Fünf

»Konventionelle Bodenartillerie feuert aus Positionen dreißig Kilometer östlich und zwanzig Kilometer südlich auf das Lager!«

Geary markierte weitere Ziele und feuerte Steine auf sie ab. Sein Hauptdisplay glitt zur Seite und zeigte ihm die Lage in einem großen Bereich auf dem Planeten unter ihnen ebenso an wie jene orbitalen Positionen, die der Flotte gefährlich werden konnten. Auf der anderen Seite fand sich die Draufsicht auf das Arbeitslager. Symbole bewegten sich dort hin und her, um anzuzeigen, wo Freund und Feind sich gerade aufhielten. Direkt vor sich hatte Geary eine ganze Reihe von Fenstern geöffnet, die aus verschiedenen Blickwinkeln das Geschehen auf dem Planeten zeigten, das ihm von den Kameras in den Panzeranzügen der Marines übertragen wurde. Er musste sich selbst bremsen, zu sehr auf diese Bilder zu achten, da er sonst Gefahr lief, sich auf Ereignisse zu konzentrieren, die nur einen winzigen Ausschnitt betrafen. Auch wenn diese Bilder von den einzelnen Marines ihm ein gutes Gefühl vermitteln konnten, wie der Einsatz aus der Perspektive dieser Leute aussah, durfte er doch nicht den Überblick über die Flotte als Ganzes verlieren.

Im Augenblick war es allerdings schwer, überhaupt einen Überblick zu bekommen, ganz gleich welche Darstellung er sich ansah. Auf der Gesamtanzeige waren Marines-Züge und -Kompanien zu sehen, die kontinuierlich ins Innere des Lagers vorrückten. Ringsum flammten in rascher Folge Symbole für befreite Kriegsgefangene auf, sobald sie den Zugang zu einer weiteren Kaserne aufgeschossen und die Gefangenen herausgeholt hatten. In anderen Bereichen kamen die Marines nur langsam voran, da sie aus den umliegenden Gebäuden fast ohne Unterbrechung von Syndiks beschossen wurden. Evakuierungsshuttles landeten in der Mitte des Lagers, obwohl während des Landeanflugs immer wieder vereinzelt Schüsse auf sie abgefeuert wurden. Auf dem Landeplatz kamen immer mehr befreite Gefangene zusammen, die noch benommen wirkten, während sie zu den ersten wartenden Shuttles gebracht wurden. Der Kommando-Feed der Marines quoll vor Berichten und Warnungen regelrecht über.

»Shuttles Victor Eins und Victor Sieben durch Beschuss vom Planeten schwer beschädigt. Kehren zu den Basisschiffen zurück.«

»Erfasse Gebäude fünf eins eins! Getroffen!«

»Links sind sie auch. Kleine Gebäude Richtung null zwei eins und null zwei drei.«

»Minen! Wir sind in ein Feld geraten. Zwei Marines getroffen. Alle Einheiten auf Minen achten!«

»Kann nicht mal jemand was gegen diese verdammte Artillerie unternehmen?«

»Die Flotte kümmert sich drum. Bomben schlagen jetzt ein.«

»Feuern Sie auf den Bunker da!«

Desjani, die ebenfalls zuhörte und sich die übertragenen Bilder ansah, schüttelte schwach den Kopf. »Gewinnen wir?«

»Ich glaube schon.« Geary drehte sich um, als sich der Gefechtssystem-Wachhabende zu Wort meldete.

»Sir, hier gehen laufend Bitten von den Marines ein, Objekte zu bombardieren …«

»Alle Bitten, die Bombardements außerhalb der Sicherheitszone von hundert Metern rund um unsere Leute betreffen, sollten doch automatisch genehmigt werden«, gab Geary etwas gereizt zurück.

»Stimmt, Sir. Aber wir könnten etwas schneller auf sie reagieren, wenn sie zu hundert Prozent von den automatischen Systemen erledigt würden, so wie es auch der Fall ist, wenn wir gegen Schiffe kämpfen.«

Geary schüttelte den Kopf. »Lieutenant, wir könnten ein paar Sekunden Reaktionszeit gewinnen, wenn wir so vorgehen. Aber die Marines haben ausdrücklich darum gebeten, dass ein Besatzungsmitglied sich erst noch mit eigenen Augen davon überzeugt, dass die richtige Stelle anvisiert wird. Ich werde mich in diesem Fall nicht über einen solchen Wunsch der Marines hinwegsetzen.« Der Lieutenant schien über diese Antwort nicht sehr glücklich zu sein, also nahm sich Geary einen Moment Zeit, um zu erklären: »Wenn wir auf Kriegsschiffe der Syndiks treffen, dann bleibt uns gar keine andere Wahl, als das Abfeuern unserer Waffen komplett den Schiffssystemen zu überlassen. Es ist für einen Menschen körperlich unmöglich, bei den extremen Geschwindigkeiten der verschiedenen Objekte schnell genug zu reagieren. Aber auf dem Planeten da unten bewegen sich weder die Syndiks noch unsere Marines mit Beinahe-Lichtgeschwindigkeit, und da können wir es uns erlauben, einen Menschen zwischenzuschalten. Falls Sie Berichte empfangen, dass von der Bitte bis zum Bombardement zu viel Zeit vergeht, dann lassen Sie mich das wissen. Glauben Sie mir, die Marines werden die Ersten sein, von denen wir hören, wenn sie nicht zufrieden sind.«

»Ja, Sir.« Der Lieutenant, der nur ein wenig verlegen wirkte, widmete sich wieder seinen Aufgaben.

»Sie sind mit Lieutenants ziemlich nachsichtig«, stellte Desjani fest, ohne den Blick von ihrem Display abzuwenden.

»Ich war selber mal einer. Und Sie übrigens auch.« So wie Desjani war auch Geary fast völlig auf die Entwicklungen auf dem Planeten konzentriert, dennoch war er über alles froh, was die Anspannung ein wenig linderte. Er vermutete, dass sie ihm angemerkt hatte, wie angespannt er war, und dass sie versuchte, ihn mit ihrer Bemerkung abzulenken.

»Ich nicht«, widersprach sie. »Ich bin schon als Befehlshaber eines Schlachtkreuzers zur Welt gekommen.«

»Das muss aber für Ihre Mutter eine schmerzhafte Geburt gewesen sein.«

Sie grinste ihn an. »Mom ist hart im Nehmen, allerdings gefiel ihr die Ehrengarde im Kreißsaal nicht.« Schlagartig wurde sie ernst, da eine dringende Meldung über das Marines-Netz hereinkam.

