3 Schutz

Der Traum des ältesten Sohnes

Die Kamele hatten sich unter dem Schatten der großen Palmwedel versammelt, die der Wetschik und seine Söhne zwischen einer Gruppe von vier Bäumen neben dem Bach zu einem Dach verwoben hatten. Elemak beneidete sie — der Schatten dort war gut, der Bach war kühl, und die Bäume fingen die Brise ein, so daß die Luft dort niemals so stickig war wie in den Zelten. Er war für heute morgen mit der Arbeit fertig, und während der Hitze des Tages gab es jetzt nichts Nützliches mehr zu tun. Sollten Vater und Nafai und Issib doch ihren Schweiß übereinander vergießen, während sie sich in Vaters Zelt um den Index der Überseele drängten. Was wußte die Überseele denn schon? Sie war nur ein Computer — Nafai selbst hatte dies gesagt, in seiner pubertären, fanatischen Frömmigkeit. Warum sollte Elemak sich also mit einem Gespräch mit einer Maschine abgeben? Sie verfügte über eine gewaltige Bibliothek an Informationen … na und? Elemak war mit der Schule fertig.

Also saß er im heißen Schatten der Südklippe und wußte, daß er höchstens noch eine Stunde lang ruhen konnte, bevor die Sonne so hoch stieg, daß der Schatten verschwinden würde und er sich einen anderen Platz suchen mußte. Das störte Elemak eigentlich nicht — als er noch Karawanen geführt hatte, hatte er sich darauf verlassen, davon geweckt zu werden, damit er, wenn sie in Oasen rasteten, während des Tages nicht zu lange schlief. Ihn machte vielmehr so wütend, daß er seine ständige Nutzlosigkeit so deutlich spürte wie Magenschmerzen. Sie reisten nicht, sie warteten lediglich hier in der Wüste — und worauf? Auf nichts. Die Überseele sagte, daß Basilika zerstört werden und die Welt Harmonie in Krieg und Schrecken zusammenbrechen würde. Es war lächerlich unwahrscheinlich, daß so etwas geschehen würde. Die Welt hatte schon vierzig Millionen Jahre überstanden, ohne von einem Krieg verwüstet zu werden. Nun standen zum ersten Mal zwei große Reiche kurz vor einem Zusammenstoß, und die Überseele benahm sich, als handelte es sich um ein kosmisches Ereignis.

Ich hätte ja noch verstehen können, Basilika zu verlassen, sagte er sich, wenn wir unser Vermögen mitgenommen hätten und in eine andere Stadt gezogen wären und dort neu angefangen hätten. Ausschlaggebend für den Handel mit Pflanzen ist das Wissen in Vaters Kopf und meinem, nicht die Gebäude oder die Hilfskräfte. Wir hätten reich sein können. Statt dessen sitzen wir hier in der Wüste, haben unser gesamtes Vermögen an meinen Halbbruder Gaballufix verloren, und nun hat Nafai ihn ermordet, und wir können nie wieder nach Basilika zurückkehren, und selbst, wenn wir es könnten, wären wir noch immer arm, warum es also überhaupt erst versuchen?

Bis auf die Tatsache, daß sogar Armut in Basilika immer noch besser wäre als das sinnlose Warten hier in der Wüste, in diesem elenden kleinen Tal, das kaum die Pavianherde bachabwärts ernähren kann. Selbst jetzt konnte er ihr Bellen und Heulen hören. Tiere, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie Menschen oder Hunde waren. Genau das sind wir jetzt auch, nur daß wir nicht einmal so klug waren, Gefährtinnen mitzunehmen, als wir gingen, damit wir jetzt wenigstens einen vernünftigen Stamm bilden könnten.

Trotz des unregelmäßigen Lärms der Paviane und des gelegentlichen Blökens der Kamele schlief Elemak bald ein. Er erwachte kurz darauf, hatte zumindest diesen Eindruck; er fühlte die brennende Hitze der Sonne auf seiner Kleidung und ging also davon aus, daß die Sonne ihn geweckt hatte. Aber nein, es war etwas anderes gewesen; in seiner Nähe bewegte sich ein Schatten. Mit geschlossenen Augen überlegte er, wo sein Messer war, und rief sich das Gelände um ihn herum in Erinnerung zurück. Dann sprang er mit einer plötzlichen Bewegung auf, das lange Messer in der Hand, und blinzelte in das helle Sonnenlicht, um zu sehen, wo sein Feind war.

»Ich bin es nur!« kreischte Zdorab.

Elemak steckte das Messer angewidert wieder zurück. »Man schleicht sich nicht leise an jemanden an, der in der Wüste schläft. Auf diese Weise kann man zu Tode kommen. Ich habe dich für einen Räuber gehalten.«

»Aber so leise war ich doch gar nicht«, hielt Zdorab berechtigt dagegen. »Du hingegen warst auch sehr laut. Ich nehme an, du hast geträumt.«

Es störte Elemak, daß er im Schlaf gesprochen hatte. Doch nun, da Zdorab es erwähnte, fiel ihm ein, daß er tatsächlich geträumt hatte, und er erinnerte sich mit bemerkenswerter Klarheit an den Traum. Er hatte noch nie so einen deutlichen Traum gehabt, jedenfalls nicht, daß er sich daran erinnerte, und das machte ihn nachdenklich. »Was habe ich gesagt?« fragte Elemak.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Zdorab. »Es war eher ein Murmeln. Ich kam her, weil dein Vater dich sprechen möchte. Sonst hätte ich dich niemals gestört.«

Es stimmte. Zdorab war der vollendete Diener, die meiste Zeit über unsichtbar, aber immer hilfsbereit — selbst, wenn er völlig unfähig war, was hier in der Wüste, in der die Talente eines Schatzmeisters ziemlich nutzlos waren, meistens der Fall war. »Danke«, sagte Elemak. »Ich komme sofort.«

Zdorab wartete nur einen Augenblick lang — das Zögern, das alle guten Dienstboten früher oder später an den Tag legten, dieser kurze Moment, in dem ihren Herren noch etwas einfallen konnte, bevor sie gingen. Dann war er verschwunden, watschelte unbeholfen den flachen Hang hinab und dann über den trockenen, steinigen Boden zu Wetschiks Zelt.

Elemak zog seine Wüstenrobe hoch und pinkelte ins Offene hinaus, wo die Sonne seinen Urin in wenigen Augenblicken verdunsten würde, bevor sich zu viele Fliegen versammeln konnten. Dann ging er zum Bach, trank aus der hohlen Hand, spritzte Wasser auf sein Gesicht und über seinen Kopf und ging erst dann zu dem Zelt, in dem Vater und alle anderen warteten.

»Nun«, sagte Elemak, als er eintrat. »Habt ihr alles erfahren, was die Überseele euch beibringen kann?«

Nafai betrachtete ihn mit seinem typisch mißbilligenden Blick. Elemak wußte, daß er Nafai eines Tages die Prügel seines Lebens verabreichen mußte, nur um ihm beizubringen, nicht diesen Gesichtsausdruck aufzusetzen, zumindest nicht Elemak gegenüber. Er hatte schon einmal versucht, ihm diese Prügel zu verabreichen, und dabei herausgefunden, daß er es beim nächsten Mal ein gutes Stück von Issibs Stuhl entfernt tun mußte, damit die Überseele das Transportmittel nicht übernehmen und sich einmischen konnte. Doch im Augenblick war nichts zu gewinnen, wenn er sich anmerken ließ, daß ihm Nafais rotzige Frechheiten unter die Haut gingen; also tat Elemak so, als habe er nichts gesehen.

»Wir müssen uns allmählich an die Jagd machen«, sagte Vater.

Elemak schloß augenblicklich halb die Augen und dachte darüber nach, was das zu bedeuten hatte. Sie hatten genug Vorräte für acht oder neun Monate mitgenommen — für ein Jahr, wenn sie sparsam damit umgingen. Doch Vater sprach davon, auf die Jagd zu gehen. Das konnte nur bedeuten, daß er nicht damit rechnete, innerhalb eines Jahres in die Zivilisation zurückzukehren.

»Wie wäre es denn, wenn wir auf dem Äußeren Markt Lebensmittel einkaufen«, sagte Meb.

Elemak pflichtete ihm aus vollem Herzen bei, sagte aber nichts, als Vater Meb eine Vorlesung darüber hielt, daß es unmöglich war, irgendwann in nächster Zeit nach Basilika zurückzukehren. Er wartete, bis die kleine Szene von allein ein Ende genommen hatte. Armer Meb — wann würde er lernen, den Mund zu halten und nur das zu sagen, was einem zum Vorteil geriet?

Erst, als alle schwiegen, ergriff Elemak das Wort. »Wir können auf die Jagd gehen«, sagte er. »Für die Wüste handelt es sich um verhältnismäßig üppiges Land, und ich schätze, daß wir einmal die Woche Beute machen können – ein paar Monate lang.«

»Kannst du das übernehmen?« fragte Vater.

»Nicht allein«, sagte Elemak. »Wenn Meb und ich jeden Tag auf die Jagd gehen, werden wir wohl einmal die Woche et was finden.«

»Nafai ebenfalls«, sagte Vater.

»Nein«, stöhnte Mebbekew. »Er ist uns doch nur im Weg.«

»Ich werde es ihm beibringen«, sagte Elemak. »Was das betrifft, kann ich mir nicht vorstellen, daß Meb mir am Anfang eine größere Hilfe sein wird als Nafai. Aber du mußt es den beiden sagen — wenn wir auf die Jagd gehen, ist mein Wort Gesetz.«

»Natürlich«, sagte Vater. »Sie werden genau das tun, was du sagst, und nicht mehr.«

»Ich werde sie abwechselnd mitnehmen, jeden Tag einen anderen«, sagte Elemak. »Dann brauche ich mir wenigstens nicht anzuhören, wie sie miteinander streiten.«

Mebbekew sah ihn voller Abneigung an — so subtil, Meb, kein Wunder, daß du ein so erfolgreicher Schauspieler warst —, doch Nafai betrachtete nur den Teppich auf dem Boden des Zelts. Was dachte er? Zweifellos überlegte er, wie er eine Möglichkeit finden konnte, diese Angelegenheit zu seinem Vorteil zu wenden.

Dann — habe ich es doch gewußt!, dachte Elemak — hob Nafai den Kopf und sah seinen Bruder ernst an. »Elja, es tut mir leid, dir Anlaß zu der Vermutung gegeben zu haben, ich würde mich mit Meb streiten, wenn du uns beide gleichzeitig mit auf die Jagd nimmst. Wenn wir größere Erfolgsaussichten haben, falls wir beide dich gemeinsam begleiten, kann ich dir versprechen, daß ich kein Wort des Streites sagen werde, weder zu dir noch zu Meb.«

Ganz der kleine Kriecher, sich so fromm und kooperativ zu geben, wo Elemak doch wußte, daß er während des gesamten Jagdzugs rotzfrech und streitsüchtig sein würde, ganz gleich, was er jetzt versprach. Doch Elemak sagte nichts, während Vater leise Nafais Einstellung lobte und ihm dann sagte, daß Elemaks Entscheidung Bestand hatte. »Ich versichere dir, auf diese Weise lernt ihr beide mehr«, sagte Vater.

Bei solchen Gelegenheiten glaubte Elemak fast, daß Vater Nafais selbstgerechtes Verhalten durchschaute. Aber dem war nicht so; im nächsten Augenblick würde Vater darüber sprechen, was die Überseele von ihnen verlangte, und dann waren er und Nafai wieder ganz vertraut miteinander.

Dieser Gedanke erinnerte Elemak an den dicken Zdorab, der ihn vor ein paar Augenblicken geweckt hatte; und der Gedanke an das Aufwachen erinnerte ihn an seinen lebhaften Traum. Und ihm kam in den Sinn, daß es ganz amüsant sein könnte, Nafai mit den eigenen Waffen zu schlagen und so zu tun, als wäre dieser Traum eine Vision der Überseele gewesen. »Ich habe bei den Felsen geschlafen«, sagte Elemak in die Stille, »und einen Traum gehabt.«

Augenblicklich sahen ihn alle wartend an. Elemak musterte sie unter schweren Lidern; er sah die augenblickliche Freude auf dem Gesicht seines Vaters und schämte sich fast des Schwindels, den er abziehen wollte — doch die Konsternation auf Nafais Gesicht und das absolute Entsetzen auf Mebs machten alles wieder wett. »Ich habe einen Traum gehabt«, sagte er, »in dem ich uns alle aus einem großen Haus kommen sah.«

»Wessen Haus war es?« fragte Nafai.

»Sei still und laß ihn den Traum erzählen«, sagte Vater.

»Ein Haus, wie ich es noch nie zuvor gesehen habe. Und wir kamen nicht allein heraus — wir sechs, alle sechs von uns, jeder kam mit einer Frau heraus. Und es waren zwei weitere Männer dabei, und auch sie hatten Frauen. Und viele Kinder. Wir alle hatten Kinder.«

Einen langen Augenblick herrschte Schweigen.

»Ist das alles?« fragte Nafai dann.

Elemak sagte nichts, und das Schweigen setzte sich fort.

