So schlimm es auch sein mag, des Nachts auf dem Rücken eines verrückt gewordenen Elefanten durch den Dschungel zu preschen, es ist noch viel schlimmer, ihn zu Fuß zu durchstreifen. Wir schlichen uns zwischen Bäumen hindurch und durch Büsche und versuchten, so leise wie möglich zu sein, und je leiser wir waren, desto besser konnten wir hören: ein Knistern, ein Rascheln, schnelle, scharrende Geräusche; der gelegentliche Schrei eines Vogels, kurz und auf den Punkt gebracht. Und dann knackte irgendwo ein Ast, und jedes andere Geräusch dort draußen in der Dunkelheit verstummte und hinterließ ein schweres Schweigen, von dem man wußte, daß sich jede Menge Lebewesen darin niederkauerten und darauf warteten, daß etwas Großes weiterzog, und mit Nasen schnüffelten und mit Ohren lauschten, die viel schärfer als die unseren waren. Es wäre viel sinnvoller gewesen, zu singen, was die Lungen hergaben, oder fernöstliche Kampfsportgeräusche auszustoßen, doch mit den Soldaten des Königs auf unseren Fersen, die den Tunnel verlassen hatten, ausgeschwärmt waren, mit ihren Taschenlampen ins Unterholz leuchteten und manchmal Stellen ganz in unserer Nähe erhellten, war das einfach unmöglich. Wie alle anderen Gejagten mußten wir ruhig bleiben und so leise wie möglich weiterschleichen.
Zum Glück ist es Menschen unmöglich, des Nachts im Dschungel irgend jemand oder irgend etwas zu verfolgen, und die Leibwächter schienen von den Scheinwerfern des Tiger View abgelenkt worden zu sein. Sie bewegten sich zumindest in diese Richtung, als Freds mehrmals in einen Busch sprang und laut »Ah!« rief.
Ihre Taschenlampen wandten sich in unsere Richtung, und wir liefen los, wobei Freds soviel Lärm machte, wie er konnte.
»Verdammt, Freds«, keuchte ich, während ich ihm folgte. »Warum hast du das getan?«
»Bleibt einfach hinter mir«, rief er zurück. »Ich habe einen Plan.«
Wir führten die Soldaten etwa eine halbe Stunde lang durch den Wald. Dann blieb Freds plötzlich stehen und kauerte sich nieder. »Na schön«, flüsterte er. »Seid still. Wir sind da.«
»Wo?«
»Das ist die Wiese der Wilddiebe. Seht ihr? Der Jeep ist wieder da. Wäre doch toll, wenn wir die Soldaten auf die Wilderer hetzen könnten, oder? Hier, sucht etwas, womit ihr werfen könnt. Da liegen ein paar Steine. Werft sie auf den Jeep.«
Er warf, und nach einer Weile erklang ein Päng! und dann noch eins. Hinter uns ertönten Stimmen, und dann auch auf einer Seite. Die Soldaten bahnten sich nun schnell den Weg durch den Dschungel, und der Strahl einer Taschenlampe erfaßte den Jeep und verharrte auf ihm. Mehr Stimmen, diesmal im Dschungel hinter uns.
»Verschwinden wir von hier«, flüsterte Freds und ließ sich auf Hände und Knie fallen. Bahadim und ich krochen durch Schlamm und Gebüsch und folgten ihm. Hinter uns erklangen undefinierbare Geräusche und dann Schüsse. Dann ganze Kugelsalven. Wir krochen schneller.
Schließlich erhob sich Freds.
»Ich glaube, die Luft ist rein, Jungs!« rief er.
»So rein scheint sie mir gar nicht zu sein«, wandte Bahadim ein. »Das ist ein Dschungel.«
»Allerdings. Aber es verfolgt uns niemand mehr.« Und er setzte sich gemächlichen Schrittes in Bewegung.