»Die Dritte Kompanie sitzt fest!«

Geary tippte verschiedene Fenster an, bis er den Lieutenant gefunden hatte, der diese Einheit befehligte. Das Bild, das von dessen Kamera übertragen wurde, zeigte teilweise eingestürzte Wände, die unter dem Beschuss durch die Syndiks erzitterten und weiter in Trümmer gesprengt wurden. »Schwere Geschützstellungen und verborgene Bunker«, berichtete der Lieutenant weiter. »Wir müssen auf eine Art von Zitadellengebiet gestoßen sein. Wir werden von allen Seiten beschossen, und wir haben bereits erhebliche Verluste zu beklagen.«

Colonel Carabalis Stimme ertönte: »Können Sie sich schrittweise zur Lagermitte zurückziehen, Lieutenant?«

»Negativ, Colonel, negativ!« Das Bild verwischte, als eine Explosion erfolgte, die genug Wucht besaß, um einige Marines durch die Luft zu wirbeln. »Wir können uns nicht von der Stelle rühren, ohne sofort beschossen zu werden. Bitte um alles verfügbare Feuer von der Flotte!« Geary sah mit an, wie eine taktische Darstellung der Umgebung auf dem Display des Lieutenants aktiviert wurde, der daraufhin in rascher Folge rings um die Position seiner Marines der Dritten Kompanie etliche Ziele markierte. »Erbitte Unterstützung durch Bombardierung der folgenden Koordinaten. Feuer so schnell wie möglich eröffnen!«

»Sir«, meldete der Gefechtssystem-Wachhabende. »Wir haben eine weitere Bitte um Feuerschutz, aber die Ziele liegen innerhalb des Sicherheitsbereichs.«

»Wie weit innerhalb?« Geary las die Angaben und stieß schnaubend den Atem aus, als er die Entfernungen sah.

Während Geary noch die Zahlen auf sich wirken ließ, tauchte in einem neuen Fenster Colonel Carabalis Gesicht auf. »Captain Geary, meine Dritte Kompanie benötigt Unterstützung, und zwar sofort.«

»Colonel, die meisten angegebenen Ziele sind nur fünfzig Meter von Ihren Marines entfernt, einige sogar weniger als fünfundzwanzig.«

»Ich weiß, Captain Geary. Genau da hält sich der Feind auf.«

»Colonel, wir werfen Geschosse ab, aber ich kann Ihnen nicht garantieren, dass die nicht unsere eigenen Marines treffen werden!«

»Das wissen wir, Sir«, erklärte Carabali. »Der Lieutenant weiß das auch. Aber es ist nötig. Er ist vor Ort der ranghöchste Offizier. Er hat angegeben, dass diese Ziele zerstört werden müssen, auch wenn dadurch seine eigenen Leute gefährdet werden. Ich bitte darum, den Feuerbefehl möglichst schnell zu erteilen, Sir.«

Geary sah ihr tief in die Augen. Auch Carabali wusste um die Risiken, aber sie akzeptierte die Einschätzung ihres Commanders, der am Ort des Geschehens war. Als Flottenbefehlshaber würde er es nicht anders handhaben. »Gut, Colonel, Hilfe ist unterwegs.« Er wandte sich zu Desjani um. »Wie können wir auf der Stelle die Treffgenauigkeit der kinetischen Bomben erhöhen?«

Desjani spreizte die Hände. »Durch die Atmosphäre und den Müll hindurch, den wir bereits auf sie geworfen haben? Dazu muss das betreffende Schiff in einen möglichst niedrigen Orbit gehen, aber dabei wird es möglichem Beschuss vom Boden ausgesetzt.«

»Okay.« Ein Blick auf das Display ergab schnell den idealen Kandidaten. Ein Schlachtschiff verfügte über genügend Feuerkraft und war am ehesten in der Lage, Feindbeschuss zu überleben. »Warspite, begeben Sie sich in den niedrigstmöglichen Orbit und führen Sie schnellstens folgenden unterstützenden Beschuss durch.«

»Warspite verstanden. Wir sind unterwegs.«

»Sir, wir beobachten Flugzeuge, die auf dem Weg zum Gefangenenlager sind. Die Flugzeuge sind militärischen Typs, sie verwenden maximale Tarnfähigkeit.«

»Halten Sie sie auf«, befahl Geary.

Höllenspeere zuckten aus dem Orbit und bildeten ein Geflecht aus hochenergetischen Partikeln rund um die Syndik-Flugzeuge. Angesichts der vielen Allianz-Kriegsschiffe, die um den Planeten kreisten, hatten die Flugzeuge keine Chance. So schwer sie mit dem bloßen Auge auch zu erkennen waren, genügte es doch, dass ein Höllenspeer sie streifte. »Alle Flugzeuge werden als zerstört gemeldet. Die Warspite eröffnet das Feuer.«

Auf dem Bild, das vom Lieutenant der Dritten Kompanie übertragen wurde, konnte man sehen, wie Mauern weggesprengt wurde und der Boden anhaltend bebte, als Höllenspeere und kleinere kinetische Projektile einschlugen und ihre Ziele zerstörten. Der Feed des Lieutenants wurde schwächer, je länger das Bombardement anhielt, je dichter die aufsteigenden Staubwolken wurden und je mehr geladene Partikel die Luft um sie herum erfüllten. Schließlich war nur noch statisches Rauschen zu sehen und zu hören.

»Keine Verbindung mehr zur Dritten Kompanie«, rief der Komm-Wachhabende. »Die Luft ist voller störender Partikel, da kommt kein Signal mehr durch. Wir versuchen, die Verbindung wiederherzustellen, aber das dürfte wohl ein paar Minuten dauern.«

War da unten überhaupt noch jemand, mit dem man Kontakt aufnehmen konnte? Geary hatte den Gedanken gerade erst zu Ende formuliert, da meldete sich ein anderer Wachhabender zu Wort.

»Raketen werden aus der Syndik-Orbitaleinrichtung Alpha Sigma abgefeuert. Drei Flugkörper mit Nuklearsprengköpfen. Der Kurs führt zum Arbeitslager. Die Gefechtssysteme empfehlen, den Leichten Kreuzer Octave und die Zerstörer Shrapnel und Kris auf die Flugkörper auszurichten, um sie zu vernichten. Außerdem wird empfohlen, mit kinetischen Salven von der Vengeance die Abschussbasis zu zerstören.«

»Genehmigt. Führen Sie die Befehle aus.« Geary sah zu Rione. »Dann haben sie also doch Atombomben im Orbit.«

»Die drei Flugkörper sind womöglich nicht die Einzigen«, warnte sie ihn.

»Weitere Flugzeuge nähern sich dem Arbeitslager, allesamt militärischen Typs.«

»Abfangen«, befahl Geary knapp.

