verlegenheit, als er begriff, worauf Plod sich bezog. »Ich habe sie nie geliebt«, sagte er. »Ich habe sie genommen — als Akt der Frömmigkeit.«

»Einmal ist ein Akt der Frömmigkeit«, sagte Plod kichernd. »In einem Jahr zwei Monate lang und dann drei Jahre später einen weiteren Monat lang — das ist mehr als Frömmigkeit, das ist Heiligkeit.«

»Sie hat mir nichts bedeutet«, sagte Muuzh. »Ich habe sie nur Gottes wegen genommen.« Und das entsprach auch der Wahrheit, wenngleich nicht so, wie Plod es verstand. Die Frau war wie aus dem Nichts erschienen, schmutzig und nackt, und hatte Muuzh mit seinem Namen angesprochen. Jeder wußte, daß solche Frauen von Gott geschickt waren. Doch als Muuzh daran dachte, sie zu nehmen, schickte Gott die Dummheit, die bedeutete, daß es nicht Gottes Wille war, daß Muuzh mit ihr schlief. Also setzte Muuzh trotzdem alles daran und behielt die Frau bei sich — badete und kleidete sie und behandelte sie so zärtlich wie eine Ehefrau. Währenddessen spürte er Gottes Zorn ganz hinten in seinem Kopf brodeln, und er verlachte Gott. Er behielt die Frau bei sich, bis sie schließlich wieder verschwand, so plötzlich, wie sie gekommen war, all ihre schönen Kleider zurückließ und nichts mitnahm, nicht einmal Vorräte, nicht einmal Wasser.

»Das war also keine Liebe«, sagte Plod. »Dann bin ich überzeugt, daß Gott dich für dein Opfer ehren wird.« Plod lachte erneut, und um einer guten Stimmung willen fiel Muuzh in das Gelächter ein.

Sie lachten noch immer, als sie ein Kratzen am Zelt vernahmen, und Plod sprang auf, um zu öffnen. Der Fürsprecher kam zuerst herein, wie es seine Pflicht war — und ein Ausdruck seines Vertrauens in Gott, denn der Fürsprecher ging immer ungeschützt und gab seinen Rücken einem Dolchstoß preis, falls Gott ihn nicht schützte. Dann kam ein Fremder herein. Muuzh konnte sich nicht daran erinnern, den Mann jemals gesehen zu haben. Seiner Kleidung zufolge war er Soldat einer reichen Stadt; seinem Körper zufolge war er ein weicher Soldat, eher ein Torwächter als ein Kämpfer; seinem vertrauten Nicken zufolge wußte Muuzh, daß dies der Soldat aus Basilika sein und er in der Tat schon mit ihm gesprochen und dieses Gespräch einen friedlichen Ausgang genommen haben mußte.

Der Fürsprecher nahm zuerst Platz und dann Muuzh; erst dann durften die anderen sich setzen.

»Zeige mir deine Klinge«, sagte Muuzh zu dem Soldaten aus Basilika. »Ich will sehen, was für einen Stahl ihr in Basilika habt.«

Behutsam erhob sich der Basilikaner von seinem Stuhl und ließ Plod dabei nicht aus den Augen. Verschwommen erinnerte sich Muuzh daran, daß Plod eine Klinge auf den Hals des Basilikaners gerichtet hatte; kein Wunder, daß der Mann jetzt vorsichtig war! Mit zwei Fingern zog der Mann das Kurzschwert aus der Scheide und gab es Muuzh mit dem Griff zuerst.

Es war ein Stadtschwert für den Nahkampf, kein Breitschwert für das Schlachtfeld. Muuzh zog die Klinge über die Haut seines Arms; er fügte sich nur einen leichten Schnitt zu, doch sofort quoll Blut. Der Mann zuckte zusammen, als er es sah.

»Ich habe über das nachgedacht, was du gesagt hast, Herr«, sagte der Basilikaner.

Aha. Also habe ich ihm etwas zum Nachdenken gegeben.

»Und ich begreife nun, daß meine Stadt deine Hilfe benötigt. Doch wer bin ich, daß ich darum bitten dürfte oder auch nur wüßte, welche Hilfe richtig oder ausreichend wäre? Ich bin nur ein Torwächter; nur durch den reinsten Zufall wurde ich in diese Angelegenheit von größter Bedeutung verwickelt.«

»Du liebst deine Stadt, nicht wahr?« fragte Muuzh, denn nun wußte er, was er zu dem Mann gesagt haben mußte. Selbst an meinen schlechten Tagen bin ich gerissen, dachte Muuzh mit einiger Zufriedenheit. Gerissen genug, um gottessichere Pläne zu schmieden.

