Clive S. Lewis Der Ritt nach Narnia

1. Shasta macht sich auf den Weg

Dies ist eine Geschichte eines Abenteuers, das sich in Narnia und Kalormen und in den Ländern dazwischen zutrug, und zwar im Goldenen Zeitalter, als Peter Höchster König von Narnia war und sein Bruder und seine beiden Schwestern als König und Königinnen unter ihm regierten.

Ganz im Süden von Kalormen an einer kleinen Meeresbucht lebte in jenen Tagen ein armer Fischer namens Arashin. Bei ihm wohnte ein Junge, der ihn Vater nannte. Der Junge hieß Shasta. Fast jeden Morgen fuhr Arashin in seinem Boot hinaus und fischte. Am Nachmittag spannte er dann seinen Esel vor einen Karren, belud ihn mit Fisch und marschierte etwa eine Meile nach Süden ins Dorf, um dort den Fisch zu verkaufen. Hatte er gut verkauft, kam er immer recht gut gelaunt nach Hause und ließ Shasta in Ruhe. Hatte er aber schlecht verkauft, dann schimpfte er mit Shasta und schlug ihn vielleicht auch. Grund zum Schimpfen fand er immer, denn Shasta hatte viel zu tun. Er mußte die Netze flicken und waschen, Abendessen kochen und die Hütte putzen, in der die beiden wohnten.

Die Gegend im Süden der Hütte interessierte Shasta überhaupt nicht, denn er war mit Arashin ein- oder zweimal im Dorf gewesen und wußte, daß es dort nichts Besonderes zu sehen gab. Im Dorf traf man nur andere Männer, die genauso waren wie sein Vater – Männer mit langen, schmutzigen Gewändern und hölzernen, an der großen Zehe nach oben gebogenen Schuhen, bärtig und mit einem Turban auf dem Kopf. Sie unterhielten sich mit schleppender Stimme über Sachen, die Shasta schrecklich langweilig fand. Hingegen interessierte Shasta alles, was im Norden lag, sehr. Dort ging nämlich nie einer hin. Auch er selbst durfte es nicht. Wenn er ganz allein draußen saß und die Netze flickte, schaute er oft sehnsüchtig nach Norden. Doch außer einem grasbewachsenen Hügel mit einem gradlinig verlaufenden Kamm, dem dahinterliegenden Himmel und vielleicht ein paar umherfliegenden Vögeln war nichts zu sehen.

Manchmal, wenn Arashin zugegen war, fragte Shasta: „Mein Vater, was liegt hinter jenem Hügel?“ War der Fischer schlecht gelaunt, knuffte er Shasta hinter die Ohren und befahl ihm, sich um seine Arbeit zu kümmern. War er dagegen friedlich gestimmt, dann sagte er: „Mein Sohn, gestatte es deinem Geist nicht, sich von unnützen Fragen ablenken zu lassen. Denn einer der Poeten hat gesagt: ‚Vollendete Konzentration auf die Arbeit ist die Wurzel des Reichtums, aber jene, die müßige Fragen stellen, steuern das Schiff der Torheit auf den Felsen der Armut zu.‘“

Für Shasta lag hinter dem Hügel ein köstliches Geheimnis, das sein Vater vor ihm verbarg. Doch in Wirklichkeit redete der Fischer so, weil er nicht wußte, was im Norden lag. Es interessierte ihn auch nicht. Er war ein sehr praktisch veranlagter Mann.

Eines Tages kam aus dem Süden ein Fremder, und dieser Fremde schaute ganz anders aus als alle Männer, die Shasta jemals zuvor gesehen hatte. Er ritt auf einem kräftigen Schecken mit fliegender Mähne und fliegendem Schweif, und Steigbügel und Zaumzeug waren mit Silber beschlagen. Der Fremde war mit einem Kettenhemd bekleidet, und mitten aus seinem seidenen Turban ragte die Spitze eines Helms hervor. An seiner Seite hing ein Krummsäbel, auf dem Rücken trug er einen runden, mit Messingnieten beschlagenen Schild, und in seiner Rechten hielt er eine Lanze. Er war dunkelhäutig. Doch das überraschte Shasta nicht, denn das ist bei allen Leuten in Kalormen der Fall. Was ihn aber überraschte, war der rote, gelockte und mit duftenden Ölen gesalbte Bart des Mannes. Arashin sah an dem goldenen Ring, den der Fremde an seinem bloßen Arm trug, daß er ein Tarkaan – also ein mächtiger Herr – sein mußte. Arashin warf sich auf die Knie und verbeugte sich, daß sein Bart die Erde berührte. Dabei bedeutete er Shasta, es ihm gleichzutun.