»Elja«, sagte Issib, »hatte ich eine Frau?«

»In meinem Traum«, sagte Elemak, »hattest du eine Frau.«

»Hast du ihr Gesicht gesehen?« fragte Issib. »Weißt du, wer es war?«

Jetzt schämte sich Elemak wahrhaftig, denn ihm wurde klar, daß Issib dies für eine wahre Vision hielt, und zum ersten Mal in seinem Leben kam es ihm in den Sinn, daß auch der arme Issib sich nach einer Frau sehnte wie jeder andere Mann, obwohl er gelähmt war und keine Aussicht bestand, eine zu finden, die ihn nehmen würde. In Basilika, wo die Frauen sich die Männer aussuchen konnten, wäre man als Frau schon sehr arm im Geiste gewesen, wenn man sich einen Krüppel wie Issib zum Gefährten genommen hätte. Falls er überhaupt Geschlechtsverkehr haben konnte, würde es wohl nur dazu kommen, falls irgendein übersättigtes Weibsbild neugierig auf ihn wäre — besonders mit seinen Flossen, die vielleicht eine der unternehmungslustigeren interessieren würde. Doch mit ihm zusammenzuleben, ihm Kinder zu gebären, ihm sogar Vaterrechte zu geben, nein, dazu würde es nicht kommen, und das wußte Issib auch. Was bedeutete, daß Elemak mit der Schilderung dieses Traums nicht nur Vater manipulierte, sondern auch Issib eine grausame Enttäuschung bereiten würde. Elemak kam sich wie der letzte Dreck vor.

»Ich habe ihr Gesicht nicht gesehen«, sagte Elemak. »Wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten. Es war nur ein Traum.«

»Es hat etwas zu bedeuten«, sagte Vater.

»Es bedeutet, daß Elemak uns zum Narren hält«, sagte Nafai. »Er macht sich über uns lustig, weil wir Visionen von der Überseele haben.«

»Nenne mich nicht einen Lügner«, sagte Elemak leise. »Wenn ich sage, ich habe geträumt, dann habe ich auch geträumt. Ob der Traum etwas zu bedeuten hat, kann ich nicht sagen. Aber was ich gesehen habe, habe ich gesehen. Hat Vater das nicht auch gesagt? Hast du das nicht auch gesagt? Was ich gesehen habe, habe ich gesehen.«

»Es hat etwas zu bedeuten«, sagte Vater erneut. »Nun ergibt eine seltsame Botschaft, die ich über den Index erhalten habe, auf einmal Sinn.«

O nein, dachte Elemak. Was habe ich getan?

»Ich denke schon seit geraumer Weile darüber nach, daß wir den Auftrag der Überseele ohne Frauen wohl kaum ausführen können. Doch wo sollen wir Frauen finden, die hierher kommen würden, um sich zu uns zu gesellen?«

Wo solltest du Männer finden, die hierher kommen würden, um sich zu dir zu gesellen, Vater? Aber du hattest ja deine Söhne, denen du befehlen konntest, dich zu begleiten.

»Doch als ich die Überseele danach gefragt habe, lautete die Antwort, ich solle warten. Das war alles, einfach nur warten, was keinen Sinn für mich ergab. Würden Frauen aus Felsen wachsen? Sollen wir uns mit Pavianen paaren?«

Elemak konnte sich einer Spitze nicht enthalten. »Meb hat das schon getan, gelegentlich jedenfalls.«

Meb lächelte einfältig.

»Und nun hat Elemak geträumt«, sagte Vater. »Ich glaube, die Überseele wollte, daß ich darauf warte — auf Elemaks Traum. Auf die Antwort, die meinem ältesten Sohn kam, meinem Erben. Du mußt also nachdenken, Elja, du mußt dich erinnern — hast du irgendeine der Frauen in deinem Traum erkannt?«

Vater nahm das alles viel zu ernst und verknüpfte es mit Elemaks Status als seinem Ältesten. Es war töricht von Elemak gewesen, überhaupt von dieser Vision anzufangen, das sah er jetzt ein; wie hatte er nur vergessen können, daß Vater bereit war, einer Vision zuliebe das Leben eines jeden einzelnen von ihnen zu ruinieren? »Nein«, sagte Elemak, um ihn zum Schweigen zu bringen, obwohl es nicht die Wahrheit war.

»Denke nach«, sagte Vater. »Ich weiß, daß du zumindest eine der Frauen erkannt hast.«

Elemak sah ihn verblüfft an. Konnte der alte Mann jetzt sogar seine Gedanken lesen? »Wenn die Überseele dir mehr über meinen Traum verraten hat, als ich selbst weiß, kannst du uns ja sagen, um wen es sich handelt«, sagte Elemak.

»Ich weiß, daß du eine erkannt hast, weil du ihren Namen genannt hast. Wenn du dich nur anstrengst, wird es dir wieder einfallen.«

Elemak warf Zdorab einen Blick zu, der zu Boden sah. Aha, dachte Elemak. Als Zdorab behauptet hat, er habe nichts von dem verstanden, was ich im Schlaf gesprochen hatte, hat er wohl nicht ganz die Wahrheit gesagt. »Was für ein Name?« fragte Elemak.

»Eiadh«, sagte Nafai. »Habe ich recht?«

Elemak sagte nichts, haßte Nafai aber dafür, den Namen der Frau ausgesprochen zu haben, die Elemak umworben hatte, bevor Vater sie in die Wüste geschleppt hatte.

»Es ist schon in Ordnung«, sagte Vater. »Ich verstehe es sehr gut. Du wolltest uns ihren Namen nicht sagen, weil du befürchtet hast, wir würden denken, dein Traum sei nur Ausdruck des erotischen Verlangens für die Frau, die du geliebt hast, und kein Wahrtraum gewesen.«

Da Elemak seinen Traum in Wirklichkeit genau dafür hielt, konnte er keine Einwendungen gegen Wetschiks Schlußfolgerung machen.

»Aber denkt nach, meine Söhne. Würde die Überseele von euch verlangen, Fremde als Gefährtinnen auszuwählen? Du hast von Eiadh geträumt, weil die Überseele sie als deine Gefährtin vorgesehen hat«, sagte Vater. »Und das ergibt doch Sinn, oder etwa nicht? Denn du hast auch mich mit einer Gefährtin gesehen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Elemak, und es fiel ihm wieder ein. Der Traum war in seinem Verstand noch immer so lebhaft, daß er ihn jetzt wieder zurückrufen konnte, aber nicht nur als verschwommene Erinnerung, sondern klar und deutlich. »Ja, und Kinder. Junge Kinder.«

»Es gibt nur eine Frau, die ich zur Gefährtin nehmen würde«, sagte Vater. »Rasa.«

»Sie würde Basilika niemals verlassen«, sagte Issib. »Wenn du das annimmst, kennst du Mutter nicht.«

»Ach«, sagte Vater. »Auch ich hätte Basilika niemals verlassen, hätte die Überseele mich nicht hierher geführt. Und das gilt auch für Elemak und Mebbekew. Auch sie hat die Überseele dazu gebracht.«

»Ich hätte es mir auch nicht vorstellen können«, sagte Zdorab.

»Könnte die Frau, die du in deinem Traum gesehen hast, die Frau, die meine Gefährtin war … es war Rasa, nicht wahr?« fragte Vater.

Natürlich war es Rasa gewesen, aber das bewies gar nichts. Rasa war Vaters Frau gewesen, Jahr um Jahr, und so war es natürlich auch Rasa, die in Elemaks Träumen als seine Frau auftrat. Dazu bedurfte es keiner Vision der Überseele. »Vielleicht«, sagte Elemak.

»Und hast du irgendeine der anderen Frauen erkannt? Zum Beispiel die beiden Männer, die Fremde waren — könnte es sich bei deren Gefährtinnen um Rasas Töchter gehandelt haben?«

»So gut kenne ich Rasas Töchter nun auch wieder nicht«, sagte Elemak. Wie weit mußte dieses Spiel noch gehen, bis er endlich damit fertig war?

»Mach dich doch nicht lächerlich«, sagte sein Vater. »Sie sind deine Nichten, oder etwa nicht? Gaballufix’ Töchter.«

»Und eine von ihnen ist berühmt«, fiel Meb ein. »Sevet, die Sängerin — du hast sie gesehen.«

»Ja«, sagte Elemak. »Die Frauen der beiden Fremden waren Rasas Töchter.« Natürlich kannte er sie, und auch ihre Gatten, Vas und Obring.

»Na also, siehst du?« sagte Vater. »Die Überseele hat dir eine wahre Vision gegeben. Die Frauen, die du gesehen hast, stehen alle in einer Verbindung mit Rasa. Ihre Töchter und Eiadh, eine der Nichten ihres Haushalts. Ich bin überzeugt davon, daß auch alle anderen aus ihrem Haushalt kommen. Das ist also kein unmöglicher Traum, der dir gekommen ist, weil du Lust auf Geschlechtsverkehr hattest, mein Sohn. Er kam von der Überseele, weil die Überseele weiß, wollen wir unser Ziel erreichen, müssen wir Frauen haben, die uns Kinder gebären. Uns allen.«

»Na ja«, sagte Elemak, »falls es wirklich eine Vision war, bin ich zufrieden, daß die Überseele mir Eiadh gegeben hat. Aber ich glaube, es besteht eine höhere Aussicht, einen Falken in einem Froschmaul zu finden, als daß die Überseele Eiadh jemals überzeugen könnte, in die Wüste zu gehen und einen mittellosen, heimatlosen Mann wie mich zu heiraten, der nicht die geringste Hoffnung auf Wohlstand hat.«

»Du vergißt, daß die Überseele uns ein Land von unbeschreiblichem Reichtum versprochen hat«, sagte Vater.

»Und du vergißt, daß wir es noch nicht gefunden haben«, sagte Elemak. »Und wie Nafai zu mir gesagt hat, bevor ihr auf die Suche nach dem Index gegangen seid — wenn die Überseele etwas von uns verlangt, eröffnet sie uns auch eine Möglichkeit, es zu bewerkstelligen.«

»Eine tolle Idee«, sagte Mebbekew. »Wen wird Nafai töten, um uns ein paar Frauen zu beschaffen?«

»Das reicht«, sagte Vater.

»Komm schon«, sagte Mebbekew. »Wie sonst würde Nafai jemals eine Frau bekommen, wenn er nicht einen Betrunkenen erschlägt, der auf der Straße eingeschlafen ist, und seine blinde, verkrüppelte Tochter raubt?«

Zu Elemaks Überraschung erwiderte Nafai nichts auf Mebbekews höhnische Bemerkung. Statt dessen stand der Junge auf und verließ das Zelt. Aha, dachte Elemak. Nafai ist kein Kind mehr. Oder aber er schämt sich, uns seine Tränen sehen zu lassen.

»Meb«, sagte Issib sanft, »Nafai hat den Index gebracht, nicht du.«

»Ach, kommt schon«, sagte Mebbekew. »Versteht denn hier keiner mehr einen Scherz?«

»Für Nafai war es kein Scherz«, sagte Issib. »Es war das Schrecklichste, was er je getan hat, Gaballufix zu töten, und er denkt ständig darüber nach.«

»Es war ungehörig von dir, es ihm vorzuwerfen«, sagte Vater. »Tu das nie wieder.«

»Was soll ich denn tun«, beharrte Mebbekew, »einfach vorgeben, daß Nafai den Index bekommen hat, in dem er >Bitte, bitte! < gesagt hat?«

Es war an Elemak, Mebbekew wieder zur Ordnung zu rufen — sonst war niemand dazu imstande, und es mußte getan werden. »Du sollst die Klappe halten«, sagte Elemak leise.

Meb sah ihn trotzig an. Doch Elemak wußte, daß alles nur gespielt war. Er mußte lediglich Mebs Blick erwidern, und Meb würde einen Rückzieher machen. Und es dauerte auch nicht lange.

»Elemak«, sagte Vater, »ihr müßt zurückkehren, du und deine Brüder.«

»Beauftrage nicht mich damit«, sagte Elemak. »Wenn jemand Rasa überzeugen kann, dann du.«

»Ganz im Gegenteil«, sagte der Wetschik. »Sie kennt mich, sie weiß, daß ich sie liebe, und sie liebt mich — und trotzdem ist sie nicht mit mir gekommen. Glaubst du, ich hätte es nicht vorgeschlagen? Nein, wenn jemand sie überzeugen kann, dann die Überseele. Ihr müßt nur zu ihr gehen, es ihr vorschlagen, warten, bis die Überseele ihr begreifen hilft, daß sie zu mir kommen muß, und dann ihr und ihren Töchtern und den jungen Frauen ihres Haushalts, die sie begleiten werden, sicheres Geleit geben.«

»Na schön«, sagte Elemak. Er konnte lange warten, bis die Überseele jemanden überzeugte; bislang war es ihr nur gelungen, Vater zu dem idiotischen Unternehmen zu überreden, Basilika zu verlassen und in die Wüste zu ziehen. Doch wenigstens würde er in Basilika warten, auch wenn er sich dort versteckt halten mußte. »Soll ich sie bitten, auch eine Dienerin für Zdorab mitzubringen?«

Vaters Gesicht wurde eisig. »Zdorab ist kein Diener mehr«, sagte er. »Er ist ein freier Mann und allen anderen hier gleichgestellt. Eine Frau aus Rasas Haushalt wäre für ihn genauso angemessen wie für jeden von euch, und was das betrifft, so müßtet ihr auch mit einem Dienstmädchen aus Rasas Haushalt zufrieden sein. Begreift ihr denn nicht, daß wir nicht mehr in Basilika sind, daß in der Gesellschaft, die wir jetzt bilden werden, kein Platz mehr für Hochnäsigkeit und Selbstgerechtigkeit ist, für Kasten und Klassen? Wir werden ein Volk von Gleichberechtigten sein, und unsere Kinder werden in den Augen der Überseele gleich sein.«

In den Augen der Überseele vielleicht, aber nicht in meinen Augen, dachte Elemak. Ich bin der älteste Sohn, und mein erstgeborer Sohn wird mein Erbe sein, genau wie ich dein Erbe bin, Vater. Selbst, wenn du das Land und die Besitztümer aufgegeben hast, die mein Erbe hätten sein sollen, werde ich trotzdem deine Herrschaft erben, und ganz gleich, wo wir uns niederlassen werden, ich werde dort herrschen oder niemand. Ich sage dir jetzt nichts darüber, denn ich weiß, wann ich sprechen muß und wann nicht. Aber sei dir dessen gewiß, Vater. Wenn du stirbst, werde ich deinen Platz einnehmen — und jeder, der versucht, mir das zu nehmen, wird dir schnell ins Grab folgen.