»Bodengestützte ballistische Mittelstreckenraketen werden gestartet. Flugbahn führt zum Arbeitslager. Gefechtssysteme empfehlen, die Raketen mit Höllenspeeren abzufangen. Die Relentless soll die Abschussbasis bombardieren.«

»Genehmigt.«

»Die Sechste Kompanie meldet, dass sie in einen mit Sprengfallen gespickten Bereich geraten ist. Etliche Opfer.« Ein Alarmsignal gellte los. »Die Warspite ist von einer planetaren Partikelstrahl-Batterie getroffen worden. Sie vollzieht Ausweichmanöver und bombardiert die Batterie. Die Warspite meldet, dass die Feuerunterstützung für die Dritte Kompanie abgeschlossen ist.«

Von der Kompanie war noch immer nichts zu hören.

»Mittelstreckenraketen und Abschussbasis zerstört. Die Octave hat zwei der Nuklearflugkörper zerstört, der dritte wurde von der Shrapnel abgeschossen. Die Warspite meldet, dass die Partikelstrahl-Batterie zerstört wurde. Geschätzte Zeit des Einschlags der kinetischen Geschosse in der Orbitalstation drei Minuten.«

Wieder tauchte Carabalis Gesicht auf. »Sir, wir haben zwei Konvois entdeckt, die sich dem Lager nähern. Durch die von den Bombardements aufgewirbelten Staubwolken haben wir sie bislang nicht sehen können.« Neben ihr öffnete sich ein weiteres Fenster, in dem die Konvois zu sehen waren. »Unsere Aufklärungsdrohnen, die unter den Staubwolken hindurchfliegen, haben bei beiden Konvois Uniformen und Waffen identifizieren können. Danach wurde eine Drohne abgeschossen.«

»Verstanden, Colonel. Wir kümmern uns um diese Konvois.« Geary leitete die Daten an das Gefechtssystem weiter, das ihm im nächsten Moment eine Feuerlösung anbot. Er genehmigte den Vorschlag, und gleich darauf wurden aus verschiedenen Kriegsschiffen der Allianz kinetische Geschosse abgeworfen. »Schön, dass die kinetischen Bomben so billig und so zahlreich vorhanden sind«, sagte er zu Desjani. Hatten sich so die Götter der Antike gefühlt, wenn sie Tod und Verderben auf die Menschen und ihre Bauwerke niedergehen ließen?

»Bomben schlagen auf der Syndik-Orbitaleinrichtung Alpha Sigma ein.«

Geary sah, wie ein Schwarm Rettungskapseln die dem Untergang geweihte Station verließ, dann rissen die kinetischen Bomben sie in Stücke, und nur Augenblicke später trieb an ihrer Stelle nur noch ein Trümmerfeld.

»Kontakt zur Dritten Kompanie wiederhergestellt.«

Das Bild, das nun wieder – wenn auch von Störungen begleitet – übertragen wurde, zeigte eine fast völlige Verwüstung. Als der Lieutenant sich zu Wort meldete, klang er verblüfft. »Feindbeschuss hat aufgehört.«

»Ziehen Sie sich sofort auf Route eins null fünf zurück. Ich schicke Ihnen Verstärkung«, befahl ihm Carabali.

»Colonel, unsere Toten …«

»Die holen wir später. Bringen Sie sich und Ihre Verwundeten in Sicherheit, sofort!«

»Verstanden, Colonel. Wir sind unterwegs.«

Unsere Toten. Ihre Verletzten. Geary rief die Statusanzeigen der Dritten Kompanie auf. Achtundneunzig Marines waren gelandet, einundsechzig von ihnen lebten noch, vierzig davon hatten in unterschiedlichem Maß Verletzungen erlitten.

Die Geschosse, die auf die beiden Konvois abgefeuert worden waren, erreichten ihr Ziel. Zwei Straßenabschnitte mitsamt umgebendem Gelände wurden in den Himmel geschleudert, als die Wucht der Allianz-Projektile das Zielgebiet zerfetzte.

»Sir«, meldete Carabali. »Wir haben Hinweise, dass die Dritte Kompanie auf ihrem Rückzug vom Feind verfolgt wird.«

»Danke, Colonel, wir kümmern uns darum.« Geary leitete die Koordinaten des Zielgebiets an die Warspite weiter. Nachdem er gesehen hatte, wie viele Marines bereits gefallen waren, verspürte er kein Interesse mehr, einem Feind gegenüber humanitäre Gesten zukommen zu lassen, der seine Leute tötete. »Machen Sie das Gebiet dem Erdboden gleich, Warspite

»Warspite verstanden. Das wird uns ein Vergnügen sein, Sir.«

Während die Warspite die Planetenoberfläche erneut unter Beschuss nahm, wandte sich Geary der Gesamtansicht zu. Das Gebiet rund um das Arbeitslager war in eine kochende Wüste aus Kratern und Staubwolken verwandelt worden. An anderen Stellen waren Krater zu erkennen, wo kinetische Salven Abschussbasen oder Geschützstellungen ausgelöscht hatten. Hier und da waren verwüstete Flächen zu sehen, verursacht von den Höllenspeeren, die auf die Syndik-Flugzeuge gerichtet gewesen waren, die aber auch alles andere in der Schusslinie Befindliche zerstört hatten. Teile der Stadt in unmittelbarer Nähe zum Arbeitslager standen in Flammen, doch es brannte auch in anderen Vierteln, und noch während Geary sich dieses Bild ansah, wurden durch eine gewaltige Explosion in einer der größten Städte auf dem Planeten gleich ganze Stadtviertel ausgelöscht. »Haben die sich das gerade selbst zugefügt?«, fragte er irritiert.

»Ja, entweder absichtlich oder durch einen Unfall«, bestätigte Desjani.

»Weitere Flugzeuge nähern sich.«

»Wenn es Militär ist, halten Sie sie auf. Jedes Militärflugzeug, das sich dem Lager nähert, ist abzuschießen.«

»Jawohl, Sir.«

Rione starrte bleich auf das Display. »Man sollte meinen, dass sie inzwischen gemerkt haben müssten, wie sinnlos jede Gegenwehr ist. Egal, was sie versuchen, alles wird von uns unterbunden, und in den meisten Fällen führt es auch noch zu zusätzlichen Zerstörungen auf der Oberfläche.«

»Wenn das Kommando- und Kontrollnetz noch immer so zerstückelt ist, wie es den Anschein hat, dann dürfte es da unten keinen Syndik geben, der einen Überblick über die gesamte Situation hat«, machte Geary ihr deutlich. »Wir wissen nicht mal, wer in diesen Einheiten die Befehlsgewalt hat. Ein paar von ihnen könnten eigenmächtig handeln. Oder sie befolgen den Dauerbefehl, sich gegen jede Streitmacht zur Wehr zu setzen, die den Planeten angreift.«

Sein Blick wanderte zu dem Fenster, das die Perspektive des Lieutenants der Dritten Kompanie zeigte. Je weiter diese Marines sich von dem Gebiet entfernten, das von der Warspite beschossen worden war, umso geringer wurden die Verwüstungen. Während Geary dem Geschehen dort folgte, wurde das Fenster auf einmal dunkel, einen Moment später kehrte es zurück und zeigte das gleiche Areal, allerdings aus einer anderen Perspektive. »Lieutenant Tillyer wurde getroffen«, sagte jemand. Der Text im Fenster identifizierte den neuen Sprecher als Sergeant Paratnam. Ein Gebäude in unmittelbarer Nähe stürzte ein, als die Marines das Feuer eröffneten. »Wir haben den Scharfschützen.«

»Verstanden«, erwiderte Carabali. »Ich sehe, Sie sind hundertfünfzig Meter von Angehörigen der Fünften Kompanie entfernt. Haben Sie sie auf Ihrem Display?«

»Ja, Colonel, ich habe sie.« Paratnam hörte sich sehr erleichtert an. »Wir machen uns auf den Weg dorthin.«

Geary betätigte eine Kontrolle und ließ sich die Lebensfunktionen der Marines der Dritten Kompanie anzeigen. Die von Lieutenant Tillyer standen alle auf null. »Hundertfünfzig Meter«, murmelte er.