Der Fremde verlangte Unterkunft für die Nacht, was ihm der Fischer nicht abzuschlagen wagte. Obwohl sie dem Fremden das Beste dessen, was sie hatten, zum Abendessen vorsetzten, hielt dieser nicht viel davon. Wie immer, wenn der Fischer Besuch hatte, bekam Shasta ein Stück Brot und wurde aus der Hütte gejagt. Er schlief dann gewöhnlich bei dem Esel in dem kleinen strohgedeckten Stall. Aber zum Schlafen war es noch viel zu früh, und so setzte sich Shasta vor der hölzernen Hüttenwand nieder und legte sein Ohr an eine Ritze. Er wollte hören, worüber die Erwachsenen sprachen.

„Nun denn, mein Gastgeber“, sagte der Tarkaan, „mir steht der Sinn danach, deinen Jungen zu kaufen.“

„Mein Herr“, antwortete der Fischer (und Shasta vermeinte, an der schmeichlerischen Stimme ablesen zu können, welche Gier jetzt in Arashins Augen lag), „auch der höchste Preis könnte Euren Diener – so arm er auch sein mag – nicht dazu bringen, sein einziges Kind, sein eigen Fleisch und Blut, als Sklaven zu verkaufen. Hat nicht einer der Poeten gesagt: ‚Natürliche Zuneigung ist stärker als Suppe, und Nachkommen sind wertvoller als Edelsteine‘?“

„So ist es“, entgegnete der Gast ungerührt. „Aber ein anderer Poet hat gesagt: ‚Jener, der versucht, den Ehrwürdigen zu täuschen, ist im Begriff, seinen Rücken für die Peitsche zu entblößen.‘ Belade deine alten Lippen nicht mit Lügen. Dieser Junge ist nicht dein Sohn, denn deine Wangen sind so dunkel wie die meinen. Der Junge hingegen ist blond und hellhäutig, wie die verwünschten, aber schöngesichtigen Barbaren, die weit im Norden leben.“

„Wie zutreffend ist doch das Poetenwort“, antwortete der Fischer, „daß das Auge der Weisheit jeden Widerstand überwindet. Wisset denn, o mein hoher Gast, daß ich aufgrund meiner großen Armut nie geheiratet habe und kein Kind mein eigen nennen darf. Aber im selben Jahr, in dem der Tisroc – möge er ewig leben – seine erhabene und gütige Herrschaft antrat, in einer Nacht des vollen Mondes, gefiel es den Göttern, mir den Schlaf zu rauben. So erhob ich mich von meinem Lager in dieser elenden Hütte und begab mich zum Strand, um das Wasser und den Mond zu betrachten und die frische Luft zu atmen. Da hörte ich plötzlich ein Geräusch, als näherte sich ein Boot über das Wasser her. Ein gedämpfter Schrei erklang. Kurz darauf brachte die Flut ein kleines Boot an Land, in dem sich ein von Hunger und Durst ausgemergelter Mann befand, der gerade erst verschieden sein mußte, denn er war noch warm. Des weiteren enthielt es eine leere Wasserhaut und ein Kind, das noch atmete. Ohne Zweifel, sagte ich mir, sind diese Unglücklichen dem Untergang eines großen Schiffes entronnen, doch durch die wunderbare Fügung der Götter hat der Mann gehungert, um das Kind am Leben zu erhalten. In Sichtweite des Landes hat er dann den Tod gefunden. Da ich wußte, daß die Götter es nie versäumen, jene zu belohnen, die sich um die Elenden mühen, und von Mitleid ergriffen, denn Euer Diener ist ein weichherziger Mann ... “

„All diese unnützen Worte zu deinem Lob kannst du dir sparen“, unterbrach ihn der Tarkaan. „Es genügt mir zu wissen, daß du den Jungen zu dir genommen hast – und daß er dir, wie jeder sehen kann, sein täglich Brot durch seine Arbeit zehnmal vergilt. Nun sag mir, welchen Preis du für ihn haben willst, denn ich bin deiner Geschwätzigkeit müde.“

„Wie Ihr selbst in Eurer Weisheit gesagt habt“, entgegnete Arashin, „ist die Arbeit des Jungen von unschätzbarem Wert für mich. Das muß bei der Festlegung des Preises berücksichtigt werden. Denn wenn ich den Jungen verkaufe, muß ich zweifellos einen anderen kaufen oder in meine Dienste nehmen, damit er die Arbeit des Jungen verrichtet.“

„Ich gebe dir fünfzehn Kreszent“, sagte der Tarkaan.

