An einem schönen Aprilmorgen desselben Jahres – und damit ungefähr zu der Zeit, wo Tim Jamieson in DuPray eintraf – wurden Herbert und Eileen Ellis in Minneapolis ins Büro von Jim Greer geführt. Der war einer von drei Beratungslehrern an der Broderick-Schule für außergewöhnliche Kinder.
»Luke hat doch nichts angestellt, oder?«, fragte Eileen, als alle sich gesetzt hatten. »Jedenfalls hat er nichts Derartiges erzählt.«
»Ganz und gar nicht«, sagte Greer. Er war Mitte dreißig und hatte schüttere braune Haare und ein Gelehrtengesicht. Zu seinem lässig geknöpften Sporthemd trug er gebügelte Jeans. »Also, Sie wissen doch, wie es hier läuft, nicht wahr? Wie es angesichts der mentalen Fähigkeiten unserer Schüler laufen muss. Die werden beurteilt, aber nicht mit Noten. Das geht nicht anders. Wir haben Zehnjährige mit leichtem Autismus, die mathematisch auf Highschoolniveau sind, aber dafür Lesefähigkeiten wie ein Drittklässler haben. Wir haben Schüler, die vier Fremdsprachen beherrschen, aber Probleme beim Multiplizieren von Brüchen haben. Wir unterrichten sie in allen Fächern, und neunzig Prozent wohnen in unserem Internat – weil sie aus allen Teilen der Vereinigten Staaten kommen, etwa ein Dutzend sogar aus dem Ausland–, aber wir richten unsere Aufmerksamkeit auf ihre speziellen Talente, egal worin die bestehen. Daher ist das althergebrachte System, das vom Kindergarten geradlinig zur zwölften Klasse führt, für uns ziemlich nutzlos.«
»Das ist uns bewusst«, sagte Herb. »Und wir wissen auch, dass Luke ein kluger Junge ist. Deshalb ist er ja hier.« Weil Greer das sicher wusste, fügte er nicht hinzu, dass sie sich die astronomischen Gebühren der Schule nie hätten leisten können. Herb war Vorarbeiter in einer Fabrik, die Pappkartons herstellte; Eileen war Lehrerin an einer Grundschule. Luke gehörte zu den wenigen Schülern hier, die nicht im Internat wohnten, und zu den sehr wenigen, die ein Stipendium bekamen.
»Klug? Das ist leicht untertrieben.«
Greer blickte in einen Aktenordner, der aufgeschlagen auf seinem sonst leeren Schreibtisch lag, wobei Eileen eine plötzliche Vorahnung überkam: Entweder würde man die beiden bitten, ihren Sohn abzumelden, oder man würde ihm das Stipendium streichen – wodurch eine Abmeldung unvermeidbar wäre. Die Schulgebühren beliefen sich auf jährlich etwa vierzigtausend Dollar und waren damit ungefähr so hoch wie in Harvard. Bestimmt würde Greer jetzt gleich erklären, man habe einen Fehler gemacht und Luke sei doch nicht so helle, wie sie alle geglaubt hätten. Er sei ein ganz gewöhnlicher Junge, dessen Lektüre lediglich weit über sein Altersniveau hinausgehe und der sich offenbar alles perfekt einprägen könne. Eileen hatte irgendwo gelesen, dass ein eidetisches Gedächtnis bei Kindern nicht so ungewöhnlich war; etwa zehn bis fünfzehn Prozent besaßen die Fähigkeit, sich an fast alles zu erinnern. Allerdings verschwand das Talent normalerweise am Beginn der Pubertät, und Luke näherte sich diesem Punkt.
Greer lächelte. »Lassen Sie mich Klartext reden. Wir sind stolz darauf, Kinder mit außergewöhnlichen Begabungen zu unterrichten, aber einen Schüler wie Luke haben wir hier noch nie gehabt. Einer von unseren eigentlich im Ruhestand befindlichen Kollegen – Mr. Flint, der jetzt schon über achtzig ist – hat es auf sich genommen, Luke Einzelunterricht über die Geschichte des Balkans zu geben, ein komplexes Thema, an dem man viel über die derzeitige geopolitische Lage lernen kann. Behauptet jedenfalls Flint. Nach der ersten Woche ist er zu mir gekommen und hat gesagt, mit Ihrem Sohn erlebe er dasselbe wie die Schriftgelehrten, die Jesus mit den Worten zurechtweist, nicht was in ihren Mund hineingehe, mache sie unrein, sondern das, was herauskomme.«
»Jetzt kenne ich mich wirklich nicht mehr aus«, sagte Herb.
»So ist es Billy Flint auch gegangen. Darauf will ich ja hinaus.« Greer beugte sich vor. »Hören Sie mir bitte gut zu. Luke hat in einer einzigen Woche den Stoff eines extrem schwierigen Universitätsseminars bewältigt und viele der Schlüsse gezogen, zu denen Flint ihn bringen wollte, sobald er ihm das nötige historische Grundwissen vermittelt hätte. Bei manchen dieser Schlüsse hat Luke sehr überzeugend behauptet, es handle sich um überliefertes Wissen und nicht um eigenständige Gedanken. Was er laut Flint ausgesprochen höflich vorgebracht hat. Beinahe entschuldigend.«
»Ich weiß nicht recht, was ich dazu sagen soll«, sagte Herb. »Luke spricht nicht viel über das, was er in der Schule lernt, weil er meint, das würden wir doch nicht verstehen.«
»Was ja mehr oder weniger stimmt«, sagte Eileen. »Früher habe ich zwar mal gewusst, was der binomische Lehrsatz besagt, aber das ist lange her.«
»Wenn Luke nach Hause kommt, verhält er sich wie jeder andere Junge«, ergänzte Herb. »Sobald er seine Hausaufgaben erledigt hat und das, was wir ihm aufgetragen haben, setzt er sich an seine X-Box oder spielt in der Einfahrt mit seinem Freund Rolf Basketball. Außerdem sieht er sich immer noch SpongeBob Schwammkopf an.« Er überlegte einen Moment. »Dabei hat er allerdings meistens ein Buch auf dem Schoß.«
Stimmt, dachte Eileen. In letzter Zeit waren es die Grundlagen der Soziologie. Vorher etwas von William James, davor das Blaue Buch der Anonymen Alkoholiker und davor sämtliche Werke von Cormac McCarthy. Er las so, wie Kühe auf der Wiese grasten – einfach da weiter, wo das Gras am grünsten war. Was ihr Mann so merkwürdig fand, dass es ihm Angst machte, weshalb er es lieber ignorierte. Ihr machte es auch Angst, was wahrscheinlich der Grund war, dass sie nichts von Lukes Privatseminar über die Geschichte des Balkans wusste. Er hatte es ihr nicht erzählt, weil sie nicht danach gefragt hatte.
