6. Shasta bei den Gräbern

Shasta rannte leichtfüßig auf Zehenspitzen übers Dach, das sich unter seinen nackten Füßen heiß anfühlte. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis er auf die Mauer geklettert war. Als er schließlich an der Ecke ankam, sah er unter sich eine enge, übelriechende Gasse, und wie Corin ihm gesagt hatte, lag außen an der Mauer ein Abfallhaufen. Bevor Shasta hinuntersprang, schaute er sich rasch um, weil er sehen wollte, wo er sich überhaupt befand. Offensichtlich hatte er jetzt die Spitze des Hügels überquert, auf dem Tashbaan lag. Vor ihm senkte sich die Stadt hinab, da lag ein Flachdach unter dem anderen, bis hinunter zu den Türmen und Zinnen der nördlichen Stadtmauer. Dahinter lag der Fluß, und jenseits vom Fluß schloß sich ein mit Gärten bedeckter Hang an. Und hinter den Gärten erblickte er etwas, was er noch nie zuvor gesehen hatte – eine riesige, gelbgraue Ebene, flach wie der unbewegte Ozean und endlos groß. Jenseits dieser Ebene sah er ganz in der Ferne einen blauen Höhenzug mit gezacktem Kamm, und einige der Spitzen waren weiß. Die Wüste! Die Berge! dachte Shasta.

Er ließ sich auf den Abfallhaufen plumpsen und begann abwärts zu trotten, so schnell das in der engen Gasse möglich war. Schon bald erreichte er eine breitere Straße, auf der mehr Leute unterwegs waren. Keiner kümmerte sich um den kleinen zerlumpten Jungen, der auf bloßen Füßen dahinrannte. Trotzdem hatte er Angst, bis er um eine Ecke bog und die Stadttore vor sich sah. Hier wurde er noch ein bißchen gerempelt und herumgeschubst, denn außer ihm wollten noch viele andere Menschen die Stadt verlassen. Die Menschenmassen drängten sich in einer langen Schlange durch das Stadttor und über die Brücke. Dort draußen, wo links und rechts das klare Wasser dahinströmte, war es nach dem Gestank, der Hitze und dem Lärm Tashbaans herrlich frisch.

Als Shasta schließlich am anderen Ende der Brücke angekommen war, stellte er fest, daß sich die Leute um ihn herum immer mehr verliefen. Alle schienen entweder nach rechts oder nach links am Flußufer entlangzugehen. Er selbst marschierte geradeaus auf einem zwischen den Gärten verlaufenden Weg, der nicht viel benutzt zu werden schien. Nach ein paar Schritten war er allein; nach ein paar weiteren war er oben am Hang angekommen. Dort blieb er stehen und riß die Augen auf. Es war, als hätte er das Ende der Welt erreicht. Ein paar Schritte vor ihm hörte ganz plötzlich das Gras auf. Statt dessen begann eine endlose Sandfläche, ähnlich wie am Meeresstrand, nur war der Sand etwas gröber. Dahinter ragten die Berge auf, die jetzt ferner schienen als zuvor. Zu seiner großen Erleichterung sah er etwa fünf Minuten des Weges zu seiner Linken die Gräber, genau wie Bree sie beschrieben hatte: eine große Anzahl verwitterter Steine in der Form von riesigen Bienenkörben, nur etwas schmäler. Sie sahen sehr dunkel und sehr beängstigend aus, denn hinter ihnen ging gerade die Sonne unter.

Shasta wandte das Gesicht nach Westen und trottete zu den Gräbern hinüber. Dabei hielt er angestrengt nach seinen Freunden Ausschau, doch die untergehende Sonne schien ihm in die Augen, und er konnte kaum etwas erkennen. Sowieso, dachte er, warten sie natürlich hinter dem letzten Grab und nicht davor, wo jeder sie von der Stadt aus sehen kann.

Etwa zwölf Gräber standen da. Jedes hatte einen niedrigen gewölbten Eingang, hinter dem es stockdunkel war. Die Gräber lagen unregelmäßig verstreut, und so dauerte es ewig lange, bis Shasta jedes einzelne umrundet hatte und sicher war, daß er keines ausgelassen hatte. Doch keiner von seinen Freunden war zu sehen.

Es war sehr still hier am Rand der Wüste, und jetzt war die Sonne ganz untergegangen.