Erneut folgten wir ihm. Doch nach einer Weile sagte ich, ziemlich unglücklich: »Du meinst, daß uns keine Menschen mehr verfolgen.«
»Wieso? Ja. He, glaubst du …« Er blieb stehen, um zu lauschen.
»Es ist schrecklich still«, verdeutlichte ich.
Wir gingen weiter, so leise wie möglich.
»Unheimlich still«, flüsterte ich.
Und vor uns, hinter irgendeinem Baum, knackte ein Zweig. Anscheinend war da noch ein Geräusch, ein Atmen: ein leises, dumpfes, raspelndes Atmen. Die Art von schabendem Atmen, die auch hätte knurren oder brüllen oder schnurren können.
»Vielleicht sollten wir Schutz suchen«, flüsterte Freds mit besorgt klingender Stimme.
»Irgendwelche Vorschläge?«
»Wie wäre es mit einem Baum?«
»Ich glaube, Tiger können auf Bäume klettern«, sagte ich.
»Nee.«
»Katzen können auf Bäume klettern. Warum nicht auch Tiger? Sie haben die Klauen und die Stärke dafür. Leoparden klettern auf jeden Fall auf Bäume.«
»Ich glaube trotzdem, daß wir auf einem Baum besser dran sind als hier unten.«
Und in der Tat umkreisten wir während dieses Gespräch einen großen, doppelstämmigen Baum und versuchten, einen Weg hinauf zu finden, so daß wir hier offensichtlich gegensätzlicher Meinung waren. Bahadim erklärte, einige Tiger könnten klettern, andere wieder nicht. Freds beklagte sich, Saalbäume eigneten sich nicht gut zum Erklettern, was auch stimmte: ihre Stämme erhoben sich zehn Meter oder höher, bevor die ersten Äste hinauswuchsen. Der doppelstämmige Baum, um den wir herumgingen, schien noch unsere beste Möglichkeit zu sein, aber ich war mir trotzdem nicht sicher, ob wir mit ihm nicht sozusagen eine Einbahnstraße hinaufkletterten. Wir standen also ein paar Minuten da und stritten uns mit scharfen Untertönen darüber, ob Tiger nun klettern konnten oder nicht.
Schließlich brach Freds das Patt, indem er sagte: »Verdammt, wie dem auch sei, ich versuch’s. Wollen wir es dem verdammten Tiger doch nicht allzu leicht machen, selbst, wenn er klettern kann.«
»Und wie willst du da hinaufkommen?« fragte ich ihn.
»Wie eine Felswand«, murmelte er. »Das kann doch höchstens Schwierigkeitsstufe fünf Komma acht oder neun sein.« Und er versuchte es.
Er versuchte es ziemlich oft, und er rutschte jedesmal wieder hinab. «Na schön, na schön. Fünf elf, fünf zwölf. Vielleicht eine Sechs.» Schließlich kam er an dem entscheidenden Punkt vorbei und zog sich zu der Spalte zwischen den Stämmen hoch. Ich ließ Bahadim auf meinen Rücken steigen und kletterte ihnen dann hinterher. Freds führte uns über den rauher aussehenden der beiden Stämme hinauf, über abgeblätterte Rinde und etwas, was sich wie große Kletterameisen anfühlte.