»Wir haben viele Wunderkinder hier«, sagte Greer. »Ich würde sogar mehr als fünfzig Prozent unserer Schüler so klassifizieren. Aber die haben alle ihre Spezialbegabung. Luke ist anders, weil er global ist. Er ist nicht in einem bestimmten Gebiet hochbegabt, sondern in allem. Ich glaube zwar nicht, dass er je professionell Baseball oder Basketball spielen wird…«
»Wenn er nach meiner Familie kommt, wird er für Basketball nicht groß genug«, sagte Herb grinsend. »Falls er sich nicht zum nächsten Spud Webb entwickeln sollte.«
»Sei still!«, sagte Eileen.
»Aber er spielt beides mit Begeisterung«, fuhr Greer fort. »Er hat Freude daran und hält es nicht für verlorene Zeit. In Leichtathletik stellt er sich auch ganz gut an. Er kommt gut mit seinen Kameraden aus, ist kein bisschen introvertiert oder emotional dysfunktional. So gesehen ist Luke ein gemäßigt cooler amerikanischer Junge, der T-Shirts von irgendwelchen Rockbands trägt und seine Baseballcap mit dem Schirm nach hinten aufsetzt. In einer gewöhnlichen Schule wäre er womöglich nicht so cool – da würde der Alltagstrott ihn wohl zum Wahnsinn treiben–, aber ich glaube, dass er selbst dort durchkäme; er würde seine Studien dann einfach alleine treiben.« Hastig fügte er hinzu: »Nicht dass Sie das ausprobieren sollten!«
»Tun wir schon nicht, wir sind ja glücklich, dass er hier ist«, sagte Eileen. »Sehr glücklich sogar. Und wir wissen, dass er ein guter Junge ist. Wir lieben ihn wie verrückt.«
»Und er Sie. Ich habe mehrere Gespräche mit Luke geführt, und daran lässt er keinen Zweifel. Ein so hervorragendes Kind findet man nur ausgesprochen selten. Eines, das außerdem noch gut integriert ist und mit beiden Beinen auf der Erde steht – das also auch die Außenwelt sieht und nicht nur die in seinem Kopf–, findet man noch seltener.«
»Wenn alles in Ordnung ist, wieso sitzen wir dann hier?«, fragte Herb. »Nicht dass ich nicht gerne zuhören würde, wie Sie ein Loblied auf meinen Sohn singen, ganz im Gegenteil. Übrigens schlage ich ihn beim Basketball immer noch locker, obwohl er einen anständigen Hakenwurf draufhat.«
Greer lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Sein Lächeln verschwand. »Sie sitzen hier, weil wir das Ende von dem erreicht haben, was wir für Luke tun können, und das weiß er. Er hat das Interesse geäußert, am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge Ingenieurwissenschaften zu studieren und in Boston, auf der anderen Seite vom Fluss, Englisch am Emerson College.«
»Was?«, rief Eileen. »Gleichzeitig?«
»Richtig.«
»Was ist mit der Zulassungsprüfung?« Mehr fiel Eileen nicht ein.
»Die macht er nächsten Monat, im Mai. An der North Community High. Dabei wird er bestimmt die Höchstpunktzahl erzielen.«
Dann werde ich ihm was zu essen einpacken müssen, dachte sie. Soweit sie gehört hatte, war die Mensa an der North Comm furchtbar.
Nach einem Moment verblüfften Schweigens sagte Herb: »Mr. Greer, unser Sohn ist gerade mal zwölf Jahre alt. Genauer gesagt, ist er erst letzten Monat zwölf geworden. Selbst wenn er das mit Serbien und so bestens kapiert haben sollte, kann er sich noch drei Jahre lang keinen Schnurrbart wachsen lassen. Daher… also…«
»Ich verstehe, wie Sie empfinden, und wir würden das Gespräch hier nicht führen, wenn meine in der Beratung tätigen Kollegen und der übrige Lehrkörper nicht der Ansicht wären, dass Luke akademisch, sozial und emotional fähig wäre, zu studieren. Und zwar an beiden Colleges gleichzeitig.«
»Ich schicke doch einen zwölfjährigen Jungen nicht irgendwohin weit weg, wo er mit Studenten zusammenwohnt, die alt genug sind, Alkohol zu trinken und in irgendwelche Clubs zu gehen«, sagte Eileen. »Wenn wir Verwandte hätten, bei denen er wohnen könnte, wäre es vielleicht was anderes, aber…«
Greer nickte zustimmend. »Ich verstehe, bin ganz Ihrer Meinung, und Luke weiß durchaus, dass er noch nicht bereit ist, allein zu leben, selbst in einem betreuten Umfeld. Das ist ihm völlig klar. Dennoch ist er zunehmend frustriert und unzufrieden mit seiner aktuellen Situation, weil er begierig ist, zu lernen. Er ist gewissermaßen ausgehungert. Ich weiß zwar nicht, was für eine fabelhafte Apparatur da in seinem Kopf vor sich hin werkelt – das weiß niemand von uns; wahrscheinlich ist der alte Flint dem mit seinem Spruch von Jesus und den Schriftgelehrten am nächsten gekommen–, aber wenn ich versuche, mir das bildlich vorzustellen, kommt mir eine riesige, glänzende Maschine in den Sinn, die mit lediglich zwei Prozent ihrer Kapazität läuft. Allerhöchstens mit fünf Prozent. Und weil es sich um eine menschliche Maschine handelt, fühlt Luke sich eben… hungrig.«
»Frustriert und unzufrieden?«, sagte Herb. »Hm. Das sehen wir eigentlich nicht an ihm.«
Ich schon, dachte Eileen. Nicht die ganze Zeit, aber manchmal. Ja. In den Momenten, wenn die Teller klappern oder die Türen von selbst zufallen.
Sie stellte sich die riesige, glänzende Maschine vor, die Greer beschrieben hatte, so groß, dass sie drei oder vier Fabrikhallen füllte. Und was tat sie genau? Nicht mehr, als Papierbecher herzustellen oder Aluminiumtabletts für Fast Food auszustanzen. Da waren sie ihm mehr schuldig, aber musste es ausgerechnet so etwas sein?