Plötzlich kam von irgendwoher hinter ihm ein schreckliches Geräusch. Shasta biß sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien. Im nächsten Augenblick wurde ihm klar, was das sein mußte: es waren die Hörner Tashbaans, die das Schließen der Stadttore ankündigten. Jetzt, wo sich die Tore geschlossen hatten, war es völlig ausgeschlossen, daß sich die anderen noch an diesem Abend zu ihm gesellten. Entweder sind sie über Nacht in Tashbaan eingesperrt, dachte Shasta, oder sie sind ohne mich aufgebrochen. Dieser Aravis sieht das ganz ähnlich. Aber Bree würde das nicht tun. Bestimmt nicht – oder vielleicht doch?

Aber in bezug auf Aravis täuschte sich Shasta ganz gewaltig. Aravis war stolz, und sie war wohl auch ein wenig überheblich, aber sie war treu wie Gold und hätte nie einen Gefährten im Stich gelassen.

Jetzt, wo Shasta wußte, daß er die Nacht allein hier verbringen mußte, gefiel ihm dieser Ort immer weniger. Die riesigen, unbeweglichen Steingestalten sahen sehr ungemütlich aus. Er hatte sich die ganze Zeit über bemüht, nicht an Dämonen zu denken, aber jetzt gelang ihm das nicht mehr.

„Hilfe!“ schrie er plötzlich, denn in diesem Augenblick spürte er, wie etwas sein Bein berührte. Shasta war so entsetzt, daß er sich im ersten Moment nicht einmal rühren konnte. Im zweiten Moment tat er etwas sehr Vernünftiges. Er sah sich um. Und dann zersprang ihm vor Erleichterung fast das Herz. Es war nur eine Katze, die ihn da berührt hatte.

Es war zu dunkel, und Shasta konnte sie nicht genau sehen. Ihm fiel nur auf, daß sie groß war und einen majestätischen Eindruck machte. Sie sah aus, als hätte sie lange Jahre ganz allein zwischen den Gräbern verbracht. Ihre Augen sahen so aus, als wäre sie im Besitz von Geheimnissen, die sie nicht preisgeben wollte.

„Miezekatze“, sagte Shasta. „Ich nehme an, du bist keine sprechende Katze – oder etwa doch?“

Die Katze schaute ihn noch durchdringender an als zuvor. Dann setzte sie sich in Bewegung. Shasta ging hinterher. Sie führte ihn zwischen den Gräbern hindurch und hinaus in die Wüste. Dort setzte sie sich, den Schwanz um die Füße gerollt, kerzengerade hin, das Gesicht zur Wüste gewandt, in die Richtung, in der Narnia und der Norden lagen. Sie saß so regungslos, als hielte sie Ausschau nach einem Feind. Shasta legte sich neben sie, schmiegte sich mit dem Rücken an sie und wandte das Gesicht zu den Gräbern. Schon bald schlummerte er ein, doch selbst in seinen Träumen sorgte er sich noch, was wohl mit Bree, Aravis und Hwin geschehen sein mochte.

Plötzlich ließ ihn ein fremdartiger Laut hochfahren. Zugleich sah er, daß die Katze verschwunden war. Das erschreckte ihn noch mehr. Aber er schloß die Augen wieder und blieb ganz still liegen. Er wußte, wenn er sich aufsetzte und die Gräber und die Einsamkeit sah, würde seine Angst noch größer. Aber dann hörte er es wieder – es war ein rauher, durchdringender Schrei, der aus der Wüste kam. Jetzt setzte er sich auf und öffnete die Augen.

Der Mond schien strahlend hell. Die Gräber waren viel größer und lagen viel näher, als er gedacht hatte. Jetzt im Mondlicht waren sie ganz grau. Sie wirkten wie riesige Menschen, die ihre Köpfe und Gesichter unter einer grauen Robe verhüllten. Aber der Schrei war aus der anderen Richtung, von der Wüste her, gekommen. Shasta wandte den Gräbern den Rücken zu und schaute auf die weite Sandfläche hinaus. Wieder erklang der wilde Schrei.

Hoffentlich nicht schon wieder Löwen, dachte er. Es klang eigentlich gar nicht wie das Gebrüll der Löwen, das er in jener Nacht gehört hatte, als sie auf Hwin und Aravis gestoßen waren. Es waren die Schreie eines Schakals. Aber das wußte Shasta nicht.

