Etwa drei Monate später schlenderte Tim Jamieson an einem kühlen Oktobermorgen die Zufahrt entlang, die von der Catawba Hill Farm zur South Carolina State Road 12-A führte. Der Spaziergang dauerte eine Weile, da die Zufahrt beinahe eine halbe Meile lang war. Wäre sie noch länger gewesen, sagte er gern scherzhaft zu Wendy, hätte man sie als South Carolina State Road 12-B bezeichnen können. Er trug ausgeblichene Jeans, verdreckte Arbeitsstiefel Marke Georgia Giant und ein Sweatshirt, das so groß war, dass es ihm bis hinunter zu den Oberschenkeln reichte. Es war ein Geschenk, das Luke für ihn im Internet bestellt hatte. Auf der Brust standen in goldenen Lettern zwei Wörter: DER AVESTER. Tim hatte Avery Dixon nie kennengelernt, trug das Shirt aber trotzdem gern. Sein Gesicht war tief gebräunt. Die Farm wurde schon seit zehn Jahren nicht mehr als solche betrieben, aber hinter der Scheune breitete sich ein riesiger Garten aus, und jetzt war Erntezeit.
Tim erreichte den Briefkasten, klappte ihn auf und wollte gerade die übliche Werbung herausziehen (echte Post bekam heutzutage offenbar niemand mehr), als er erstarrte. Sein Magen, dem es auf dem Weg hierher bestens gegangen war, schien sich zusammenzuziehen. Da kam ein Wagen, bremste ab und fuhr an den Straßenrand. Er hatte nichts Besonderes an sich, es war nur ein Chevy Malibu, von rötlichem Staub bedeckt und mit massenhaft zerquetschten Insekten am Kühlergrill. Ein Nachbar war es nicht, die Autos von denen kannte Tim alle, aber es hätte ein Vertreter sein können oder jemand, der sich verfahren hatte und nach dem Weg fragen wollte. Nur war das nicht der Fall. Tim wusste nicht, wer der Mann am Lenkrad war, nur dass er – Tim – auf ihn gewartet hatte. Jetzt war es so weit.
Er klappte den Briefkasten zu und griff mit der Hand nach hinten, als wollte er seinen Gürtel zurechtrücken. Der Gürtel war da, wo er sein sollte, ebenso die Waffe, eine Glock, die einmal einem rothaarigen Deputy namens Taggart Faraday gehört hatte.
Der Mann stellte den Motor ab und stieg aus. Er trug Jeans, die wesentlich neuer waren als die von Tim – sie hatten noch die Bügelfalte vom Laden–, und ein weißes, bis zum Hals zugeknöpftes Hemd. Sein Gesicht war zugleich ansprechend und nichtssagend, ein Gegensatz, der einem unmöglich vorgekommen wäre, bis man so jemand vor sich sah. Die Augen waren blau, die Haare hatten den nordischen Blondton, der beinahe weiß wirkte. Eigentlich sah er genauso aus, wie die verstorbene Julia Sigsby ihn sich vorgestellt hatte. Er wünschte Tim einen guten Morgen, und Tim erwiderte den Gruß mit der Hand hinter dem Rücken.
»Sie sind Tim Jamieson.« Der Besucher streckte ihm die Hand hin.
Tim sah sie an, ohne sie zu schütteln. »Der bin ich. Und wer sind Sie?«
Der blonde Mann lächelte. »Sagen wir mal, ich heiße William Smith. Das ist der Name auf meinem Führerschein.« Jedes S am Wortanfang war leicht gelispelt. »Sagen Sie doch Bill zu mir.«
»Was kann ich für Sie tun, Mr. Smith?«
Der Mann, der sich Bill Smith nannte – ein Name, so anonym wie sein Pkw–, blinzelte in den frühen Sonnenschein. Lächelte leicht, als müsste er sich zwischen mehreren möglichen Antworten auf diese Frage entscheiden, die allesamt angenehm waren. Dann richtete er den Blick wieder auf Tim. Das Lächeln lag noch auf seinem Mund, aber seine Augen lächelten nicht.
»Wir könnten noch ein bisschen um den heißen Brei herumreden, aber Sie haben heute bestimmt viel zu tun, deshalb werde ich nicht mehr von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen als unbedingt nötig. Lassen Sie mich mit der Versicherung beginnen, dass ich nicht hier bin, um Ihnen irgendwelche Probleme zu bereiten. Sollte es Sie also da hinten nicht nur jucken, können Sie die Waffe stecken lassen. Ich glaube, wir sind uns einig, dass in diesem Teil der Welt vorläufig genügend Schüsse gefallen sind.«
Tim überlegte, ob er Mr. Smith fragen sollte, wie man ihn ausfindig gemacht habe, aber wozu? Schwer konnte es nicht gewesen sein. Die Catawba Farm gehörte Harry und Rita Gullickson, die jetzt in Florida lebten. Ihre Tochter hatte in den letzten drei Jahren ein Auge auf das alte Haus gehabt. Wer hätte das besser tun können als ein Deputy?
Na gut, sie war Deputy gewesen und bekam immer noch ihr Gehalt, wenigstens vorläufig, aber einen Aufgabenbereich hatte sie eigentlich nicht mehr. Ronnie Gibson, die an dem Abend, an dem Mrs. Sigsby und ihr Stoßtrupp angegriffen hatten, in Urlaub gewesen war, fungierte jetzt als kommissarischer Sheriff von Fairlee County, aber wie lange es dabei bleiben würde, wusste niemand; man sprach davon, die Polizeistation in die nahe Stadt Dunning zu verlegen. Wendy war ohnehin nie so recht als Gesetzeshüterin geeignet gewesen.
»Wo ist Officer Wendy?«, fragte Smith. »Da hinten im Haus vielleicht?«
»Wo ist Stackhouse?«, konterte Tim. »Der hat Ihnen wohl von Officer Wendy erzählt, denn Mrs. Sigsby ist bekanntlich tot.«
Smith zuckte die Achseln, steckte die Hände in die Gesäßtaschen seiner neuen Jeans, wiegte sich vor und zurück und blickte sich um. »Menschenskind, ist das hübsch hier, was?« Das was hörte sich nach wath an, aber es war nur ein ganz leichtes Lispeln und trat zudem nur ab und zu auf.
Tim entschied, die Frage nach Stackhouse fallen zu lassen. Offensichtlich würde er doch keine Antwort bekommen, außerdem war Stackhouse nicht mehr von Interesse. Vielleicht war er in Brasilien, vielleicht auch in Argentinien oder Australien, und vielleicht war er tot. Für Tim hatte das keinerlei Bedeutung. Und der Mann mit dem Lispeln hatte recht; es hatte keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden.
»Deputy Gullickson ist in Columbia bei einer nicht öffentlichen Anhörung zu der Schießerei, die im Sommer vorgefallen ist.«
»Ich nehme an, sie hat eine Geschichte parat, die ihr die Leute von der Kommission abkaufen werden.«
Tim hatte kein Interesse daran, diese Annahme zu bestätigen. »Außerdem wird sie an einigen Besprechungen über die Zukunft der Polizeiarbeit hier in Fairlee County teilnehmen, da das bisherige Personal von der Truppe, die Sie geschickt haben, weitgehend ausgelöscht wurde.«
Smith spreizte die Hände. »Damit hatten ich und die Leute, mit denen ich zusammenarbeite, absolut nichts zu tun. Mrs. Sigsby hat eigenmächtig gehandelt.«
Selbst wenn das stimmt, stimmt es nicht wirklich, hätte Tim entgegnen können. Schließlich hat sie so gehandelt, weil sie Angst vor Ihnen und den Leuten hatte, mit denen Sie zusammenarbeiten.
»Soweit mir bekannt ist, sind George Iles und Helen Simms bereits abgereist«, sagte Mr. Smith. Simms kam als Simmth heraus. »Der junge Mr. Iles zu einem Onkel in Kalifornien, Miss Simms zu ihren Großeltern in Delaware.«
Tim konnte sich zwar nicht erklären, woher der Mann mit dem Lispeln diese Informationen hatte – Norbert Hollister war schon lange fort, am Motel hing ein Schild mit der Aufschrift ZU VERKAUFEN, das wahrscheinlich lange da hängen bleiben würde–, aber sie trafen zu. Dass man ihn nicht aufspüren würde, hatte er nie erwartet, das wäre naiv gewesen, aber ihm passte gar nicht, wie genau Mr. Smith über die Kinder Bescheid wusste.