»Sir?«, fragte Desjani.

»Ist doch eigenartig, nicht wahr? Bei einer Raumschlacht sind hundertfünfzig Meter eine zu geringe Entfernung, um sich darüber irgendwelche Gedanken zu machen. Bei 0,1 Licht legen wir diese Strecke im winzigsten Bruchteil einer Sekunde zurück. Für die Zielerfassung der Waffensysteme machen hundertfünfzig Meter den Unterschied zwischen einem Volltreffer und einem Fehlschuss aus. Und für einen Marine auf einem Planeten können hundertfünfzig Meter zwischen Leben und Tod entscheiden. Dieser Lieutenant geht das Risiko ein, bei unserem Feuer auf seine Position umzukommen. Er überlebt es und führt seine Einheit aus der Gefahrenzone, und dann, kurz bevor er sich in Sicherheit bringen kann, wird er getötet.«

Desjani schaute einen Moment lang zur Seite. »Die lebenden Sterne entscheiden über unser Schicksal. Es kommt einem oft willkürlich vor, aber es gibt immer einen tieferen Sinn.«

»Glauben Sie das wirklich?«

Ihre Blicke trafen sich, und Geary glaubte, in ihren Augen zu sehen, wie sich dort jeder Tod widerspiegelte, den Desjani in diesem Krieg miterlebt haben musste, jeder Verlust eines Freundes oder eines Angehörigen. »Würde ich das nicht tun«, erwiderte sie leise, »dann könnte ich nicht weitermachen.«

»Ja, ich verstehe.« Es war nicht das erste Mal, dass er sich vor Augen halten musste, dass all diese Menschen mit dem Krieg aufgewachsen waren. So wie schon ihre Eltern. Er konnte nicht annähernd den Schmerz nachvollziehen, den sie alle erdulden mussten, stets in dem Bewusstsein, dass kein Ende absehbar war und es nur immer neue Opfer gab.

»Das war aber nicht immer der Fall«, sagte sie und lächelte ihn traurig an. »Anfangs konnten Sie nicht mal kleinere Verluste hinnehmen. Heute können Sie das und sind in der Lage, gleich wieder nach vorn zu sehen. Aber ich konnte Ihre Traurigkeit spüren, als ich Ihre Reaktion auf den Verlust eines einzigen Schiffs sah. Ich wünschte, ich wäre in einer Zeit geboren, in der solche Unschuld noch möglich war.«

»Ich kann mich gar nicht erinnern, wann jemand das letzte Mal im Zusammenhang mit mir das Wort Unschuld benutzt hat. Da muss ich noch ein Ensign gewesen sein.« Geary atmete einmal tief durch. »Also gut, dann wollen wir diese Schlacht endlich hinter uns bringen und zusehen, dass wir so wenig Opfer wie möglich zu beklagen haben.«

Die Wachhabenden und die automatischen Gefechtssysteme würden ihn auf alles aufmerksam machen, was von Bedeutung war, dennoch warf Geary einen letzten prüfenden Blick auf die Gesamtansicht, ehe er sich wieder dem Geschehen im Lager zuwandte.

Ein Schwarm Menschen drängte sich inzwischen nahe dem Bereich in der Lagermitte, der freigehalten wurde, damit die Allianz-Shuttles dort landen und die befreiten Gefangenen an Bord nehmen konnten, um gleich darauf wieder zu starten. Von oben betrachtet bekam man den Eindruck, dass diese Evakuierung in aller Ruhe und völlig geordnet ablief. Dann rief Geary die Übertragung von der Kamera eines Marines auf, der die Rettung der Befreiten überwachte, und bekam ein viel chaotischeres Bild zu sehen. Der Himmel war von Rauch und Staubwolken verhangen, Leute rannten hierhin und dorthin, Shuttles landeten in aller Eile, nahmen hastig so viele Allianz-Angehörige an Bord, wie Platz fanden, und stiegen sofort wieder auf. Es dauerte ein paar Sekunden, dann erst wurde offensichtlich, dass hinter diesem scheinbaren Chaos ein ausgeklügeltes System steckte.

Die befreiten Offiziere hielten offenbar die übrigen Gefangenen in Gruppen zusammen, bis der Moment gekommen war, sie zum nächsten freien Shuttle zu bringen. Die Marines kümmerten sich um sichtlich desorientierte Gefangene, während sie immer wieder lautstark von allen verlangten, Disziplin zu wahren. Auf einer Seite entdeckte er Colonel Carabali, die neben einem Marines-Shuttle kauerte. Um sie herum standen mehrere Soldaten, die auf sie aufpassten, während sie sich wahrscheinlich mit den Bewegungen ihrer Einheiten befasste.

»Ich möchte wissen«, überlegte Desjani, »was die befreiten Gefangenen jetzt gerade denken. Ist ihnen klar, dass sie gerettet werden, oder meinen sie, der Weltuntergang sei gekommen?«

»Möglicherweise beides. Colonel Carabali, wenn Sie einen Moment erübrigen können, würde ich gern Ihre Einschätzung der Operation hören.«

Augenblicklich tauchte ihr Bild vor ihm auf. »Besser als befürchtet, Sir. Wir haben auf dem Weg zur Lagermitte zwar in fast jeder Einheit Verluste erlitten, aber nur die Dritte Kompanie hat es richtig schlimm erwischt. Offenbar sind sie in einen Bereich geraten, in dem sich die Syndiks besonders konzentriert aufgehalten haben. Die Evakuierung der Gefangenen verläuft reibungslos. Ich schätze, in vierzig Minuten ist auch der letzte Gefangene in einem Shuttle. Dann brauchen wir noch mal gut zwanzig Minuten, bis das letzte Marines-Shuttle abheben wird.«

»Danke, Colonel. Wir werden versuchen, Ihnen die Syndiks so lange vom Hals zu halten.«

Plötzlich stutzte Carabali, und erst nach ein paar Sekunden wurde Geary klar, dass sie nicht auf seine Äußerung reagiert hatte, sondern über einen anderen Kanal etwas hörte. »Sir, wir haben hier Wachleute und ihre Familien, die kapitulieren wollen, wenn sie im Gegenzug freies Geleit erhalten.«

»Familien?« Sein Magen verkrampfte sich, als er daran dachte, womit sie das Lager bombardiert hatten.