»Was ist mit der University of Minnesota?«, fragte sie. »Oder mit der Concordia University in St. Paul? Wenn er dort studieren würde, könnte er zu Hause wohnen.«
Greer seufzte. »Dann könnten Sie genauso gut überlegen, ihn hier abzumelden und in eine gewöhnliche Highschool zu stecken. Wir sprechen über einen Jungen, für den die IQ-Skala keinerlei Aussagekraft hat. Er weiß, wo er hinwill. Er weiß, was er braucht.«
»Aber ich weiß nicht, was wir da tun können«, sagte Eileen. »Selbst wenn er dort ein Stipendium bekommt, leben und arbeiten wir beide hier. Und wir sind alles andere als reich.«
»Nun gut, dann lassen Sie uns darüber reden«, sagte Greer.
Als Herb und Eileen am Nachmittag desselben Tages wieder an der Schule vorfuhren, stand Luke mit vier anderen Kids, zwei Jungen und zwei Mädchen, an der Abholspur. Die fünf unterhielten sich aufgeregt und lachten. Eileen fand, dass sie wie ganz gewöhnliche Kinder aussahen. Die schon leicht pubertierenden Mädchen trugen Rock und Leggings, Luke und sein Freund Rolf Baggy Pants aus Cord – entsprechend dem diesjährigen Modetrend für junge Männer – und Tanktops. Auf dem von Rolf stand BIER IST WAS FÜR ANFÄNGER. Er hatte die gepolsterte Tasche mit seinem Cello dabei und schien damit einen Pole Dance zu veranstalten, während er sich über irgendetwas ausließ. Das konnte genauso der schulische Frühlingsball sein wie der Satz des Pythagoras.
Als Luke seine Eltern sah, nahm er sich gerade genug Zeit, Rolf abzuklatschen, dann griff er sich seinen Rucksack und sprang auf den Rücksitz von Eileens 4Runner. »Beide Eltern!«, sagte er. »Ausgezeichnet. Welchem Ereignis verdanke ich diese außerordentliche Ehre?«
»Willst du wirklich in Boston aufs College gehen?«, fragte Herb.
Anstatt aus der Fassung zu geraten, lachte Luke und stieß beide Fäuste in die Luft. »Und ob! Darf ich?«
Als würde er fragen, ob er am Freitagabend bei Rolf übernachten darf, dachte Eileen staunend. Dann fiel ihr ein, wie Greer die Fähigkeiten ihres Sohnes beschrieben hatte. Er hatte sie als global bezeichnet, was der perfekte Ausdruck war. Luke war ein Genie, das irgendwie nicht von seiner übergroßen Intelligenz deformiert worden war; er hatte absolut keine Bedenken, auf sein Skateboard zu steigen und mit seinem extrem außergewöhnlichen Gehirn einen steilen Gehsteig hinunterzurasen.
»Gehen wir doch irgendwo was essen, auch wenn es dafür noch recht früh ist, dann können wir darüber reden«, sagte sie.
»Auf zu Rocket Pizza!«, rief Luke. »Wie wär’s damit? Natürlich nur, wenn du dein Omeprazol eingenommen hast, Dad. Hast du?«
»Oh, allerdings, gleich nach dem Gespräch heute in der Schule. Seither bin ich damit gut versorgt.«
Sie bestellten sich eine große Peperonipizza, die Luke zur Hälfte ganz allein vernichtete. Dazu goss er sich aus der Glaskanne drei Gläser Cola ein, weshalb seine Eltern wieder einmal nicht nur über seine mentalen Fähigkeiten staunten, sondern auch über die seines Verdauungstrakts und seiner Blase. Luke erklärte, er habe zuerst nicht mit ihnen, sondern mit Mr. Greer gesprochen. »Ich wollte vermeiden, dass ihr ausflippt. Im Grunde war es ein erstes Sondierungsgespräch.«
»Du hast sozusagen einen Versuchsballon gestartet«, sagte Herb.
»Genau. Ich habe einen Testlauf durchgeführt. Habe die Probe aufs Exempel gemacht. Habe die Idee auf den Prüfstand gestellt, um…«
»Stopp. Mr. Greer hat erklärt, wie wir es anstellen könnten, dich zu begleiten.«
»Das müsst ihr auch«, sagte Luke ernsthaft. »Ich bin zu jung, ohne meine ebenso geschätzten wie verehrten Altvorderen zu leben. Außerdem…« Er blickte sie über die Überreste der Pizza hinweg an. »… würde das nicht gut gehen. Ich würde euch zu sehr vermissen.«
Eileen befahl ihren Augen, sich nicht mit Tränen zu füllen, doch das taten sie natürlich trotzdem. Herb reichte ihr eine Papierserviette. »Mr. Greer hat…äh«, sagte sie. »Einen Plan entworfen, könnte man wohl sagen… laut dem wir möglicherweise… Na ja…«
»Liebe Eltern, wer will das letzte Stück?«, sagte Luke.
»Greif nur zu«, sagte Herb. »Vielleicht platzt du trotzdem nicht, bevor du die Chance hast, diesen irren College-Plan durchzuziehen.«
»College zu dritt«, sagte Luke und lachte. »Er hat euch von den reichen Ehemaligen erzählt, stimmt’s?«
Eileen legte die Papierserviette weg. »Meine Güte, Lukey, du hast mit deinem Beratungslehrer über die finanziellen Möglichkeiten deiner Eltern gesprochen? Wer sind eigentlich die Erwachsenen hier? Allmählich ist mir das nicht mehr so recht klar.«
»Beruhige dich, Mamacita, es ist alles völlig einleuchtend. Wobei ich zuerst an das Stiftungsvermögen gedacht habe. Das von der Schule ist gewaltig, weshalb sie euch damit ohne Weiteres den Umzug bezahlen könnten, aber dem würden die Treuhänder niemals zustimmen, obwohl es logisch wäre.«
»Wäre es das?«, fragte Herb.
»Und ob!« Luke kaute begeistert, schluckte und schlürfte Cola. »Ich bin nämlich eine Investition. Eine Aktie mit bestem Wachstumspotenzial. Schließlich muss man sein Geld vermehren, oder etwa nicht? So funktioniert Amerika. Das würden die Treuhänder auch kapieren, kein Problem, aber sie können sich trotzdem nicht aus dem kognitiven Kerker befreien, in dem sie stecken.«
»Was für ein kognitiver Kerker?«, fragte sein Vater.