»Das bedeutet, dass Nicholas Wilholm und Kalisha Benson noch hier sind. Und natürlich Luke Ellis.« Das Lächeln zeigte sich wieder, wenn auch dünner. »Der Ursprung allen Elends.«
»Was wollen Sie, Mr. Smith?«
»Eigentlich nur sehr wenig. Wir kommen gleich dazu. Vorerst möchte ich Ihnen ein Kompliment machen. Nicht nur wegen Ihrer Tapferkeit in der Nacht, in der Sie das Institut praktisch im Alleingang gestürmt haben, sondern auch wegen der Sorgfalt, die Sie und Officer Wendy anschließend an den Tag gelegt haben. Sie haben die Kinder fein säuberlich aufgeteilt, nicht wahr? Zuerst haben Sie Iles weggeschickt, etwa einen Monat nach Ihrer Rückkehr nach South Carolina. Die kleine Simms zwei Wochen später. Beide mit der Geschichte, man hätte sie aus unbekannten Gründen gekidnappt, eine Weile an einem unbekannten Ort festgehalten und dann freigelassen… ebenfalls aus unbekannten Gründen. Das haben Sie und Officer Wendy alles arrangiert, obwohl Sie in dieser Zeit sicher allerhand Fragen beantworten mussten.«
»Woher wissen Sie das alles?«
Jetzt war der Mann mit dem Lispeln an der Reihe, nicht zu antworten, aber das war in Ordnung. Wahrscheinlich stammten zumindest einige seiner Informationen direkt aus den Medien und dem Internet. Die Rückkehr von gekidnappten Kindern war immer eine Nachricht wert. »Wann reisen denn Wilholm und Benson ab?«
Nach kurzer Überlegung beschloss Tim, die Frage zu beantworten. »Nicky fährt am kommenden Freitag. Zu seinem Onkel und seiner Tante in Nevada. Sein Bruder ist schon dort. Er ist zwar nicht gerade begeistert, weiß aber, dass er hier nicht bleiben kann. Kalisha ist noch ein oder zwei Wochen hier. Sie hat eine zwölf Jahre ältere Schwester in Houston und freut sich darauf, die wiederzusehen.« Das stimmte, wenn auch nicht ganz. Wie die anderen litt Kalisha an einer posttraumatischen Belastungsstörung.
»Und deren Geschichten werden einer polizeilichen Überprüfung ebenfalls standhalten?«
»Ja. Was sie erzählen sollen, ist ziemlich einfach, und natürlich haben sie alle Angst davor, was ihnen zustoßen könnte, wenn sie die Wahrheit sagen würden.« Tim machte eine Pause. »Nicht dass man ihnen glauben würde.«
»Und der junge Mr. Ellis? Was ist mit dem?«
»Luke bleibt bei mir. Er hat keine nahen Verwandten und damit niemand, zu dem er könnte. Inzwischen beschäftigt er sich schon wieder mit seinen Studien. Das tröstet ihn. Der Junge trauert, Mr. Smith. Er trauert um seine Eltern und seine Freunde.« Er sah dem blonden Mann scharf in die Augen. »Wahrscheinlich trauert er auch um die Kindheit, die Ihre Leute ihm geraubt haben.«
Er wartete darauf, dass Smith reagierte. Weil nichts kam, fuhr er fort.
»Wenn uns irgendwann eine einigermaßen hieb- und stichfeste Geschichte einfällt, wird er wieder da anfangen, wo er aufgehört hat. Er will gleichzeitig am Emerson College und am MIT studieren. Schließlich ist er ein sehr kluger Junge.« Dass sein Gegenüber das nur zu gut wusste, musste er nicht hinzufügen. »Sagen Sie, Mr. Smith… interessiert Sie das überhaupt?«
»Nicht besonders«, sagte Smith. Er zog eine Schachtel American Spirits aus der Brusttasche. »Rauchen Sie?«
Tim schüttelte den Kopf.
»Ich tu es eigentlich auch nur selten«, sagte Mr. Smith. »Aber ich mache gerade eine Sprachtherapie gegen mein Lispeln und gönne mir eine Zigarette als Belohnung, wenn ich es in einem Gespräch unter Kontrolle habe, vor allem in einer langen und ziemlich intensiven Unterhaltung wie jetzt gerade. Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass ich lispele?«
»Nur ganz schwach.«
Sichtlich erfreut nickte Mr. Smith, bevor er sich seine Zigarette ansteckte. Ein angenehm würziger Geruch stieg in die kühle Morgenluft. Ein Geruch wie geschaffen für eine Gegend, in der immer noch Tabak angebaut wurde… auf der Catawba Farm allerdings schon seit den Neunzehnachtzigern nicht mehr.
»Hoffentlich werden die Kinder weiterhin schweigen wie ein Grab, wie man so sagt. Falls eines von ihnen redet, hätte das Folgen für alle fünf. Auch wenn Sie angeblich einen gewissen USB-Stick besitzen. Nicht alle von meinen… Leuten… glauben, dass der tatsächlich existiert.«
Tim lächelte, ohne die Zähne zu zeigen. »Es wäre unklug von Ihren… Leuten… es darauf ankommen zu lassen.«
»Sagen wir mal, ich habe Sie verstanden. Trotzdem wäre es eine ausgesprochen schlechte Idee, wenn diese Kinder über ihre Abenteuer in den Wäldern von Maine reden würden. Falls Sie in Kontakt mit Mr. Iles und Miss Simms stehen, sollten Sie denen das gelegentlich mitteilen. Vielleicht können Wilholm, Benson und Ellis aber auch auf andere Weise Kontakt mit ihnen aufnehmen.«
»Meinen Sie telepathisch? Darauf würde ich nicht zählen. Die Fähigkeit dazu sinkt allmählich auf das Niveau zurück, auf dem es war, bevor man sie gekidnappt hat. Mit der Telekinese verhält es sich ebenso.« Er gab Smith nur weiter, was die Kinder ihm gesagt hatten, wusste jedoch nicht recht, ob er es glauben sollte. Sicher wusste er nur, dass dieses grässliche Summen nie wieder aufgetreten war. »Wie haben Sie das Ganze denn verschleiert, Smith? Da bin ich wirklich neugierig.«
»Und das werden Sie bleiben«, sagte der blonde Mann. »Dafür erzähle ich Ihnen, dass wir uns nicht nur um die Einrichtung in Maine kümmern mussten. In anderen Teilen der Welt gab es zwanzig weitere Institute, von denen kein einziges mehr in Betrieb ist. Zwei davon – in Ländern, wo man den Kindern schon bald nach der Geburt Gehorsam einimpft – haben etwa sechs Wochen durchgehalten, aber dann kam es in beiden zu einem Massensuizid.« Das letzte Wort klang nach Mathenthuithid.
Massensuizid oder Massenmord, fragte sich Tim, aber das war kein Thema, auf das er näher eingehen wollte. Je schneller er den Mann da loswurde, desto besser.
»Der junge Mr. Ellis – freilich mit Ihrer Hilfe, ganz eindeutig – hat uns ruiniert. Das hört sich zweifellos melodramatisch an, ist jedoch die reine Wahrheit.«
»Meinen Sie etwa, das tut mir leid?«, sagte Tim. »Sie haben Kinder umgebracht. Falls es eine Hölle geben sollte, werden Sie da landen.«
»Während Sie, Mr. Jamieson, zweifellos meinen, dass Sie in den Himmel kommen, vorausgesetzt, es gibt einen solchen Ort. Und wer weiß, vielleicht haben Sie sogar recht. Welcher Gott könnte wohl jemand abweisen, der tapfer auszieht, um schutzlose junge Menschen zu retten? Wenn ich mir erlaube, Christus am Kreuz zu zitieren, so wird Ihnen vergeben werden, weil Sie nicht wussten, was Sie taten.« Er warf seine Zigarette weg. »Aber ich werde Ihnen das jetzt klarmachen. Zu diesem Zweck bin ich hergekommen, mit Zustimmung meiner Partner. Dank Ihnen und Ellis ist die Welt jetzt dem Suizid nahe.« Diesmal kam das Wort klar heraus.