Elemak musterte Issib und Meb und wußte, daß diese beiden sich nicht widersetzen würden, wenn der Tag kam. Doch Nafai würde Ärger machen, gesegnet sei sein kleines, liebes Herz. Und Nafai weiß es, dachte Elemak. Er weiß, daß es eines Tages auf ihr! und mich hinauslaufen wird. Denn eines Tages wird Vater versuchen, seine Macht an diesen elenden kleinen Jungen weiterzugeben, und das nur, weil Nafai und die Überseele so vertraut miteinander sind. Nun ja, Nafai, ich habe auch eine Vision von der Überseele gehabt — oder zumindest glaubt Vater das, was auf dasselbe hinausläuft.

»Brecht am Morgen auf«, sagte Vater. »Kehrt mit den Frauen zurück, die das Erbe mit uns teilen werden, das die Überseele in einem anderen Land für uns vorbereitet hat. Kommt mit den Müttern meiner Enkel zurück.«

»Mebbekew und ich«, sagte Elemak. »Sonst keiner.«

»Issib wird zu Hause bleiben, weil sein Stuhl und seine Flossen ihn zu verdächtig machen und er die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß eure Feinde dort euch aufgreifen werden«, sagte Vater. »Und auch Zdorab wird bleiben.«

Weil du ihm noch nicht ganz vertraust, dachte Elemak, ganz gleich, wie oft du sagst, daß er uns gleichberechtigt und ein freier Mann ist.

»Aber Nafai begleitet euch.«

»Nein«, sagte Elemak. »Er ist noch gefährlicher für uns als Issib. Sie werden mittlerweile herausgefunden haben, daß er Gaballufix getötet hat — der Stadtcomputer hat seinen Namen gespeichert, als er die Stadt verließ, und die Wachen haben gesehen, daß er Gaballufix’ Kleidung trug. Und er hatte Zdorab bei sich, was den Zusammenhang zwischen ihm und Gabs Tod noch verstärkt. Wenn wir Nafai mitnehmen, können wir unsere Feinde gleich bitten, ihn hinzurichten.«

»Er geht mit euch«, sagte Vater.

»Warum, wenn seine Anwesenheit uns doch nur in noch größere Gefahr bringt?« fragte Elemak.

»Ja, zwinge ihn dazu, es auszusprechen, Elja«, sagte Mebbekew. »Vater will dich nicht beleidigen, doch mir ist es egal. Er will, daß Nafai uns begleitet, weil, wie jemand vor kurzem klargestellt hat, Nafai den Index besorgt hat und wir anderen nicht. Er will, daß Nafai uns begleitet, weil er uns nicht vertraut, weil er befürchtet, daß wir Frauen finden, die uns aufnehmen, und in Basilika bleiben und nie mehr zu diesem Paradies am Bach zurückkehren werden. Er will, daß Nafai uns begleitet, weil er glaubt, daß wir uns dann benehmen werden.«

»Überhaupt nicht«, sagte Issib. »Vater will, daß er Kraft und Weisheit bekommt, indem er seine älteren Brüder begleitet.«

Niemand wußte genau, ob Issib dies ironisch meinte oder nicht. Niemand glaubte, daß dies Vaters wahre Absicht war, doch auch niemand — und am wenigsten Vater — wagte, es offen abzustreiten.

In der Stille hallten die Worte in Elemaks Ohren, die er zuletzt gesagt hatte: Wenn wir Nafai mitnehmen, können wir unsere Feinde gleich bitten, ihn hinzurichten.

»Na schön, Vater«, sagte Elemak. »Nafai kann mit mir kommen.«

In Basilika und nicht in einem Traum

Kokor begriff nicht, warum sie zurückgezogen leben sollte. Bei Sevet ergab es Sinn — sie erholte sich von ihrem unglücklichen Unfall. Ihre Stimme war noch nicht zurückgekehrt; es war ihr zweifellos peinlich, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Doch Kokor war bei bester Gesundheit, und daß sie in Mutters Haus bleiben sollte, konnte nur den Eindruck erwecken, sie würde sich schämen, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Wenn sie Sevet absichtlich verletzt hätte, wäre diese Zurückgezogenheit angebracht gewesen. Doch da es einfach ein unglücklicher Unfall gewesen war, die Folge einer psychologischen Störung aufgrund Vaters Tod und der Entdeckung des Ehebruchs von Sevet und Obring, konnte niemand Kokor Vorwürfe machen. Es würde ihr sogar guttun, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Es würde ihre Wiederherstellung bestimmt beschleunigen.

Zumindest sollte man ihr erlauben, in ihr eigenes Haus zurückzukehren, anstatt ihr zu befehlen, bei Mutter zu wohnen, als wäre sie ein kleines, geistig zurückgebliebenes Kind, das einen Vormund brauchte. Wo war Obring? Falls er beabsichtigte, sich mit ihr je wieder auszusöhnen, konnte er ja einen Anfang machen, indem er sie aus Mutters unerträglich langweiliger Umgebung herausholte. Hier tat sich nichts Interessantes. Nur endlose Unterrichtsstunden in Fächern, die Kokor damals schon nicht interessiert hatten, als sie vor Jahren mehr oder weniger erfolglos an ihnen teilgenommen hatte. Kokor war jetzt eine vermögende Frau. Mit ihrem Anteil an Vaters Hinterlassenschaft konnte sie sich wahrscheinlich ein Haus kaufen und eine eigene Bühne unterhalten. Und doch wohnte sie jetzt hier bei Mutter.

Nicht, daß sie Mutter oft sah. Rasa befand sich ständig in Gesprächen mit Ratsmitgliedern und anderen einflußreichen Frauen der Stadt, die praktisch Pilgerzüge unternahmen, um mit ihr sprechen zu können. Bei einigen dieser Konferenzen schien es zu beträchtlichen Spannungen zu kommen; bei Kokor stellte sich allmählich der Eindruck ein, daß zumindest einige Leute Rasa die Schuld an allem gaben. Als hätte Mutter versucht, Vater zu töten! Doch sie hatten nicht vergessen, daß Rasas derzeitiger Gatte, Wetschik, diese aufrührerische Vision von einem in Flammen stehenden Basilika gehabt hatte, und ihr ehemaliger Gatte, Gaballufix, die Straßen der Stadt zuerst mit den Tolschocks und dann mit Söldnern überschwemmt hatte. Und nun hieß es, daß ihr jüngster Sohn, Nafai, sowohl Roptat als auch Gaballufix getötet haben sollte.

Nun ja, selbst wenn das alles der Wahrheit entsprach – was hatte es mit Mutter zu tun? Frauen hatten kaum Gewalt über ihre Männer — hatte Kokor das nicht am eigenen Leib erlebt? Und daß Nafai Vater getötet hatte — falls er es getan hatte, war Mutter doch wohl kaum dabeigewesen, und sie hatte den Jungen ganz bestimmt nicht dazu aufgefordert. Genausogut hätten sie Mutter die Schuld für das geben können, was Sevet zugestoßen war, wo doch jeder sehen konnte, daß es Sevets eigene Schuld gewesen war. Außerdem … trug Vater nicht selbst die Schuld an seinem Tod? All diese Soldaten — man bringt doch nicht Soldaten nach Basilika und erwartet, daß es dann ohne Gewalt abgeht, oder? Die Männer verstanden so etwas einfach nicht. Sie konnten jederzeit einen Stein ins Rollen bringen, waren aber stets überrascht, wenn sie ihn dann nicht mehr mit eigener Kraft aufhalten konnten.

Wie Obring, der arme Narr. Hatte er nicht gewußt, daß es nicht besonders klug war, zwischen Schwestern zu treten? Ihm mußte man eigentlich mehr Schuld an Sevets Verletzung als Kokor geben.

Und warum hat niemand Mitgefühl für meine Verletzung? Für den tiefen psychologischen Schaden, der mir zugefügt wurde, als ich Obring und meine eigene Schwester im Bett überrascht habe! Niemand interessiert sich dafür, daß auch ich leide und daß es vielleicht eine gute Therapie wäre, des Nachts einmal vor die Tür zu gehen.

Kokor saß da und schminkte ihr Gesicht, übte sich in Nuancen, die sich bei ihrem nächsten Stück vielleicht ganz gut machen würden. Denn jetzt würde es mit Sicherheit ein nächstes Stück geben, sobald sie Mutters Haus erst einmal verlassen hatte. Tumannus kleiner Versuch, sie auf die schwarze Liste zu setzen, würde mit Sicherheit fehlschlagen — kein Komödienstadel in der Puppenstadt würde eine Schauspielerin abweisen, deren Name in ganz Basilika in aller Munde war. Allein wegen der Neugier der Leute würde die Bühne jeden Abend ausverkauft sein — und wenn sie erst ihre Schauspielerei gesehen und ihren Gesang gehört hatten, würden die Leute immer wiederkommen. Nicht, daß sie jemals die Absicht gehabt hatte, jemanden absichtlich zu verletzen, um ihre Karriere voranzubringen; doch da es nun einmal passiert war, konnte sie auch ihren Vorteil daraus ziehen. Tumannu würde wahrscheinlich ganz vorn in der Schlange der Bühnenbesitzer stehen, die Kokor bitten würden, eine Hauptrolle in einer Komödie zu übernehmen.

Sie hatte ein kleines Schnütchen um ihren Mund geschminkt, das ganz reizend aussah. Sie betrachtete sich aus verschiedenen Blickwinkeln, und es gefiel ihr. Doch es war zu hell. Sie mußte mehr Rouge auflegen, oder man konnte es hinter der ersten Reihe nicht mehr sehen.

»Wenn du es noch runder machst, sieht es aus, als hätte dir jemand mit einem Bohrer ein Loch unter die Nase gestanzt.«

Kokor drehte sich langsam um und betrachtete den Eindringling auf ihrer Schwelle. Ein unausstehliches kleines Mädchen von dreizehn Jahren. Die jüngere Schwester dieses garstigen Bastardmädchens Huschidh. Mutter hatte sie beide als Kleinkinder aus reiner Nächstenliebe aufgenommen, und als Mutter Huschidh zu einer ihrer Nichten gemacht hatte, war das Mädchen offensichtlich zur Auffassung gelangt, man müsse sie nun genauso ernst nehmen wie die Nichten von hoher Geburt, die es eines Tages in Basilika weit bringen würden. Damals, als sie noch Schülerinnen gewesen waren, hatte es ihr und Sevet immer viel Spaß gemacht, Huschidh auf ihre richtige Größe zurechtzustutzen. Und nun wagte es ihre kleine Schwester, ebenfalls ein Bastard und genauso häßlich und hochnäsig, auf der Schwelle des Schlafzimmers einer Tochter des Hauses zu stehen, einer hochwohlgeborenen Frau Basilikas, und das Aussehen einer der berühmtesten Schönheiten der Stadt ins Lächerliche zu ziehen.

Aber es war unter Kokors Würde, sich die Mühe zu machen, diesem Kind die Zurechtweisung zu verpassen, die es verdient hatte. Es war schon lästig genug, den Bastard zu verscheuchen. »Mädchen, da ist eine Tür. Sie war geschlossen. Bitte stelle ihren vorherigen Zustand wieder her, aber mit dir auf der anderen Seite.«

Das Kind rührte sich nicht.

»Mädchen, wenn man dich mit einer Nachricht zu mir geschickt hat, teile sie mir mit und verschwinde.«

»Sprichst du mit mir?« fragte das Kind.

»Siehst du hier ein anderes Mädchen?«

»Ich bin in diesem Haus eine Nichte«, sagte das Kind. »Nur Dienstboten werden mit >Mädchen< angesprochen. Da es heißt, du wärest eine Dame, die die richtigen Anredeformen kennt, mußt du mit einer unsichtbaren Dienerin auf dem Balkon gesprochen haben.«

Kokor erhob sich. »Ich habe genug von dir. Ich hatte schon genug von dir, bevor du dieses Zimmer betreten hast.«

»Was wirst du tun?« fragte das Kind. »Mich gegen den Hals schlagen? Oder betreibst du diesen Sport nur bei Familienangehörigen?«

Kokor spürte, daß eine unbezähmbare Wut in ihr aufstieg. »Bringe mich nicht in Versuchung!« rief sie. Dann beherrschte sie sich. Dieses Mädchen war es nicht wert. Wenn sie auf der richtigen Anrede bestand, sollte sie sie haben. »Was hast du hier zu suchen, meine liebe junge Tochter einer heiligen Hure?«

Das Mädchen wirkte nicht verlegen. »Also weißt du, wer ich bin«, sagte es. »Mein Name ist Luet. Meine Freundinnen nennen mich Lutja. Du darfst mich Junge Herrin nennen.«

»Warum bist du hier, und wann wirst du wieder gehen?« fragte Kokor. »Bin ich ins Haus meiner Mutter gekommen, um mich von einem Bastardkind ohne Manieren quälen zu lassen?«

»Das brauchst du nicht zu befürchten«, sagte Luet. »Denn wie ich gehört habe, wirst du keine Stunde mehr in diesem Haus sein.«

»Wovon sprichst du überhaupt? Was hast du gehört?«

»Ich kam aus reiner Freundlichkeit her, um dich wissen zu lassen, daß Raschgallivak mit sechs seiner Soldaten hier ist, um dich unter den Schutz der Palwaschantu zu nehmen.«

»Raschgallivak! Der kleine Gernegroß! Als er mich das letzte Mal mitnehmen wollte, habe ich ihm gezeigt, wohin er gehört, und das werde ich auch diesmal tun.«

»Er will auch Sevet mitnehmen. Er sagt, daß ihr beide in ernster Gefahr schwebt und Schutz braucht.«

»Gefahr? In Mutters Haus? Ich brauche nur Schutz vor unausstehlichen, häßlichen kleinen Mädchen.«

»Du bist so gnädig, Herrin Kokor«, sagte Luet. »Ich werde dir niemals vergessen, wie du meine Freundlichkeit beantwortet hast, dir diese Neuigkeit zu überbringen.« Sie drehte sich um und verließ das Zimmer.