„Fünfzehn!“ winselte Arashin. „Fünfzehn! Für den Segen meines Alters? Für meine Augenweide? Habt Respekt vor meinem grauen Bart, auch wenn Ihr ein Tarkaan seid! Mein Preis ist siebzig.“

An diesem Punkt stand Shasta auf und schlich sich auf Zehenspitzen fort. Er hatte genug gehört, denn er hatte oft gelauscht, wenn die Männer im Dorf feilschten. Er wußte, wie das ablief. Er war ziemlich sicher, daß ihn Arashin schließlich für einiges mehr als fünfzehn und einiges weniger als siebzig Kreszent verkaufen würde. Aber sicher dauerte es stundenlang, bis er sich mit dem Tarkaan geeinigt hatte.

Shasta ging auf die Wiese vor der Hütte. Er wollte allein sein, um Klarheit in seinen Kopf zu bekommen. Zum einen war sein jetziges Leben kaum besser als das eines Sklaven. Vielleicht behandelte ihn der mächtige Fremde besser als Arashin. Zum zweiten war er ganz aufgeregt über diese Geschichte, daß ihn Arashin in einem Boot gefunden hatte. Gleichzeitig verspürte er Erleichterung. Er hatte sich immer wieder vergeblich bemüht, den Fischer zu lieben. Er wußte, daß ein Junge seinen Vater eigentlich lieben mußte. Und nun stellte sich heraus, daß er mit dem Fischer gar nicht verwandt war. Damit war eine große Last von seiner Seele genommen. Potzblitz! Ich könnte ja alles mögliche sein! dachte er. Vielleicht bin ich der Sohn eines Tarkaan – oder der Sohn des Tisroc (möge er ewig leben) – oder der eines Gottes!

Rasch senkte sich die Dämmerung herab. Ein oder zwei Sterne standen schon am Himmel, aber im Westen lag noch der letzte Widerschein des Sonnenuntergangs. Ganz in der Nähe graste das lose an einen Eisenring am Eselstall angebundene Pferd des Fremden. Shasta schlenderte hinüber und tätschelte es am Hals. Das Pferd achtete nicht auf Shasta und fuhr fort, Gras zu rupfen.

Eben kam Shasta noch ein Gedanke. „Wenn ich nur wüßte, was für ein Mann dieser Tarkaan ist“, sagte er laut. „Wie schön wäre es doch, wenn er ein guter Mann wäre. Manche Sklaven im Haus eines mächtigen Herrn haben so gut wie gar nichts zu tun. Sie tragen wunderschöne Kleider und essen jeden Tag Fleisch. Vielleicht nimmt er mich in den Krieg mit, und ich rette ihm in einer Schlacht das Leben. Und dann läßt er mich frei, nimmt mich an Sohnes Statt an und schenkt mir einen Palast, einen Streitwagen und eine Rüstung. Aber geradeso gut könnte er auch ein schrecklicher und grausamer Mann sein. Vielleicht schickt er mich in Ketten auf die Felder zur Arbeit. Wenn ich nur wüßte, wie er ist. Aber woher soll ich das erfahren? Ich wette, sein Pferd weiß es.“

Das Pferd hatte den Kopf gehoben. Shasta streichelte seine samtweiche Nase und sagte: „Wenn du nur reden könntest, Alterchen.“

Und dann dachte er einen Augenblick lang, er müsse träumen, denn mit leiser, aber ganz klarer Stimme sagte das Pferd: „Aber das kann ich.“

Shasta starrte in die riesigen Pferdeaugen. Seine eigenen Augen wurden vor Staunen fast genauso groß.

„Aber wo um alles in der Welt hast du bloß sprechen gelernt?“ fragte er.

„Pst! Nicht so laut!“ entgegnete das Pferd. „Dort, wo ich herkomme, können fast alle Tiere sprechen.“

„Wo ist das?“ wollte Shasta wissen.