»Na, du weißt schon. Ein Kerker, der als Resultat der angestammten Dialektik entstanden ist. Vielleicht ist es sogar ein Ausdruck von Stammesdenken, obwohl es ziemlich absurd ist, sich einen Stamm von Treuhändern vorzustellen. Jedenfalls denken die: ›Wenn wir das für ihn tun, dann müssen wir das auch für andere Schüler tun.‹ Das ist der kognitive Kerker. Der wird sozusagen von Generation zu Generation weitergereicht.«
»Überliefertes Wissen eben«, sagte Eileen.
»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Mama. Deshalb werden die Treuhänder diesen Fall den reichen Ehemaligen überlassen, die irrsinnig Geld gescheffelt haben, weil sie ihr Denken nicht einkerkern, und die ihre alte Schule immer noch heiß und innig lieben. Als Verbindungsmann wird Mr. Greer dienen, wenigstens hoffe ich das. Der Deal läuft darauf hinaus, dass sie jetzt mir helfen, und ich helfe später der Schule, wenn ich reich und berühmt bin. Das will ich zwar gar nicht werden, ich bin durch und durch Mittelschicht, aber vielleicht werde ich trotzdem reich, als Nebeneffekt sozusagen. Vorausgesetzt natürlich, dass ich mir keine krasse Krankheit zuziehe oder bei einem Terroranschlag ums Leben komme und so weiter.«
»Sag nicht solche Dinge, das bringt Unglück«, sagte Eileen und machte über dem mit Essensresten übersäten Tisch das Kreuzzeichen.
»Reiner Aberglaube, Mama«, sagte Luke nachsichtig.
»Lass mich einfach machen. Und wisch dir den Mund ab. Da klebt Tomatensoße. Sieht aus, als würde dein Zahnfleisch bluten.«
Luke wischte sich den Mund ab.
Herb sagte: »Laut Mr. Greer wären bestimmte Leute unter Umständen tatsächlich bereit, uns den Umzug zu bezahlen und uns sechzehn Monate lang finanziell zu unterstützen.«
»Hat er euch auch gesagt, dass dieselben Leute, die euch finanzieren würden, dir auch helfen könnten, einen neuen Job zu finden?« Lukes Augen funkelten. »Einen besseren? Weil einer von den Ehemaligen jemand namens Douglas Finkel ist. Der ist der Besitzer von American Paper Products, und das ist ja in etwa deine Domäne. Deine Disziplin. Da bist du wie ein Fisch im…«
»Ja, von Finkel war tatsächlich die Rede«, unterbrach ihn Herb. »Allerdings bloß spekulativ.«
»Außerdem…« Mit strahlender Miene wandte Luke sich an seine Mutter. »Was Lehrer angeht, herrscht in Boston derzeit ein gewaltiger Bedarf. Das durchschnittliche Anfangsgehalt für jemand mit deiner Erfahrung beträgt fünfundsechzigtausend Dollar.«
»Sag mal, woher weißt du das eigentlich alles?«, fragte Herb.
Luke zuckte die Achseln. »Normalerweise fange ich erst mal mit Wikipedia an. Dann rufe ich die Quellen auf, die in den Artikeln angegeben sind. Im Grunde geht es darum, auf dem Laufenden zu bleiben, was das eigene Milieu betrifft. Mein Milieu ist die Schule. Die Treuhänder kenne ich alle persönlich, wer die betuchten Ehemaligen sind, musste ich recherchieren.«
Elaine griff über den Tisch, nahm ihrem Sohn das letzte Stück Pizza aus der Hand und legte es zu den übrig gebliebenen Krustenstücken auf das Blech zurück. »Lukey, selbst wenn das klappen sollte, würdest du denn deine Freunde nicht vermissen?«
Seine Miene verdüsterte sich. »Doch. Vor allem Rolf. Maya ebenfalls. Offiziell dürfen wir zwar kein Mädchen fragen, ob sie mit uns zum Frühlingsball geht, aber inoffiziell ist sie mein Date. Da hast du also recht. Aber!«
Die beiden warteten. Ihr Sohn, sonst immer beredt und oft redselig, schien jetzt Probleme zu haben, die richtigen Worte zu finden. Er setzte an, hielt inne, setzte noch einmal an und hielt wieder inne. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll«, brachte er schließlich heraus. »Weiß nicht mal, ob ich es überhaupt sagen kann.«
»Versuch’s einfach«, sagte Herb. »In Zukunft werden wir viele wichtige Gespräche führen, aber das hier ist bisher das wichtigste. Also versuch’s.«
Am Eingang des Restaurants legte Richie Rocket mit seinem stündlichen Auftritt los. Er tanzte zu den Klängen von »Mambo Number 5«. Eileen sah, wie die in einen silbernen Raumanzug gehüllte Gestalt mit ihren behandschuhten Händen winkte. Von den Tischen in der Nähe standen mehrere kleine Kinder auf, gesellten sich zu Richie und bewegten sich lachend zur Musik, während ihre Eltern Fotos machten und applaudierten. Es war nicht allzu lange her – fünf kurze Jahre–, da hatte Lukey selbst zu diesen Kindern gehört. Jetzt sprachen sie mit ihm über geradezu unglaubliche Veränderungen. Eileen hatte keine Ahnung, warum ausgerechnet sie beide – ganz normale Leute mit normalen Ambitionen und Erwartungen – ein Kind wie Luke bekommen hatten, und manchmal wünschte sie sich, es wäre anders. Manchmal hasste sie die Rolle, die ihnen zugewiesen worden war, aber Lukey hatte sie noch nie gehasst und würde das auch nie tun. Er war ihr Kind, ihr Ein und Alles.
»Luke?«, sagte Herb. Er sprach ganz leise. »Was ist?«
»Es geht einfach darum, was als Nächstes kommt«, sagte Luke. Er hob den Kopf und sah die beiden direkt an. In seinen Augen lag ein Strahlen, das seine Eltern nur selten zu sehen bekamen. Dieses Strahlen verbarg er vor ihnen, weil es ihnen auf eine Weise Angst machte, wie ein paar klappernde Teller es nicht schafften. »Erkennt ihr es nicht? Es geht darum, was als Nächstes kommt. Ich will aufs College… und etwas lernen… und dann den nächsten Schritt tun. So ein Studium ist wie die Schule, in der ich jetzt bin. Nicht das Ziel, sondern nur ein Schritt auf dem Weg zum Ziel.«
»Was ist das für ein Ziel, Schatz?«, fragte Eileen.