»Ja, Sir. Gesehen haben wir auch keine. Einen Moment, Sir.« Carabali drehte sich zur Seite und unterhielt sich kurz mit einigen befreiten Gefangenen, dann wandte sie sich wieder an Geary. »Wie ich höre, haben die Familien bislang außerhalb des Lagers gewohnt. Offenbar wurden sie ins Lager gebracht, um sie in Sicherheit zu bringen, nachdem die Kämpfe auf dem Planeten begonnen hatten.«

»Und dann fordern sie uns heraus, damit wir uns mit ihnen eine Schlacht liefern?«, rief Geary fassungslos.

»Richtig, Sir. Von den Gefangenen haben wir erfahren, dass es im nördlichen Teil des Lagers weitläufige unterirdische Lagerräume gibt. Sie vermuten, dass die Wachen dort ihre Familien untergebracht haben.«

Geary betrachtete die Darstellung des Lagers und stellte fest, dass der angesprochene nördliche Lagerbereich weitestgehend unversehrt geblieben war. »Den lebenden Sternen sei Dank, dass sie klug genug waren, sich in der Ecke nicht unseren Marines zu widersetzen. Was verstehen sie unter freiem Geleit? Wohin wollen sie?«

»Augenblick, Sir.« Wieder gab Carabali die Frage weiter, die dann an die Syndiks geleitet wurde. »Sie wollen den Planeten verlassen«, antwortete sie, als die Reaktion bei ihr eingetroffen war.

»Unmöglich.«

»Sie sagen, wenn sie hier bleiben müssen, dann ist das ihr Todesurteil. Die Aufständischen in der Stadt haben gefordert, dass sie ihnen die Kriegsgefangenen überlassen. Aber die Wachen haben sich geweigert, weil es keinen entsprechenden Befehl gibt. Sie behaupten, sie hätten die Aufständischen bis zu unserem Eintreffen daran gehindert, in das Lager vorzudringen, aber nachdem das nun weitestgehend zerschossen ist und sie so viele Verluste erlitten haben, glauben sie nicht, dass sie sich noch länger gegen die Aufständischen behaupten können.«

»Verdammt.« Geary schilderte Rione und Desjani, was er erfahren hatte. »Irgendwelche Vorschläge?«

»Wenn sie sich nicht gegen uns zur Wehr gesetzt hätten«, ereiferte sich Desjani, »dann wären sie auch in der Lage, sich weiter zu verteidigen, wenn wir dieses System längst verlassen haben. Außerdem können wir sie nicht mitnehmen. Keines unserer Schiffe ist auf so viele Gefangene eingestellt. Und ich möchte auch noch anmerken, dass wir ihnen keinen Gefallen schulden, nachdem sie sich alle Mühe gegeben haben, unsere Marines zu töten. Sie haben sich selbst in diese Lage gebracht.«

Rione wirkte unzufrieden und nickte dennoch zustimmend. »Im Moment wüsste ich nicht, wie wir diesen Leuten helfen könnten, Captain Geary.«

»Ja, aber wenn sie weiterkämpfen, verlieren wir umso mehr Leute.« Geary saß da und starrte eine Weile nachdenklich auf das Gebäude, während er nach möglichen Optionen suchte. Plötzlich kam ihm ein Gedanke, und er rief wieder Carabali. »Colonel, machen Sie ihnen folgendes Angebot: Die Wachen stellen das Feuer ein, und wir hören auf, sie zu töten. Sobald unsere Leute den Planeten verlassen haben, bombardieren wir alle Zufahrtswege aus der Stadt, während die Wachen sich zusammen mit ihren Familien in die andere Richtung zurückziehen. Wenn jemand versucht, sie anzugreifen, solange wir noch in Reichweite sind, werden wir ihnen Feuerschutz geben. Mehr als das kann ich nicht anbieten.«

»Verstanden, Sir. Ich gebe das weiter und lasse Sie ihre Antwort wissen.«

Fünf Minuten später, in denen eine weitere Formation aus Syndik-Flugzeugen mitten im Flug zerstört worden war und es zwei neuerliche Bombardements gegeben hatte, um noch eine Partikelstrahl-Batterie und eine Raketenabschussbasis unbrauchbar zu machen, meldete sich Carabali wieder bei ihm. »Sie sind einverstanden, Sir. Sie sagen, sie werden umgehend all ihren Kameraden sagen, dass sie das Feuer einstellen und sich mit ihren Familien an den Ostrand des Lagers begeben sollen. Sie bitten darum, dass wir sie nicht in weitere Kämpfe verwickeln.«

»Einverstanden, Colonel. Es sei denn, einer von ihnen eröffnet das Feuer.«

»Ich werde ihnen sagen, dass Waffenruhe vereinbart worden ist. Trotzdem werden wir sie sehr wachsam im Auge behalten.«

Im Verlauf der nächsten Minuten veränderte sich die Art, wie die Marines in Richtung Lagermitte vorrückten. Manche bewegten sich zügig weiter, andere wichen von ihrem bisherigen Weg ab, um eine Verteidigungslinie zwischen dem Landeplatz und den feindlichen Symbolen zu schaffen, die plötzlich auftauchten, als die Wachen ihre Deckung verließen und sich nach Osten zurückzogen. Geary zoomte das Bild heran und sah durch die Staubschichten in der Luft Infrarot-Anzeigen, die für Gruppen standen, die aus ihren Verstecken kamen und den Rückzug antraten. Er veränderte die Darstellung auf seinem Display, bis er wieder eine Fülle kleiner Bilder vor sich hatte, die das Geschehen aus dem Blickwinkel der Marines zeigten. Dort war zu erkennen, wie die Syndiks vor ihnen zurückwichen. Zielerfassungslösungen tanzten über die Displays der Marines, sobald sie den Gegner zu sehen bekamen. Die Syndiks, die selbst nur leicht gepanzert waren, führten gänzlich ungeschützte Zivilisten durch das Lager. Die Marines hatten die Waffen angelegt, doch die Syndiks verhielten sich der Abmachung gemäß, während sie in Richtung Osten eilten.

Geary hielt inne, als er die Stimme eines Sergeants hörte: »Denken Sie nicht mal drüber nach, Cintora.«

»Ich habe nur Zielübungen gemacht«, protestierte Cintora.