„In Narnia“, antwortete das Pferd. „Im glücklichen Land Narnia – dem Land der Heidekrauthöhen und der Thymianebenen, dem Land der vielen Flüsse, der rauschenden Schluchten, der bemoosten Höhlen und der tiefen Wälder, in denen die Hämmer der Zwerge hallen. O süße Luft Narnias! Eine Stunde in Narnia wiegt tausend Jahre in Kalormen auf.“ Das Pferd brach mit einem Wiehern ab, das sich wie ein Seufzer anhörte.

„Wie bist du denn hierher nach Kalormen gekommen?“ fragte Shasta.

„Ich wurde entführt“, erklärte das Pferd. „Oder gestohlen oder gefangengenommen – wie man es auch immer nennen mag. Ich war damals noch ein Fohlen. Meine Mutter hatte mich davor gewarnt, über die südlichen Hänge nach Archenland hinein und noch weiter zu streifen, aber ich wollte nicht hören. Bei der Mähne des Löwen – ich habe für meine Torheit bezahlt! All diese Jahre war ich ein Sklave der Menschen, mußte mein wahres Gesicht verbergen und so tun, als wäre ich stumm und geistlos wie die Pferde in Kalormen.“

„Warum hast du ihnen denn nicht gesagt, wer du bist?“

„So dumm bin ich nun auch wieder nicht. Wenn sie herausgefunden hätten, daß ich sprechen kann, hätten sie mich auf Jahrmärkten vorgeführt und mich noch viel besser bewacht. Damit wäre meine letzte Möglichkeit dahin gewesen, eines Tages zu fliehen.“

„Und warum ...“, begann Shasta, aber das Pferd unterbrach ihn.

„Wir dürfen die Zeit nicht mit unnützen Fragen verschwenden. Du willst wissen, was für ein Mensch mein Herr, der Tarkaan Anradin, ist. Nun – er ist böse. Mich behandelt er nicht allzu schlecht, weil ein Streitroß zu teuer ist, als daß man es mißhandelt. Aber an deiner Stelle würde ich lieber noch heute sterben, als morgen ein Sklave in seinem Haus zu sein.“

„Dann laufe ich lieber weg“, sagte Shasta, der bleich geworden war.

„Ja, das wäre am besten“, sagte das Pferd. „Aber warum läufst du nicht mit mir zusammen weg?“

„Willst du denn auch wegrennen?“ fragte Shasta.

„Ja, wenn du mit mir kommst“, antwortete das Pferd. „Das ist eine gute Gelegenheit für uns beide. Wenn ich nämlich ohne Reiter weglaufe, dann sagt jeder, der mich sieht: ‚Aha, ein entlaufenes Pferd‘ und macht sich daran, mich zu verfolgen, so schnell er nur kann. Mit einem Reiter könnte ich es vielleicht schaffen. Da wärst du mir also eine Hilfe. Andererseits kommst du auf deinen beiden Beinen auch nicht allzuweit, bevor sie dich einholen. Was für armselige Beine die Menschen doch haben! Wenn du aber auf mir sitzt, dann bist du schneller als jedes Pferd in diesem Land. Und da könnte ich dir helfen. Da fällt mir ein – ich nehme doch an, du kannst reiten?“

„O ja, natürlich“, entgegnete Shasta. „Zumindest habe ich schon auf dem Esel geritten.“

Worauf hast du geritten?“ gab das Pferd angewidert zurück. Das war es zumindest, was das Pferd hatte sagen wollen. In Wirklichkeit klang es eher wie ein Wiehern: „... geri-hi-hi-hi-hi.“ Sprechende Pferde fallen immer ein wenig in die normale Pferdesprache zurück, wenn sie ärgerlich sind.

„In anderen Worten“, fuhr es fort, „du kannst also nicht reiten. Das ist ein großer Nachteil. Ich muß es dir unterwegs beibringen. Kannst du wenigstens fallen, wenn du schon nicht reiten kannst?“

„Das kann doch wohl jeder, nehme ich an“, sagte Shasta.

„Ich meine – kannst du herunterfallen und dann ohne eine Träne zu vergießen wieder aufsitzen? Nur um dann gleich wieder herunterzufallen? Und all das, ohne Angst vor dem Herunterfallen zu bekommen?“

„Ich – ich will es versuchen“, sagte Shasta.