»Das weiß ich nicht. Es gibt so vieles, was ich lernen und herausbekommen will. Da ist etwas in meinem Kopf, was irgendwie nach allem greift… und manchmal gibt es sich zufrieden, aber meistens nicht. Manchmal fühle ich mich so klein… so verdammt beschränkt…«
»Nein, Schatz. Beschränkt bist du bestimmt nicht.« Eileen griff nach seiner Hand, aber er entzog sich ihr und schüttelte den Kopf. Das Pizzablech auf dem Tisch zitterte. Die Krustenstücke bebten.
»Ich spüre einen Abgrund, wisst ihr? Manchmal träume ich davon. Er ist unendlich tief und gefüllt mit all den Dingen, die ich nicht weiß. Mir ist zwar nicht klar, wie ein Abgrund gefüllt sein kann – das ist ein Oxymoron–, aber so ist es eben. Deshalb fühle ich mich klein und beschränkt. Aber es führt eine Brücke darüber, die ich betreten will. Ich will in ihrer Mitte stehen und die Hände heben…«
Die beiden sahen fasziniert und leicht beängstigt, wie Luke die Hände neben sein schmales, angespanntes Gesicht hob. Das Pizzablech zitterte nicht mehr nur, es klapperte. Wie es manchmal die Teller in den Küchenschränken taten.
»… und dann werden diese ganzen Dinge aus der Dunkelheit emporschweben. Das weiß ich!«
Das Pizzablech glitt über den Tisch und fiel krachend zu Boden. Herb und Eileen bemerkten es kaum. So etwas geschah eben, wenn Luke aufgeregt war. Nicht oft, aber manchmal doch. Deshalb waren seine Eltern daran gewöhnt.
»Ich verstehe«, sagte Herb.
»Unsinn«, sagte Eileen. »Verstehen können wir das beide nicht. Aber du, Luke, solltest jetzt anfangen, das Nötige zu tun. Leg die Zulassungsprüfung ab. Danach kannst du dich immer noch anders entscheiden. Wenn du das nicht tust, wenn du bei deiner Entscheidung bleibst…« Sie sah Herb an, der nickte. »Dann versuchen wir, es möglich zu machen.«
Luke grinste, dann hob er das Pizzablech vom Boden auf. Er blickte zu Richie Rocket hinüber. »Als ich klein war, hab ich auch immer mit dem getanzt.«
»Ja«, sagte Eileen und musste wieder nach der Papierserviette greifen. »Das hast du.«
»Du weißt doch, was man über den Abgrund sagt, nicht wahr?«, fragte Herb.
Luke schüttelte den Kopf, weil das entweder zu den wenigen Dingen gehörte, die er nicht wusste, oder weil er seinem Vater nicht die Pointe verderben wollte.
»Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.«
»Das kann man wohl sagen«, sagte Luke. »Übrigens, können wir noch Nachtisch bestellen?«
Den Aufsatz eingeschlossen, dauerte die Zulassungsprüfung vier Stunden, aber gnädigerweise gab es in der Mitte eine Pause. Luke setzte sich im Foyer der Highschool auf eine Bank, mampfte die Sandwiches, die seine Mutter ihm eingepackt hatte, und wünschte sich ein Buch herbei. Er hatte zwar Naked Lunch mitgebracht, aber das hatte einer der Leute, die Aufsicht führten, zusammen mit seinem Handy (und dem von allen anderen) konfisziert und gesagt, er werde es später zurückbekommen. Außerdem hatte der Typ darin herumgeblättert, wahrscheinlich auf der Suche nach unanständigen Fotos oder einem Spickzettel.
Während er seine Tierkekse aß, merkte er, dass mehrere andere Prüflinge um ihn herumstanden. Große Jungen und Mädchen im letzten oder vorletzten Highschooljahr.
»He, Kleiner«, sagte einer von ihnen. »Was tust du hier eigentlich?«
»Ich mache die Prüfung«, sagte Luke. »Genau wie ihr.«
Die anderen dachten darüber nach. Dann sagte eines von den Mädchen: »Bist du etwa ein Genie? So eines wie in Kinofilmen?«
»Nein.« Luke musste grinsen. »Aber immerhin hab ich heute in einem Holiday Inn Express übernachtet.«
Die anderen lachten, was gut war. Ein Junge hob die flache Hand, und Luke klatschte ihn ab.
»Wo willst du denn hin?«, fragte der Junge. »Auf welches College, meine ich?«
»Aufs MIT, wenn ich es schaffe«, sagte Luke. Was geschwindelt war; die beiden Colleges seiner Wahl hatten ihn bereits provisorisch zugelassen. Vorausgesetzt, dass er heute gut abschnitt, was kein großes Problem sein würde. Bisher war die Prüfung jedenfalls kinderleicht gewesen. Was ihm Angst machte, waren die Kids, die um ihn herumstanden. Im Herbst würde er in Kursen zusammen mit solchen Kids sitzen, die wesentlich älter waren und etwa doppelt so groß wie er, und natürlich würden alle ihn anglotzen. Darüber hatte er bereits mit Mr. Greer gesprochen. Die würden ihn bestimmt für den totalen Freak halten, hatte er gemeint.
»Worauf es ankommt, ist, wie du dich fühlst«, hatte Mr. Greer erwidert. »Vergiss das möglichst nie. Und falls du eine Beratung brauchen solltest – wenn du einfach jemand brauchst, mit dem du über deine Gefühle sprechen kannst–, dann hol sie dir. Außerdem kannst du mir immer eine Nachricht schicken.«
Eines der Mädchen – hübsch und rothaarig – fragte ihn, ob er die Hotelaufgabe in dem Matheteil gelöst habe.
»Die mit diesem Aaron?«, fragte Luke. »Ja, wahrscheinlich schon.«
»Was hast du denn als Lösung angekreuzt, weißt du das noch?«
Die Aufgabe hatte darin bestanden, herauszubekommen, wie viel ein Typ namens Aaron für x Übernachtungen bezahlen musste, wenn sein Hotelzimmer $ 99,95 pro Nacht plus 8 % Steuer plus eine zusätzliche einmalige Gebühr von fünf Dollar kostete. Natürlich erinnerte Luke sich daran. Es war eine etwas fiese Aufgabe, weil sie den Ausdruck wie viel enthielt. Die Lösung war daher keine Zahl, sondern eine Gleichung.
»Die Lösung war B. Schau mal.« Er zog seinen Kugelschreiber aus der Tasche und schrieb auf die Papiertüte, in der sein Sandwich gesteckt hatte: 1,08 (99,95x) + 5.