Sobald wir die Stelle erreicht hatten, an der die Äste zu wachsen anfingen, gab es eine ganze Menge davon, und wir konnten uns etwas verteilen, während wir höher kletterten. Wir brauchten jedoch ziemlich lange dafür, und die ganze Zeit über stritten Freds und ich mich darüber, ob Tiger nun klettern konnten oder nicht. Der Dschungel war noch immer totenstill, abgesehen von den schrecklich lauten Geräuschen, die wir von Zeit zu Zeit zu verursachen schienen; also war es für uns ein ernstes Thema. »Scheiße, du hast doch wirklich keine Ahnung!« sagte Freds. »Hast du nie Ein Platz für Tiere gesehen?«
»Natürlich!« erwiderte ich. »Und ich bin sicher, daß ich mich an Tiger in Bäumen erinnere, die ein ganzes Reh da hinaufgeschleppt haben! Sie schlafen sogar auf Bäumen!«
»Das waren Leoparden, George. Die gefleckten sind Leoparden, die gestreiften sind Tiger. Und Tiger kratzen sich an Bäumen nur die Krallen ab. Sie sind viel zu groß, um hinaufzuklettern. Ich glaube, die Äste würden durchbrechen, aus demselben Grund kann es niemals diese Riesenameisen nach Atomexplosionen aus diesen alten Science Fiction-Schinken geben, wenn sich die Größe verdoppelt, vervierfacht sich das Gewicht, oder wie auch immer.«
Ich sah nicht ein, wie das mit unserem Problem zusammenhing. »Sie haben die Muskelkraft dafür, und sie haben die Krallen.«
»Krallen helfen einem nicht, wenn man einen verdammten Baum runter muß! Deshalb werden die Katzen auch immer von der Feuerwehr aus Bäumen gerettet. Hier gibt es keine Feuerwehmänner, die die Tiger runterholen könnten, und das wissen sie ganz genau! Sie sind nicht so dumm wie Katzen. Ihre Gehirne müssen zehnmal so groß sein.«
»Die Gehirngröße hat nichts mit der Intelligenz zu tun.«
»Erklär das mal einem Wurm.«
Wir kletterten noch ein Stück weiter. Bahadim erwähnte, daß es seiner Meinung zufolge im Dschungel von Chitwan nicht nur Tiger, sondern auch Leoparden gäbe.
»Schöne Scheiße!« sagte Freds. »Hast du einen besseren Vorschlag?«
»Nein, nein«, sagte Bahadim. Außerdem, so gestand er ein, seien Bäume der empfohlene Zufluchtsort vor Tigern. Zumindest war man da oben vor Nashörnern sicher. Und es hieß, wenn man hoch genug hinaufstieg, würde man schließlich Äste erreichen, die zu dünn waren, um einen Leoparden oder Tiger zu tragen, falls es sie überhaupt gab.
Also kletterten wir so weit wie möglich hinauf.
Schließlich fand ich mich in einer schmalen Astgabel eingeklemmt, hielt mich an kleinen Zweigen auf beiden Seiten fest und schwankte ganz beachtlich. Der Boden war nicht mehr zu sehen. Über mir sah ich zwischen den Blättern die Sterne. Freds und Bahadim kletterten rechts und links neben mir und waren hinter dazwischen befindlichen Ästen nur teilweise auszumachen. »Höher hinauf kann ich nicht«, sagte ich und versuchte, es mir bequem zu machen. Das Schwanken war wirklich ganz beachtlich. »Mein Gott, Freds«, sagte ich. »Da hast du mich ja wieder schön in die Klemme gebracht!«
»Nicht Freds hat uns in diese schreckliche Lage gebracht!« platzte Bahadim heraus. »Sie haben uns das angetan, George Fergusson! Sie haben Seine Majestät König Birendra angegriffen!«
Anscheinend hatte Bahadim bei unserer überstürzten Flucht keine Gelegenheit gefunden, mir sein Mißgefallen über diese Sache zum Ausdruck zu bringen. Während der Lorenfahrt war es zu laut gewesen, um sich zu unterhalten, und danach waren wir zu beschäftigt gewesen. Er schimpfte mich jede Art von Narr, die ihm nur einfiel. Oft mußte er ins Nepalesische wechseln, um den richtigen Begriff zu finden.
