Freds führte uns zu dem Stadtteil zwischen Thamel und dem Durbar Square, einem ziemlich wohlhabenden Geschäftsbezirk, der aus schmalen Straßen bestand, die von zwei- und dreistöckigen Gebäuden umsäumt wurden,
Ziegel- und Holzhäuser, die etwas heruntergekommen wirkten und irgendwie aus dem neunzehnten Jahrhundert zu stammen schienen, aber ganz solide waren. Die Durchgangsstraße hat keinen offiziellen Namen und wird von den Abendländern wegen des Gewimmels und der Farben und der Hasch-Dealer Freak Street genannt. Sie wird von zahlreichen Geschäften mit offenen Fronten umsäumt, in denen geschäftige Händler Nahrungsmittel und Bücher und Teppiche und Wanderausrüstung feilbieten.
Freds bog von der Freak Street in eine schmale Gasse ein, die zum Teppichgeschäft unseres Freundes Yongten führte. Yongten wechselte in seinem Laden auch Geld, und zwischen den Kunden, die sich fragten, welchen Teppich sie kaufen sollten, und denen, die Schlange standen, um Reiseschecks in Rupien umzutauschen, mußten wir eine Weile warten. Doch schließlich nickte Yongten uns zu, sprach kurz mit Freds, führte uns in sein Hinterzimmer und dann durch eine auf Scharnieren ruhende Tür, die Bestandteil der hinteren Mauer des Raums und aus ihr hinausgemeißelt war.
Wir fanden uns in einem schmalen Raum wieder, der wie eine Lücke zwischen Gebäuden aussah, nur, daß er überdacht war. Er wurde vielleicht als Lager benutzt, denn an einer Wand standen alte, dunkle Kisten. Yongten zündete eine Coleman-Lampe an, reichte sie Freds und schloß dann die Tür zum Laden. Im Licht der Lampe schoben er und Freds einen Stapel Kisten zur Seite und enthüllten eine weitere grobe Holzwand mit einer Tür darin, die allerdings nur hüfthoch war. Große schwarze Eisenscharniere und ein dazu passendes Schloß sicherten diese Tür, und Yongten holte einen Schlüssel von der Größe meiner Hand aus seiner Jacke und öffnete das Schloß. Er und Freds zogen die Tür gemeinsam auf.
Aus einem dunklen, eckigen Loch schlug uns kühle, feuchte Luft entgegen. »Folgt mir«, sagte Freds und kroch in das Loch hinein. Wir drei folgten ihm, und Yongten schloß uns ein.
»Paßt auf, die Decke bleibt eine Weile so niedrig.«
Wir schlichen Freds geduckt hinterher und streckten die Hände aus, um uns vor hinabhängenden Teilen der Holzdecke über uns zu schützen. Die uns umgebenden Wände bestanden aus Ziegelsteinen, der Boden aus festgetretener Erde. Dann traten wir auf steinerne Fliesen und gingen eine Treppe hinab, bis wir aufrecht stehen konnten.
Die Lampe enthüllte eine anscheinend niedrigen, runden Gang; ihr Licht reichte jedoch nicht weit, so daß wir nicht genau sagen konnten, in was für einer Art Höhle wir uns befanden. »Das ist das alte Tunnelsystem«, sagte Freds leise, als wir uns um seine Lampe drängten. »Der Gang, den wir hinabgekommen sind, wurde erst vor kurzem gegraben, weil sich der einzige Eingang in Katmandu, der nicht längst zugemauert wurde, auf dem Palastgelände befindet und vor ein paar Jahren von den Grundmauern eines neuen Gebäudes versperrt wurde. Deshalb wollte der Manjushri Rimpoche, daß Dawa und ich den Dschungeleingang suchen. Niemand ist allzu glücklich über den Eingang in Yongtens Laden. Er hat ihn nur gemietet, versteht ihr, und könnte jederzeit die Kündigung bekommen.«
»Wer ist der Manjushri Rimpoche?« wollte Nathan wissen. »Und was hat das alles mit unserem Kanalisationsprojekt zu tun?«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Freds. »George, willst du sie ihm erzählen?«
»Verdammich, nein.«
Also führte Freds uns tiefer in das Tunnelsystem, und dabei erzählte er Nathan und Sarah alles über unsere kürzlichen Abenteuer in Shambhala. Nathan und Sarah hörten sprachlos zu; ich konnte ihre Gesichter nicht deutlich genug ausmachen, um mitzubekommen, was sie von der Geschichte hielten, glaubte jedoch, heftige Schwingungen des Erstaunens und Unglaubens wahrzunehmen, die von den gelegentlichen Blicken, die sie sich aus weit aufgerissenen Augen zuwarfen, bestätigt wurden.