Tim sagte nichts, sondern wartete ab.
»Das erste Institut, wenn auch nicht unter diesem Namen, befand sich in Nazideutschland.«
»Wieso überrascht mich das nicht?«, sagte Tim.
»Und wieso sind Sie so voreingenommen? Die Nazis haben die Kernspaltung schon vor den Amerikanern entdeckt. Sie haben Antibiotika geschaffen, die noch heute eingesetzt werden. Sie haben mehr oder weniger die moderne Raketentechnik entwickelt. Und bestimmte deutsche Wissenschaftler haben paranormale Experimente durchgeführt, mit der begeisterten Unterstützung Hitlers. Beinahe zufällig haben sie dabei entdeckt, dass Gruppen aus entsprechend begabten Kindern dafür sorgen konnten, dass bestimmte problematische Personen – Hindernisse für den Fortschritt, könnte man sagen – kein Problem mehr darstellten. Im Jahre 1944 waren die betreffenden Kinder verbraucht, weil es keine sichere, keine wissenschaftliche Methode gab, Ersatz für sie zu finden, nachdem sie zu Rüben geworden waren, wie man im Institutsjargon sagt. Der nützlichste Test für latente paranormale Fähigkeiten wurde erst später entwickelt. Wissen Sie, um was für einen Test es sich handelt?«
»Um den auf BDNF. Einen Wachstumsfaktor. Luke hat gesagt, das sei der Indikator.«
»Ja, der ist ein kluger Junge, wohl wahr. Sehr klug. Alle, die Bescheid wissen, wünschen sich jetzt, dass man die Finger von ihm gelassen hätte. Sein BDNF-Spiegel ist nicht mal besonders hoch.«
»Ich kann mir vorstellen, dass Luke sich ebenfalls wünscht, man hätte ihn in Frieden gelassen. Ihn und seine Eltern. Wie wär’s, wenn Sie jetzt weiter Ihr Sprüchlein aufsagen?«
»Na gut. Vor und nach Ende des Zweiten Weltkriegs fanden Konferenzen statt. Falls Sie sich an den Geschichtsunterricht in der Schule erinnern, werden Sie einige davon kennen.«
»Ich weiß von Jalta«, sagte Tim. »Wo Roosevelt, Churchill und Stalin zusammengekommen sind, um praktisch die Welt unter sich aufzuteilen.«
»Ja, das ist die berühmteste Konferenz, aber die bedeutsamste fand in Rio de Janeiro statt, und daran war keine Regierung beteiligt… falls man die Gruppe, die sich dort getroffen hat – und deren Nachfolger im Lauf der Jahre–, nicht als eine Art Schattenregierung bezeichnen möchte. Die Teilnehmer – das heißt wir – wussten von den deutschen Kindern und haben sich darangemacht, weitere zu finden. Im Jahre 1950 wurde uns klar, wie nützlich der BDNF-Test ist. Dann wurden an abgelegenen Orten Institute errichtet, eines nach dem anderen. Die Techniken wurden verfeinert. Damit hat es mehr als siebzig Jahre lang Institute gegeben, und nach unserer Berechnung haben sie die Welt mehr als fünfhundert Mal vor dem nuklearen Holocaust gerettet.«
»Das ist doch lächerlich«, sagte Tim scharf. »Ein Witz.«
»Keineswegs. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Zu dem Zeitpunkt, wo die Kinder in dem Institut in Maine eine Revolte angezettelt haben – die sich wie ein Virus auf alle anderen Institute ausgebreitet hat–, waren sie damit beschäftigt, den Suizid eines Evangelisten namens Paul Westin auszulösen. Dank Luke Ellis ist der Mann nun noch am Leben. In zehn Jahren wird er zum nahen Vertrauten eines christlichen Politikers werden, den man zum amerikanischen Verteidigungsminister ernennen wird. Westin wird diesen Minister davon überzeugen, dass ein Krieg bevorsteht, und der Minister wird den Präsidenten ebenfalls davon überzeugen, was letztlich zu einem präventiven Atomschlag führen wird. Nur mit einer einzigen Rakete, aber das könnte dazu führen, dass sämtliche Dominosteine umfallen. Dieser letzte Aspekt befindet sich allerdings außerhalb unseres Prognosespektrums.«
»So was kann man doch unmöglich vorhersagen.«
»Was meinen Sie wohl, wie wir unsere Zielpersonen auswählen, Mr. Jamieson? Indem wir Zettelchen aus einem Hut ziehen?«
Tim runzelte die Stirn. Darüber hatte er nie nachgedacht.
»Mit Telepathie, nehme ich an«, sagte er schließlich.
Mr. Smith benahm sich wie ein geduldiger Lehrer, der es mit einen begriffsstutzigen Schüler zu tun hatte. »Personen mit TK können Gegenstände bewegen, solche mit TP lesen Gedanken, aber niemand von denen ist in der Lage, die Zukunft vorherzusagen.« Er zog wieder seine Zigarettenpackung aus der Tasche. »Wollen Sie ganz bestimmt keine?«
Tim schüttelte den Kopf.
Smith steckte sich seine Zigarette an. »Kinder wie Luke Ellis und Kalisha Benson sind selten, aber es gibt andere Personen, die noch seltener sind. Sie sind wertvoller als das wertvollste Metall. Und was ist das Beste an ihnen? Ihre Talente nehmen nicht ab, wenn sie älter werden, und sie zerstören ihnen auch nicht das Gehirn, wenn sie sie verwenden.«
Tim nahm aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr und drehte sich um. Luke war die Zufahrt entlanggekommen. Ein Stück weiter oben stand Annie Ledoux mit einer aufgeklappten Schrotflinte über dem Arm. Flankiert wurde sie von Kalisha und Nicky. Smith sah noch niemand von ihnen; er blickte in die dunstige Ferne auf die kleine Stadt DuPray und die glitzernden Bahngleise, die durch sie hindurchliefen.
Annie verbrachte jetzt viel Zeit auf der Farm. Sie war fasziniert von den Kindern, und die schienen sich über sie zu freuen. Tim richtete den Zeigefinger auf sie, dann wedelte er mit der Hand: Bleib, wo du bist. Sie nickte, blieb stehen und beobachtete das Ganze. Smith bewunderte immer noch den Blick, der wirklich sehr schön war.
»Sagen wir, es gibt ein weiteres Institut«, fuhr er fort. »Ein sehr kleines und sehr spezielles, wo alles erstklassig und modern ist. Keine Spur von veralteten Computern und maroder Infrastruktur. Es befindet sich an einem absolut sicheren Ort. Andere Institute stehen in Ländern, die wir für feindlich halten, dieses jedoch nicht. Hier gibt es keine Taser, keine Injektionen, keine Strafen. Es ist nicht nötig, die Bewohner dieses speziellen Instituts irgendwelchen Nahtoderfahrungen wie dem Wassertank auszusetzen, um sie dabei zu unterstützen, sich ihren tieferen Fähigkeiten zu öffnen.
Sagen wir, dieses Institut steht in der Schweiz. Vielleicht stimmt das gar nicht, aber bleiben wir mal dabei. Jedenfalls befindet es sich auf neutralem Boden, weil viele Nationen ein Interesse daran haben, dass es aufrechterhalten wird und problemlos operiert. Sehr viele Nationen. An diesem Ort leben momentan sechs sehr spezielle Gäste. Die sind keine Kinder mehr, anders als bei den TPs und TKs in den normalen Instituten wird ihr Talent im Alter von achtzehn bis dreiundzwanzig Jahren nicht schwächer, bis es schließlich verschwindet. Zwei von diesen Personen sind sogar schon ziemlich alt. Ihr BDNF-Spiegel steht nicht im Zusammenhang mit ihrem sehr speziellen Talent. In dieser Hinsicht sind sie einzigartig und daher ausgesprochen schwer aufzufinden. Wir haben immer ständig nach Ersatz gesucht, aber jetzt wurde die Suche eingestellt, weil sie kaum mehr Zweck hat.«
»Was für ein Talent haben diese Leute denn?«
»Präkognition«, sagte Luke.