Was erwartete das Mädchen? Wenn sie mit Würde statt mit einer Beleidigung eingetreten wäre, hätte Kokor sie besser behandelt. Doch von einem Kind von solch niedriger Herkunft konnte man kaum ein anständiges Benehmen erwarten, und deshalb würde Kokor versuchen, es ihr nicht übelzunehmen.

Mutter war in letzter Zeit so herrisch, daß ihr die Idee, sie und Sevet zu Raschgallivak zu schicken, vielleicht sogar gefallen würde. Kokor mußte also selbst dafür sorgen, daß nichts dergleichen geschah.

Sie wischte das Schnütchen ab und legte Tagesschminke auf, wählte dann ein besonders elegant aussehendes Hauskleid, zog es an und brachte es ganz leicht in Unordnung, damit es so aussah, als wäre sie nur auf dem Weg in die Küche, wenn sie überrascht herausfinden würde, daß Raschgallivak hier war, um sie zu entführen.

Der Plan wurde jedoch dadurch verdorben, daß Sevet im Korridor stand, als Kokor ihr Zimmer verließ, gestützt auf den Arm dieser elenden Huschidh, Luets älterer Schwester. Wie konnte Sevet sich dazu hinablassen, sich auf ein Mädchen zu stützen, das sie einst mit solcher Verachtung behandelt hatte? Kannte sie keine Scham? Und doch machte ihre Anwesenheit im Korridor es Kokor unmöglich, sie zu ignorieren. Sie würde die besorgte Schwester spielen müssen. Doch da Sevet sich bereits auf Huschidh stützte, würde Kokor ihr diese Hilfe nicht anbieten müssen. Wenn Sevet sich auf sie stützte, würde sie ihre Handlungsfreiheit vollends verlieren.

»Wie geht es dir, arme Sevet?« fragte Kokor. »Ich habe mich um dich heiser geweint. Wir sind manchmal so böse zueinander, Sevet. Warum benehmen wir uns nur so?«

Sevet betrachtete lediglich den Fußboden einen Meter vor ihr.

»Oh, ich verstehe, daß du nicht mit mir sprichst. Du wirst mir den Unfall niemals verzeihen. Aber ich habe dir das verziehen, was du getan hast, und das war kein Unfall, das war Absicht. Doch man kann kaum erwarten, daß du schon bereit bist, mir zu verzeihen, du wirst ja solche Schmerzen haben, du armes Ding. Warum bist du überhaupt aufgestanden? Ich werde mit Raschgallivak schon fertig. Ich habe ihm neulich schon die Eier in die Milz gerammt und freue mich darauf, es ein zweites Mal zu tun.«

Darüber lächelte Sevet tatsächlich ein wenig. Nur der Anflug eines Lächelns. Oder vielleicht war sie auch nur zusammengezuckt, weil sie die erste Treppenstufe hinabgehumpelt war.

Mutter hatte Raschgallivak nicht einmal in eins der Wohnzimmer gebeten. Er stand mit seinen Soldaten an der Tür, die noch geöffnet war. Mutter drehte sich um und warf einen Blick auf ihre Töchter und Huschidh, als sie den Gang entlangkamen, der von der Treppe zur Haustür führte.

»Du siehst selbst, es geht ihnen gut«, sagte Mutter zu Raschgallivak. »Sie sind hier sicher und in guten Händen. Kein einziger Mann hat dieses Haus betreten, abgesehen von dir und diesen überflüssigen Soldaten.«

»Ich mache mir keine Sorgen darüber, was geschehen ist«, sagte Raschgallivak. »Sondern darüber, was geschehen könnte, und ich werde dieses Haus nicht ohne Gaballufix’ Töchter verlassen. Sie stehen unter dem Schutz der Palwaschantu.«

»Du kannst deine Soldaten gern draußen auf der Straße postieren«, sagte Mutter, »um zu verhindern, daß Tolschocks oder Plünderer oder Attentäter unser Haus betreten, aber du wirst meine Töchter nicht mitnehmen. Das Anrecht einer Mutter zählt mehr als das eines Männerklans.«

Während Mutter und Rasch den Streit fortsetzten, beugte sich Kokor zu Sevet hinüber und fragte sie, da sie vergessen hatte, daß ihre Schwester nicht sprechen konnte: »Weshalb will Raschgallivak uns überhaupt mitnehmen?«

Da Sevet nicht antworten konnte, sprang Huschidh ein. »Tante Rasa steht im Mittelpunkt des Widerstands gegen die Herrschaft der Palwaschantu in Basilika. Er glaubt, sie wird sich benehmen, wenn er euch beide als Geiseln hat.«

»Dann kennt er Mutter nicht«, sagte Kokor.

»Raschgallivak ist ein schwacher Mann«, flüsterte Huschidh. »Und dumm obendrein, was Politik betrifft. Wäre er so klug wie euer Vater, hätte er gewußt, daß er euch beide ohne Gewalt nicht mitnehmen kann und daß jede Gewalt zu seinem Nachteil gerät. Daher hätte er diese Forderung niemals erhoben. Doch da er sich schon aus irgendeinem Grund entschlossen hat, euch mitzunehmen, hätte er viel kühner vorgehen müssen. Je zwei Soldaten hätten euch schon packen müssen, während die beiden anderen eure Mutter in Schach halten.«

Huschidh war also doch keine Närrin. Es war Kokor nie in den Sinn gekommen, daß Huschidh irgendwelche Eigenschaften hatte, die Respekt verdienen könnten. Die Vorstellung, die sie von Vater hatte, traf genau zu — und doch hätte Kokor selbst sie niemals so deutlich ausdrücken können.

Natürlich hätte Vater auch irgendein Recht gehabt, sie und Sevet mitzunehmen. Kein legales Recht, natürlich, nicht in der Stadt der Frauen, doch die Leute hätten Verständnis für den Versuch gehabt. Aber welchen Anspruch hatte Raschgallivak? »Die Überseele muß Rasch in den Wahnsinn getrieben haben, es auch nur zu versuchen«, flüsterte Kokor.

»Er hat Angst«, sagte Huschidh. »Die Leute tun seltsame Dinge, wenn sie Angst haben. Das trifft auch auf eure Mutter zu.«

Zum Beispiel, mich hier wie in einem Gefängnis zu halten, dachte Kokor.

Dann wurde ihr klar, daß Rasch nicht die geringsten Schwierigkeiten gehabt hätte, an sie heranzukommen, wäre sie zu Hause bei Obring gewesen. Obring hätte versucht, den Soldaten Widerstand zu leisten, und sie hätten ihn sofort niedergeschlagen und Kokor verschleppt. Also hatte Mutter richtig gehandelt, sie hier in ihrem Haus zu halten. »Du darfst Mutter nicht kritisieren«, sagte Kokor. »Ich glaube, sie macht das sehr gut.«

Mittlerweile war der Streit zwischen Rasa und Rasch noch immer im Gange, doch nun wiederholten beide nur alte Argumente. Huschidh hatte die beiden zur Schwelle der Diele geführt, so daß sie sich von den Soldaten so weit wie möglich entfernt und trotzdem noch im selben Raum befanden. Bislang war Kokor bei ihr und Sevet geblieben. Der Anblick der Soldaten, die unter ihren holographischen Masken schrecklich identisch aussahen, hatte ihr die Entschlossenheit genommen, Raschgallivak zu zeigen, was sie von ihm hielt. In der Dunkelheit hinter der Bühne des Theaters hatte er viel kleiner und schwächer gewirkt. Die Soldaten ließen ihn viel bedrohlicher erscheinen, und Kokor stellte fest, daß sie Mutter dafür bewunderte, ihnen so entschieden die Stirn zu bieten. Gleichzeitig fragte sie sich, ob Mutter nicht ein wenig töricht war. Warum zum Beispiel hatte sie Kokor und Sevet hierher kommen lassen, obwohl die Soldaten hier einen viel leichteren Zugriff auf sie hatten? Warum hatte sie sie nicht oben versteckt? Oder sie frühzeitig gewarnt, damit sie sich in die Wälder schleichen konnten? Vielleicht hatte Huschidh das damit gemeint, als sie sagte, daß auch Mutter aus Furcht seltsame Dinge zu tun schien.

Und doch schien Mutter keine Angst zu haben.

»Vielleicht sollten wir jetzt besser gehen«, flüsterte Kokor Huschidh zu.

»Nein«, sagte Huschidh. »Ihr müßt bleiben.«

»Warum?«

»Wenn ihr einfach gehen würdet, würdet ihr Raschgallivak damit beunruhigen und ihn wahrscheinlich dazu provozieren, etwas zu unternehmen. Er würde den Soldaten befehlen, euch zu ergreifen, und alles wäre verloren.«

»Das wird er irgendwann sowieso tun«, flüsterte Kokor.

»Ja, aber wird er lange genug warten?«

»Lange genug wofür?«

»Denke nach«, sagte Huschidh.

Kokor dachte nach. Was würden sie durch eine bloße Verzögerung gewinnen?

Außer jemand eilte ihnen zu Hilfe. Aber wer würde es schon wagen, sich mit den Soldaten der Palwaschantu anzulegen?

»Die Stadtwache!« rief Kokor, erfreut, darauf gekommen zu sein.

Konnte sie etwas dafür, daß ihre Worte zufällig in ein Schweigen im Streit zwischen Mutter und Rasch fielen?

»Was?« rief Raschgallivak. »Was hast du gesagt?« Er wirbelte herum und sah zur Tür hinaus. »Da ist niemand«, sagte er. Dann sah er Rasa an. »Aber du hast sie rufen lassen, nicht wahr? Darum geht das also — du willst mich aufhalten, bis die Stadtwache hier ist und dich schützen kann. Aber damit ist es jetzt vorbei! Ergreift sie!«

Augenblicklich traten die Soldaten zu den Frauen auf der Schwelle, und Kokor schrie auf.

»Lauft, ihr kleinen Närrinnen!« rief Mutter.

Aber Kokor konnte nicht laufen, weil einer der Soldaten sie bereits am Arm gepackt hatte, und zwei andere Soldaten hatten auch Sevet ergriffen, und diese verdammte Huschidh tat nichts, um ihnen zu helfen.

»Tu doch etwas, du kleines Miststück!« schrie Kokor. »Laß nicht zu, daß er uns das antut!«

Als die Soldaten sie zur Tür zerrten, sah Huschidh ihr einen Moment lang in die Augen. Dann schien sie einen Entschluß zu fassen.

»Halt, Raschgallivak!« rief Huschidh. »Höre sofort damit auf!«

Rasch lachte nur. Der Klang ließ Kokor bis in die Knochen frösteln. Es war das Lachen eines Mannes, der wußte, daß er gewonnen hatte. Dieser mitleiderregende Mann, der noch vor ein paar Tagen Verwalter im Haus des Wetschik gewesen war, lachte nun vor Freude über die Macht, die seine Soldaten ihm gaben.

»Befehle ihnen, sofort aufzuhören!« rief Huschidh. »Oder du wirst nicht mehr imstande sein, ihnen noch etwas zu befehlen!«

»Nein, Huschidh!« rief Mutter.

Was in aller Welt erwartete Mutter? Was konnte Huschidh denn jetzt noch tun? Kokor sah Sevet im Griff der Soldaten, deren leere Gesichter so entsetzlich, so unmenschlich waren. Es war nicht richtig, daß ihre Schwester sich in deren Griff wand. Nicht richtig, daß diese Hände Kokors Arme festhielten und sie davonzerrten. »Tu es, Huschidh!« rief Kokor. Was auch immer du tun kannst, und wovor Mutter solche Angst zu haben scheint.

Für alle bis auf Huschidh sah die Szene ganz einfach aus — Rasch und zwei seiner Soldaten verhinderten, daß jemand sich einmischte, während vier andere Soldaten Kokor und Sevet durch die breite Tür von Rasas Haus zerrten. Tante Rasa selbst schrie, ohne damit etwas auszurichten — »Du verletzt Sevet! Man wird dich aus der Stadt verjagen! Entführer!« —, und andere Frauen und Mädchen des Hauses hatten sich zusammengefunden, drängten sich auf dem Gang, lauschten und beobachteten.

