9

Endlich brachen sie auf, und ich ging zu Bett und war schon tief in Morpheus’ Reich eingedrungen, als Freds mich gegen die Wand rollte und sich neben mir auf das Bett setzte. Er steckte mir eine angezündete Haschpfeife in den Mund und atmete schwer. »Mach dich fertig, Bruder, wir müssen noch eine Reise zum Mittelpunkt der Erde antreten.«

»Was?« Ich stieß ihn zurück, und kleine glimmende Haschklumpen fielen aus seiner Pfeife und ergossen sich über mich und das Bett, glüten wie winzige Briketts und qualmten heftig. Als wir aufgesprungen waran und sie alle ausgeschlagen hatten, war mein einziges Bettuch ruiniert, doch ich war hellwach und einigermaßen stoned, so daß Freds wohl zufrieden war.

»Freds, verdammt! Wie spät ist es?«

»Zeit für den Aufbruch, Bruder. Ich muß dir einige Teile der heiligen Tunnels zeigen, die Nathan und Sarah nicht sehen durften.«

»Jetzt?«

»Ja, komm schon. Ein echtes Abenteuer, dir wird es gefallen.«

»Ich hasse deine Abenteuer, Freds.«

»Dieses nicht. Komm, du wirst schon sehen.«

Also zog ich Hemd und Hosen an und band benommen meine Schnürsenkel zu, und wir waren unterwegs, gingen durch die leeren Straßen Thamels und in die kleine Gasse und zu Yongtens Laden. Er war verrammelt und verriegelt, doch als Freds an die Tür klopfte, öffnete Yongten uns; wie die meisten Einwohner Katmandus schlief er an seiner Arbeitsstätte, auf einer harten Pritsche rechts neben Rollen dicker Teppiche. Er schien nicht überrascht zu sein, uns zu sehen, und redete auf Tibetanisch lange auf Freds ein, bevor er uns in das Hinterzimmer winkte. Dort bekamen wir zwei Taschenlampen statt der Coleman-Lampe und folgten dem schmalen Weg zu der niedrigen Tür und den Tunnels darunter.

Im Licht der Taschenlampen war es da unten unheimlich. Wann immer wir sie von den groben Steinen unter unseren Füßen nahmen, schwankten die Lichtstrahlen in der Dunkelheit hierhin und dorthin und erhellten Dinge, die ich im ruhigeren Schein der Coleman-Lampe nicht gesehen hatte: einen massiven Holzbalken über einer Kreuzung, geschnitzt und mit einem komplizierten roten, grünen und gelben Muster angestrichen; ein schnaubendes blaues Dämonengesicht mit Glotzaugen am Ende einer Sackgasse; einen dicken, spiralenförmigen Silberpfosten; und überall unerwartete Tiefen, in denen der Lichtstrahl der Taschenlampe gar nichts berührte, bevor er in der Dunkelheit verschwand. Große Höhlen, endlose Tunnels — ich blieb dicht hinter Freds und hoffte, daß die Batterien meiner Taschenlampe länger reichen würden als die übliche halbe Stunde, die diesen indischen Exemplaren zueigen waren, denn wenn ich Freds irgendwie verlieren sollte, würde ich nie mehr den Rückweg finden.

Als wir die Treppe zu der Höhle hinabgingen, blieb Freds plötzlich stehen. »George, du trittst mir in die Waden.«

»Oh. Tut mir leid.«

»Hier. Wir müssen den nördlichen Gang nehmen.«

Wir marschierten weiter, anscheinend stundenlang, obwohl es in Wirklichkeit wohl nur zwanzig Minuten gewesen waren. Wir gingen an Räumen und Nischen zu beiden Seiten vorbei, und wenn ich mit der Taschenlampe hineinleuchtete, enthüllten sie die harten Farben von Mandalas oder den Glanz polierten Metalls. Unsere Schritte und unser Atem waren die einzigen Geräusche, die wir hörten; doch irgendwann blieben wir stehen, und weit vor uns erklang ein schwaches Klirren und dann das Scharren flüsternder Stimmen.

»He«, sagte Freds. »Du brichst mir noch den Arm, wenn du ihn so fest drückst.«

»Hör doch!« zischte ich.

»Ich hör’s ja. Deshalb sind wir ja hergekommen, schätze ich.« Er pfiff wie das Kommunikationssystem im Raumschiff Enterprise, richtete dann die Taschenlampe in den Tunnel, schaltete sie dreimal ein und aus und ließ sie dann aus. »Richte deine Taschenlampe zu Boden«, sagte er zu mir.

Schritte näherten sich. Wir hörten sie schon in weiter Ferne, und sie schienen eine Ewigkeit zu brauchen, um zu uns zu gelangen, und wurden dabei immer lauter und fester. Ich war drauf und dran, meine Taschenlampe zu heben und zu blenden, wer immer dort kam, doch Freds hielt mich fest, bis sich die Schritte direkt vor uns im Tunnel befanden und wir eine dunkle Gestalt ausmachen konnten, die ebenfalls eine Taschenlampe zu Boden gerichtet hatte.