Erschrocken fuhr Smith herum. »Ach, hallo, Luke!« Er lächelte, wich jedoch zugleich einen Schritt zurück. Ob er wohl Angst hatte? Tim kam es ganz so vor. »Präkognition, genau.«
»Wovon redet ihr da eigentlich?«, fragte Tim.
»Von Leuten, die in die Zukunft blicken können«, sagte Luke.
»Ihr wollt mich auf den Arm nehmen, stimmt’s?«
»Das will ich nicht, und er will das auch nicht«, sagte Smith. »Man könnte diese sechs Personen als unser Frühwarnsystem bezeichnen. Im militärischen Bereich gibt es solche Systeme bekanntlich seit dem Kalten Krieg. Um einen aktuelleren Vergleich zu nehmen, sind es unsere Drohnen, die in die Zukunft fliegen und Orte lokalisieren, wo große Konflikte ihren Ausgang nehmen werden. Wir konzentrieren uns darauf, die wirklich wichtigen abzuwehren. Die Welt hat überlebt, weil wir in der Lage waren, diese proaktiven Maßnahmen zu ergreifen. Zwar sind bei diesem Prozess mehrere Tausend Kinder gestorben, aber dafür wurden Milliarden Kinder gerettet.« Er wandte sich Luke zu und lächelte. »Du hast das natürlich begriffen, es ist ja eine ziemlich simple Schlussfolgerung. Soweit ich weiß, bist du unter anderem ein ziemliches Mathematikgenie und erkennst daher bestimmt das Kosten-Nutzen-Verhältnis. Es gefällt dir vielleicht nicht, aber du erkennst es.«
Inzwischen hatten sich Annie und ihre zwei jungen Begleiter wieder in Bewegung gesetzt, doch diesmal machte Tim sich nicht die Mühe, sie aufzuhalten. Er war zu perplex von dem, was er da hörte.
»Telepathie leuchtet mir einigermaßen ein, Telekinese auch, aber Präkognition? Das ist keine Wissenschaft, das ist ein Taschenspielertrick!«
»Ich versichere Ihnen, dass dem nicht so ist«, sagte Smith. »Schließlich haben unsere präkognitiv veranlagten Mitarbeiter die Zielpersonen gefunden. Eliminiert wurden diese von den TKs und TPs, die zu Gruppen zusammengefasst wurden, um ihre Kräfte zu verstärken.«
»Präkognition gibt es wirklich, Tim«, sagte Luke ruhig. »Dass es darum geht, wusste ich schon, bevor ich aus dem Institut entkommen bin. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Avery es auch gewusst hat. Sonst gibt es keine sinnvolle Erklärung. Seit wir hier sind, habe ich viel darüber gelesen, genauer gesagt alles, was ich finden konnte. Die statistischen Fakten sind praktisch unwiderlegbar.«
Kalisha und Nicky hatten sich neben Luke gestellt. Neugierig betrachteten sie den blonden Mann, der sich Bill Smith nannte, aber keiner von beiden sagte ein Wort. Hinter ihnen stand Annie. Obwohl es ein warmer Tag war, trug sie ihren Poncho und sah mehr denn je wie eine mexikanische Revolverheldin aus. Ihre Augen waren hell und wach. Die Kinder hatten sie verändert. Das lag wohl nicht an deren Kräften, die langfristig das Gegenteil einer Verbesserung bewirkten. Vielleicht, dachte Tim, lag es einfach an deren Gesellschaft oder daran, dass die Kinder sie so akzeptierten, wie sie war. Auf jeden Fall freute er sich für sie.
»Sehen Sie?«, sagte Smith. »Ihr Hausgenie bestätigt es. Unsere sechs präkognitiv begabten Mitarbeiter – eine Weile waren es acht, in den Siebzigern hatten wir einmal allerdings nur vier, eine sehr kritische Lage – suchen kontinuierlich nach bestimmten Individuen, die wir als Scharniere bezeichnen. Sie sind die Dreh- und Angelpunkte, von denen die Auslöschung der Menschheit abhängen kann. Diese Scharniere führen die Vernichtung nicht selbst durch, sie lösen sie lediglich aus. Westin ist ein solches Scharnier. Sobald wir so jemand entdeckt haben, recherchieren wir seine Lebensumstände, überwachen ihn, machen Videoaufnahmen von ihm. Schließlich überlassen wir ihn den Kindern in den verschiedenen Instituten, die ihn eliminieren, auf die eine oder andere Weise.«
Tim schüttelte den Kopf. »Das glaube ich einfach nicht.«
»Wie Luke richtig gesagt hat, sind die statistischen…«
»Mit Statistiken kann man praktisch alles beweisen. Niemand kann in die Zukunft blicken. Wenn Sie und Ihre Partner das wirklich glauben, dann sind Sie keine rationale Organisation, sondern eine Sekte.«
»Ich hatte eine Tante, die in die Zukunft schauen konnte«, sagte Annie unerwartet. »Als ihre Jungs an ’nem bestimmten Abend in die Disco gehen wollten, hat sie sie davon abgehalten, und tatsächlich gab’s dort eine Gasexplosion. Zwanzig Leute sind verbrannt wie Mäuse in der Falle, aber ihren Jungs ist nix passiert, weil die zu Hause saßen.« Sie runzelte die Stirn. »Außerdem hat sie gewusst, dass Truman zum Präsidenten gewählt wird, und das hat echt niemand geglaubt.«
»Hat sie das mit Trump denn auch vorhergesehen?«, fragte Kalisha.
»Ach, als dieser größenwahnsinnige Armleuchter aus New York aufgekreuzt is, war sie schon lange tot«, sagte Annie, und als Kalisha die flache Hand hob, klatschte Annie sie gekonnt ab.
Smith ignorierte die Unterbrechung. »Die Welt ist nicht untergegangen, Tim. Das ist keine Statistik, sondern eine Tatsache. Siebzig Jahre nachdem Hiroshima und Nagasaki von Atombomben vernichtet wurden, ist die Welt noch nicht untergegangen, obwohl viele Länder über Atomwaffen verfügen, obwohl primitive menschliche Emotionen weiterhin gegenüber dem rationalen Denken dominieren und obwohl als Religion maskierter Aberglaube immer noch den Lauf der Politik bestimmt. Warum ist das so? Weil wir die Welt beschützt haben, und jetzt ist dieser Schutz dahin. Daran ist Luke Ellis schuld, und Sie haben ihn unterstützt.«
Tim sah Luke an. »Glaubst du das, was er da behauptet?«
»Nein«, sagte Luke. »Und er glaubt es selbst nicht, jedenfalls nicht voll und ganz.«
Ohne dass Tim es wusste, dachte Luke an das Mädchen, die ihn bei der Zulassungsprüfung nach einer Mathematikaufgabe gefragt hatte, in der es um die Hotelrechnung eines gewissen Aaron gegangen war. Die Lösung des Mädchens war falsch gewesen, und das hier war auf ähnliche Weise falsch, nur in einem wesentlich größeren Maßstab – eine unzutreffende Lösung, hervorgegangen aus einer fehlerhaften Gleichung.
»Ich kann mir gut vorstellen, dass du das gerne denken würdest«, sagte Smith.
»Annie hat recht«, sagte Luke. »Es gibt wirklich Leute, die präkognitive Momente haben, und ihre Tante hat wohl dazugehört. Im Gegensatz zu dem, was der Typ da sagt und vielleicht sogar glaubt, sind die nicht mal besonders selten. Wahrscheinlich hast du selbst schon mal so Momente gehabt, Tim, sie aber anders bezeichnet. Als Instinkt zum Beispiel.«
»Oder als Ahnung«, sagte Nicky. »Im Fernsehen haben die Ermittler immer irgendwelche Ahnungen.«
»Das Fernsehen ist nicht das Leben«, sagte Tim, obwohl er sich an etwas aus seiner eigenen Vergangenheit erinnerte – daran, dass er urplötzlich ohne echten Grund beschlossen hatte, ein Flugzeug zu verlassen und per Anhalter nach Norden zu reisen.