»Mischt sich in die Angelegenheiten Nepals ein! Baut Mist, wo er keine Ahnung hat, was vor sich geht! Dummkopf! Narr! Idiot! Sie sind nur so ein arroganter dummer Amerikaner, der seine Finger im Spiel hat, wo er unerwünscht ist, und zu terroristischen Handlungen greift. Da könnten Sie doch gleich Bomben werfen wie die Ram Raja Prasad Singh, argh! Und was für eine Berechtigung haben Sie für diese Dummheit? Stehen die Dinge in Ihrem Land so ausgezeichnet, daß Sie zu uns kommen müssen, um unsere Probleme zu lösen? Nein! Nein! Nein! Sie schwärmen über die ganze Welt aus und geben vor, alle Probleme zu lösen, und mittlerweile schaffen Sie die Hälfte dieser Probleme selbst, schicken Soldaten aus und betreiben Zinswucher und zwingen uns Ihre chemischen Fabriken auf! Und gibt es in Ihrem Land keine armen Menschen, denen Sie helfen müßten? Gibt es dort keine politischen Probleme? Gibt es keine Korruption in Ihrem Militär? Mit Sicherheit gibt es die! Warum kümmern Sie sich nicht um die Angelegenheiten Ihres eigenen Landes und lassen den armen Rest der Welt in Ruhe? Entführen Sie doch Ihren eigenen König, wenn Sie glauben, so etwas tun zu müssen! Den König von Nepal zu entführen! Dumm! Dumm! DUMM!« Und dann ein langer Redeschwall auf Nepalesisch.
»He«, sagte Freds. »Jetzt lassen Sie ihn gefälligst in Ruhe, ja! Das war doch nur eine Idee!«
»Nur eine Idee! Nur eine Idee, den König zu entführen und die Regierung zu stürzen!«
»Na klar«, sagte Freds. »Warum nicht?«
Bahadim konnte es nicht glauben.
»Nein, wirklich«, sagte Freds. »Das haben Sie doch sowieso vor, oder? Sie führen dort unter der Stadt eine Schattenregierung, oder? Warum sollten Sie da nicht die Macht übernehmen? Der Vater des Königs hat dasselbe getan. Wenn Sie dazu bereit gewesen wären, hätten Sie sich verdammt glücklich schätzen müssen, daß George Ihnen den König einfach so ausliefert. Das hätte Ihnen in den Kram passen müssen!«
»Nein!« sagte Bahadim. »Niemals. Sie verstehen das nicht.«
»Das glaube ich auch«, sagte Freds.
Bahadim atmete tief ein. Er war so aufgeregt, daß sein Ast zitterte.
Er riß sich zusammen und beruhigte sich. Nach einer Weile versuchte er, es Freds zu erklären. »Wir in Nepal, wir sind unserem König treu ergeben. Wir lieben unseren König. Er ist unser König, der König eines unabhängigen Nepals, das niemals von einem anderen Land beherrscht wurde.«
»Ja, aber er ist ein Schurke.«
»Nein! Das stimmt nicht. König Birendra ist kein Schurke. Die Leute sagen das vielleicht, weil er König ist, oder weil sein jüngerer Bruder ein Tunichtgut ist. Und die Ranas, sie umgeben ihn — die Königin, die Armee, seine Berater —, sie sind überall um ihn herum und machen es ihm unmöglich, so zu handeln, wie er vielleicht gern handeln würde. Er ist kein starker König wie sein Vater, das gestehe ich ein.
Aber er ist ein kluger Mann, und er weiß, woher die Probleme Nepals rühren. Er will die Dinge verändern.«
»Ach ja?« sagten Freds und ich gleichzeitig.
»Ja. König Birendra möchte politische Reformen, um die wirtschaftlichen Reformen zu unterstützen. Diese Hilfsprogramme sind ihm ein Dorn im Auge, die Bürokratie und die Korruption und die Ranas. Er will ein konstitutionelles Land, verstehen Sie? Aber es liegt nicht in seiner Macht, das zu bewerkstelligen. Viele, viele Leute möchten, daß der Palast das Sagen hat. Der König ist ein Gefangener des Kastensystems, der Macht der Ranas. Sie sind reicher als er, sie beherrschen die Armee, verstehen Sie? Also muß er mit uns zusammenarbeiten.«
»Mit euch!« rief ich.