Freds schaltete seine wieder an und richtete sie auf die Wand. In ihrem reflektierten Licht konnte die Gestalt uns sehen, und wir konnten sie sehen …

Es war Bahadim Shrestha, unser Freund von der Nepal Gazette. »Mr. Freds«, sagte er. »Mr. George! Schön, Sie wiederzusehen.«

»Bahadim!« sagte ich erstaunt. »Was, zum Teufel …«

»In der Tat«, sagte er mit einem leisen Lächeln.

Freds erklärte schnell, weshalb wir hier waren, und Bahadim runzelte die Stirn, als er von der geplanten Kanalisation hörte. »Das wäre äußerst unangenehm, ja, allerdings.«

»He, zeigen Sie George, was Sie am Laufen haben, ja? Ich will, daß er es selbst sieht.«

Bahadim musterte mich genau und dachte darüber nach. Dann nickte er. »Sie müssen versprechen, niemandem davon zu erzählen. Und von nun an müssen wir sehr, sehr leise sein. Wir haben gerade unabsichtlich ein Geräusch gemacht, und es wäre nicht klug, so kurz darauf noch eins zu machen. Die da oben könnten uns hören.«

Also schlichen wir auf Zehenspitzen hinter Bahadim durch den Tunnel und stießen auf ein paar Männer, die beim Licht einer einziger Kerze arbeiteten. Wir schalteten unsere Taschenlampen aus, und nach einer Weile stellte ich überrascht fest, daß diese eine Flamme in der Tat eine ganze Menge erhellte. Wir waren in einem breiten, kreisrunden Raum, dessen niedrige, aus Erde bestehende Decke von einer Reihe hölzerner Kreuzbalken gehalten wurde. Lehmbrocken häuften sich pyramidenförmig unter einigen neuen Löchern in der Decke auf, und lange, dünne Leitern hoben sich in diese dunklen Löcher. Bahadim führte mich zu einer der Leitern, die anscheinend an Ort und Stelle angefertigt worden zu sein schien; die Sprossen waren mit Stricken an zwei lange Pfosten gebunden. Er zog ein einem Stück Seil, das zwischen den Pfosten hinabhing, und kurz darauf kam ein weiterer kleiner Hindu mit leisen, verstohlenen Bewegungen die Leiter hinab. Bahadim zeigte die Leiter hinauf und flüsterte in mein Ohr: »Gehen Sie nach oben und sehen Sie in die Spiegelröhre.«

Also erprobte ich die unterste Sprosse, stellte fest, daß sie mich trug, und kletterte das Loch in die Dunkelheit hinauf, bis ich mit dem Kopf gegen Erde stieß. Der obere Teil des Tunnels wurde von etwas erhellt, das ich anfangs für eine kleine Taschenlampe hielt, sich dann aber als die Spiegelröhre erwies, die Bahadim erwähnt hatte. Ich drückte mein Auge gegen das Ende dieses Dings und sah in einem winzigen Spiegel einen kleinen Teil eines hell beleuchteten Raums: anscheinend einen Schreibtisch mit einem leeren Sessel dahinter und eine Mauer. Eine verschwommene braune Gestalt bewegte sich vor mir, und dann sah ich wieder den Schreibtisch. Nach einer Weile konnte ich mir zusammenreimen, worum es sich handelte, und stieg die Leiter wieder hinab.

»Haben Sie es gesehen?« flüsterte Bahadim in mein Ohr.

Ich nickte. »Was war das?« flüsterte ich in sein Ohr.

»Das war das Büro des Königs.«

Ich riß den Kopf zurück und starrte ihn an.

Er nickte. »Wirklich«, flüsterte er.

Ich deutete mit der Hand auf die anderen Löcher in der Decke, von denen jedes mit einer Leiter versehen war.

Er nickte erneut, und der rote Punkt auf seiner Stirn leuchtete. »Die Büros des Palastsekretariats«, flüsterte er. »Die Konferenzräume der Minister. Die Privatgemächer des Königs. Wir haben alle wichtigen Zimmer im Palast ausfindig gemacht.«

Ich schaute mich erneut um und sah, daß ein paar Männer, die in einem Kreis auf dem Boden saßen, damit beschäftigt waren, ein weiteres Mini-Periskop zu bauen, das aus zusammengeklebten Pappröhren und den winzigen runden Spiegeln bestand, die die Einheimischen auf ihre Kleider nähen. Weitere Pappröhren, die wie antike Hörtrichter geschnitten und geklebt waren, dienten ihnen als Mikrofone.

Bahadim sah, daß ich ihm einige Fragen stellen wollte, und führte mich den Tunnel zurück, den wir gekommen waren, und dann in einen Seitentunnel und in eine kleine Kammer. Dort standen auf dem Boden eine Laterne mit einer Kerze darin, Teetassen, ein Teetopf und ein winziger Primuskocher. Er setzte sich mit gekreuzten Beinen vor den Kocher und schickte sich an, uns Tee zu kochen, als befänden wir uns in seinem Büro bei der Gazette.