»Wenn Sie den Abzug betätigen, stelle ich Sie vors Kriegsgericht.«

»Sarge, sie haben Tulira und Patal auf dem G …«

»Runter mit der Waffe, und zwar sofort!«

Geary verharrte noch einen Moment auf dem Kanal, aber offenbar hatte Cintora eingesehen, dass der Sergeant es ernst gemeint hatte. Man benötigte nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was sich als Nächstes abgespielt hätte, wäre der Sergeant nicht so wachsam gewesen, oder hätte der den gleichen Zorn auf die Syndiks verspürt wie dieser Cintora.

Eine weitere dringende Nachricht ließ Geary wieder auf die Gesamtdarstellung blicken. »Unsere Drohnen haben einen weiteren Konvoi entdeckt, der sich aus Nordwesten dem Lager nähert, außerdem ist aus Südwesten eine Gruppe zu Fuß dorthin unterwegs«, berichtete Colonel Carabali. »Ich bitte darum, dass die Flotte beide Ziele unter Beschuss nimmt.«

Er betrachtete die von den Gefechtssystemen vorgeschlagene Feuerlösung, genehmigte sie und verfolgte mit, wie eine weitere Ladung kinetischer Projektile von den Schiffen ausgestoßen wurde.

»Sir, der Regierungsrat Freies Heradao bittet um eine Waffenruhe.«

»Freies Heradao? War das nicht vorhin noch der Regierungsrat von Heradao?«

»Ähm … ja, Sir. Sie senden auf der gleichen Frequenz mit der gleichen Kennung.«

Geary sah zu Rione. »Irgendeine Idee, was diese Namensänderung bedeuten könnte?«

»Vermutlich nicht viel«, meinte sie frustriert. »Vielleicht haben sie sich mit einer anderen Gruppe zusammengeschlossen und von ihr das ›frei‹ übernommen. Oder sie finden, so klingt es besser. Oder es gab eine Veränderung in der Führungsriege. Auf jeden Fall würde ich nicht davon ausgehen, dass die Namensänderung für uns von Bedeutung ist.«

»Sie haben schon mit ihnen gesprochen. Sind sie es wert, sich noch mal mit ihnen zu unterhalten?«

»Nein.«

Überrascht zog Desjani eine Augenbraue hoch. »Eine kurze, klare Antwort von einem Politiker?«, sagte sie so leise, dass Rione sie nicht hören konnte. »Die lebenden Sterne haben uns ein Wunder geschickt.«

»Danke, Captain Desjani«, raunte Geary ihr zu. »Madam Co-Präsidentin, lassen Sie den Regierungsrat Freies Heradao bitte wissen, dass wir auf jede Bedrohung reagieren werden, die sich gegen unsere Schiffe oder gegen unser Personal auf der Planetenoberfläche richtet, wozu auch jegliche Streitkräfte gehören, die sich dem Arbeitslager nähern. Wenn sie von derartigen Bedrohungen absehen, werden wir nicht schießen.«

»Sir, wir haben hier noch ein Problem.« Colonel Carabali blickte missmutig drein, was ein Hinweis darauf war, dass es sich um etwas Ernstes handeln musste. »Meine Leute, die den westlichen Bereich des Lagers beobachten, empfangen Hinweise darauf, dass sich Spezialkräfte der Syndiks in Tarnkleidung dem Lager nähern, um an meinen Marines vorbei ins Innere vorzudringen. Die Signale sind flüchtig und nur minimal, aber wir schätzen, dass wir es hier mit einem Trupp dieser Spezialkräfte zu tun haben.«

»Welche Art von Bedrohung stellen sie dar? Sollen sie das Gelände auskundschaften?«

»Nach ihrem Missionsprofil zu urteilen und mit Blick auf das, was unsere Geräte feststellen konnten, ist es denkbar, dass sie Hupnums mit sich führen.«

Hupnums?«, wiederholte Geary verwundert das Wort, das wie der Name irgendeiner Märchenfigur klang.

»Humanportable nukleare Munition«, erklärte Carabali.

Kein Wunder, dass sie so missmutig dreinschaute. Geary überprüfte den Zeitplan. »Colonel, so wie es aussieht, sind Sie dicht davor, den Planeten verlassen zu können. Selbst wenn diese Spezialeinheit durchkommen sollte, müssen sie erst mal einen Zeitzünder stellen, damit sie selbst sich in Sicherheit bringen können, bevor diese Sprengladungen hochgehen. Warum sollten wir es nicht schaffen, lange vor den Detonationen das Feld zu räumen?«

Carabali schüttelte ernst den Kopf. »Sir, ich bin an Hupnums der Allianz ausgebildet worden, und jeder in meiner Gruppe, sogar die Ausbilder, war davon überzeugt, dass dieser Zeitzünder nur eine Attrappe ist. Sehen Sie, wenn ein Ziel es wert ist, eine Nuklearbombe hineinzuschmuggeln, dann wäre doch das Risiko viel zu groß, dass der Zeitzünder versagt oder der Feind die Bombe noch entschärfen kann und sie in seine Gewalt bringt.«

»Soll das heißen, Sie sind davon ausgegangen, dass die Bombe in dem Moment hochgeht, in dem Sie sie scharf machen?«

»Oder unmittelbar danach. Ja, Sir. Ich denke, die Syndiks neigen sogar noch etwas stärker zu einer solchen Logik. Wir müssen daher davon ausgehen, dass diese Waffen gezündet werden, sobald sie scharf sind.«

Damit war Gearys Zeitplan mit einem Schlag hinfällig geworden. »Was empfehlen Sie, Colonel?«

»Ich habe zwei Shuttles auf dem Rückflug kurz umgeleitet, damit sie zwei Persische Esel an Bord nehmen können. Mit denen …«

»Persische Esel, Colonel?«

Carabali sah ihn erstaunt an, weil er mit dem Begriff nichts anfangen konnte. »Gruppensimulatoren vom Typ 24.«

»Und wozu sind die gut?«

»Die … die simulieren große Personengruppen. Jeder Persische Esel arbeitet mit verschiedenen aktiven Maßnahmen, um die Illusion zu erzeugen, dass sich an einer bestimmten Stelle etliche Personen aufhalten. Seismische Stampfer erzeugen Bodenvibrationen, die einer in Bewegung befindlichen Menschenmenge entsprechen. Infrarotkäfer erzeugen entsprechende Wärmesignaturen, andere sorgen für eine Geräuschkulisse. Transmitter simulieren Nachrichtenübertragungen und Sensoraktivitäten, wie sie zu einer militärischen Streitmacht passen und so weiter. Jemand, der aus großer Entfernung mit nichtvisuellen Sensoren arbeitet, wird glauben, dass sich in dem betreffenden Gebiet zahlreiche Personen aufhalten.«

Jetzt verstand er. »Sie wollen diese Spezialeinheit glauben machen, dass die Evakuierung noch lange nicht abgeschlossen ist, und wenn sie schließlich zuschlagen wollen, haben Sie den Planeten bereits verlassen.«