»Bist du dir sicher?«, fragte das Mädchen. »Ich hatte nämlich A.« Sie bückte sich, griff sich die Papiertüte – wobei er einen Hauch von ihrem Parfüm schnupperte, Flieder, herrlich – und schrieb darauf: 99,95 + 0,08x + 5.
»Ausgezeichnete Gleichung«, sagte Luke. »Aber das zeigt, wie dich die Leute, die sich solche Prüfungen ausdenken, nach Strich und Faden verarschen.« Er tippte auf die Tüte. »Du hast nur eine einzige Übernachtung berechnet und die Steuer mit den Tagen multipliziert.«
Sie stöhnte.
»Das macht doch nichts«, sagte Luke. »Wahrscheinlich hast du den Rest richtig gemacht.«
»Vielleicht liegst du ja auch falsch, und sie liegt richtig«, sagte einer von den Jungen. Es war der, der Luke abgeklatscht hatte.
Sie schüttelte den Kopf. »Der Kleine hat recht. Das mit der verfickten Steuer hab ich total falsch verstanden. Ich hab’s verbockt.«
Luke sah sie mit hängendem Kopf davontrotten. Einer von den Jungen ging hinter ihr her und legte ihr den Arm um die Taille. Luke beneidete ihn.
Eine der anderen, eine superscharfe Braut mit Designerbrille, setzte sich neben Luke. »Sag mal, Kleiner, fühlt man sich eigentlich komisch?«, fragte sie. »Wenn man so ist wie du, meine ich?«
Luke dachte einen Moment nach. »Manchmal«, sagte er dann. »Normalerweise ist es einfach so, wie es ist, weißt du?«
Einer von der Aufsicht lehnte sich aus der Turnhalle und läutete mit einer Handglocke. »Weiter geht’s, Leute!«
Ziemlich erleichtert stand Luke auf und warf seine Papiertüte in den Mülleimer neben der Tür zur Turnhalle. Er warf einen letzten Blick auf die hübsche Rothaarige, und während er durch die Tür trat, wanderte der Mülleimer knapp zehn Zentimeter nach links.
Die zweite Hälfte der Prüfung war ebenso leicht wie die erste, und beim Aufsatz hatte er wohl ganz passabel abgeschnitten. Jedenfalls hatte er ihn kurz gehalten. Als er aus dem Schultor trat, sah er die hübsche Rothaarige ganz allein weinend auf einer Bank sitzen. Er überlegte, ob sie die Prüfung wohl versemmelt hatte und, falls ja, wie schlimm – nur so, dass sie nicht ins College ihrer Wahl kommen würde, oder so, dass sie sich mit einer minderwertigen Alternative begnügen musste. Er überlegte, wie es wohl war, ein Gehirn zu haben, das irgendwie nicht alle Antworten wusste. Er überlegte, ob er zu ihr hinübergehen und versuchen sollte, sie zu trösten. Er überlegte, ob sie sich wohl von einem Jungen trösten ließe, der eigentlich noch ein Pimpf war. Wahrscheinlich würde sie ihn auffordern, sich schleunigst zu verpissen. Er überlegte sogar, auf welche Weise sich der Mülleimer bewegt hatte – so was war irgendwie unheimlich. Schließlich kam ihm in den Sinn (und zwar mit der Kraft einer Offenbarung), dass das Leben im Grunde eine einzige lange Zulassungsprüfung war, bei der einem anstatt vier oder fünf Auswahlmöglichkeiten Dutzende vorgesetzt wurden. Einschließlich solchem Scheiß wie unter Umständen und vielleicht, vielleicht auch nicht.
Seine Mutter winkte ihm. Er winkte zurück und rannte zu ihrem Wagen. Als er eingestiegen war und sich angeschnallt hatte, erkundigte sie sich, wie er seiner Meinung nach abgeschnitten habe.
»Mit links!«, sagte Luke. Er stellte sein sonnigstes Grinsen zur Schau, musste jedoch dauernd an das rothaarige Mädchen denken. Dass sie jetzt weinte, war schlimm, aber wie sie den Kopf hatte hängen lassen, als er sie auf den Fehler in ihrer Gleichung hingewiesen hatte – wie eine Blume in zu trockener Erde–, war noch schlimmer gewesen.
Er wollte sich zwingen, nicht mehr darüber nachzudenken, aber das klappte natürlich nicht. »Versuch, nicht an einen Eisbären zu denken«, hatte Fjodor Dostojewski einmal geschrieben. »Und du wirst sehen, dass das verfluchte Ding dir jede Minute in den Sinn kommt.«
»Mama?«
»Was denn?«
»Meinst du, unser Erinnerungsvermögen ist ein Segen oder ein Fluch?«
Darüber musste sie gar nicht erst nachdenken; offenbar erinnerte sie sich an weiß Gott was. »Beides, Schatz.«
Während Tim Jamieson im Juni um zwei Uhr morgens nachtklopfend die Hauptstraße von DuPray entlangging, bog in einem nördlichen Außenbezirk von Minneapolis ein schwarzer SUV in den Wildersmoot Drive ein. Das war ein irrer Straßenname; Luke und sein Freund Rolf sagten stattdessen Wilderschmus Drive, zum einen, weil der Name dadurch noch irrer wurde, und zum anderen, weil sie sich beide wie wild danach sehnten, mit einem Mädchen zu schmusen.
In dem SUV saßen ein Mann und zwei Frauen. Der Mann hieß Denny, die Frauen waren Michelle und Robin. Denny saß am Steuer. Als sie die Hälfte der gewundenen, stillen Straße hinter sich hatten, schaltete er die Scheinwerfer aus, ließ den Wagen an den Bordstein rollen und stellte den Motor ab. »Ihr seid euch sicher, dass der kein TP ist, oder? Ich hab nämlich meinen Aluhut nicht mitgebracht.«
»Ha, ha«, machte Robin absolut tonlos. Sie saß auf dem Rücksitz.
»Er ist bloß ein durchschnittlicher TK«, sagte Michelle. »Kein Grund, dir in die Gummihose zu pinkeln. Machen wir uns ans Werk.«
Denny klappte die Konsole zwischen den beiden Vordersitzen auf und entnahm ihr ein Mobiltelefon, das wie ein Flüchtling aus den Neunzigern aussah: kantige, rechteckige Form mit Antennenstummel. Er reichte es Michelle. Während sie eine Nummer wählte, öffnete er den falschen Boden der Konsole und holte dünne Latexhandschuhe, zwei Glock Modell 37 und eine Sprühdose heraus, die laut Etikett ein Raumspray der Firma Glade enthielt. Eine der Pistolen reichte er Robin nach hinten, eine behielt er selbst. Die Sprühdose gab er Michelle.