„Armes kleines Vieh“, sagte das Pferd etwas freundlicher. „Ich habe vergessen, daß du ja noch ein Fohlen bist. Wir werden mit der Zeit schon noch einen guten Reiter aus dir machen. So – wir dürfen erst aufbrechen, wenn die beiden in der Hütte eingeschlafen sind. In der Zwischenzeit können wir Pläne schmieden. Mein Tarkaan ist auf dem Weg nach Norden in die große Stadt Tashbaan, zum Hof des Tisroc ... “

„Oje“, warf Shasta erschrocken ein. „Müßtest du nicht sagen ‚Möge er ewig leben‘?“

„Warum denn?“ wollte das Pferd wissen. „Ich bin ein freier Narniane. Warum soll ich reden wie die Sklaven und die Narren? Ich will nicht, daß er ewig lebt, und ich weiß auch, daß er nicht ewig leben wird, ob ich das nun will oder nicht. Außerdem sehe ich, daß auch du aus dem freien Norden stammst. Also sollten wir beide dieses südliche Geschwätz seinlassen! Und nun zu unserem Plan. Wie ich schon sagte, ist mein Mensch auf dem Weg nach Tashbaan im Norden.“

„Bedeutet das, wir sollten besser nach Süden reiten?“

„Ich glaube nicht“, entgegnete das Pferd. „Weißt du, er meint ja, ich sei stumm und ohne Verstand, wie seine anderen Pferde. Wenn ich das wirklich wäre, dann liefe ich nach Hause zu meinem Stall und zu meinem Futtertrog, zurück zu seinem Palast, der zwei Tagemärsche weit von hier im Süden liegt. Dort wird er mich suchen. Er ließe es sich nie träumen, ich könnte mich allein nach Norden aufmachen. Sowieso wird er vermutlich denken, irgend jemand, der uns durch das letzte Dorf reiten sah, sei uns hierher gefolgt, um mich zu stehlen.“

„Hurra!“ rief Shasta. „Dann gehen wir nach Norden. Dort wollte ich immer schon hin.“

„Natürlich!“ sagte das Pferd. „Das liegt an dem Blut, das in deinen Adern fließt. Ich bin sicher, du bist von nordischem Geblüt. Aber nicht zu laut! Ich hoffe, sie schlafen bald ein.“

„Ich schleiche mich hinein und sehe nach“, schlug Shasta vor.

„Gute Idee“, sagte das Pferd. „Aber paß auf, daß du nicht erwischt wirst.“

Es war inzwischen fast dunkel geworden. Abgesehen von dem Rauschen der Wellen am Strand war alles still. Doch die Wellen hörte Shasta kaum noch, denn diesen Klang hatte er Tag und Nacht in den Ohren gehabt, solange er zurückdenken konnte. Die Hütte war jetzt stockdunkel. Vor der Hütte war auch nicht der kleinste Laut zu hören. Aber als Shasta um die Hütte herumging zum anderen Fenster, da hörte er das vertraute quieksige Schnarchen des alten Fischers. Der Gedanke, daß er dieses Schnarchen vielleicht nie mehr hören würde, kam ihm komisch vor. Shasta verhielt sich mucksmäuschen still. Er war ein klein wenig traurig, aber seine Freude überwog die Trauer. Er hielt den Atem an, schlich auf dem Gras hinüber zum Stall des Esels, tastete sich zu der Stelle vor, wo der Schlüssel versteckt lag, öffnete die Tür und fand schließlich den Sattel und das Zaumzeug des Pferdes, die dort über Nacht eingeschlossen waren. Er beugte sich vor und gab dem Esel einen Kuß auf die Nase. „Es tut mir leid, daß wir dich nicht mitnehmen können“, sagte er.

„Da bist du ja endlich wieder“, meinte das Pferd, als Shasta zurückkehrte. „Ich habe mich schon langsam gefragt, was dir wohl zugestoßen sein könnte.“

„Ich habe deine Sachen aus dem Stall geholt“, erklärte Shasta. „Kannst du mir jetzt sagen, wie man sie anlegt?“

Sehr vorsichtig, damit es nicht klirrte, machte sich Shasta an die Arbeit, während das Pferd solche Dinge sagte wie: „Schnall den Riemen etwas fester“ oder „Weiter unten findest du eine Schnalle“ oder „Diese Steigbügel mußt du noch ein gutes Stück kürzer binden“. Als alles fertig war, sagte es: „So. Aber die Zügel sind nur zum Schein da, benutzen darfst du sie nicht. Binde sie am Sattelbaum fest: ganz locker, damit ich mit meinem Kopf tun kann, was ich will. Und denk dran – du darfst sie nicht berühren!“

„Wofür sind sie dann gut?“ wollte Shasta wissen.