Für Huschidh, die Entwirrerin, sah die Szene jedoch ganz anders aus. Denn sie konnte nicht nur die Menschen sehen, sondern auch das Netzwerk, das sie verband. Für Huschidh waren die verängstigten Mädchen und Frauen keine Individuen — sie alle waren fest mit Rasa verbunden. Huschidh wußte also, daß sie keineswegs so hilflos und allein war, wie die anderen sie sahen, sondern mit der Kraft eines Dutzends Frauen sprach. Andererseits nährte deren Angst auch die ihre, deren Zorn den ihren, und wenn sie mit der Erhabenheit ihres Zorns schrie, war sie viel größer als nur eine einzelne Frau. Huschidh sah sogar das mächtige Netzwerk, das Rasa mit dem Rest der Stadt verband, große, seilartige Fäden, wie Arterien und Venen, die das Lebensblut von Rasas Identität pumpten. Als sie ihre Stimme gegen Raschgallivak erhob, lag der ganze Zorn der Stadt der Frauen darin.

Doch Huschidh konnte auch sehen, daß Rasa sich ganz allein vorkam, obwohl sie von diesem gewaltigen Netz umgeben war, als würde sich dieses Netz zwar zu ihr erstrecken, aber sie nicht oder nur ganz leicht berühren. Das war die Auswirkung der rohen Macht, die Rasch ausübte — sie erzeugte in Rasa das Gefühl, daß ihre Stärke und Kraft letztendlich doch zu nichts nütze war, da sie der Macht dieser Soldaten nicht widerstehen konnte.

Gleichzeitig sah Huschidh ein weiteres einflußreiches Netz — das Raschgallivaks — und erkannte, daß es in Wirklichkeit verachtenswert und schwach war. Während Rasas Verbindung mit ihrem Haushalt stark und wirklich war und ihre Macht in der Stadt Huschidh fast spürbar vorkam, brachten Raschgallivaks Soldaten dem Mann nur wenig Respekt entgegen. Er konnte ihnen nur Befehle erteilen, weil er sie bezahlte, und dann auch nur, weil ihnen durchaus gefiel, was er befahl. Im Vergleich zu Rasa war Raschgallivak fast isoliert. Und die Verbindungen seiner Männer untereinander waren viel stärker als die zu ihm. Und doch waren sie fast nichts im Vergleich zu denen zwischen den Frauen.

Huschidh wußte, daß die meisten Männer so waren — kaum miteinander verbunden, relativ frei und allein. Aber diese Männer waren besonders mißtrauisch und egoistisch, und so waren die Bande, die sie hielten, in der Tat sehr zerbrechlich. Es bestand keine Liebe zwischen ihnen, sondern nur die Begierde, von den anderen Männern anerkannt und respektiert zu werden. Also Stolz. Und in diesem Augenblick waren sie stolz auf ihre Stärke, als sie diese Frauen aus dem Haus schleppten, stolz darauf, einer der großen Frauen Basilikas getrotzt zu haben; in ihren Augen kamen sie sich jeweils großartig vor. Doch in Wirklichkeit bestand ihre gesamte Verbindung in diesem Augenblick lediglich in dem Respekt, den sie durch ihr Vorgehen zu erwerben glaubten.

So zerbrechlich. Huschidh mußte nur nach ihnen greifen und hätte die Verbindungen zwischen diesen Männern mit Leichtigkeit zerreißen können. Raschgallivak würde hoffnungslos allein dastehen. Und obwohl Rasa es ihr verbot, spürte Huschidh in diesem Augenblick eine viel tiefere Verbindung mit Sevet und Kokor, denn diese Mädchen hatten sie gepeinigt, waren ihre Feinde gewesen, und nun hatte sie die Gelegenheit, sie zu retten, zu befreien, und sie würden wissen, daß sie ihnen geholfen hatte. Damit würde eine der größten Kränkungen in ihrem Herzen wiedergutgemacht werden; was war schon Rasas Befehl im Vergleich zu diesem Bedürfnis?

Huschidh wußte genau, warum sie handelte, noch während sie handelte — sie verstand genau, was sie tat, denn als Entwirrerin konnte sie auch ihre eigenen Verbindungen mit der Welt um sie herum sehen —, und sie handelte trotzdem, denn in diesem Augenblick war sie die mächtige Retterin, die dazu imstande war, diese mächtigen Männer in ihre Schranken zu weisen.

Und deshalb sprach sie und nahm ihnen ihre Macht. Es waren nicht die Worte, die sie sagte; sie löste die Verbindungen zwischen ihnen nicht mit einem Zauberspruch auf. Es war ihr Tonfall der Verachtung, ihr Gesicht, ihr Körper, die ihren Worten die Macht verliehen, ins Herz eines jeden der Soldaten zu greifen und ihnen das Gefühl zu geben, daß sie völlig allein waren, daß andere Männer nur Verachtung für das empfanden, was sie taten. »Wo ist eure Ehre, wenn ihr diese verletzte Frau aus dem Haus ihrer Mutter schleppt«, sagte sie. »Wilde Paviane sind männlicher als ihr, denn deren Mütter können ihre Kinder den Männchen des Stammes anvertrauen.«

Armer Rasch. Er hörte die Worte und glaubte, Huschidh in ihre Schranken weisen zu können, indem er etwas entgegnete. Er begriff nicht, daß diese Männer sich bereits in der Geschichte verfangen hatten, die Huschidh um sie webte, und daß jedes Wort, das er sagte, sie weiter von ihm entfernte, denn mit jedem Ton, den er von sich gab, klang er schwächer und feiger. »Halte den Mund, Frau! Diese Männer sind Soldaten, die ihre Pflicht tun …«

»Die Pflicht eines Feiglings. Seht euch doch an, wozu dieser sogenannte Mann euch getrieben hat. Er hat euch zu schmutzigem Ungeziefer gemacht. Ihr raubt helle und strahlende Schönheit und schleppt sie zu seinem Loch, wo er euch mit Scheiße bedecken und es Ruhm nennen wird.«

Zuerst ließen zwei, dann die beiden anderen Männer Kokor und Sevet los. Sevet sank augenblicklich auf die Knie und weinte leise vor sich hin. Kokor hingegen brachte sehr überzeugend ihren Ekel und Abscheu zum Ausdruck, als sie erzitterte und vergeblich versuchte, die Erinnerung an die Berührung der Soldaten an ihren Armen abzuwischen.

»Seht ihr, wie ihr die schönen Frauen anwidert?« sagte Huschidh. »Dazu hat Raschgallivak euch gemacht. Zu Schnecken und Würmern, weil ihr ihm folgt. Wohin könnt ihr gehen, um wieder zu Männern zu werden? Wie könntet ihr eine Möglichkeit finden, euch zu säubern? Es muß doch einen Ort geben, an dem ihr euch vor eurer Schande verbergen könnt. Kriecht davon und sucht ihn, kleine Schnecken; grabt euch tief ein und findet heraus, ob ihr eure Erniedrigung verbergen könnt! Glaubt ihr etwa, diese Masken lassen euch stark und mächtig wirken? Sie kennzeichnen euch nur als Diener dieser verachtenswerten Mücke von Mann. Als Diener eines Nichts.«

Einer der Soldaten legte den Umhang ab, der das holographische Bild schuf, das bislang sein Gesicht verborgen hatte. Es war ein ganz gewöhnlicher, ziemlich schmutzig aussehender Mann, unrasiert, etwas beschränkt und voller Angst — seine Augen waren groß und füllten sich mit Tränen.

»Da ist er«, sagte Huschidh. »Das hat Raschgallivak aus euch gemacht.«

»Setz deine Maske wieder auf!« rief Raschgallivak. »Ich befehle euch, diese Frauen zu Gaballufix’ Haus zu bringen!«

»Hört ihn an«, sagte Huschidh. »Er ist kein Gaballufix. Warum folgt ihr ihm?«

Das war der letzte Anstoß. Auch die meisten anderen Soldaten rissen ihre Masken ab und ließen die Holomäntel auf der Treppe von Rasas Haus liegen, als sie davonliefen, vom Ort ihrer Erniedrigung flohen.

Rasch stand allein vor der Tür. Nun hatte sich die gesamte Szene verändert. Man mußte keine Entwirrerin sein, um zu begreifen, daß alle Macht und Erhabenheit jetzt bei Rasa lagen und Rasch hilflos, schwach und allein war. Er sah zu den Umhängen zu seinen Füßen hinab.

»Genau«, sagte Huschidh. »Verbirg dein Gesicht. Niemand will dieses Gesicht noch einmal sehen und am wenigsten du selbst.«

Und er tat es, bückte sich, hob einen der Umhänge auf und legte ihn über seine Schultern; seine Körperwärme aktivierte den Umhang, der noch eingeschaltet war, und plötzlich war er nicht mehr Raschgallivak, sondern dasselbe uniformierte Abbild falscher Männlichkeit, das alle Soldaten Gaballufix’ getragen hatten. Dann drehte er sich um und lief davon, genau wie seine Männer, genau wie sie mit eingezogenen Schultern. Kein von einem Rivalen besiegter Pavian hätte erbärmlicher wirken können als Rasch bei seiner Flucht.

Huschidh spürte das Netz der Ehrfurcht, das sich um sie bildete; das Wissen, daß sie die Bewunderung der Mädchen und Frauen des Hauses hatte, ließ ihren Körper prickeln — besonders aber, daß Sevet und Kokor ihr nun Ehre entgegenbrachten. Kokor, die eitle Kokor, die sie nun so ehrfürchtig ansah, daß ihr Gesichtsausdruck schon wieder dumm war. Und Sevet, die sie so viele Jahre lang grausam verspottet hatte, sah sie nun mit Augen an, in denen die Tränen standen, und streckte die Arme nach ihr aus wie eine flehende Bittstellerin im Tempel, und ihre Lippen bemühten sich, danke zu sagen.

»Was hast du getan«, flüsterte Rasa.

Huschidh verstand die Frage nicht. Es war doch offensichtlich, was sie getan hatte. »Ich habe Raschgallivaks Macht gebrochen«, sagte sie. »Er ist keine Bedrohung mehr für dich.«

»Törichtes Mädchen«, sagte Rasa. »Tausende dieser Schurken halten sich in Basilika auf. Tausende von ihnen, und nun ist der einzige Mann, der sie unter Kontrolle halten konnte, wie schwach er auch war, gebrochen und erledigt. Bei Anbruch der Dämmerung werden diese Soldaten keinem Befehl mehr gehorchen, und wer soll sie dann aufhalten?«

Huschidhs Gefühl, etwas bewerkstelligt zu haben, verschwand schlagartig. Sie wußte, daß Rasa recht hatte. Ganz gleich, wie deutlich Huschidh die Gegenwart sah, sie hatte nicht vorausgeschaut, um die langfristigen Konsequenzen ihres Vorgehens abzuwiegen. Diese Männer waren nun. nicht mehr durch ihre Gier nach Ehre gebunden, denn nun galt es nicht mehr als ehrbar, Raschgallivak zu dienen. Was würden sie nun tun? Sie würden durch die Stadt ziehen, Soldaten, die unbedingt ihre Macht und Stärke beweisen wollten, und keine Macht der Welt konnte sie noch einem nützlichen Zweck zuführen. Huschidh erinnerte sich an Holos von sich zur Schau stellenden Affen, die sie einmal gesehen hatte; sie hatten Äste geschwungen, einander angegriffen und jeden Schwächeren geschlagen, der zufällig in der Nähe war. Tobende Männer hingegen wären viel, viel gefährlicher.

»Bringt meine Töchter hinein«, sagte Rasa zu den anderen. »Dann schließt ihr alle Fenster und verriegelt sie. Dichtet das Haus ab. Als würde ein Sturm kommen. Denn es zieht einer auf.«

Dann trat Rasa auf die Treppe, zwischen ihre Töchter.

»Wohin gehst du, Mama?« jammerte Kokor. »Laß uns nicht allein!«

»Ich muß die Frauen der Stadt warnen. Heute nacht wird ein Ungeheuer durch die Straßen ziehen. Die Stadtwache wird es nicht aufhalten können. Sie müssen sichern, was gesichert werden kann, und sich dann vor den Feuern verbergen, die heute nacht in der Dunkelheit brennen werden.«

Muuzh’ Truppen waren erschöpft, doch als sie, spät am Nachmittag, einen Paß überquerten und in der Ferne Rauch sahen, schritten sie mit neuer Kraft aus. Sie wußten genausogut wie Muuzh, daß eine brennende Stadt nicht imstande war, sich zu verteidigen. Außerdem wußten sie, daß es eine bemerkenswerte Leistung war, solch eine Entfernung zu Fuß zurückgelegt zu haben. Und obwohl sie nur tausend Mann waren, wußten sie, daß ihre Namen, falls sie einen Sieg erringen sollten, ewig leben würden, wenn schon nicht der eines jeden einzelnen, dann aber als Teil von Muuzh’ Tausend. Sie konnten fast schon hören, daß ihre Enkel sie fragten: Stimmt es, daß ihr in zwei Tagen von Khlam nach Basilika marschiert seid und die Stadt an diesem Abend eingenommen habt, ohne zu rasten und ohne daß auch nur ein Mann von euch getötet wurde?

Natürlich war der letzte Teil der Geschichte noch keine ausgemachte Sache. Wer wußte denn schon, welche Zustände wirklich in Basilika herrschten? Was, wenn Gaballufix’ Soldaten ihre Position in der Stadt schon gefestigt hatten und nun darauf vorbereitet waren, sie zu verteidigen? Die Gorajni-Soldaten wußten ganz genau, daß sie kaum noch Vorräte für eine weitere Mahlzeit hatten; wenn sie die Stadt heute abend nicht einnahmen, würden sie am Morgen hungern und dann die Stadt am hellichten Tag einnehmen müssen — oder schändlich zu den Städten der Ebene fliehen müssen, wo ihre Feinde sehen würden, wie wenige sie in Wirklichkeit waren, und sie aufreiben konnten, bevor sie sich nach Norden durchschlagen konnten. Ja, der Sieg war möglich — aber er war auch lebenswichtig, und er durfte nicht auf sich warten lassen.