»Ja. Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen gesagt habe, wir arbeiteten unter der Stadt, um den Menschen zu helfen, mit Geldmitteln, die reiche Nepalis zur Verfügung stellen, die mit unserer Sache sympathisieren?«
»Birendra?« Ich war erstaunt.
»Ja«, sagte Bahadim. »Wir haben Kontakt mit ihm, und er weiß, was wir tun. Er hilft uns. Das ist eine Möglichkeit, mit der er etwas verändern kann, ohne daß die Ranas davon erfahren. Er ist unser Schutzherr. Wir beraten uns durch diesen Riß in seinem Schrank mit ihm. Er ist unser König, wir lieben ihn. Er hat seine Schwächen, doch er gibt sein Bestes, und es liegt nicht an ihm, daß in Nepal so einiges nicht in Ordnung ist, jedenfalls nicht völlig. Er tut, was er kann, genau wie wir.«
»Warum haben Sie mir das nicht gesagt?« fragte ich schockiert.
»Das geht Sie nichts an! Ich habe Ihnen doch gesagt, daß wir in Nepal einiges geheimhalten, einige Dinge, die allein Nepal gehören. Natürlich können wir nicht verbreiten, daß der König durch eine unterirdische Regierung arbeitet! Wenn das bekannt würde, würden die Ranas es verhindern. Also habe ich es vor Ihnen geheimgehalten.«
»Dann ist das alles Ihre Schuld, nicht wahr?« stellte Freds klar. »Wenn Sie es George erzählt hätten, hätte er nicht versucht, euch auf diese Art zu helfen.«
Bahadims einzige Erwiderung darauf war ein verdrossen klingender nepalesischer Wortschwall.
Ich saß schwankend da oben und dachte darüber nach. »Wenn der König also über Sie Bescheid weiß«, sagte ich zu Bahadim, »müßten Sie imstande sein, die Sache mit den Tunnels und so weiter wieder hinzubiegen.«
»Ja«, sagte er kurzangebunden. »Einige seiner Leibwächter stehen in seinem Vertrauen und wissen von uns. Sie nahmen wahrscheinlich an, daß wir von der Ram Raja Prasad Singh oder einer anderen terroristischen Gruppe unterwandert waren. Wenn sie sich beruhigt haben und wir ihnen alles erklären können, bekommen wir die Sache wieder hin, und dann wird auch die Existenz der Tunnels nicht offenbart werden.«
»Gut«, sagte ich. Ich seufzte. »Es tut mir leid, Bahadim. Ich bin da wohl kurz ausgeflippt, schätze ich. Dieser gottverdammte A. Rana treibt mich noch in den Wahnsinn. Und als Sie mir das mit diesen Wilddieben erzählten …«
»Sie müssen sich darüber keine Sorgen machen«, sagte Bahadim kurzangebunden. »Wir haben den Jeep, den Freds uns gemeldet hat, zu einer militärischen Fahrbereitschaft in Chitwan zurückverfolgt, die von A. Ranas Neffen benutzt wird. Nachdem Freds nun die Leibwache des Königs in ein Gefecht mit den Wilddieben geführt hat, wird sich der König sehr dafür interessieren. Wir werden A. Rana aufhalten und ihm wahrscheinlich sehr große Probleme bereiten. Obwohl es wegen der Verwirrung, die Sie durch Ihre Entführung gestiftet haben, vielleicht einige Zeit dauern wird.«
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich habe es verpatzt.«
Er seufzte. »Es ist schon gut«, sagte er zögernd. »Sie haben nur versucht, uns zu helfen.« Eine Pause. »Obwohl ich Ihnen sagen muß, daß wir Ihre Hilfe in dieser Angelegenheit nicht wollen, vielen Dank. Und ich habe immer noch den Eindruck, als gäbe es auch in Ihrem Land noch vieles zu verbessern.«
Wieder zögerte er; dann fuhr er fort: »Wissen Sie, wir bilden nicht die einzige unterirdische Regierung auf der Welt.
