Ich verstand, was er meinte. Und als wir durch die dunklen Tunnels zum Eingang hinter Yongtens Laden zurückkehrten, machte das gewaltige Tunnelsystem auf einmal einen ganz anderen Eindruck auf mich. Sicher, es handelte sich dabei noch immer um die Ruinen eines uralten und lange vergessenen Königreichs; aber es war anscheinend auch das rudimentäre Netzwerk einer neuen Regierung von Nepal — einer unterirdischen Regierung, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, gegen die korrupte Herrschaft von König Birendra und der Ranas im Palast zu arbeiten. Es freute mich überaus, daß es so etwas gab.
Und als Nathan mich früh am nächsten Nachmittag weckte, indem er gegen meine Tür klopfte, war ich einigermaßen verlegen und versuchte mein Bestes, ihn abzuwimmeln. Doch Nathan gehört nicht zu jenen Menschen, die man leicht abwimmeln kann, und er wollte mir zeigen, was sein Kanalisationsprojekt zu bewirken hoffte.
Also wanderten wir durch die nordwestlichen Teile Katmandus, nicht nur durch Thamel, sondern auch durch die nicht so gut besuchten Viertel außerhalb, an den Ufern des Vishnumati. Hier gab es kaum Ausländer; hier waren die Einheimischen zu Hause. Viele dieser Leute arbeiteten in der Tourismusbranche in Thamel, doch es wurde ersichtlich, daß sie nicht allzu viel verdienten; das Viertel war überfüllt, die Gebäude alt und klein, die Ziegel handgefertigt und unregelmäßig, so daß sich die Häuser wie verrückt neigten. Die Straßen zwischen ihnen waren Schlammkanäle, und alles in allem sah das Viertel so aus, wie ich mir das elizabethanische London vorstellte, abgesehen von den heiligen Kühen und den kleinen Toyotas, die unentwegt hupend vorbeizischten. Das war die Heimat der Armen Katmandus, eine schmutzige, überfüllte, verwahrloste Gegend, ganz anders als die schmucke und malerische Innenstadt. In diesem Viertel war jeder Abendländer reich wie ein König. Früher hatte ich dieses Gefühl auch einmal genossen.
Hier und da hatten sich in Ecken oder auf breiten Stellen der Straßen seit Jahren Abfallhaufen angesammelt, die dann vom Regen und vorbeikommenden Kühen, Ziegen, Hunden, Ratten, Kindern und Bettlern wieder abgetragen wurden. Während wir beobachteten, wie die Menschen um diese Müllkippen schwirrten, erzählte mir Nathan mehr über das Projekt. Anscheinend war die South Asian Development Agency, der Sponsor des Projekts, eine der am schlechtesten geführten Hilfsorganisationen in Nepal gewesen. Lasche Buchführungspraktiken hatten sie zu einem dieser Geldkanäle werden lassen, über die es so viele Gerüchte gibt und bei denen das Geld, das den Menschen des Landes helfen soll, schließlich in den Taschen der Beamten landet, die es verwalten.
Nathan hatte die Stelle, die die Organisation ihm angeboten hatte, mit der Absicht angetreten, diesen Mißbrauch zu beenden, und sein erster Schritt war gewesen, ein ständig besetztes Büro in Katmandu einzurichten, das er selbst betreute. Zuvor waren die Geschäfte der Organisation mittels kurzer Besuche von der Hauptverwaltung in Manila geführt worden, was natürlich bedeutete, daß niemand wirklich wußte, was in Nepal vor sich ging. Das hatte zu einigen schrecklich ungeeigneten Hilfsprogrammen geführt, und bei einigen davon hatten sogar die Geldgeber der Organisation ihr Veto eingelegt, was kaum einmal vorkam. »Aber von diesem Kanalisationsprojekt sind alle begeistert«, sagte Nathan, »und du siehst ja auch, warum.«
»Ja.«
Wir hatten das Ufer des Vishnumati erreicht, und dort, unter der hellen Sonne und den verstreuten Kumuluswolken konnten wir die ganze Geschichte sehen: Frauen wuschen in den Untiefen Kleider; Abfall wurde von einem Karren auf einen großen Haufen am Ufer gekippt, der vom Fluß unterhöhlt wurde; Behelfshütten erhoben sich direkt am Ufer; spindeldürre Kinder spielten an freien Stellen oder dem steinigen Ufer. Dieser Fluß vereinigte sich ein Stück weiter mit dem Bagmati, der an der Universität und ein paar Krankenhäusern der Stadt vorbeifloß. Verseucht, wie er war, war es unvorstellbar, daß die Stadtbewohner jemals gesund werden sollten.
Und auf dem Rückweg gingen wir über die vor Menschen wimmelnden Schlammstraßen bis in den Bienenschwarm von Thamel, und überall um uns herum wurde es ersichtlich, daß die Einheimischen ihr Bestes gaben, um von dem unerschöpflichen Vermögen zu leben, das die abendländischen Besucher mit sich zu bringen schienen, und einigen gelang es und anderen nur zum Teil, und wieder andere scheiterten einfach, aus welchen Gründen auch immer, und lebten auf den Straßen und bettelten, um nicht zu verhungern. Ich hatte getan, was ich konnte, um zweien dieser Menschen zu helfen, einem Mann und seinem kleinen Mädchen, bis Freds mich eines Nachts, als er besoffen gewesen war, gescholten und mir gesagt hatte, daß es diesen beiden noch relativ gut ging, da Menschen wie ich sich auf das niedliche und pathetische kleine Mädchen konzentrierten; daß es alte Männer und alte Frauen gab, die allein waren, keine Beachtung fanden und noch ein paar Stufen unter diesem Mann und seiner Tochter lebten; und danach hatte ich im Prinzip aufgegeben. Ich wußte nicht, was ich tun, ich wußte nicht, wie ich helfen sollte. Katmandu war nicht mehr dieselbe Stadt wie früher. Und nun deutete Nathan mit der Hand auf den Abfallhaufen auf der Straße ein Stück über dem Hotel Star und dem Kathmandu Guest House und sagte: »Siehst du, was ich meine?«
Und ich konnte nur sagen: »Ja, ich sehe, was du meinst.«