»Was echt schade ist«, sagte Kalisha. »Ich bin nämlich ein Riesenfan von Riverdale.«
»Wenn von solchen Dingen die Rede ist, wird oft das Wort Flash verwendet«, sagte Luke. »So kommt es einem nämlich vor, wie ein Aufblitzen. Ich bin mir sicher, dass es so etwas gibt, und ich kann mir vorstellen, dass es Leute gibt, die es sich zunutze machen können.«
Smith hob die Hände zu einer Geste, die na bitte ausdrückte. »Genau, was ich sage.« Nur dass sage sich nach thage anhörte. Das Lispeln war wieder da, was Tim interessant fand.
»Etwas verschweigt er dir allerdings«, sagte Luke. »Wahrscheinlich weil er es sich selbst nicht gerne eingesteht. Das tut keiner von denen. So wie unsere Generale sich selbst dann, als das bereits glasklar war, nicht eingestanden haben, dass man den Vietnamkrieg nicht gewinnen konnte.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du da redest«, sagte Smith.
»O doch«, sagte Kalisha.
»Und ob!«, ergänzte Nicky.
»Geben Sie’s lieber zu, Mister«, sagte Orphan Annie. »Schließlich können die Kinder da Ihre Gedanken lesen. Ganz schön nervig, was?«
Luke sah Tim an. »Sobald ich mir sicher war, dass es um Präkogs ging, und Zugang zu einem richtigen Computer hatte…«
»Er meint einen, für den man keine Wertmünzen braucht«, warf Kalisha ein.
Luke stupste sie in die Seite. »Kannst du mal einen Moment die Klappe halten?«
Nicky grinste. »Pass auf, Sha, Lukey gerät in Rage.«
Sie lachte. Smith tat das nicht. Als Luke und seine Freunde eingetroffen waren, hatte er die Kontrolle über das Gespräch verloren, und sein Gesichtsausdruck – schmaler Mund, gerunzelte Augenbrauen – verriet, dass er das nicht gewohnt war.
»Sobald ich also Zugang zu einem richtigen Computer hatte, habe ich die Bernoulli-Verteilung berechnet«, fuhr Luke fort. »Wissen Sie, was das ist, Mr. Smith?«
Der blonde Mann schüttelte den Kopf.
»Klar weiß er es«, sagte Kalisha mit fröhlichem Blick.
»Genau«, stimmte Nicky zu. »Und er mag sie gar nicht. Diese Dingsbums-Verteilung ist ein Problem für ihn.«
»Die Bernoulli-Verteilung ist eine exakte Methode, die Wahrscheinlichkeit von etwas zu bestimmen«, sagte Luke. »Sie basiert auf der Idee, dass es nur zwei mögliche Ausgänge für bestimmte empirische Ereignisse gibt, zum Beispiel einen Münzwurf oder den Sieger bei einem Footballspiel. Der Ausgang kann mit p für ein positives und mit n für ein negatives Ergebnis bezeichnet werden. Die Details will ich euch ersparen, aber am Ende hat man eine in booleschen Werten ausgedrückte Gleichung, die klar den Unterschied zwischen zufälligen und nicht zufälligen Ereignissen ausdrückt.«
»Genau, langweil uns nicht mit derart leichtem Kram«, sagte Nicky. »Komm einfach zum Punkt.«
»Ein Münzwurf hat ein zufälliges Ergebnis. Das von einem Footballspiel kommt einem zufällig vor, wenn man nur eine kleine Zahl von Spielen nimmt, aber sobald die Zahl größer ist, wird klar, dass es sich nicht um Zufall handelt, weil weitere Faktoren zum Zug kommen. Dann geht es um Wahrscheinlichkeit, und wenn A wahrscheinlicher ist als B, tritt in den meisten Fällen A ein. Das weiß jeder, der einmal eine Sportwette gemacht hat, stimmt’s?«
»Klar«, sagte Tim. »Die Chancen und die Quoten stehen sogar in der Zeitung.«
Luke nickte. »Eigentlich ist es ziemlich simpel, und wenn man die Bernoulli-Verteilung auf die Präkognitionsstatistik anwendet, kommt eine interessante Tendenz zum Vorschein. Annie, wie lange hat es bis zu der Explosion in der Disco gedauert, nachdem deine Tante ihre Vorahnung hatte?«
»Nicht lange«, sagte Annie. »Das war am selben Abend.«
Luke blickte zufrieden drein. »Was ein ideales Beispiel ist. Die von mir berechnete Bernoulli-Verteilung zeigt, dass präkognitive Momente – oder Visionen, wie man stattdessen sagen könnte – dann am exaktesten sind, wenn das vorhergesagte Ereignis nur wenige Stunden entfernt ist. Je länger der Zeitraum zwischen Vorhersage und Ereignis wird, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Vorhersage bewahrheitet. Sobald es sich um Wochen handelt, ist das so unwahrscheinlich, dass p zu n wird.«
Er wandte sich an den blonden Mann.
»Das wissen Sie natürlich, und die Leute, mit denen Sie zusammenarbeiten, wissen es auch. Seit Jahren, ja seit Jahrzehnten. Das kann gar nicht anders sein. Jeder Mathefreak mit einem Computer kann eine Bernoulli-Verteilung berechnen. Als das mit den Instituten in den späten Vierziger- oder den frühen Fünfzigerjahren losging, war das vielleicht noch nicht klar, aber in den Achtzigern haben Sie sicher Bescheid gewusst. Wahrscheinlich schon in den Sechzigern.«
Smith schüttelte den Kopf. »Du bist sehr intelligent, Luke, aber du bist trotzdem noch ein Kind, und Kinder neigen zu magischem Denken – sie biegen sich die Wahrheit zurecht, bis die zu dem passt, was sie sich wünschen. Meinst du, wir hätten keine Tests durchgeführt, um die präkognitiven Fähigkeiten unserer Leute zu beweisen?«
Sein Lispeln wurde beständig schlimmer.
»Jedes Mal wenn jemand neu zu der Gruppe dazukommen soll, wird er getestet. Er erhält die Aufgabe, eine Reihe von Zufallsereignissen vorherzusagen, zum Beispiel die verspätete Ankunft von bestimmten Flugzeugen… von den Medien berichtete Ereignisse wie den Tod von Tom Petty… das Brexit-Referendum… oder auch die Zahl von Fahrzeugen, die eine bestimmte Kreuzung überqueren. Die Liste von Erfolgen – von nachgewiesenen Erfolgen – reicht beinahe ein Dreivierteljahrhundert zurück!«
»Aber bei Ihren Tests geht es immer um Ereignisse, die bald eintreten werden«, sagte Kalisha. »Leugnen Sie das nicht, das leuchtet in Ihrem Kopf wie eine Neonreklame. Außerdem ist es logisch. Denn was nützt ein Test, wenn man das Ergebnis erst fünf oder zehn Jahre später auswerten kann?«
Sie nahm Nicky bei der Hand. Luke trat zu den beiden und nahm die Hand von Kalisha. Jetzt hörte Tim das Summen wieder. Es war leise, aber deutlich vorhanden.