»Ja, allerdings.« Plötzlich standen Tränen in den Augen des Mannes. »Verzeih mir, aber jemand anders hat mich das ebenfalls gefragt, bevor ich Basilika verließ. Nun weiß ich durch dieses Vorzeichen, daß du ein aufrichtiger Diener der Überseele bist und ich dir vertrauen kann.«

Muuzh sah dem Mann ruhig in die Augen, um ihm zu zeigen, daß sein Vertrauen in der Tat angemessen war.

»Komm nach Basilika, Herr. Komme mit einem Heer. Stelle die Ordnung auf den Straßen wieder her und treibe die Söldner hinaus. Dann werden die Frauen Basilikas nichts mehr zu befürchten haben.«

Muuzh nickte weise. »Eine beredtsame und edle Bitte, die ich aus ganzem Herzen gern erfüllen würde. Doch ich bin ein Diener des Imperators, und du mußt die Lage deiner Stadt unserem Fürsprecher hier erklären, der in unserem Lager Augen und Ohren und Herz des Imperators ist.« Während Muuzh sprach, erhob er sich, trat vor den Fürsprecher und verbeugte sich. Er hörte, daß hinter ihm Plod und der Soldat aus Basilika ebenfalls aufstanden und sich verbeugten.

Bestimmt ist Plod klug genug, um zu wissen, was ich vorhabe, dachte Muuzh mit einem Anflug von Furcht. Bestimmt hat er in diesem Augenblick schon das Messer aus der Scheide gezogen, um es in meinen Rücken zu stoßen. Bestimmt weiß er, daß er dies tun muß, oder diese,Klinge aus Basilika, die ich in meinen Händen halte, wird zustoßen und ihm mit einem sauberen Hieb den Kopf von den Schultern trennen, sobald ich mich erhebe.

Doch Plod war nicht so klug, und deshalb schoß sein Blut aus dem Hals und spritzte durch das Zelt, als er zusammenbrach und sein Kopf an einem Ende der halb durchtrennten Wirbelsäule hin und her schwang.

Muuzh’ Schlag war so schnell erfolgt, so glatt, daß weder der Basilikaner noch der Fürsprecher begriffen, wieso Plod auf einmal tot war. Das gab Muuzh genug Zeit, die basilikanische Klinge unter den Rippen des Fürsprechers hochzutreiben und sein Herz zu durchbohren, bevor der Fürsprecher auch nur ein Wort sagen oder sich von seinem Stuhl erheben konnte.

Dann wandte sich Muuzh an den zitternden Basilikaner.

»Wie heißt du, Soldat?«

»Smelost, Herr. Wie ich es dir schon gesagt habe. Ich habe dich in keiner Hinsicht belogen, Herr.«

»Das weiß ich. Ich habe dich auch nicht belogen. Diese Männer waren entschlossen, mich daran zu hindern, deiner Stadt zu Hilfe zu eilen. Deshalb habe ich sie hier zusammengebracht. Wenn es dein Wunsch ist, daß ich dir helfe, war es unumgänglich, sie zuvor zu töten.«

»Was immer du sagst, Herr.«

»Nein, nicht, was immer ich sage. Nur die Wahrheit, Smelost. Diese beiden Männer waren Spione, die jede meiner Bewegungen überwachen, jedes meiner Worte hören und ständig meine Treue dem Imperator gegenüber einschätzen sollten. Dieser hier« — er deutete auf Plod — »hat einen Traum, den ich gehabt hatte, als Zeichen meiner Treulosigkeit interpretiert und es dem Fürsprecher mitgeteilt. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bevor sie mich gemeldet hätten und ich mein Kommando verloren hätte, und wer hätte Basilika dann noch retten können?«

»Aber wie wirst du ihren Tod erklären?« fragte Smelost.

Muuzh sagte nichts.

Smelost wartete. Dann warf er noch einen Blick auf die Leichen. »Ich verstehe«, sagte er. »Sie sind durch meine Klinge umgekommen.«

»Wie sehr liebst du deine Stadt?« fragte Muuzh.

»Mit ganzem Herzen.«

»Mehr als das Leben?« fragte Muuzh.

Smelost nickte ernst. In seinen Augen stand Furcht, doch er zitterte nicht.