Wir stiegen weiter hinab, in einen großen, eckigen Tunnel mit steinernen Wänden überall um uns herum. Dann gelangten wir wieder in eine Höhle und konnten keine Wände mehr ausmachen. Freds führte uns zu einer Treppe, die in einer langen Biegung an der Seite einer gewaltigen Höhle hinabführte. Man konnte sich kaum vorstellen, daß sie durch Menschenhand entstanden war. Vielleicht hatte man lediglich die Wände einer natürlichen Höhle geglättet.
Die Stufen waren an der offenen Seite mit einem dicken Holzgeländer versehen, wofür ich dankbar war. Das Holz des Geländers war vom Schweiß und Fett zahlreicher Hände geglättet. Die Pfosten des Geländers waren geschnitzt und angestrichen. In der Höhlenwand befanden sich zahlreiche Nischen, in denen Statuen des Buddha oder von Bönpa-Dämonen standen; sie erinnerte mich an den Tunnel oben in den Bergen, der sich von Shambhala bis zum Nangpa La erstreckte. Er gehörte zum selben System, wenn man Freds Glauben schenken konnte.
Als wir den Höhlenboden erreichten, mußten wir mehrere hundert Stufen hinabgestiegen sein. Hier fiel das Licht der Coleman-Lampe auf eine lange Galerie; wir folgten diesem Gang und bemerkten kleine, in den Fels geschlagene Kammern; bei einigen waren die Mauern mit Bronze, bei anderen mit Silber überzogen, und bei einer anscheinend sogar mit reinem Gold.
Freds führte uns in diese letzte. Wände, Boden und Decke waren gebogen, so daß wir den Eindruck hatten, uns in einem riesigen Ei zu befinden. Das Licht der Lampe schimmerte auf dem weichen gelben Metall, das uns umgab. Es war mit tibetanischen Buchstaben überzogen, die immer und immer wieder den Satz Om Mani Padme Hum bildeten, so daß die Oberfläche der Kammer über und über damit bedeckt waren. Die winzigen eingeschlagenen Buchstaben schienen schwarz oder bronzefarben oder dunkelgelb oder sogar weiß zu sein, je nachdem, wie das Licht auf sie fiel. Om Mani Padme Hum, das Juwel im Herzen des Lotus — und dort schienen wir uns tatsächlich zu befinden, im Juwel selbst.
»Eine Einsiedlerklause«, sagte Freds nüchtern. »Padma Sambhava, der Guru, der den Buddhismus nach Tibet brachte, kam einmal hier hinab. Es heißt, die Wände verwandelten sich in Gold, als er wieder ging. Die Schriftzeichen befanden sich schon darauf.«
Nathan und Sarah sahen sich um, und ihre Münder klafften auf wie die von Fischen in der Luft. Zweifellos war es bei mir nicht viel anders.
Das Zentrum des Tunnelsystems, fuhr Freds fort, befand sich in Shambhala, und von dort aus führte es in alle Richtungen. »Es liegt nicht nur unter dem Himalaja«, sagte er, »und es führt nicht nur hierher nach Katmandu. Es ist Tausende von Jahren alt und sehr wichtig für Shambhala — ihr wißt schon, wenn es darum geht, den Lauf der Dinge zu beeinflussen und die Welt vor der Selbstzerstörung zu bewahren.«
Ich sah, wie Nathan und Sarah versuchten, diese Neuigkeiten zu verdauen, was ihnen nur teilweise gelang. Selbst mir, der ich den Vorteil hatte, Shambhala besucht und zahlreiche Kilometer in dem Tunnelsystem zurückgelegt zu haben, fiel es nicht ganz leicht, und für sie war es noch viel schwerer. Ich trat an eine Wand und fuhr mit den Fingerspitzen über die Buchstaben. Das Metall war kalt, die geschwungenen Buchstaben in Basrelief gehalten, die Ränder der Buchstaben mit winzigen Vertiefungen. Als ich die Wand berührte, glaubte ich, eine leichte Schwingung zu spüren. Die Flamme in der Lampe flackerte, die Wände zitterten ganz leicht, und es lag ein kaum wahrnehmbares Summen in der Luft; man konnte gerade eben die vor Menschen wimmelnde Stadt Katmandu mit ihrem pulsierenden Leben über unseren Köpfen erahnen.