Wir haben Kontakte, einige tatsächlich durch Tunnels, andere nur durch Informanten, und sie dehnen sich auf viele Länder aus. Einschließlich des Ihren. Unter Washington, D. C, London, Moskau …«
»Tunnelsysteme?« sagte ich.
»U-Bahnen«, warf Freds ein. »Ist doch klar, George.«
»Nein, nein, nein«, sagte Bahadim. »Sie liegen unter den U-Bahnen und so weiter.«
»Das habe ich dir doch gesagt, George«, sagte Freds. »Das Tunnelsystem von Shambhala ist älter und größer, als du es dir je vorstellen kannst. Es war einmal eine wirklich große Zivilisation. Tausende von Jahren, Tausende von Kilometern.«
»Ja, wirklich sehr verzweigt«, sagte Bahadim. »Und nun wird es wieder benutzt, um die Ranas zu umgehen, verstehen Sie. Oder ihre Äquivalente in anderen Ländern.«
»Na ja«, sagte ich. »Ich muß sie mir mal genauer ansehen. Falls ich jemals zurückkomme.«
»Das würde ich Ihnen empfehlen«, sagte Bahadim, und ich wußte nicht, ob er damit meinte, ich sollte mir sie ansehen oder zurückkehren.
Ich ließ es dabei bewenden und kam mir etwas überwältigt vor. Außerdem war mein Hintern eingeschlafen. Ich mußte meine Sitzhaltung ändern. Während wir durch den Dschungel gekrochen waren, hatten wir uns ganz schön aufgewärmt und von der durch die Fahrt durch die Tunnels hervorgerufenen Unterkühlung erholt, doch nun kühlte der Schweiß uns wieder ab, und mir wurde wieder kalt.
Der Horizont, der im Osten liegen mußte, färbte sich ein wenig grau, doch es würde noch eine beträchtliche Weile bis zum Tageslicht dauern, und wir konnten nichts weiter tun, als dort oben zu sitzen, in einer leichten Brise zu schwanken und zu zittern. Von seinem Hochsitz aus erzählte Freds die unendliche Geschichte seines Lebens; seine Stimme war ein vertrautes Stakkatomuster, das in mein Bewußtsein eindrang und wieder verblich. »Scheiße, hier oben friert man sich ja den Arsch ab. Aber diese Achterbahnfahrt war doch wirklich toll! Meine Augäpfel erfroren, so kalt war’s. Das erinnert mich daran, wie ich unter Kunga Norbu im geheimen Rongbok meine Novizenausbildung absolvierte, und wir kamen zu dem Test, mit dem sie feststellen wollen, wie stark deine Tumo-Kräfte sind. Bei dem bringen sie einen des Nachts zu einem dieser Gletscherbäche auf etwa fünftausend Meter Höhe und ziehen einen nackt aus und gießen ein paar Eimer Wasser über einen und weichen etwa zwanzig weiße Laken im Bach ein und lassen einen dann da oben zurück, und man muß sich nicht nur warmhalten, man muß sich sogar so warm halten, daß man die weißen Laken trocknen kann, so viele wie möglich, und je mehr man im Lauf der Nacht trocknet, desto besser ist es für die Prüfung, daß ist ein strenger numerischer Test, wie jede Aufnahmeprüfung an der Uni und sehr genau, wenn es darum geht, herauszufinden, wer der beste Lama sein wird. Na ja, ich wollte euch ja erzählen, als sie dieses Eiswasser über mich gossen, war der Schock so stark, daß ich meine Tumo-Ausbildung völlig vergaß, ich meine, ich vergaß sie einfach, und da stand ich splitternackt auf fünftausend Meter Höhe um acht Uhr Abends im November und wußte einfach nicht, was ich tun sollte …«
Und er quasselte endlos weiter. Ich glaube, ich schlief ein paar Mal ein, obwohl mich jede Bewegung meiner Astgabel hochfahren ließ, wenn mir wieder einfiel, wo ich war.