Warum waren sie also so zuversichtlich, während Verzweiflung doch viel verständlicher gewesen wäre? Weil sie Muuzh’ Tausend waren und Muuzh noch nie verloren hatte. Es gab keinen besseren General in der Geschichte der Gorajni. Er gab etwas um seine Männer; er unterwarf seine Feinde nicht, indem er seine Männer in blutigen Angriffen aufrieb, sondern durch Taktik und schnelles Zuschlagen; er isolierte den Feind, schnitt ihn vom Nachschub ab, spaltete seine Kräfte und verwirrte die feindlichen Generale, bis sie dann törichte Entscheidungen trafen, nur, um die Schlacht endlich hinter sich zu bringen und das endlose, entsetzliche Ballett zu beenden. Seine Soldaten nannten die schnellen Gewaltmärsche >Tanzen mit Muuzh<; sie wußten, daß er damit zwar ihre Füße strapazierte, aber ihre Ärsche rettete. O ja, sie liebten ihn — er machte sie zu Siegern, ohne zu viele von ihnen als kleine Aschesäcke nach Hause zu schicken.

In den Mannschaftsrängen wurde sogar geflüstert, daß ihr geliebter Muuzh die wirkliche Inkarnation Gottes war, und obwohl niemand dies laut zu sagen wagte — besonders nicht, wenn ein Fürsprecher sie belauschen konnte —, wurde dieses Flüstern auf diesem Marsch, an dem kein Fürsprecher teilnahm, lauter und häufiger. In einer Welt, in der es einen wirklichen Mann wie Vozmuzhalnoi Vozmozhno gab, konnte dieser Fettarsch in Gollod doch nicht die Inkarnation Gottes sein!

Als sie einen Kilometer von Basilika entfernt waren, konnten sie die Geräusche hören, die der Wind, der jetzt Rauch in ihre Richtung wehte, mit sich trug — hauptsächlich Schreie. Ein Befehl lief durch die Ränge: Schneidet Zweige und Äste ab, ein Dutzend oder mehr pro Mann, damit wir so viele Lagerfeuer errichten können, daß der Feind glaubt, wir wären hunderttausend Mann. Sie hackten und rissen an den Bäumen an der Straße und folgten Muuzh dann einen gewundenen Pfad von den Bergen in die Wüste hinab. Das Mondlicht war ein verräterischer Führer, besonders, da sie mit Ästen beladen waren, doch obwohl viele stürzten, wurden nur wenige verletzt, und in der Dunkelheit schwärmten sie in der Wüste aus, trennten sich weit voneinander und ließen viel Platz zwischen den einzelnen Gruppen. Dort errichteten sie ihre Lagerfeuer und zündeten auf das Schmettern einer Trompete — wer in der Stadt konnte es hören? — alle Feuer an. Jeweils ein Mann pro Lagerfeuer blieb zurück, um Äste zuzulegen und die Feuer am Leben zu halten, während der Rest des Heeres sich hinter Muuzh versammelte und eine breite, flache Straße entlang marschierte, die zu einer Lücke in den hohen Stadtmauern führte, diesmal allerdings in vier Kolonnen nebeneinander, als wären sie die kühne Vorhut einer gewaltigen Streitmacht.

Doch noch bevor sie die Mauer erreicht hatten, fanden sie sich inmitten einer richtigen Stadt wieder. Männer liefen schreiend hin und her — viele davon vom Wein betrunken —, doch als sie Muuzh’ Heer durch ihre Straße marschieren sahen, verstummten sie und wichen in die Schatten zurück. Wenn es einigen der Gorajni zuvor an Zuversicht gemangelt haben sollte, so gewannen sie sie nun, denn es war offensichtlich, daß die Männer Basilikas keine Gegner waren. Die Kühnheit, die sie haben mochten, war lediglich die Prahlerei der Trunkenheit.

Als sie sich dem Tor näherten, hörten sie das Klirren von Metall auf Metall, das auf einen wogenden Kampf hinwies. Sie erklommen eine Anhöhe und stellten fest, daß tatsächlich eine Schlacht im Gange war, zwischen Männern, die die gleichen Uniformen trugen wie der Attentäter, den Muuzh getötet hatte, und anderen Männern, die erschreckend identisch waren — was nicht nur für ihre Kleidung, sondern auch für ihre Gesichter galt!

Die Soldaten der vier Kolonnen wurden informiert: Die Männer in der Uniform der basilikanischen Wache werden wahrscheinlich unsere Verbündeten sein; unsere wahren Feinde sind die mit den Masken. Aber tötet niemanden, bis Muuzh den Befehl dazu gibt.

Sie erreichten das flache, freigeräumte Gelände vor dem Tor und bildeten schnell zwei Linien, jeweils zwei Kolonnen rechts und links, bis ein Halbkreis das Tor umgab. Inmitten dieses Halbkreises stand Muuzh.

»Gorajni, zieht eure Waffen!« Er bellte den Befehl — offensichtlich wollte er, daß auch die Männer ihn vernahmen, die am Tor gegeneinander kämpften, denn sonst wäre er im Flüsterton ihren Linien weitergegeben worden.

Der Kampf am Tor flaute ab. Die Männer in den Uniformen der basilikanischen Wache — ihre Zahl war nur gering, doch sie verteidigten sich tapfer — sahen die Gorajni-Trup-pen und verzweifelten. Sie wichen gegen die Mauer zurück, unsicher, gegen welchen Feind sie nun kämpfen mußten, doch eins war ihnen klar: Sie würden die nächste Stunde nicht erleben.

Nachdem ihre Feinde sich zurückgezogen hatten, verharrten die Soldaten mit den identischen Gesichtern in der Mitte des Tors, unsicher, was sie als nächstes tun sollten.

»Wir sind die Gorajni. Wir sind gekommen, um Basilika zu helfen, nicht, um die Stadt zu erobern!« rief Muuzh. »Schaut in die Wüste und seht das Heer, das ich zu den Toren der Stadt hätte führen können!«

Muuzh hatte das Tor gut gewählt — von hier aus konnten alle Basilikaner, die Wächter wie auch die Palwaschantu-Söldner, die Lagerfeuer sehen, zumindest hundert von ihnen, die sich weit durch die Wüste erstreckten.

»Doch nur diese fünfhundert habe ich zum Tor gerührt!« Natürlich log er, was die Anzahl seiner Männer betraf; diese lächelten jedoch insgeheim, weil er nur vierhundert unterschlagen hatte statt vierzigtausend, wie es normalerweise seine Art war. »Wir sind hier, um zu fragen, ob die Stadt der Frauen, die Stadt des Friedens, unsere Dienste benötigen kann, um innere Unruhen beizulegen. Wir werden die Stadt betreten, ihr dienen, wie ihr es wünscht, und sie verlassen, wenn unsere Aufgabe beendet ist. So spreche ich im Namen des Generals Vozmuzhalnoi Vozmozhno!« Es bestand kein Grund, sie wissen zu lassen, daß der gefürchtetste General der Westküste der Erdgebundenen See vor ihren Toren stand, das Schwert in der Scheide und mit nur neunhundert Mann Rückendeckung. Sollten sie doch glauben, der General sei draußen bei den Zehntausenden von Soldaten, die ihre Zelte um die großen Lagerfeuer in der Wüste aufgeschlagen hatten!

»Herr!« rief einer der Wachen. »Du siehst doch, wie es bei uns steht! Wir sind die Stadtwache, doch wie können wir den Willen unseres Rates in Erfahrung bringen, wenn wir gegen diese verrückten Verbrecher um unser Leben kämpfen müssen!«

»Jetzt sind wir die Herren Basilikas!« rief einer der identischen Palwaschantu-Söldner. »Wir nehmen nicht mehr die Befehle von Frauen entgegen! Wir lassen uns nicht mehr zwingen, außerhalb der Stadt zu bleiben, die rechtens uns gehört! Wir beherrschen diese Stadt nun im Namen von Gaballufix!«

»Gaballufix ist tot!« rief der Befehlshaber der Wache. »Und ihr werdet von niemandem beherrscht!«

»Im Namen von Gaballufix gehört diese Stadt uns!« Und mit diesen Worten schwangen die Söldner ihre Waffen und stimmten ein lautes Geheul an.

»Männer des Gaballufix!« rief Muuzh. »Wir haben den Namen eures gefallenen Führers gehört!«

Die Söldner jubelten erneut.

»Wir wissen, wie wir Gaballufix Ehre erweisen können!« rief Muuzh. »Kommt zu uns und gesellt euch zu uns, und wir werden euch die Stadt geben, die ihr verdient!«

Jubelnd strömten die Söldner zum Tor hinaus und zu den Gorajni. Die Stadtwachen Basilikas drückten sich gegen die Mauer und hielten ihre Waffen bereit. Einige wenige glitten in der Hoffnung, fliehen zu können, nach rechts oder links, doch zu ihrer Ehre blieben die meisten an Ort und Stelle und bereiteten sich darauf vor, in Erfüllung ihrer Pflicht ihr Leben zu geben. Muuzh’ Tausend bemerkte dies; sie würden die Wächter ehrenhaft behandeln, sollte es zu einer Auseinandersetzung zwischen ihnen kommen.

Was die Söldner betraf, so näherten sie sich mit gesenkten Waffen, bereit, diese Neuankömmlinge als ihre Brüder zu umarmen. Doch sie mußten feststellen, daß Schwerter und Speere und Bögen auf sie gerichtet waren, und vom Rand des Mobs breitete sich hin zu dessen Mitte Verwirrung aus.

Muuzh blieb dort stehen, wo er von Anfang an gestanden hatte, doch nun war er von Söldnern umgeben und von seinen eigenen Männern abgeschnitten. Er schien jedoch nicht die geringste Beunruhigung zu empfinden, wenngleich seine Leute mehr als nur ein wenig nervös waren. Zu ihrer Bestürzung begann er, sich einen Weg durch den Mob zu bahnen, doch nicht in Richtung auf seine Leute, sondern von ihnen fort, hin zum Stadttor. Die Söldner schienen damit zufrieden zu sein — sie sahen es als Zeichen an, daß er sie führen wollte.

Muuzh trat auf die freie Fläche vor dem Tor, den Söldnern den Rücken zugewandt. »Ah, Basilika«, sagte er — laut, aber nicht im Befehlston. »Wie oft habe ich davon geträumt, in deinem Tor zu stehen und deine Schönheit mit eigenen Augen zu sehen!« Dann drehte er sich zum Befehlshaber der Wache um, der mit gezogener Waffe am Torpfosten stand. »Würde Basilika es als großen Dienst ansehen, mein Freund«, sagte er leise zu ihm, »wenn diese Hunderte von häßlichen Zwillingen hier und jetzt sterben würden?«

»Ich glaube schon, ja«, sagte der Befehlshaber, erneut verwirrt, aber auch von neuer Hoffnung erfüllt.

Muuzh drehte sich zu dem Mob um — und zu seinen Männern dahinter. »Jeder Mann, der den Namen Gaballufix liebt, hebe hoch das Schwert!«

Die meisten Söldner — alle bis auf die vorsichtigsten — hoben ihre Waffen. Doch kaum hatten sie sie gehoben, als Muuzh sein Schwert aus der Scheide zog.

Das war das Zeichen. Dreihundert Pfeile wurden gleichzeitig auf den Weg geschickt, und jeder Mann am Rand des Mobs — sie hatten die Arme ja gehoben, so daß die Pfeile in ihre Körper schlugen — brach zusammen, die meisten von ihnen mehrfach durchbohrt. Dann fielen, mit einem donnernden Schrei, die Gorajni über die überlebenden Söldner her, und innerhalb von zwei oder drei Minuten war das Gemetzel vorüber. Die Gorajni nahmen augenblicklich ihre Formation wieder ein und bauten sich vor den Leichen ihrer gefallenen Feinde auf.

Muuzh wandte sich an den Befehlshaber der Wache. »Wie heißt du, Herr?«

»Hauptmann Bitanke, Herr.«

»Hauptmann Bitanke, ich frage erneut: Wird Basilika unsere Einmischung zur Wiederherstellung der Ordnung auf diesen wunderschönen Straßen begrüßen? Ich habe hier einen Brief von der Herrin Rasa; ist dir ihr Name bekannt?«

»Das ist er, Herr«, sagte Bitanke.

»Sie schrieb mir und bat um Hilfe für ihre Stadt. Ich bin gekommen, und nun bitte ich respektvoll um deine Erlaubnis, diese Männer durch eure Tore zu führen, damit sie als Hilfstruppen dienen und dazu beitragen können, die Gewalt auf euren Straßen unter Kontrolle zu bringen.«

Bitanke verbeugte sich, schloß dann die Torpforte auf und trat hinein. Muuzh sah, daß er etwas in einen Computer eintippte. Nach einem Augenblick trat er wieder hinaus. »Herr, ich habe ihnen mitgeteilt, was du hier getan hast. Die Lage unserer Stadt ist verzweifelt, und da du im Namen der Herrin Rasa kommst und deinen Willen bewiesen hast, unsere Feinde zu besiegen, laden dich der Stadtrat und die Wache ein, Basilika zu betreten. Für den Augenblick werdet ihr meinem direkten Befehl unterstellt, falls ihr einen meines niedrigen Rangs akzeptiert, bis eine angemessenere Vorkehrung arrangiert werden kann.«

»Herr, ich salutiere dir nicht wegen deines Rangs, sondern wegen deines Mutes und deiner Ehre, und aus diesem Grund werde ich deine Führung akzeptieren«, sagte Muuzh. »Darf ich vorschlagen, daß wir meine Leute in Gruppen zu je sechs Mann aufteilen und sie bevollmächtigen, sich mit jedem Mann zu befassen, der sich ungebührlich benimmt? Wir werden auf jeden Fall die Männer respektieren, die eure Uniform tragen; jeden anderen Mann, der eine Waffe gezogen hat oder uns oder irgendeine Frau der Stadt mit Gewalt droht, werden wir auf der Stelle töten und an öffentlichen Orten aufhängen, um jeden weiteren Widerstand zu brechen!«

»Das mit dem Hängen ist mir nicht so genehm, Herr«, sagte Bitanke.