»Richtig, Sir. Aber ich muss ein paar Leute zurücklassen, die das Gelände abtasten, und wenn der Moment gekommen ist, in dem alle anderen starten können, wird diese Spezialeinheit nicht mehr weit entfernt sein. Wir können ihr Vorrücken verlangsamen, aber wir können sie nicht stoppen.« Auf Gearys Display tauchte Carabalis taktischer Plan auf. »Ich platziere die Esel hier und hier, damit den Syndiks aus der Richtung, aus der sie kommen, der Weg versperrt ist. Hier, hier und hier werde ich mehrere Züge meiner Marines aufstellen müssen.« Grobe Linien, die sich aus Marines-Symbolen zusammensetzten, leuchteten auf. »Gleich nachdem das letzte Evakuierungsshuttle gestartet ist, werden drei meiner Shuttles am Rand des Landebereichs aufsetzen. In dem Moment müssen diese letzten drei Züge loslaufen wie die Weltmeister, um zu den Shuttles zu gelangen. Die Esel werden so programmiert, dass sie sich gleich darauf selbst zerstören.«

Geary betrachtete den Plan und nickte bedächtig. »Bleibt diesen letzten Shuttles noch genug Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen, falls die Syndiks merken, was da läuft, und ihre Bomben sofort zünden?«

»Ich weiß es nicht, Sir. Vermutlich nicht, aber einen besseren Weg sehe ich nicht.«

»Warten Sie kurz, Colonel.« Er wandte sich zu Desjani um und erklärte ihr die Situation. »Was meinen Sie? Können wir irgendwas gegen feindliche Truppen mit Nuklearbomben unternehmen, die unseren Evakuierten dicht auf den Fersen sind?«

Desjani dachte angestrengt nach, dann sah sie Geary an. »Ich wüsste da etwas, das wir versuchen könnten. Ich war da noch Junioroffizier, aber soweit ich mich erinnern kann, hat es im Calais-System funktioniert. Die Situation war ganz ähnlich, der Feind war den letzten Shuttles dicht auf den Fersen.«

»Und was haben Sie gemacht?«

Sie verzog den Mund zu einem humorlosen Lächeln. »Wir haben ein massives Bombardement begonnen, das genau auf die Flugbahnen der Shuttles abgestimmt war und das in dem Moment auf der Oberfläche aufschlug, als die Shuttles ausreichend an Höhe gewonnen hatten, um aus dem Gefahrengebiet zu entkommen.«

»Sie machen Scherze, oder? Sie haben so eine Masse an Steinen durch den gleichen Luftraum geschickt, den Ihre Shuttles durchqueren mussten? Was haben denn die Shuttlepiloten dazu gesagt?«

»Die haben sich natürlich schrecklich aufgeregt. Die Evakuierten waren auch nicht davon begeistert. Aber wir können genauso vorgehen wie damals, indem wir das Bombardierungsmuster und die vorgesehenen Flugbahnen aller Projektile an die Autopiloten der Shuttles senden. Theoretisch kann der Autopilot einen Weg zwischen den Steinen hindurch berechnen und die Atmosphäre verlassen, noch bevor die ersten Geschosse einschlagen und eine kilometerhohe Staubwolke aufsteigen lassen.«

Er dachte darüber nach und kam zu dem Schluss, dass es ihm nicht gefiel. Allerdings … »Bei Calais hat das funktioniert, sagen Sie?«

»Ja, Sir. Jedenfalls größtenteils. Nicht jeder Stein bleibt beim Eintauchen in die Atmosphäre exakt auf der vorausberechneten Flugbahn. Aber bei Calais mussten wir viel mehr Shuttles zwischen den Geschossen hindurchmanövrieren als hier.«

Größtenteils hatte es funktioniert. Geary wandte sich wieder an Carabali. »Colonel, wir wüssten da einen Weg, wie wir Sie bei den letzten Shuttles unterstützen könnten.« Er beschrieb ihr, was Desjani vorgeschlagen hatte. »Es liegt an Ihnen, ob wir es wagen sollen.«

Wie es schien, hatte er es endlich geschafft, Carabali in Erstaunen zu versetzen. Falls ihr Gesichtsausdruck nicht als blankes Entsetzen zu deuten war. Schließlich aber stieß sie den angehaltenen Atem aus und nickte zustimmend. »Wenn wir das nicht versuchen, Sir, dann laufen wir Gefahr, alle drei Vögel und alle Marines an Bord zu verlieren. So stehen die Chancen wenigstens etwas besser. Ich werde die Piloten der letzten drei Shuttles darüber informieren, was wir machen werden.«

»Geben Sie mir Bescheid, wenn einer von ihnen das nicht freiwillig machen möchte, damit ich in der Flotte herumfragen kann, wer sich dafür meldet.«

Carabali legte die Stirn in Falten. »Sir, diese Piloten haben sich bereits freiwillig gemeldet. Sie sind Marines. Lassen Sie mich bitte wissen, wenn Sie mir Details zum Bombardement geben können.«

»Wird erledigt.« Er unterbrach die Verbindung, lehnte sich zurück und atmete tief durch. »Also gut. Wir werden Captain Desjanis Plan ausführen. Das Bombardement muss so exakt wie nur irgend möglich abgestimmt werden, damit diese Shuttles auch eine Chance haben durchzukommen.«

»Mein Plan war das eigentlich nicht«, murmelte Desjani, dann wandte sie sich an ihre Crew. »Lieutenant Julesa, Lieutenant Yuon, Ensign Kaqui, rufen Sie den Evakuierungsplan der Marines auf, den Colonel Carabali zuletzt abgesegnet hat, dann arbeiten Sie mithilfe der Gefechtssysteme einen Bombardierungsplan aus. Wir benötigen etwas, das den Bereich, von dem aus die Shuttles starten, völlig unter sich begräbt, und es muss mit dem Zeitplan der Marines so abgestimmt sein, dass die ersten Steine fünf Sekunden nach dem Verlassen der Gefahrenzone einschlagen.«

»Captain«, fragte Lieutenant Yuon. »Was ist, wenn es bei einem Shuttle zu irgendwelchen Problemen kommt und es mit Verzögerung startet?«

»Gehen Sie nicht von Verzögerungen aus. Die drei letzten Vögel müssen alle exakt zur vorgegebenen Zeit starten, sonst werden die Syndiks sie töten. Ich brauche das Bombardierungsmuster vorgestern.«

Die Wachhabenden traten in Aktion, während Geary sein Display betrachtete. Auf dem Teil, der die Übersicht über die Bodengefechte zeigte, blinkten immer wieder kurz feindliche Symbole auf, wenn die Sensoren der Marines irgendwelche Spuren der Spezialeinheit wahrnahmen. Die Marines feuerten, sobald sie einen Anhaltspunkt hatten, wo sich der Feind aufhielt. Doch offenbar landeten sie keine Treffer, da sich die ohnehin nur schwer zu treffenden Ziele durch eine Umgebung bewegten, die genügend Möglichkeiten bot, um sich hinter irgendwelchen Objekten zu verstecken. Da die Syndiks immer weiter vorrückten, waren die Marines gezwungen, sich langsam zurückfallen zu lassen, wobei sie gleichzeitig versuchten, einen Schutzschild zwischen dem Feind und der Lagermitte zu bilden.