»Jetzt geht’s um die Wurst, Leute!«, rief er, während er sich die Handschuhe überzog. »Ruby Red tritt in Aktion!«
»Hör auf mit dem pubertären Quatsch«, sagte Michelle. Sie klemmte das Telefon zwischen Schulter und Ohr, um ebenfalls Handschuhe anzuziehen. »Symonds, bist du da?«, sprach sie hinein.
»Bin ich«, sagte Symonds.
»Hier spricht Ruby Red. Wir sind jetzt vor Ort. System deaktivieren.«
Sie wartete auf die Bestätigung durch Jerry Symonds. Im Haus der Familie Ellis, wo Luke und seine Eltern schlafend in ihren Betten lagen, erloschen die Bedienfelder der Alarmanlage im Flur und in der Küche. Sobald Michelle grünes Licht bekommen hatte, hob sie den Daumen. »Okay. Alles klar.«
Robin schlang sich den Einsatzbeutel, der wie eine mittelgroße Damenhandtasche aussah, über die Schulter. Als sie ausstiegen, ging im Innern des SUVs, dessen Nummernschilder ihn als Fahrzeug der Minnesota State Patrol auswiesen, kein Licht an. Im Gänsemarsch gingen sie am Nachbarhaus entlang (wo Rolf ebenfalls schlafend im Bett lag und vielleicht gerade davon träumte, wild zu schmusen) und betraten das Haus von Lukes Eltern durch die Tür zur Küche. Robin ging voran, weil sie den Schlüssel hatte.
Am Herd blieben sie stehen. Aus dem Einsatzbeutel zog Robin zwei kompakte Schalldämpfer und drei leichte Spezialbrillen mit elastischen Bändern. Die Brillen verliehen den Gesichtern der drei einen insektenhaften Touch, sorgten jedoch dafür, dass die dunkle Küche plötzlich hell wurde. Denny und Robin schraubten die Schalldämpfer auf, dann ging Michelle voran ins Wohnzimmer, von da aus in den Hausflur und zur Treppe.
Oben angelangt, schlichen sie behutsam, aber mit einer gesunden Portion Selbstvertrauen durch den Flur. Ein dicker Läufer dämpfte ihre Schritte. Vor der ersten geschlossenen Tür blieben Denny und Robin stehen, Michelle ging zur zweiten weiter. Sie warf einen Blick auf ihre Gefährten und klemmte sich die Sprühdose unter den Arm, damit sie beide Hände mit gespreizten Fingern heben konnte: Lasst mir zehn Sekunden Zeit. Robin nickte und hob den Daumen.
Als Michelle Lukes Zimmer betrat, quietschte die Tür leise in den Angeln. Die Gestalt im Bett, von der nur der Haarschopf zu sehen war, regte sich kurz und beruhigte sich wieder. Um zwei Uhr morgens hätte der Junge eigentlich im tiefsten Tiefschlaf liegen sollen, aber das war eindeutig nicht der Fall. Vielleicht schliefen geniale Kinder anders als normale, wer wusste das schon? Michelle Robertson bestimmt nicht. An der Wand hingen zwei Poster, die beide durch die Brille so gut sichtbar waren wie bei Tageslicht. Auf einem sah man einen Skateboarder im Flug, mit gebeugten Knien, ausgestreckten Armen und nach oben abgewinkelten Händen. Das andere stellte die Ramones dar, eine Punkband, deren Musik Michelle sich damals in ihrer Schulzeit ganz gern angehört hatte. Wahrscheinlich waren die Mitglieder inzwischen alle tot und zum großen Rockaway Beach im Himmel oben entschwunden.
Während sie durch den Raum ging, zählte sie im Kopf: vierundzwanzig… fünfundzwanzig…
Bei sechsundzwanzig stieß sie mit der Hüfte an den Schreibtisch des Jungen. Auf dem stand irgendein Pokal, der prompt umfiel. Obwohl das entstehende Geräusch nicht besonders laut war, drehte der Junge sich auf den Rücken und öffnete die Augen. »Mama?«
»Klar«, sagte Michelle. »Alles, was du verlangst.«
In den Augen des Jungen sah sie einen Anflug von Angst. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Michelle hielt den Atem an und drückte auf die Sprühdose, gerade mal fünf Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Er wurde sofort bewusstlos. Das war immer so, und wenn die Kids sechs bis acht Stunden später wieder aufwachten, litten sie nie unter irgendwelchen Nachwirkungen. Besser leben mit Chemie, dachte Michelle und zählte weiter: siebenundzwanzig… achtundzwanzig… neunundzwanzig…
Bei dreißig betraten Denny und Robin das Schlafzimmer von Herb und Eileen Ellis. Das Erste, was sie sahen, stellte ein Problem dar: Die Frau lag nicht im Bett. Die Tür zum Bad stand offen; ein Trapez aus Licht fiel auf den Boden. Es war zu hell für die Brillen, weshalb sie die abnahmen und einfach fallen ließen. Hier war der Boden aus poliertem Hartholz, und das doppelte Klacken war in dem stillen Zimmer deutlich hörbar.
»Herb?«, hörte man eine leise Stimme im Badezimmer. »Hast du etwa das Wasserglas umgestoßen?«
Robin trat zum Bett, griff nach hinten und zog die Glock aus ihrem Hosenbund, während Denny zur Badezimmertür ging, ohne auch nur den Versuch zu machen, seine Schritte zu dämpfen. Dafür war es zu spät. Er stellte sich neben die Tür und hob mit angewinkeltem Ellbogen die Waffe, sodass die Mündung nach oben zeigte.
Das Kissen auf der leeren Seite des Betts war noch vom Kopf der Frau, die da gelegen hatte, eingedellt. Robin zog es dem Mann aufs Gesicht und feuerte hinein. Die Glock gab lediglich ein leises Husten von sich. Aus den Öffnungen am Lauf sprühte ein bisschen brauner Dreck aufs Kissen.
Mit besorgter Miene kam Eileen aus dem Bad. »Herb? Was ist denn…«
Sie sah Denny. Er packte sie am Hals, legte ihr die Pistolenmündung an die Schläfe und drückte ab. Wieder hörte man ein leises Husten. Eileen sank zu Boden.