»Nun gut, wir haben unsere Befehle!« Bitankes Zögern ignorierend, wandte Muuzh sich an seine Soldaten. »Männer von Gorajni, in Sechsergruppen aufteilen!«

Augenblicklich lösten sich die Reihen auf, und plötzlich standen einhundertundfünfzig Sechsergruppen bereit.

»Tut keiner Frau etwas an!« rief Muuzh. »Und wen immer ihr in dieser abscheulichen Maske seht, hängt ihn auf, mit Maske und allem, bis niemand mehr wagt, sie zu tragen, ob nun bei Tag oder Nacht!«

»Herr, ich glaube …«

Doch Muuzh hatte bereits den Arm gehoben, und seine Leute liefen in die Stadt. Bitanke trat näher an Muuzh heran, vielleicht, um zu protestieren, doch Muuzh begrüßte ihn mit einer Umarmung, die jedes Wort erstickte. »Bitte, mein Freund — ich weiß, deine Männer sind erschöpft, aber könnten sie sich nicht trotzdem noch nützlich machen? Zum Beispiel könnte dieses Dorf vor dem Stadttor nur profitieren, wenn man hier ein wenig Ordnung schaffen würde. Und wir beide, wir sollten uns auf den Weg zu den Amtsträgerinnen machen, damit ich die Befehle des Stadtrats entgegennehmen kann.«

Welche bösen Vorahnungen Hauptmann Bitanke auch haben mochte, sie wurden von Muuzh’ Umarmung und seinem Lächeln weggewischt. Bitanke gab seine Befehle, und seine Männer schwärmten in der Hundestadt aus. Dann folgte Muuzh ihm in die Stadt. »Während meine Männer die Ordnung wiederherstellen, müßten ein paar Brände gelöscht werden«, sagte Muuzh. »Kannst du andere Mitglieder der Stadtwache mit deinem Computer herbeirufen?«

»Ja, Herr.«

»Es obliegt mir nicht, dir zu sagen, was du zu tun hast, doch wenn deine Leute die Feuerwehrmänner schützen würden, können wir Basilika vielleicht davor bewahren, noch vor Anbruch der Dämmerung vollends niederzubrennen.«

»Könnten uns dabei nicht deine restlichen Männer unterstützen?«

Muuzh lachte. »General Vozmuzhalnoi Vozmozhno würde das niemals erlauben. Wenn ein so starkes Heer vor eure Tore zöge, könnte jemand in Basilika befürchten, wir wollten eure Stadt erobern. Wir sind hier, um euch unseren Schutz zu gewähren, und nicht, um euch zu beherrschen, mein Freund! Also werden nicht mehr als diese fünfhundert Mann eure Stadt betreten.«

»Die Überseele muß dich geschickt haben, Herr«, sagte Hauptmann Bitanke.

»Ihr müßt der Herrin Rasa danken«, sagte Muuzh. »Ihr und einem tapferen Mann aus deinen Rängen. Ich glaube, er hieß Smelost.«

»Smelost«, flüsterte Bitanke. »Er war ein guter Freund von mir.«

»Dann freue ich mich, dir sagen zu können, daß er von General Vozmuzhalnoi Vozmozhno mit Ehren empfangen wurde. Der General hat keine Zeit verschwendet, aufgrund seiner Informationen zu handeln und eurer Stadt zu Hilfe zu eilen.«

»Du bist genau rechtzeitig gekommen«, sagte Bitanke. »Es begann heute abend und breitete sich durch die gesamte Stadt aus, und ich befürchtete schon, daß morgen früh ganz Basilika in Schutt und Asche liegen würde und alle braven Frauen der Stadt der Verzweiflung anheimgefallen sein würden — oder noch schlimmerem.«

»Ich freue mich immer, Hoffnung bringen zu können«, sagte Muuzh.

Mittlerweile gingen sie über eine Straße mit Wohnhäusern und Geschäften an beiden Seiten. Doch niemand war zu sehen, und hinter vielen Fenstern der Obergeschosse brannte Licht. Die einzigen Anzeichen, daß es hier Krawalle gegeben hatte, bestanden aus Glasscherben auf der Straße, eingeschlagenen Schaufensterscheiben und den Leichen von Söldnern, die, noch ihre holographischen Masken tragend, wie Schlachtvieh an den Balkonen der oberen Stockwerke hingen. Bitanke betrachtete sie mit schwachem Abscheu.

»Wie lange werden diese Masken funktionsfähig bleiben?« fragte Muuzh.

»Bis die … Leichen erkalten, vermute ich. Ich habe gehört, daß sie von der Wärme und dem Magnetismus des Körpers aktiviert werden.«

»Ah«, sagte Muuzh.

»Darf ich fragen … wieso sie … wie deine Männer sie … aufhängen konnten? Ich sehe keine Seile … und auch keine anderen Vorrichtungen, mit denen das möglich wäre.«

»Ich weiß es auch nicht«, sagte Muuzh. »Nehmen wir einem den Umhang ab und sehen wir nach.«

Bitanke hob zimperlich den Arm und riß der nächsten baumelnden Leiche den Umhang ab. Als er hinabfiel, erlosch das Hologramm augenblicklich, und man konnte sehen, daß die Leiche mit einem schweren Messer an die Wand genagelt war, das man ihr durch den Hals getrieben hatte. »Sein eigenes Messer, meinst du nicht auch?« fragte Muuzh.

»Ich glaube schon«, sagte Bitanke.

»Keine sehr sichere Angelegenheit«, sagte Muuzh und zog leicht an der Leiche. »Sollte diese Nacht noch Wind aufkommen, werden die meisten Leichen morgen früh wohl auf dem Boden liegen. Wir müssen sie so schnell wie möglich beseitigen, oder wir bekommen ziemliche Probleme mit den Hunden.«

»Ja, Herr«, sagte Bitanke.

»Hast du noch nie eine Leiche gesehen?« fragte Muuzh. »Du siehst etwas grün um die Nase aus.«

»Oh, ich habe schon Tote gesehen, Herr«, sagte Bitanke. »Ich habe nur noch nie gehört, daß man sie … so behandelt … ich wünschte, deine Männer würden nicht …«

»Unsinn. Diese baumelnden Leichen sind wie eine Verstärkung. Alle Aufrührer, die meine Männer zufällig übersehen haben, werden herauskommen, feststellen, wie ruhig alles ist, und die Leichen bemerken, und der Kampfeswille wird sie augenblicklich verlassen.«

Bitanke kicherte leise. »Das kann ich mir vorstellen.«

»Siehst du?« sagte Muuzh. »So können diese Jungs einen kleinen Teil des Unheils, das sie angerichtet haben, wiedergutmachen, indem sie die Straßen die ganze Nacht über für uns hüten. Berichtige mich, falls ich mich irre, Hauptmann Bitanke, aber niemand wird viele Tränen um sie vergießen, nicht wahr?«

Innerhalb von einer Stunde traf Muuzh mit dem Stadtrat zusammen. Mittlerweile hatten die hundert Soldaten, die die Lagerfeuer versorgten, Position vor allen Stadttoren bezogen. In den wenigen Fällen, in denen die Tore noch von den regulären Wachen gesichert wurden, standen sie Schulter an Schulter mit ihnen. Es gab keinen Streit zwischen ihnen; kein einziger Soldat der Gorajni geriet mit einem Stadtwächter aneinander.

Muuzh’ Gespräch mit dem Stadtrat verlief friedlich, und sie schlössen die feste Vereinbarung, daß Muuzh Zutritt zu allen Stadtteilen bekam — sogar zu denen, in denen sich normalerweise nur Frauen aufhalten durften —, aber nach zweieinhalb Tagen seine Männer abziehen und zu Lagern vor den Toren führen würde, wo sie aus Mitteln der Stadt großzügig versorgt und belohnt werden würden. Es war eine wundervolle Absprache, voller Komplimente und aus tiefstem Herzen kommender Dankbarkeit.

Die meisten Bürgerinnen Basilikas würden es erst in einigen Tagen begreifen, doch als Muuzh das Gespräch mit dem Stadtrat beendete, war seine Eroberung der Stadt abgeschlossen.

Nafai sprach so wenig wie möglich mit Elja und Meb, als sie sich auf den Rückweg,nach Basilika machten. Sein Schweigen bewirkte nicht, daß sie ihn freundlicher behandelten, bedeutete aber, daß er nicht mit ihnen streiten mußte. Er konnte seinen eigenen Gedanken nachgehen.

Er konnte mit der Überseele sprechen.

Als spielte es eine Rolle, was er zu dem alten Computer sagte. Ein paar Tage lang hatte er sich der Vorstellung hingegeben, er und die Überseele würden zusammenarbeiten. Die Überseele hatte ihm ihre Erinnerungen an die Erde gezeigt und ihren Daseinszweck erläutert — sie mußte zu verhindern versuchen, daß sich die elende, selbstzerstörerische Geschichte der Erde wiederholte. Nafai hatte eingewilligt, diesem Zweck zu dienen. Nafai hatte über einem Mann gestanden, der betrunken auf der Straße lag — seinem Feind —, doch es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, diesen hilflosen und schlafenden Mann zu töten. Aber die Überseele hatte es ihm befohlen, und Nafai hatte gehorcht. Nicht, weil Gaballufix ein Mörder war, der den Tod verdient hatte. Warum dann? Weil Nafai der Überseele glaubte, weil er mit ihr übereinstimmte, vielleicht die ganze Welt retten zu können, wenn er diesen einen Mann tötete.

Doch wo war die Überseele nun, nachdem er das Verbrechen begangen, seine Hände ihrer Sache zuliebe mit Blut befleckt hatte? Nafai hatte sich eingebildet, es bestünde nun ein besonderes Verhältnis zwischen der Überseele und ihm. War da nicht der Augenblick gewesen, in dem der Index der Überseele zuerst zu ihm und Vater und Issib gesprochen hatte? Vater und Issib hatten die Botschaft der Überseele nur zum Teil verstanden — sie hatten sich auf die Vorstellung, konzentriert, daß die Überseele sie auf eine lange Reise zu einem wunderbaren Ort führen wollte, an dem Issib wieder seine Flossen benutzen konnte und nicht mehr auf seinen Stuhl beschränkt war. Doch nur Nafai hatte begriffen, daß der Ort, zu dem die Überseele sie führen wollte, nicht auf dem Planeten Harmonie lag — daß die Überseele sie zur Erde zurückführen wollte. Nach vierzig Millionen Jahren heim zur Erde.

Doch seit diesem Augenblick war der Index nicht mehr als ein Führer zu einer riesigen Speicherbank. Vater und Issib studierten ihn, Nafai ebenfalls, doch die ganze Zeit über wartete Nafai auf irgendeine Nachricht — für sie alle oder vielleicht auch nur für ihn allein. Vielleicht auf eine besondere Nachricht nur für ihn, ein Wort der Ermutigung. Etwas, das das Versprechen erfüllen würde, daß die Überseele gemacht hatte, als sie durch Issibs Stuhl sprach und erklärt hatte, sie habe Nafai auserwählt, seine Brüder zu führen.

Bin ich auserwählt, Überseele? Warum sehe ich dann keine Auswirkungen deiner Gunst? Ich bin für dich zum Mörder geworden, und doch schickst du Elemak deine Vision von unseren Frauen. Und was hat er gesehen! Daß du Eiadh für ihn ausgewählt hast! Was hat deine Gunst mir also gebracht? Jetzt sprichst du zu Elemak, der gemeinsam mit Gaballufix Ränke geschmiedet hat, der versucht hat, mich zu töten; jetzt gibst du ihm die Frau, die ich so begehre — warum hat er diesen Traum empfangen und nicht ich? Ich wurde vor allen anderen erniedrigt. Ich werde Staub fressen müssen, ich werde mich Eljas Befehlen unterwerfen und ihm zu Diensten sein, zusehen müssen, wie Elja dieses liebe und wunderschöne Mädchen bekommt, das schon so lange meine Träume beseelt. Warum haßt du mich, Überseele? Was habe ich getan, abgesehen davon, dir zu dienen und gehorchen?

Die Kamele erklommen mit ihrer gemächlichen Kraft einen Hang, und Elemak führte sie am Rand eines Abgrunds entlang. Nafai sah über die Wüste hinaus und machte die wilden, messerscharfen Felsen und Klippen aus, zwischen denen nur hier und da spärliches, graugrünes Wüstenlaub wuchs. Die Überseele hat mir Leben versprochen, Größe und Ruhm und Freude, und nun bin ich hier, in dieser Wüste, folge meinen Brüdern, die sich mit Vaters Feind zusammengetan und, ob nun wissentlich oder nicht, Vaters Tod geplant haben. Ich habe der Überseele geholfen, Vaters Leben zu retten, und jetzt bin ich hier.

Ja, da bist du.