Dort bestiegen soeben die letzten Kriegsgefangenen die Shuttles, und Carabali rief ihre übrigen Marines zu sich. Die beiden Persischen Esel waren auf dem Display zu sehen, wie sie eine große Menschenmenge in der Nähe des Landeplatzes simulierten.

Viele Dinge würden in den nächsten Minuten genau nach Plan verlaufen müssen. Geary konnte es nicht ausstehen, wenn das Gelingen einer Operation von Faktoren abhing, auf die er keinen Einfluss hatte.

»Schon eigenartig, nicht wahr?«, meinte Desjani. »Das ist so wie bei Corvus, wo wir es auch mit Syndik-Spezialkräften auf einem Himmelfahrtskommando zu tun hatten.«

»Ich schätze, es ist in etwa vergleichbar«, räumte Geary ein.

»Die Syndiks bei Corvus haben Sie nicht getötet.« Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. »Aber hier haben sie keine Chance.«

»Ich weiß. Bei Corvus wollte ich unterstreichen, wie sinnlos ihr Unterfangen war, und ich wollte nicht, dass sie zu Märtyrern werden konnten. Hier …«, Geary zeigte auf das Display, »… sollen sie ruhig zu Märtyrern werden, aber ihre Mission werden sie nicht erfüllen. Ganz im Gegensatz zu uns. Wir werden unsere Mission erfüllen, auch wenn sie uns noch so viele Knüppel zwischen die Beine werfen, und das wird ihren Tod sinnlos machen. Und abgesehen davon gibt es ohnehin keinen anderen Weg, diese Syndik-Einheit zu stoppen.«

»Captain!«, rief Lieutenant Julesa. »Der Bombardierungsplan ist fertig.«

»Zu mir und zu Captain Geary.«

Geary sah sich das Ergebnis an und verdrängte seine Bedenken, als er die Flugbahnen von über hundert kinetischen Geschossen betrachtete, die den Kurs der drei Shuttles kreuzten und in dem Moment einschlugen, als die Shuttles gerade eben die Gefahrenzone verließen. »Tja, Captain Desjani, dann wollen wir hoffen, dass Ihr Plan funktioniert.«

»Sie können ihn als meinen Plan bezeichnen, wenn er funktioniert hat«, wandte sie ein.

Geary schickte den Plan an Colonel Carabali, damit sie ihn an ihre Shuttles weiterleiten konnte. Außerdem verteilte er ihn an die Schiffe, die die Aufgabe hatten, sich genau zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Position zu befinden, um das Bombardement zu beginnen. Augenblicke später kam von der Relentless die Frage: »Sir, ist das der richtige Plan?«

»Ja, das ist er. Wir müssen ihn exakt so umsetzen.«

»Verstanden, Sir. Und die Marines sind damit einverstanden?«

»Die sind einverstanden!«

»Gut, Sir. Wir schicken die Steine los, sobald sie an der Reihe sind, und sorgen dafür, dass sie im richtigen Moment ihr Ziel erreichen.«

»Danke. Reprisal, bei Ihnen irgendwelche Probleme?«

Der befehlshabende Offizier der Reprisal antwortete zehn Sekunden später: »Nein, Sir. Wir übertragen soeben die Manöver und die Feuerbefehle auf unsere Systeme. Wir sind bereit.«

Betrübt schaute Geary auf sein Display. Colonel Carabali bestieg soeben mit den letzten Marines eines der letzten Shuttles auf dem Landeplatz. Die drei Züge waren weiter auf dem Rückzug und versuchten, die Syndiks aufzuhalten, damit sie sich nicht zu schnell dem Landefeld näherten. Die sekundenlang aufblitzenden Symbole zeigten an, dass die Spezialeinheit längst viel zu weit vorgerückt war.

»Hier kommen die letzten Shuttles«, merkte Desjani an.

Im nächsten Moment rief der Ablauf-Wachhabende: »Die letzten Shuttles mit Evakuierten landen in fünf Sekunden, vier, drei, zwei, eins. Sie sind gelandet.«

Alle Marines der letzten drei Züge machten wie ein Mann kehrt und rannten los. Geary fragte sich, wie lange die Syndiks wohl brauchten, ehe ihnen klar wurde, was soeben passiert war.

»Die Relentless und die Reprisal beginnen mit dem Bombardement«, meldete der Gefechtssystem-Wachhabende.

Geary saß da und sah mit an, wie die Steine auf den Planeten zurasten, um genau dort einzuschlagen, wo jetzt noch die drei Shuttles standen. Die Marines erreichten sie in diesem Moment und sprangen hinein. Auf einer Seite des Displays liefen zwei Countdowns ab, einer für die Shuttles, wann sie starten mussten, einer für den Moment, da die kinetischen Geschosse ihr Ziel erreicht hatten. Der Unterschied zwischen beiden Zahlen war für Gearys Geschmack viel zu klein.

Auf der Brücke der Dauntless herrschte gebanntes Schweigen, da alle abwarteten, wie dieses Spiel auf Leben und Tod ausgehen würde.

»Die Shuttles müssen in den nächsten zehn Sekunden starten«, meldete Desjani.

»Ja, ich weiß.« Er sah, wie die allerletzten Marines zu ihrem Shuttle sprinteten.

»Shuttle eins gestartet, maximaler Steilflug«, gab der Ablauf-Wachhabende bekannt. »Vom Boden aus wird auf die Shuttles geschossen. Die Syndiks verlassen ihre Deckung und feuern, die Verteidigungssysteme der Shuttles erwidern das Feuer und ergreifen Gegenmaßnahmen. Shuttle drei ist gestartet. Shuttle zwei meldet ein Problem mit der Hauptluke.« Geary stockte der Atem. »Shuttle zwei startet mit offener Luke. Geschwindigkeit und Schutz werden dadurch beeinträchtigt.«

Er sah mit an, was sich unten abspielte. Die Syndiks schossen auf die startenden Shuttles. Die erwiderten das Feuer und mussten dabei auf die Positionen zielen, von denen aus sie attackiert wurden. Die Syndiks waren in ihrer Tarnkleidung noch immer so gut wie unsichtbar.

Von oben kommend rasten über hundert kinetische Projektile durch den Luftraum, in dem die Shuttles unterwegs waren. Nur noch Sekunden blieben, um in Sicherheit zu gelangen.

Es war schon eigenartig, wie lange sich ein paar Sekunden hinziehen konnten.

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