Die Schreie wiederholten sich immer öfter und immer lauter. Es ist nicht nur einer – was immer es auch sein mag, dachte Shasta. Und sie kommen näher.

Vielleicht wäre es vernünftiger, zwischen den Gräbern hindurch hinunter zum Fluß und zu den Häusern zu gehen? Dort wagten sich wilde Tiere vermutlich nicht hin. Aber da waren ja die Dämonen ... Vielleicht war das ja lächerlich, aber lieber nahm es Shasta mit den wilden Tieren auf. Doch schließlich, als die Schreie immer näher und näher kamen, überlegte er es sich anders.

Er wollte gerade losrennen, als zwischen ihm und der Wüste plötzlich ein riesiges Tier auftauchte. Dahinter stand der Mond, und so wirkte es kohlrabenschwarz. Shasta wußte nicht, was für ein Tier das war. Er sah nur, daß es einen riesigen, struppigen Kopf und vier Beine hatte. Es schien Shasta nicht entdeckt zu haben, denn es blieb unvermittelt stehen und wandte den Kopf zur Wüste. Dann brüllte es, daß es aus den Gräbern widerhallte und der Sand unter Shastas Füßen zu erbeben schien. Die Schreie der anderen Tiere verstummten, und Shasta vermeinte ein leises Wegtapsen zu hören. Nun wandte sich das riesige Tier zu Shasta und blickte ihn an.

Es ist ein Löwe. Ganz bestimmt ist es ein Löwe, dachte Shasta. Oooh ... Und er schloß fest die Augen und preßte die Zähne aufeinander.

Aber er spürte keine Zähne und keine Tatzen. Er merkte nur wie sich etwas Warmes zu seinen Füßen niederlegte. Und als er die Augen öffnete, sagte er zu sich: Ich will verdammt sein! Es ist längst nicht so groß, wie ich meinte! Es ist nur halb so groß! Nein, nicht einmal das! Meine Güte! Es ist nur die Katze!! Ich muß geträumt haben, als ich vorhin meinte, es sei so groß wie ein Pferd.

Ob er nun wirklich geträumt hatte oder nicht – was da zu seinen Füßen lag und ihn mit großen, grünen Augen ohne zu blinzeln anstarrte und ihn völlig verwirrte, war die Katze. Immerhin war es die größte Katze, die er jemals gesehen hatte.

„O Mieze!“ keuchte Shasta. „Ich bin so froh, daß du wieder da bist. Ich hatte so schreckliche Träume.“ Und sofort legte er sich wieder Rücken an Rücken mit der Katze, so wie zuvor, bei Einbruch der Dunkelheit. Er spürte, wie sich die Wärme des Katzenkörpers in seinem ganzen Körper ausbreitete.

Als er am nächsten Morgen erwachte, war die Katze verschwunden. Die Sonne war schon aufgegangen, und der Sand war heiß. Shasta, der furchtbar durstig war, setzte sich auf und rieb sich die Augen. Die Wüste war blendend weiß, und abgesehen von dem leisen Murmeln, das von der Stadt herüberklang, war alles still. Wenn er den Kopf ein wenig nach Westen wandte, damit ihm nicht die Sonne in die Augen fiel, konnte er jenseits der Wüste so klar und deutlich die Berge sehen, als wären sie nur einen Steinwurf entfernt. Eine blaue, zweigeteilte Spitze fiel ihm besonders auf. Das mußte der Berg Pire sein. Nach dem, was der Rabe gesagt hat, ist das die Richtung, die wir einschlagen müssen, dachte er. Das will ich mir gleich markieren, damit wir keine Zeit verlieren, wenn die anderen auftauchen. Also zeichnete er mit dem Fuß einen deutlichen Strich in den Sand, der genau auf den Berg Pire wies.