Nafai begriff nicht sofort, daß dies die Stimme der Überseele war, denn sie sprach in seinem Kopf, als wären es seine eigenen Gedanken. Doch er wußte aufgrund seiner geringen Erfahrungen, daß dieser Gedanke von außerhalb kam, wenn auch nur, weil er ihm zu antworten schien.

Er hingegen antwortete nun der Überseele — und das mit keinem besonderen Respekt. Oh, da bist du, sagte er stumm und sarkastisch. Hast du wieder mal an mich gedacht? Hoffentlich bemühe ich dich nicht.

Du bist mir sehr viele Mühen wert.

Zum Beispiel die, daß du Eiadh für meinen Bruder statt für mich ausgewählt hast.

Eiadh ist nicht für dich bestimmt.

Danke für deine Hilfe, sagte Nafai stumm. Danke, daß du mir in diesem Spiel mit meinen Brüdern ein so miserables Blatt gegeben hast.”

Ich habe es doch nicht allzu schlecht für dich eingerichtet, Nafai.

Vielleicht gebe ich dir nicht die guten Schulnoten, die du mir gibst. Ich habe für dich einen Menschen getötet.

Und in jedem Augenblick dieser Reise rette ich dein Leben.

Dieser Gedanke verblüffte Nafai. Unabsichtlich setzte er sich auf und sah sich um.

In jedem Augenblick dieser Reise lenke ich ihre Gedanken von ihrem Entschluß ab, dich zu töten.

Furcht und Haß nagten sich gleichzeitig den Weg durch Nafais Hals und tief in seinen Bauch hinab. Er spürte, wie die Regungen dort wühlten, wie kleine Tiere, die sich in ihm eingenistet hatten.

Es ist gut, daß du geschwiegen hast, sagte die Überseele. Es ist gut, daß du sie nicht provoziert oder auch nur daran erinnert hast, daß du sie auf dieser Reise begleitest. Denn mein Einfluß in ihrem Geist ist zwar stark, aber nicht unwiderstehlich. Wie könnte ich sie aufhalten, wenn ihr Zorn gegen dich heiß in ihnen aufwallen würde? Ich kann jetzt nicht durch Issibs Stuhl handeln.

Nafai wurde von Angst erfüllt und sehnte sich danach, zu Vaters Zelt zurückzukehren. Gleichzeitig war er verletzt und auf seine Brüder wütend. Warum hassen sie mich noch immer? Was habe ich ihnen getan?

Törichter Junge. Noch vor einem Augenblick hast du dir gewünscht, ich sollte deine Loyalität für mich belohnen, indem ich dir Macht über deine Brüder gebe. Glaubst du etwa, sie würden deinen Ehrgeiz nicht bemerken? Jedesmal, wenn ich mit dir spreche, hassen sie dich mehr. Jedesmal, wenn sich auf dem Gesicht deines Vaters Freude über deine schnelle Auffassungsgabe zeigt, über deine Herzensgüte, hassen sie dich mehr. Und wenn sie erfahren, daß du dir die Privilegien des ältesten Sohnes wünschst …

Die wünsche ich mir nicht! rief Nafai stumm. Ich will Elemak nicht verdrängen … ich will, daß er mich liebt, ich will, daß er mir ein wahrer älterer Bruder ist und nicht dieses Ungeheuer, das mich tot sehen will.

Ja, du willst, daß er dich liebt … und du willst, daß er dich respektiert … und du willst seine Stelle einnehmen. Glaubst du, du wärest immun gegen die Primateninstinkte in dir? Du wurdest geboren, um ein Alphamännchen in einem Stamm kluger Tiere zu sein, doch das gilt auch für ihn. Er wird von dieser Gier beherrscht. Aber kannst du, Nafai, nicht zivilisiert sein, kannst du den tierischen Teil von dir nicht unterdrücken und mir helfen, ein weit höheres Ziel zu erreichen, als es die Entscheidung darüber ist, wer das Leitmännchen einer Herde aufrecht gehender Paviane ist?

Nafai kam sich vor, als stünde er nackt vor seinen Feinden. Warum hast du mich erwählt, wenn ich nicht besser als Elemak bin, nicht besser als irgendein Männchen der Pavianherde bachabwärts von Vaters Zelt?

Weil du doch besser bist, weil du noch besser werden willst.

Dann hilf mir. Hilf mir, meine dunklen Begehren zu zügeln. Und wenn du schon einmal dabei bist, hilf auch Elemak. Ich weiß noch, wie er war, als er jünger war. Verspielt, liebevoll, freundlich. Er ist mehr als ein ehrgeiziges Tier, ich weiß es, auch wenn er selbst es vergessen hat.

Ich weiß es auch, antwortete die Überseele. Was glaubst du, weshalb ich Elemak diesen Traum gegeben habe? Damit er Gelegenheit bekommt, für meine Stimme empfänglich zu werden. Er hat fast dieselbe Empfänglichkeit wie du. Aber er hat sich vor langer Zeit entschlossen, mich zu hassen, meine Pläne zu vereiteln, wo er nur kann. Also hat meine Stimme ihm nichts bedeutet. Diesmal jedoch konnte ich ihm etwas sagen, das er hören wollte. Meine Absichten waren im Einklang mit den seinen. Was glaubst du, was wäre dein Leben noch wert, wenn ich dir gezeigt hätte, wer seine Frau sein soll? Glaubst du, er hätte Eiadh aus deiner Hand genommen?

Ich hätte ihm Eiadh auch nicht gegeben.

So. Du hättest mich ignoriert. Du hättest dich gegen mich aufgelehnt. Du redest dir ein, du hättest Gaballufix nur getötet, um mir und meinem erhabenen Zweck zu dienen … doch andererseits bist du bereit, gegen mich zu rebellieren und meine Absichten zu durchkreuzen, weil du eine Frau haben willst, die dein Leben ruinieren würde.

Das weißt du nicht. Du magst ein sehr kluger Computer sein, Überseele, aber du kennst nicht die Zukunft.

Ich kenne Eiadh, wie ich dich kenne. Und würdest du sie kennen, würdest du begreifen, daß sie niemals deine Frau sein kann.

Behauptest du, sie sei im Grunde ihres Herzens schlecht?

Ich behaupte, daß sie in einer Welt lebt, deren Schwerezentrum sie selbst ist. Ihre eigenen Wünsche sind ihr höchstes Ziel. Du hingegen, Nafai, wirst niemals zufrieden sein, bis du etwas erreicht hast, das die Welt verändern wird. Ich gebe dir dies, wenn du nur die Geduld hast, mir zu vertrauen, bis es soweit ist. Ich werde dir auch eine Frau geben, die dieselben Träume hat, die dir helfen wird, anstatt dich abzulenken.

Wer ist dann meine Frau?

Luets Gesicht erschien in seinem Verstand.

Nafai erschauderte. Luet. Sie hatte ihm zur Flucht verholfen und ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um das seine zu retten. Sie hatte ihn zum See der Frauen geführt und ihn Ritualen unterzogen, die rechtens nur Frauen ablegen durften. Man hätte sie töten können, weil sie ihn dorthin geführt hatte, zusammen mit ihm; statt dessen trat sie den Frauen gegenüber und überzeugte sie, daß die Überseele es ihr befohlen hatte. Er war mit ihr durch die Nebel an der Grenze zwischen dem heißen und dem kalten Wasser des Sees getrieben, und sie hatte ihn durch den Pfadlosen Wald geführt, durch das Privattor in der Stadtmauer Basilikas, von dem bis zu diesem Augenblick nur Frauen gewußt hatten.

Und vorher war Luet mitten in der Nacht zu Vaters Haus weit außerhalb der Stadt gekommen — ebenfalls unter großem persönlichem Risiko —, nur um ihn zu warnen, daß Vaters Feinde Pläne schmiedeten, ihn zu ermorden. Sie hatte ihren Aufbruch in die Wildnis beschleunigt.

Nafai verdankte ihr viel. Und er mochte sie, sie war ein guter Mensch, einfach und nett. Warum konnte er sie sich also nicht als seine Frau vorstellen? Warum schreckte er bei dem Gedanken zurück?

Weil sie die Wasserseherin ist.

Die Wasserseherin — deshalb wollte er sie nicht heiraten. Weil sie schon viel länger als er Visionen von der Überseele bekam; weil sie eine Kraft und Klugheit hatte, die zu erlangen er nicht einmal hoffen konnte. Weil sie in jeder Hinsicht, die ihm einfiel, besser als Nafai war. Falls sie diese Reise zur Erde als Ehepaar unternahmen, würde sie die Stimme der Überseele besser hören als er; sie würde den Weg kennen, wenn er überhaupt nichts wußte. Wenn für ihn alles still war, würde sie Musik hören; wenn er blind war, würde sie Licht haben. Ich kann es nicht ertragen, an eine Frau gebunden zu sein, die keinen Grund haben wird, mich zu respektieren, denn alles, was ich kann, hat sie schon getan, und zwar viel besser.

So … du wolltest also gar keine Frau haben. Du wolltest eine Verehrerin haben.

Diese Erkenntnis ließ ihn vor Selbstverachtung erröten. Stimmt das? Bin ich wirklich ein so schwacher Junge, daß ich mir nicht vorstellen kann, eine starke Frau zu lieben?

Vor seinem geistigen Auge tauchten die Gesichter Rasas und Wetschiks auf, seiner Eltern. Mutter war eine starke Frau — vielleicht die stärkste in Basilika, wenngleich sie nie versucht hatte, ihr Prestige und ihren Einfluß dazu einzusetzen, Macht für sich zu erlangen. Hatte es Vater geschwächt, daß Mutter ihm mindestens — mindestens ebenbürtig war? Vielleicht hatten sie deshalb ihren Ehevertrag nach Issibs Geburt nicht erneuert. Vielleicht war Mutter deshalb ein paar Jahre lang mit Gaballufix verheiratet gewesen — weil Vater nicht imstande gewesen war, seinen Stolz herunterzuschlucken und glücklich mit einer Frau verheiratet zu bleiben, die so mächtig und weise war.

Und doch war sie zu Vater zurückgekehrt und Vater zu ihr. Nafai war das Kind, das sie geboren hatte, um ihre Wiederheirat zu besiegeln. Und seitdem hatten sie den Vertrag jedes Jahr erneuert und ihre gegenseitige Hingabe nicht ein einziges Mal in Frage gestellt. Was hatte sich geändert? Nichts — Mutter hatte sich nicht aufgeben müssen, um Teil von Vaters Leben zu sein, und er mußte sie nicht beherrschen, um Teil ihres Lebens zu sein. Und es fand auch andersherum keine Herrschaft statt; der Wetschik war immer sein eigener Herr gewesen, und Rasa hatte niemals das Bedürfnis verspürt, ihn zu beherrschen.

Vor Nafais geistigem Auge flössen die Gesichter seiner Eltern zusammen und wurden zu einem. Einen Augenblick lang erkannte er es als das Vaters; dann wurde es, ohne sich im geringsten zu verändern, eindeutig zu dem von Mutter.

Ich verstehe, sagte er stumm. Sie sind eine Person. Was spielt es schon für eine Rolle, wer von ihnen zufällig die Stimme ist, wessen Hände zufällig handeln? Der eine steht nicht über dem anderen. Sie sind zusammen, und deshalb gibt es keine Frage der Konkurrenz zwischen ihnen.

Kann ich solch eine Partnerschaft mit Luet finden? Kann ich es ertragen, daß sie die Überseele hört, wenn ich sie nicht hören kann? Ich koche ja jetzt schon vor Wut, weil Elja einen Wahrtraum geträumt hat; kann ich Luets Träumen lauschen, ohne neidisch zu sein?

Und was ist mit ihr? Wird sie mich akzeptieren?

Augenblicklich schämte er sich der letzten Frage. Sie hatte ihn bereits akzeptiert. Sie hatte ihn zum See der Frauen geführt. Soweit er es sagen konnte, hatte sie ihm ohne das geringste Zögern alles gegeben, was sie war und was sie hatte. Er war derjenige, der eifersüchtig und ängstlich war. Sie war diejenige mit Mut und Großzügigkeit.

Die Frage lautet nicht: Kann ich es ertragen, mit ihr als eine Einheit zu leben. Die Frage lautet: Bin ich es würdig, mit solch einem Mädchen eine Partnerschaft einzugehen?

Er spürte, daß ihn eine zitternde Wärme durchzog, als würde er mit Licht erfüllt werden. Ja, sagte die Überseele in seinem Kopf. Ja, das ist die Frage. Das ist die Frage. Das ist die Frage.

Und dann endete die Trance seiner Kommunikation mit der Überseele, und Nafai wurde sich plötzlich wieder seiner Umgebung bewußt. Nichts hatte sich verändert — Meb und Elja ritten noch immer voraus, die Kamele trotteten mit. Noch immer tropfte Schweiß auf Nafais Körper; das Kamel torkelte und rollte noch immer unter ihm; die trockene Wüstenluft brannte noch immer mit jedem Atemzug, den er in den Körper sog.

Halte mich am Leben, sagte Nafai. Halte mich so lange am Leben, daß ich das Tier in mir unterwerfen kann. So lange, daß ich lernen kann, mich mit einer Frau zusammenzutun, die besser und stärker ist, als ich es bin. So lange, daß ich ein so guter Mann werden kann, wie mein Vater es ist, und auch so gut wie meine Mutter.

Wenn ich es kann, werde ich es tun. Wie eine Stimme in seinem Kopf, dieses Versprechen.

Und wenn ich es kann, werde ich es bald zustande bringen. Ich werde bald würdig sein.

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