»Mark Berkowitz, dieser Politiker, hat sich am Tag seines Todes genau da befunden, wo es unsere Gruppe vorhergesagt hatte«, konterte Smith. »Und diese Vorhersage wurde ein ganzes Jahr früher getroffen.«
»Na gut«, sagte Luke. »Aber bei manchen Leuten, die Sie ins Visier genommen haben, zum Beispiel bei Paul Westin, haben die Vorhersagen sich auf etwas bezogen, was in zehn, zwanzig oder gar fünfundzwanzig Jahren geschehen soll. Dass so was unzuverlässig ist, muss Ihnen doch klar sein, schließlich kann wer weiß was passieren, was die betreffende Person und die damit verbundenen Ereignisse in eine andere Richtung lenkt. Dazu reicht schon ein verpasster Telefonanruf, aber davon lassen Sie sich nicht stören.«
»Sagen wir mal, da hast du nicht ganz unrecht«, sagte Smith. »Aber ist es nicht besser, auf Nummer sicher zu gehen?« Thicher. Thu gehen. »Denk doch mal an die Vorhersagen, die sich bestätigt haben, und stell dir die möglichen Folgen vor, wenn wir nichts unternommen hätten!«
Annie war offenbar nicht ganz mitgekommen. »Woher wolln Sie denn wissen, ob die Vorhersagen stimmen, wenn Sie die Leute, um die’s geht, umbringen?«, fragte sie. »Das kapier ich nich.«
»Er kapiert es auch nicht«, sagte Luke. »Aber er erträgt es nicht, sich vorzustellen, dass diese ganzen Leute vielleicht ohne guten Grund sterben mussten. Das erträgt keiner von denen.«
»Wir mussten das Dorf zerstören, um es zu retten«, sagte Tim. »Hat das nicht jemand über Vietnam gesagt?«
»Wenn das heißen soll, dass unsere präkognitive Gruppe uns an der Nase herumgeführt hat, indem die Mitglieder sich was aus den Fingern gesaugt haben…«
»Können Sie garantieren, dass die das nicht getan haben?«, sagte Luke. »Vielleicht nicht mal bewusst, aber… Sie führen doch ein gutes Leben, oder etwa nicht? Sie haben es gemütlich, ganz im Gegenteil zu uns im Institut. Und vielleicht sind die Vorhersagen ja dann, wenn sie gemacht werden, durchaus korrekt. Aber das bedeutet, dass die Zufallsfaktoren nicht berücksichtigt werden.«
»Und Gott auch nicht«, sagte Kalisha unvermittelt.
Darauf reagierte Smith – der weiß Gott wie lange Gott gespielt hatte – mit einem hämischen Grinsen.
»Ihnen ist doch völlig klar, was ich sage, das weiß ich«, sagte Luke. »Es gibt einfach zu viele Variablen.«
Smith schwieg einen Moment und blickte in die Landschaft. »Ja«, sagte er dann. »Wir haben Mathematiker, und ja, die Bernoulli-Verteilung ist in Berichten und Diskussionen zur Sprache gekommen. Seit Jahren schon. Nehmen wir also an, dass du recht hast. Nehmen wir an, unser Netzwerk aus Instituten hat die Welt nicht fünfhundertmal vor der atomaren Vernichtung gerettet. Angenommen, das ist nur fünfzigmal gelungen. Oder fünfmal. Wäre es das nicht trotzdem wert?«
»Nein«, sagte Tim ganz leise.
Smith starrte ihn an, als wäre er wahnsinnig. »Nein? Sie sagen nein?«
»Wer bei klarem Verstand ist, opfert auf dem Altar der Wahrscheinlichkeit keine Kinder. Das hat mit Wissenschaft nichts zu tun, das ist reiner Aberglaube. Und jetzt sollten Sie allmählich wieder das Weite suchen, glaube ich.«
»Wir werden alles wiederaufbauen«, sagte Smith. »Falls dafür Zeit ist, da die Welt jetzt wie eine Seifenkiste ohne führende Hand in den Abgrund rast. Das wollte ich euch allen sagen und euch warnen. Keine Interviews. Keine Zeitungsartikel. Keine Postings auf Facebook oder Twitter. Über so etwas würden die meisten Leute zwar sowieso nur lachen, aber wir würden es sehr ernst nehmen. Wenn ihr überleben wollt, dann haltet ihr den Mund.«
Das Summen wurde lauter, und als Smith seine American Spirits aus der Brusttasche zog, zitterte seine Hand. Der Mann, der aus dem unauffälligen Chevy gestiegen war, war selbstsicher und von sich überzeugt gewesen. Daran gewöhnt, Anordnungen zu geben, die unverzüglich ausgeführt wurden. Der Mann, der jetzt da stand mit seinem starken Lispeln und den Schweißflecken unter den Achseln, war jemand anderes.
»Ich glaube, Sie machen jetzt wirklich lieber, dass Sie fortkommen«, riet Annie ihm ganz ruhig. Vielleicht sogar freundlich.
Smith fiel die Zigarettenschachtel aus der Hand. Als er sich bückte, um sie aufzuheben, rutschte sie davon, obwohl keinerlei Wind wehte.
»Rauchen ist schlecht für Sie«, sagte Luke. »Man muss keine präkognitiven Fähigkeiten haben, um Ihnen vorauszusagen, was passieren wird, wenn Sie nicht damit aufhören.«
Die Scheibenwischer des Malibu setzten sich in Gang. Die Scheinwerfer flammten auf.
»An Ihrer Stelle würde ich jetzt verschwinden«, sagte Tim. »Solange Sie das noch können. Sie sind zwar offensichtlich sauer, wie es hier gelaufen ist, das ist mir schon klar, aber Sie haben keine Ahnung, wie sauer die Kinder da sind. Die waren bekanntlich im Zentrum dieses Wahnsinns.«
Smith ging zu seinem Wagen und öffnete die Tür. Dann zeigte er mit dem Finger auf Luke. »Du kannst gerne glauben, was du glauben willst«, sagte er. »Das tun wir alle, mein junger Mr. Ellis. Was du mit der Zeit selbst herausfinden wirst. Zu deinem Kummer.«
Als er davonfuhr, schleuderten die Hinterräder des Wagens eine Staubwolke in die Luft, die sich auf Tim und die anderen zubewegte… und dann davonzog wie von einem Windstoß erfasst, den niemand wahrnahm.
Luke lächelte. George hätte das nicht besser machen können, dachte er.
»Wär vielleicht besser gewesen, ihn zu beseitigen«, sagte Annie nüchtern. »Hinten im Garten is massenhaft Platz für ’ne Leiche.«
Luke seufzte und schüttelte den Kopf. »Es gibt genügend andere. Er ist nur die Speerspitze.«
»Außerdem wären wir dann wie die«, sagte Kalisha.
»Trotzdem«, sagte Nicky verträumt. Dann schwieg er, aber Tim musste keine Gedanken lesen, um den Rest zu erraten:… wäre es nett gewesen.
Tim hatte Wendy zum Abendessen zurückerwartet, aber sie rief an und sagte, sie müsse über Nacht in Columbia bleiben. Für den folgenden Vormittag war eine weitere Besprechung zur Zukunft der Polizeiarbeit in Fairlee County angesetzt worden.
»Du lieber Himmel, geht das ewig so weiter?«, fragte Tim.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass das die letzte Besprechung ist. Wie du weißt, ist die Lage kompliziert, und die Bürokratie macht es noch schlimmer. Ist bei euch alles in Ordnung?«
»Voll und ganz«, sagte Tim und hoffte, dass das der Wahrheit entsprach.
Zum Essen kochte er einen großen Topf Spaghetti, während Luke eine Bolognese-Soße komponierte und Kalisha mit Nicky einen Salat zubereitete. Annie war verschwunden, wie so oft.
Sie aßen gut. Es gab anregende Gespräche, und es wurde ziemlich viel gelacht. Als Tim dann jedoch einen Kuchen von Pepperidge Farm aus dem Kühlschrank holte und ihn wie ein Operettenkellner mit gehobenen Händen hereintrug, sah er, dass Kalisha weinte. Nicky und Luke hatten jeweils einen Arm um sie gelegt, redeten ihr jedoch nicht tröstend zu (zumindest nicht so, dass Tim es hören konnte). Beide wirkten nachdenklich. Sie waren bei ihr, aber vielleicht nicht vollständig, sondern in ihren eigenen Sorgen versunken.
Tim stellte den Kuchen auf den Tisch. »Was ist denn, Kalisha? Die beiden wissen sicher Bescheid, ich aber nicht. Hilf mir mal auf die Sprünge.«
»Was ist, wenn er recht hat? Was ist, wenn der Mann recht hat und Luke falsch liegt? Was ist, wenn die Welt in drei Jahren untergeht… oder schon in drei Monaten… weil wir nicht da sind, um sie zu beschützen?«
»Ich liege aber nicht falsch«, sagte Luke. »Mag sein, dass die Mathematiker haben, aber ich bin besser als die. Das ist keine Angeberei, sondern Fakt. Und das, was er über mich gesagt hat? Das mit dem magischen Denken? Dem hängen die nämlich auch an. Sie ertragen die Vorstellung nicht, sich möglicherweise zu irren.«
»Aber du bist dir gar nicht sicher!«, rief Kalisha. »Das kann ich in deinem Kopf hören, Lukey, du bist dir einfach nicht sicher!«
Anstatt das zu leugnen, starrte Luke nur auf seinen Teller.