»Ja«, sagte er, als er uns dampfenden Tee in die Tassen gegossen hatte, »wir befinden uns unter dem Palastgelände. Die Tunnels selbst waren schon immer hier, doch in letzter Zeit haben wir die Beobachtungsposten bemannt, um besser mitzubekommen, was im Sekretariat vor sich geht.«

»Sie spionieren sie aus?«

»Ja. Verstehen Sie, wie ich Ihnen schon einmal gesagt habe, kann man von außen unmöglich sagen, wie im Palast Entscheidungen gefällt werden. Doch ohne dieses Wissen können wir uns diesen Entscheidungen nicht erfolgreich widersetzen.«

»Wer seid ihr also?« fragte ich.

»Wir sind ein Flügel der Nepalesischen Kongreßpartei, der größten Oppositionspartei. Verstehen Sie, Nepal hat offiziell kein Parteiensystem. Es gibt den Panchayat Raj. Doch es gibt trotzdem Oppositionsparteien, und die größte davon ist unsere Kongreßpartei. Wir möchten Nepal gern in eine parlamentarische Demokratie verwandeln, mit einer echten Regierung, die neben den Menschen über uns steht. Leider gibt es auch in der Kongreßpartei selbst mehrere starke Fraktionen. Ein Flügel wird von G. P. Koirala geführt, ein anderer von Ganesh Man Singh, ein dritter von K.P. Bhattarai. Alle liegen irgendwie miteinander im Streit, und das und die Tatsache, daß wir offiziell illegal sind, kommt uns bei den Wahlen nicht gerade zugute. Und so …« Er seufzte hauchend. »Hat die Panchayat-Partei die Wahl gewonnen. Und im Palast herrschen die Ranas, und nichts ändert sich je in Nepal.«

Ich nickte. Ich hatte das aus nächster Nähe und persönlich beobachtet, bei meinem elenden und völlig vergeblichen Versuch, mit diplomatischen Mitteln den Bau der Straße nach Chhule zu verhindern.

Bahadims Gesicht hellte sich auf. »Aber jetzt haben wir Hoffnung! Als einer von uns die Tunnels hier entdeckte, entschloß sich unser Flügel der Partei zu einem direkten Eingreifen, um auf den Tag hinzuarbeiten, da wir in der legalen Regierung eine lautere Stimme haben werden. Wir haben dieses System geschaffen, um die Palastranas bei der Arbeit zu beobachten, und nachdem wir ihre Pläne kennen, tun wir alles, um sie zu unterstützen oder zu verhindern, je nachdem.«

»Eine tolle Idee«, sagte ich.

Bahadim nickte. »Wir haben auch eine Art unterirdische Regierung eingerichtet. Ja, so könnte man sie nennen.« Er zog mit dem Finger Diagramme auf das bunte Tuch, das unter uns ausgebreitet war. »Die meiste ausländische Unterstützung bekommt Nepal von großen internationalen Hilfsorganisationen oder anderen Ländern, und die meisten Mittel fließen dorthin, wohin die Ranas sie dirigieren. Oft in Unternehmen, die ihnen selbst gehören. Großes Geld, große Projekte, große Verzögerungen — wenig Ergebnisse. So war es schon immer in Nepal. Das Volk sieht nie etwas von der Hilfe. Also haben wir selbst Hilfsprojekte eingerichtet, die von ein paar reichen Nepalis finanziert werden, die uns unterstützen. Die Beträge sind gering, und sie fließen nur kleinen Projekten zu — der Bewässerung eines einzelnen Feldes, der Einrichtung eines Korboder Teppichladens und so weiter. Der Geheimhaltung wegen befindet sich unser Hauptquartier hier unten in den Tunnels. Und wir hoffen, mit der Zeit die wirkliche Regierung Nepals zu werden — denn wir sind diejenigen, die den Menschen unseres Landes wirklich helfen, verstehen Sie?«

»Worauf Sie wetten können!« sagte ich.

Grinsend legte Freds einen Finger auf die Lippen. »Sprecht nicht so laut, Leute, sonst verratet ihr noch alles.«

Bahadim lächelte. »Tut mir leid — ich rege mich immer so auf. Sie verstehen?«

Ich nickte. »Hören Sie«, flüsterte ich, »da ist ein Bettler in Thamel, ein Bettler mit einem kleinen Mädchen, und die beiden können nirgendwo unterkommen und haben auch keine Arbeit. Könnten Sie denen nicht helfen?«

»Wir können es versuchen«, flüsterte Bahadim zurück. »Sagen Sie mir ihre Namen — ah, Sie kennen sie nicht. Nun gut — ich werde Sie besuchen, und Sie können mich vielleicht zu ihnen bringen.« Ich nickte. »Wir werden sehen, was wir tun können.«

Beeindruckt sah ich Freds an. Er grinste und sagte: »Verstehst du, was ich meine?«

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