Nun mußte er sich erst einmal etwas zu trinken und zu essen besorgen. Shasta trottete zwischen den Gräbern hindurch. Jetzt sahen sie ganz normal aus, und er fragte sich warum er jemals Angst davor gehabt hatte. Dann ging er hinunter zu den Gärten am Fluß. Ein paar Leute waren unterwegs, aber es waren nicht sehr viele, denn die Stadttore standen schon seit Stunden offen, und die meisten waren schon früh morgens angekommen und in der Stadt verschwunden. So fiel es Shasta nicht schwer, einen „Beutezug“ zu starten, wie Bree es nannte. Dafür mußte er allerdings erst eine Gartenmauer überklettern. Er kam mit drei Orangen, einer Melone, ein paar Feigen und einem Granatapfel zurück. Danach ging er ein Stück weit von der Brücke entfernt hinunter zum Flußufer. Dort trank er sich satt. Das Wasser war so angenehm, daß er seine schmutzigen Kleider auszog und ein Bad nahm. Shasta hatte ja sein ganzes Leben am Meer verbracht, und so konnte er schon schwimmen, als er kaum noch richtig gehen konnte. Als er aus dem Wasser kam, legte er sich ins Gras und schaute über das Wasser hinweg auf die prächtige, wehrhafte Stadt Tashbaan hinüber. Doch nun fielen ihm auch wieder die Gefahren ein, die in dieser Stadt lauerten. Plötzlich kam ihm der Gedanke, die anderen könnten vielleicht in der Zwischenzeit bei den Gräbern angekommen sein. Und dann sind sie höchstwahrscheinlich ohne mich weitergezogen, dachte er. In Windeseile zog er sich an und rannte so schnell zurück, daß er völlig verschwitzt und durstig bei den Gräbern ankam. Das erfrischende Bad war umsonst gewesen.

Wie das meistens so ist, wenn man allein auf jemanden wartet, schien dieser Tag nicht enden zu wollen. Shasta hatte natürlich viel zu überlegen, aber wenn man mutterseelenallein dasitzt und nachdenkt, vergeht die Zeit überhaupt nicht Die Narnianen und vor allem Corin spukten ihm dauernd im Kopf herum. Was mochte wohl geschehen sein, als sie entdeckt hatten, daß der Junge auf dem Sofa, der ihre geheimsten Pläne mit angehört hatte, gar nicht Corin war? Wenn er daran dachte, daß ihn all diese netten Leute für einen Verräter hielten, wurde ihm ganz mulmig.

Aber als die Sonne langsam zum Zenit wanderte und sich dann allmählich nach Westen senkte, als keiner kam und als überhaupt nichts passierte, da bekam er es mit der Angst. Und jetzt fiel ihm auch ein, daß sie nicht vereinbart hatten, wie lange sie bei den Gräbern aufeinander warten wollten. Er konnte ja schließlich nicht ewig hierbleiben! Bald würde es wieder dunkel werden, und dann erwartete ihn wieder eine Nacht wie die letzte. Dutzende von Plänen gingen ihm im Kopf herum, doch keiner taugte etwas. Zuletzt entschloß er sich für den unangenehmsten Plan von allen. Er wollte bis zum Einbruch der Dunkelheit warten und dann zum Fluß hinuntergehen und so viele Melonen stehlen, wie er nur tragen konnte. Dann wollte er sich allein auf den Weg zum Berg Pire machen und sich dabei auf den Richtungspfeil verlassen, den er heute morgen in den Sand gezeichnet hatte. Es war ein verrückter Einfall, und wenn er so viele Bücher über Reisen durch die Wüste gelesen hätte wie ihr, wäre ihm das nie in den Sinn gekommen. Aber Shasta hatte noch kein einziges Buch gelesen.

Doch schließlich, noch bevor die Sonne unterging, passierte etwas. Shasta saß im Schatten eines Grabes, als er zwei Pferde auf sich zukommen sah. Sein Herz machte einen Satz, denn es waren tatsächlich Bree und Hwin. Doch gleich darauf sank ihm das Herz wieder. Aravis war nirgends zu sehen. Die Pferde wurden von einem fremden Mann geführt.

Er war bewaffnet und trug sehr schöne Kleider. Bree und Hwin sahen nicht mehr wie Packpferde aus – sie trugen jetzt wieder Sattel und Zaumzeug. Was das wohl bedeuten mochte? Es ist sicher eine Falle, dachte Shasta. Irgend jemand hat Aravis geschnappt. Man hat sie vielleicht gefoltert, und sie hat alles verraten. Sie wollen mich hervorlocken, und dann schnappen sie mich auch! Aber andererseits – wenn ich hierbleibe, dann verscherze ich mir vielleicht die einzige Gelegenheit, die anderen jemals zu treffen! Oh, wenn ich nur wüßte, was geschehen ist! Er versteckte sich hinter dem Grab, lugte alle paar Minuten dahinter hervor und zermarterte sich den Kopf, was er tun sollte.

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