Kalisha sah zu Tim hoch. »Was ist, wenn die auch nur ein einziges Mal recht haben? Dann sind wir schuld!«
Tim zögerte. Er scheute sich vor der Vorstellung, dass das, was er jetzt sagte, einen entscheidenden Einfluss darauf haben könnte, wie dieses Mädchen ihr restliches Leben verbrachte. Diese Verantwortung wollte er auf keinen Fall übernehmen, fürchtete jedoch, sie sowieso zu haben. Auch die beiden Jungen hörten aufmerksam zu. Sie hörten zu und warteten. Er besaß zwar keine paranormalen Kräfte, aber über eine Kraft verfügte er: Er war der Erwachsene. Die Kinder wollten von ihm hören, dass kein Monster unter dem Bett lauerte.
»Nein, du bist nicht schuld. Keiner von euch ist schuld. Dieser Mann war nicht hier, um euch davor zu warnen, etwas zu verraten, er wollte euer Leben vergiften. Lass nicht zu, dass ihm das gelingt, Kalisha. Das gilt für euch alle. Als Spezies sind wir Menschen darauf ausgerichtet, ein Ziel über alle anderen zu stellen, und das habt ihr getan.«
Er streckte beide Hände aus und wischte Kalisha die Tränen von den Wangen.
»Ihr habt überlebt. Ihr habt eure Liebe und euren Verstand eingesetzt, und ihr habt überlebt. Und jetzt machen wir uns über den Kuchen her!«
Als der Freitag kam, war Nicky an der Reihe abzureisen.
Tim und Wendy standen neben Luke und sahen zu, wie Nicky und Kalisha die Zufahrt hinuntergingen, die Arme umeinandergelegt. Wendy würde Nicky zum Busbahnhof in Brunswick fahren, aber die drei hier oben wussten, dass die beiden da unten zuerst ein bisschen Zeit zusammen brauchten – und verdienten. Um adieu zu sagen.
»Gehen wir es noch mal durch«, hatte Tim eine Stunde zuvor gesagt, nach dem Mittagessen, bei dem weder Nicky noch Kalisha richtig zugegriffen hatten. Tim war mit Nicky auf die hintere Veranda getreten, während Luke und Kalisha die paar Teller spülten.
»Nicht nötig«, sagte Nicky. »Ich hab’s gecheckt, Mann. Echt.«
»Trotzdem«, sagte Tim. »Weil es wichtig ist. Von Brunswick fährst du nach Chicago, richtig?«
»Richtig. Der Bus fährt heute Abend um Viertel nach sieben ab.«
»Mit wem unterhältst du dich im Bus?«
»Mit niemand. Um keine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.«
»Und wenn du ankommst?«
»Dann rufe ich vom Navy Pier aus meinen Onkel Fred an. Weil die Kidnapper mich da abgesetzt haben. Am selben Ort, wo George und Helen gelandet sind.«
»Aber das weißt du nicht.«
»Natürlich nicht.«
»Kennst du George und Helen?«
»Noch nie von denen gehört.«
»Und wer sind die Leute, die dich gekidnappt haben?«
»Keine Ahnung.«
»Was wollten sie von dir?«
»Das weiß ich nicht. Es ist völlig mysteriös. Sie haben mich nicht sexuell belästigt, sie haben mir keine Fragen gestellt, ich hab keine Stimmen von anderen Kids gehört und hab keinen blassen Schimmer. Wenn die Polizei mich befragt, werde ich dem absolut nichts hinzufügen.«
»Sehr gut.«
»Irgendwann werden die Cops aufgeben, und dann komme ich nach Nevada, wo ich glücklich bei meinem Onkel, meiner Tante und Bobby leben werde.« Bobby war Nickys Bruder, der in der Nacht der Entführung bei einem Freund übernachtet hatte.
»Und wenn du erfährst, dass deine Eltern tot sind?«
»Das ist mir völlig neu. Mach dir keine Sorgen, ich werde losheulen. Das wird mir nicht schwerfallen, und gespielt wird es auch nicht sein, das kannst du mir glauben. Sind wir jetzt fertig?«
»Beinahe. Lass erst mal deine Fäuste locker. Die am Ende von deinen Armen und die in deinem Kopf. Gib dem Leben da oben in Nevada eine Chance.«
»Das ist nicht so leicht, Mann.« In Nickys Augen glänzten Tränen. »Ganz und gar nicht.«
»Ich weiß«, sagte Tim und wagte eine Umarmung.
Die ließ Nicky zuerst passiv zu, dann erwiderte er sie. Ganz fest. Das ist schon mal ein Anfang, dachte Tim. Der Junge würde dichthalten, egal wie viele Fragen die Polizei auf ihn abfeuerte und egal wie oft man ihm sagte, das alles sei doch völlig unglaubwürdig.
Mehr Sorgen machte Tim sich, dass George Iles etwas ausplauderte, schließlich war der ein klassisches Plappermaul und ein geborener Fabulierer. Trotzdem dachte – hoffte – Tim, dass es ihm schließlich doch gelungen war, George etwas klarzumachen: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.
Jetzt umarmten sich Nicky und Kalisha neben dem Briefkasten am Ende der Zufahrt, wo Mr. Smith mit seiner lispelnden Stimme versucht hatte, Schuldgefühle in Kindern zu wecken, die nur um ihr Überleben gekämpft hatten.
»Er hat sie wirklich gern«, sagte Luke.
Ja, dachte Tim, und das hast du auch.
Aber Luke war nicht der erste Junge, der sich in einer Liebesbeziehung als drittes Rad am Wagen fühlte, und er würde nicht der letzte sein. War Liebesbeziehung überhaupt das richtige Wort? Luke war hochintelligent, aber erst zwölf Jahre alt. Seine Gefühle für Kalisha würden vorübergehen wie ein Fieber, obwohl es nutzlos gewesen wäre, ihm das jetzt zu sagen. Aber er würde sich daran erinnern, genau wie Tim sich an das Mädchen erinnerte, nach der er mit zwölf verrückt gewesen war (sie war sechzehn gewesen und absolut unerreichbar). Und wie Kalisha sich an Nicky erinnern würde, den hübschen Jungen, der im Institut Widerstand geleistet hatte.
»Dich hat sie auch gern«, sagte Wendy leise und drückte Luke ganz leicht den sonnenverbrannten Nacken.
»Aber nicht so wie ihn«, sagte Luke verdrießlich, doch dann lächelte er. »Ach, was soll’s, das Leben geht weiter.«
»Hol jetzt mal lieber den Wagen«, sagte Tim zu Wendy. »Der Bus wartet nicht.«
Sie tat wie geheißen. Luke fuhr mit ihr zum Briefkasten hinunter, wo er sich neben Kalisha stellte. Beide winkten, als der Wagen davonfuhr. Nicky streckte die Hand aus dem Fenster und winkte ebenfalls. Dann war er fort. In seiner rechten Hosentasche – an die ein Taschendieb im Busbahnhof am schlechtesten herankam – steckten siebzig Dollar in bar und eine Telefonkarte. In seinem Schuh lag ein Schlüssel.
Luke und Kalisha kamen gemeinsam die Zufahrt entlang. Auf halbem Wege schlug Kalisha die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. Tim wollte zu ihr gehen, überlegte es sich jedoch anders. Das war die Aufgabe von Luke, und der erfüllte sie, indem er die Arme um Kalisha legte. Weil die größer war als er, lehnte sie sich auf seinen Kopf anstatt an seine Schulter.
Tim hörte das Summen, das jetzt nur noch ein leises Flüstern war. Die beiden unterhielten sich, aber er konnte nicht verstehen, was sie sagten, und das war in Ordnung so. Es war nicht für ihn bestimmt.