»Wenn meine Soldaten glauben, daß ich Plod und den Fürsprecher getötet habe, werden sie mich in Stücke reißen. Aber wenn sie glauben — nein, wenn sie wissen —, daß du es warst und ich dich dafür getötet habe, werden sie mir in meinem rechtschaffenen Zorn folgen. Ich werde ihnen sagen, daß du einer der Söldner warst. Ich werde deinen Namen in den Schmutz ziehen. Ich werde sagen, daß du Basilika verraten hast und verhindern wolltest, daß ich der Stadt zu Hilfe eile. Aber weil sie diese Lügen über dich glauben, werden sie mir folgen, und wir werden deine Stadt retten.«

Smelost lächelte. »Anscheinend ist es mein Schicksal, um so mehr für meine Stadt tun zu können, um so mehr meine Stadt meinen Verrat verachten wird.«

»Es ist ein schrecklicher Tag, wenn ein Mann sich zwischen der scheinbaren und der wirklichen Treue entscheiden muß, doch dieser Tag ist heute für dich gekommen.«

»Sag mir, was ich zu tun habe.«

Muuzh weinte fast vor Bewunderung für den Mut und die Ehre dieses Mannes, als er das einfache Schauspiel erklärte, das sie inszenieren mußten. Wenn ich nicht einer höheren Sache dienen würde, dachte Muuzh, würde ich mich zu sehr schämen, um einen Menschen von dieser Ehre zu täuschen. Aber um Pravo Gollossas willen bin ich zu jeder schrecklichen Schandtat bereit.

Einen Augenblick später, in einer Flaute des Sturms, begannen Muuzh und Smelost zu brüllen und zu toben, und Muuzh stieß einen hohen Schrei aus, von dem Zeugen später beschwören würden, daß es sich um den Todesschrei des Fürsprechers handelte. Als die Soldaten dann aus ihren Zelten stolperten, sahen sie Smelost, der schon aus einer Schenkelwunde blutete, aus dem Zelt des Generals springen, in der Hand ein Kurzschwert, von dem Blut tropfte. »Für Gaballufix! Tod dem Imperator!«

Der Name Gaballufix hatte nicht die geringste Bedeutung für die Gorajni-Soldaten, doch das würde sich schon bald ändern. Sie interessierten sich vielmehr für den letzten Teil von Smelosts Ruf — Tod dem Imperator. Niemand konnte so etwas in einem Lager der Gorajni sagen, ohne lebendig gehäutet zu werden.

Doch bevor jemand den Mann erreichen konnte, taumelte der General selbst aus dem Zelt. Er blutete aus einer Armwunde und hielt sich den Kopf; offensichtlich hatte er dort einen Schlag abbekommen. Der General — der große Vozmuzhalnoi Vozmozhno, Muuzh genannt, wann immer sie glaubten, er könne sie nicht hören — hielt eine Streitaxt in der linken Hand — in der linken, nicht in der rechten! — und holte mit ihr gegen den Nacken des Meuchelmörders aus, spaltete ihn bis zum Herzen. Er hätte dies nicht tun sollen; jeder wußte, daß man den Mann hätte lebendig ergreifen und zu Tode foltern müssen. Doch dann sank der General zu ihrem Entsetzen auf die Knie — der General, der Eis statt Blut in den Adern hatte, sank auf die Knie und weinte bitterlich, schrie aus den Tiefen seiner Seele: »Plodorodnui, mein Freund, mein Herz, mein Leben! Ach, Plod! Gott hätte mich nehmen und dich am Leben lassen sollen!«

Seine Trauer war sowohl glorreich als auch schrecklich anzusehen, und ohne offen ein Wort darüber fallen zu lassen, faßten die Soldaten, die seine Klage gehört hatten, den Entschluß, niemandem von seinem blasphemischen Vorschlag zu erzählen, Gott habe die Welt vielleicht unpassend geordnet. Als sie das Zelt betraten, verstanden sie genau, warum Muuzh sich vergessen und den Meuchelmörder mit eigener Hand getötet hatte, denn wie hätte ein Sterblicher zusehen können, daß jemand sowohl seinen liebsten Freund als auch den Fürsprecher so grausam ermordete, ohne die Selbstbeherrschung zu verlieren?

Bald verbreitete sich die Nachricht durchs Lager, daß Muuzh tausend kräftige Soldaten auf einen Gewaltmarsch durch die Berge mitnehmen würde, um die Stadt Basilika einzunehmen und die Partei des Gaballufix zu zerschlagen, eine so wagemutige und verräterische Gruppe von Männern, daß sie es gewagt hatte, einen Meuchelmörder gegen den General der Gorajni auszuschicken. Zu schade für sie, daß Gott die Gorajni so sehr liebte, daß er nicht duldete, daß ihr Muuzh durch Verrat ums Leben kam. Statt dessen hatte Gott Muuzh’ Herz mit rechtschaffenem Zorn erfüllt, und Basilika würde bald erfahren, was es bedeutete, Gott und die Gorajni zu ihren Herren zu haben.

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