„Gewöhnlich werden die Zügel benutzt, um mich damit zu lenken“, entgegnete das Pferd. „Aber da ich vorhabe, auf dieser Reise das Lenken selbst zu besorgen, behältst du deine Hände besser bei dir. Und dann noch etwas. Es geht nicht an, daß du dich an meiner Mähne festklammerst.“

„Aber woran soll ich mich denn festhalten, wenn ich weder die Zügel noch deine Mähne anfassen darf?“ fragte Shasta.

„Du hältst dich mit den Knien fest“, erklärte das Pferd. „Das ist das Geheimnis eines guten Reiters. Du kannst dich mit deinen Knien an meinen Körper klammern, sosehr du willst. Setz dich aufrecht, so kerzengerade wie ein Stock, die Ellbogen eng an den Körper gepreßt. Übrigens – was hast du mit den Sporen gemacht?“

„Ich habe sie an meinen Fersen befestigt“, sagte Shasta.

„Dann kannst du sie gleich wieder abnehmen und in die Satteltaschen stecken. Vielleicht können wir sie in Tashbaan verkaufen. Fertig? Ich hoffe doch, du kommst hinauf, wie?“

„Oh! Du bist so schrecklich hoch!“ keuchte Shasta nach seinem ersten erfolglosen Versuch.

„Ich bin ein Pferd, das ist alles“, war die Antwort. „Man könnte meinen, ich sei ein Heuhaufen, so, wie du dich beim Hochklettern anstellst! Na also, das war schon besser. Jetzt setz dich aufrecht und denk dran, was ich dir über deine Knie gesagt habe. Es ist schon komisch, wenn man sich überlegt, daß auf mir, der ich Kavallerieattacken angeführt und Rennen gewonnen habe, ein solcher Kartoffelsack sitzt wie du. Aber egal – los geht’s!“ Das Pferd kicherte, aber nicht unfreundlich.

Dann begann es vorsichtig den nächtlichen Ritt. Zuerst ging es von der Hütte des Fischers aus nach Süden zu dem kleinen Fluß, der dort ins Meer mündete. Das Pferd achtete sorgsam darauf, im Schlamm ein paar deutliche Hufabdrücke zu hinterlassen, die nach Süden zeigten. Aber sobald sie in der Mitte der Furt angekommen waren, wandte es sich flußaufwärts und platschte durch das Wasser ans nördliche Ufer. Dort suchte es sich eine schöne kiesige Stelle aus, auf der sich die Hufe nicht abdrückten, und kletterte heraus. Es trottete in Richtung Norden, bis die Hütte, der einzelne Baum, der Eselsstall und die kleine Bucht – ja alles, was Shasta jemals gekannt hatte – von der grauen Dunkelheit dieser Sommernacht verschluckt worden waren. Es stapfte aufwärts, und bald standen sie auf der Kuppe des Hügels, der für Shasta immer die Grenze seiner Welt gewesen war. Trotz der Dunkelheit konnte er erkennen, daß offenes, grasbewachsenes Land vor ihnen lag – endlos, wild, einsam und frei.

„Oho!“ bemerkte das Pferd. „Eine schöne Gegend für einen Galopp, was?“

„Oh, bloß nicht!“ protestierte Shasta. „Noch nicht! Ich weiß nicht, wie man ... Bitte, Pferd. Ich weiß nicht, wie du heißt.“

„Breehy-hinny-brinny-hoohy-hah“, sagte das Pferd.

„Das werd’ ich niemals lernen“, seufzte Shasta. „Kann ich dich Bree nennen?“

„Na ja, wenn das alles ist, was du fertigbringst. Mir soll’s recht sein“, sagte das Pferd. „Und wie soll ich dich nennen?“

„Ich heiße Shasta.“

„Hm“, entgegnete Bree. „Also das ist ein Name, der wirklich schwer auszusprechen ist. Aber jetzt zum Galopp. Er ist viel einfacher als der Trott, wenn du ihn erst einmal beherrschst, denn dabei brauchst du nicht auf und ab zu federn. Klammre dich mit den Knien fest, und schau immer geradeaus zwischen meinen Ohren hindurch. Sieh nicht nach unten. Wenn du das Gefühl hast, du müßtest gleich fallen, dann preßt du die Knie noch fester zusammen und setzt dich aufrechter. Bist du bereit? So – auf geht’s nach Narnia und in den Norden!“

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