Zwei Wochen später war Kalisha an der Reihe, wobei sie nicht vom Busbahnhof in Brunswick starten würde, sondern von dem in Greenville. Spät am folgenden Tag würde sie in Chicago eintreffen und ihre in Houston lebende Schwester vom Navy Pier aus anrufen. Wendy hatte ihr ein perlenbesticktes Handtäschchen geschenkt. Darin befanden sich siebzig Dollar und eine Telefonkarte. Ein Schlüssel, exakt wie der von Nicky, lag in einem ihrer Sneakers. Das Geld und die Telefonkarte konnten gestohlen werden, der Schlüssel nicht.
Sie umarmte Tim mit aller Kraft. »Das reicht nicht aus, dir für das zu danken, was du getan hast, aber sonst hab ich nichts.«
»Klar reicht das aus«, sagte Tim.
»Ich hoffe bloß, dass die Welt nicht wegen uns untergeht.«
»Und ich sag’s dir ein allerletztes Mal, Sha – wenn jemand den großen roten Knopf drückt, wirst das nicht du sein.«
Sie lächelte schwach. »Als wir am Ende zusammen waren, hatten wir den größten aller roten Knöpfe, und es hat sich gut angefühlt, den zu drücken. Das geht mir nach. Wie gut es sich angefühlt hat.«
»Aber das ist vorbei.«
»Ja. Alles, was wir hatten, löst sich auf, und ich bin froh darüber. Niemand sollte eine solche Kraft haben, vor allem Kinder nicht.«
Tim dachte, dass manche von den Leuten, die tatsächlich den großen roten Knopf drücken konnten, im Grunde Kinder waren, nicht körperlich, sondern mental. Doch das sagte er nicht. Kalisha stand vor einer ebenso unbekannten wie ungewissen Zukunft, und das war beängstigend genug.
Sie wandte sich Luke zu und griff in ihr neues Handtäschchen. »Ich hab was für dich. Als wir aus dem Institut geflohen sind, hatte ich es in der Tasche, ohne es zu wissen. Jetzt sollst du es haben.«
Was sie ihm gab, war eine zerdrückte Zigarettenschachtel. Vorn war ein Cowboy abgebildet, der ein Lasso schwang. Darüber stand der Markenname: RODEO ZUCKER-ZIGARETTEN. Und darunter stand: RAUCH WIE DEIN DADDY!
»Es sind bloß noch ein paar Kippen übrig«, sagte sie. »Zerbröselt und wahrscheinlich schon lasch, aber…«
Luke begann zu weinen. Diesmal war es Kalisha, die die Arme um ihn legte.
»Nicht, Schatz«, sagte sie. »Bitte nicht. Willst du mir etwa das Herz brechen?«
Als Kalisha und Wendy abgefahren waren, fragte Tim, ob Luke mit ihm Schach spielen wolle. Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich gehe einfach eine Weile hinten raus und setz mich unter den großen Baum. Ich fühl mich innerlich ganz leer. So leer habe ich mich noch nie gefühlt.«
Tim nickte. »Du wirst dich wieder auffüllen. Glaub mir.«
»Muss ich wohl. Tim, meinst du, dass einer von denen seinen Schlüssel verwenden muss?«
»Nein.«
Die Schlüssel waren für ein Schließfach in einer Bank in Charleston. Darin lag das, was Luke von Maureen Alvorson erhalten hatte. Wenn einem der Kinder, die jetzt die Catawba Farm verlassen hatten, etwas zustieß – oder Luke, Wendy oder Tim–, dann würde einer von ihnen nach Charleston fahren und das Schließfach öffnen. Vielleicht würden auch alle kommen, falls etwas von dem im Institut geschmiedeten Band geblieben war.
»Ob jemand das, was auf dem USB-Stick ist, wohl glauben würde?«
»Annie auf jeden Fall«, sagte Tim grinsend. »Die glaubt bekanntlich an Geister, Ufos, Seelentausch und wer weiß was.«
Luke erwiderte das Grinsen nicht. »Ja, aber die ist ein bisschen… plemplem, du weißt schon. Wobei sich das gebessert hat, seit sie so oft mit Mr. Denton zusammen ist.«
Tim hob die Augenbrauen. »Mit Drummer? Willst du mir etwa sagen, dass die beiden daten?«
»Ich glaube schon, falls man das auch dann noch so nennt, wenn die Leute, die es tun, alt sind.«
»Hast du das in ihren Gedanken gelesen?«
Luke lächelte leicht. »Nein. Ich kann jetzt wieder bloß noch Pizzableche verschieben und Buchseiten flattern lassen. Annie hat’s mir erzählt.« Er überlegte. »Und ich glaube, es ist in Ordnung, dass ich’s dir weitererzählt habe. Schließlich hat sie mich nicht zur Verschwiegenheit verpflichtet oder so.«
»Ich krieg die Motten. Aber was den USB-Stick angeht… du weißt doch, dass sich manchmal der ganze Pullover auflöst, wenn man an einem losen Faden zieht? Ich glaube, der Stick kann auch so was bewirken. Es sind Kinder darauf, die man wiedererkennen würde. Viele sogar. Das würde zu einer Untersuchung führen, und dann könnte die Organisation, zu der dieser lispelnde Typ gehört, jede Hoffnung begraben, ihr Programm wiederaufzunehmen.«
»Ich glaube, das schaffen die sowieso nicht. Mag sein, dass er was anderes meint, aber das ist bloß wieder magisches Denken. Seit den Neunzehnfünfzigern hat die Welt sich schließlich stark verändert. Hör mal, ich gehe jetzt…« Er deutete vage auf das Haus und den Garten.
»Klar, nur zu.«
Luke machte sich auf den Weg. Eigentlich ging er nicht, sondern stapfte mit gesenktem Kopf dahin.
Beinahe hätte Tim ihn gehen lassen, überlegte es sich aber anders. Er holte ihn ein und legte ihm die Hand auf die Schulter. Als Luke sich umdrehte, umarmte Tim ihn. Er hatte Nicky umarmt – ach, er hatte sie alle umarmt, zum Beispiel wenn sie aus schlimmen Träumen aufgewacht waren–, aber diese Umarmung bedeutete mehr. Sie bedeutete ihm alles. Er wollte Luke sagen, dass er tapfer war, vielleicht der tapferste Junge, den es je außerhalb eines Abenteuerbuchs gegeben hat. Er wollte Luke sagen, dass er stark und anständig war und dass seine Eltern stolz auf ihn gewesen wären. Er wollte Luke sagen, dass er ihn lieb hatte. Doch dafür gab es keine Worte, und vielleicht waren die auch nicht nötig. Genauso wenig wie Telepathie.
Manchmal war eine Umarmung reine Telepathie.
Hinter dem Haus stand zwischen der Veranda und dem Garten eine schöne alte Sumpfeiche. Luke Ellis – ehemals aus Minneapolis, Minnesota, ehemals geliebt von Herb und Eileen Ellis, ehemals ein Freund von Maureen Alvorson und von Kalisha Benson, Helen Simms, Nicky Wilholm und George Iles – ließ sich darunter nieder. Er legte die Unterarme auf die angezogenen Knie und blickte hinaus auf das, was Officer Wendy als Achterbahnhügel bezeichnete.
Ein Freund von Avery bin ich auch gewesen, dachte er. Eigentlich war Avery derjenige, der die anderen befreit hat. Wenn es einen Held gegeben hat, dann war das nicht ich. Es war der Avester.
Luke zog die zerdrückte Zigarettenschachtel aus der Tasche und fischte eines der Bruchstücke heraus. Er dachte daran, wie er Kalisha zum ersten Mal gesehen hatte. Da hatte sie mit einer solchen Zigarette im Mund auf dem Boden gesessen. Willst du eine, hatte sie gefragt. In deinem Geisteszustand ist ein bisschen Zucker vielleicht hilfreich. Mir hilft so was in solchen Fällen immer.
»Was meinst du, Avester? Ob es wohl was helfen wird?«
Er zerkaute das Stück Zuckerzeug. Es half tatsächlich, obwohl er keine Ahnung hatte, weshalb; wissenschaftlich war das bestimmt nicht erklärbar. Er spähte in die Schachtel und sah zwei oder drei weitere Stücke. Die hätte er sich jetzt gleich in den Mund stecken können, aber vielleicht war es besser zu warten.
Besser, etwas für später aufzusparen.