Der Himmel wurde immer heller. Meine Hände waren schrecklich wund, und ich merkte, daß ich mich die ganze Zeit da oben an den Ästen festgehalten hatte.
»… und als sie schließlich kamen, hatte ich die Laken alle zusammengefaltet, und sie sahen praktisch aus wie gebügelt und waren trockner als Toast, aber Kunga Norbu traute dem Braten nicht, und als er die Asche fand, hat er mit einem Stock die Scheiße aus mir rausgeprügelt …«
»Freds?«
»Was? He, George! Guten Morgen! Die Sonne müßte jeden Augenblick aufgehen, oder? Was für ein Tag! Mann, wird doch toll sein, von diesem Baum hier runterzukommen, oder? Wir schlagen uns zu Daubahals Lager durch und fahren dann nach Katmandu, Mann, und dann gehen wir ins Old Vienna, ich bin schon halb verhungert, du nicht auch? Ich werde Wiener Schnitzel, Gulasch und Apfelstrudel essen, vielleicht sogar zwei Portionen Apfelstrudel, klar, und das Dasain ist noch voll im Gange, und Katmandu ist ganz toll während des Daisan, und wir können auf die Straßen gehen und feiern, bis wir nicht mehr wissen, wo uns der Kopf steht.«
»Was genau sollen wir feiern?« krächzte Bahadim müde.
»Hmm … na ja, tja, zum Beispiel, daß wir von diesem Baum runtergekommen sind. Ich weiß nicht, wie es bei euch ist, aber mir fallen die Beine ab. Ich glaube, ich hab’ mir während der Fahrt Erfrierungen geholt. Das erinnert mich daran, wie wir vorhatten, mit dem Rad nach Makalu zu fahren …«
»Freds!« sagte ich.
»Was?«
»Halt die Klappe.«
»Na klar, Bruder. Ich will mir nicht nachsagen lassen, daß ich jemandem auf den Wecker gefallen bin, aber damit ihr da oben nicht einschlaft oder so, sollte ich euch wohl lieber auf den Wecker fallen …«
Ich ließ seine Stimme in die Geräuschkulisse des erwachenden Dschungels treiben. Ich war müde — sehr, sehr, sehr müde.
Aber irgend etwas daran, wie Freds von Katmandu gesprochen hatte, ließ das Bild der Stadt deutlich vor meinem inneren Auge erstehen. Es kroch geradezu über die Innenseiten meiner Augäpfel. Und als die rote Sonne den Horizont aufbrach und sich die dicke, feuchte Luft mit Licht füllte und wir uns anschickten, den Baum hinabzusteigen (›Wo sind die Feuerwehrleute? Vielleicht sind Katzen doch gar nicht so dumm!‹), mußte ich unwillkürlich an die Stadt denken, an die überfüllten Straßen und die Läden mit offener Front und die Tempel überall und die Bettler auf den Straßen, und ich wußte, daß sie sich niemals verändern würde — wenn wir zurückkamen, würden die Kühe noch den verrückten Verkehr behindern, und die riesigen Fledermäuse würden mit den Köpfen nach unten an den Kiefern auf dem Palastgelände hängen, und die Menschenschlangen würden sich hunderte Meter weit aus dem Postamt und dem Telegraphenamt erstrecken, und die Straßenhändler würden auf den Bürgersteigen sitzen und Zuckerwaren und Weihrauch und Antibiotika und unbestimmbare Früchte und Ballen mit leuchtendem Tuch verkaufen, und Krähen und Wolken und Regenbogen würden über uns gen Norden zum Himalaja fliegen, und Fahrradschellen würden klingeln, und die heruntergekommenen alten Straßen der Stadt würden vor Leben nur so wimmeln, und ich stellte fest, daß ich es gar nicht abwarten konnte, wieder nach Hause zu kommen.