Inzwischen strampelten die Beine von Herb Ellis wild herum, sodass die Decke, unter der er und seine verstorbene Frau geschlafen hatten, sich wellte und aufblähte. Robin feuerte zwei weitere Schüsse in das Kissen. Beim ersten hörte man ein Bellen anstatt ein Husten, der zweite war noch lauter.
Denny zog das Kissen weg. »Sag mal, hast du dir vielleicht zu oft den Paten angeschaut? Du lieber Himmel, Robin, der Kopf ist ja halb weggerissen. Was soll der Bestatter denn mit so was anfangen?«
»Ich hab’s erledigt, das ist alles, worauf es ankommt.« In Wahrheit sah sie nicht gern hin, wenn sie jemand erschoss und das Leben aus ihm wich. Und sich nachher die entstandene Schweinerei anzusehen, ertrug sie fast gar nicht.
»Du musst dich zusammenreißen, Kleine. Der dritte Schuss war ziemlich laut. Komm jetzt!«
Sie hoben ihre Brillen auf und gingen zum Zimmer des Jungen. Dort nahm Denny Luke auf die Arme – kein Problem, der Kleine wog bestimmt kaum mehr als vierzig Kilo – und hob das Kinn, um anzudeuten, dass die Frauen vorgehen sollten. Die drei verließen das Haus auf demselben Wege, wie sie hereingekommen waren, also durch die Küche. Im Nachbarhaus brannte kein Licht (selbst der dritte Schuss war nicht so richtig laut gewesen), und man hörte nichts als die Grillen. Nur in der Ferne, vielleicht sogar drüben in St. Paul, schrillte eine Sirene.
Michelle ging als Erste zwischen den beiden Häusern hindurch, warf einen Blick auf die Straße und winkte dann die anderen herbei. Jetzt kam die einzige Phase eines solchen Unternehmens, die Denny Williams hasste. Wenn jemand, der unter Schlaflosigkeit litt, aus dem Fenster blickte und um zwei Uhr morgens drei Leute im Garten seiner Nachbarn sah, würde er Verdacht schöpfen. Und wenn einer von diesen drei Leuten etwas auf den Armen trug, was wie ein menschlicher Körper aussah, würde das erst recht verdächtig wirken.
Aber am Wildersmoot Drive – benannt nach einer längst verstorbenen Lokalgröße – schlief alles tief und fest. Robin öffnete die rechte hintere Seitentür des SUVs, stieg ein und streckte die Arme aus. Denny reichte ihr den Jungen, den sie sich auf den Schoß zog. Sein Kopf baumelte locker an ihre Schulter. Sie tastete nach dem Sitzgurt.
»Igitt, der sabbert ja«, sagte sie.
»Tja, wenn man bewusstlos ist, tut man das eben«, sagte Michelle und schloss die Hintertür. Dann setzte sie sich auf den Beifahrersitz, Denny hinters Lenkrad. Während der Wagen langsam losrollte, verstaute Michelle die Waffen und die Sprühdose. Kurz vor der ersten Kreuzung schaltete Denny die Scheinwerfer ein.
»Mach den Anruf«, sagte er.
Michelle wählte dieselbe Nummer wie vorher. »Hier spricht Ruby Red. Wir haben das Paket, Jerry. Ankunft am Flughafen in fünfundzwanzig Minuten. System wieder aktivieren.«
Im Haus der Familie Ellis ging die Alarmanlage wieder an. Wenn endlich die Polizei eintraf, würde sie zwei Leichen vorfinden, und wen würde man logischerweise verdächtigen? Den verschwundenen Jungen natürlich. Schließlich galt er als hyperintelligent, und solche Kids hatten ja im Allgemeinen einen Sprung in der Schüssel, oder nicht? Sie waren ein bisschen labil. Wenn man ihn aufspürte, würde man ihn verhören, und ihn aufzuspüren war nur eine Frage der Zeit. Kinder konnten zwar weglaufen, aber selbst die Hyperintelligenten konnten sich nicht verstecken.
Nicht lange jedenfalls.
Als Luke aufwachte, erinnerte er sich an einen Traum, den er gerade gehabt hatte – keinen richtigen Albtraum, aber eindeutig etwas nicht gerade Angenehmes. Eine fremde Frau war in seinem Zimmer gewesen und hatte sich so über sein Bett gebeugt, dass ihr die blonden Haare ins Gesicht gefallen waren. Klar, hatte sie gesagt. Alles, was du verlangst. Wie ein Mädchen in einem von den Pornovideos, die er sich mit Rolf manchmal anschaute.
Er setzte sich auf, blickte sich um und dachte zuerst, er befände sich in einem weiteren Traum. Es war sein Zimmer – dieselbe blaue Tapete, dieselben Poster, derselbe Schreibtisch mit seinem Baseballpokal darauf–, aber wo war das Fenster? Das Fenster, durch das man das Haus von Rolf sehen konnte, war verschwunden.
Er presste die Augen zu und riss sie wieder auf. Keine Veränderung; das fensterlose Zimmer war fensterlos geblieben. Er überlegte, ob er sich in den Arm kneifen sollte, aber das kam ihm zu klischeehaft vor. Stattdessen klatschte er sich mit der flachen Hand an die Wange. Alles blieb so, wie es war.
Luke stieg aus dem Bett. Seine Klamotten waren auf dem Stuhl, wo seine Mutter sie abends hingelegt hatte – Unterwäsche, Socken und T-Shirt auf der Sitzfläche, die Jeans über der Lehne. Während er sich langsam ankleidete, starrte er dorthin, wo das Fenster hätte sein sollen, dann setzte er sich hin, um seine Sneakers anzuziehen. Seitlich waren seine Initialen aufgemalt, LE, was stimmte, aber der mittlere Querstrich vom E war zu lang, da war er sich sicher.
Er drehte die Schuhe um und sah keinerlei Straßendreck auf den Sohlen. Jetzt war er sich ganz sicher. Das waren nicht seine Sneakers. Auch die Schnürsenkel waren zu lang. Und die Schuhe waren zu sauber, aber sie passten ihm trotzdem perfekt.
Er ging zur Wand, legte die Hände darauf und tastete nach dem Fenster unter der Tapete. Es war nicht vorhanden.
Er überlegte, ob er wohl wahnsinnig geworden war, einfach übergeschnappt wie ein Junge in einem der gruseligen Filme von M. Night Shyamalan. Neigten Kinder mit einem auf Hochtouren laufenden Gehirn nicht zu Nervenzusammenbrüchen? Aber er war nicht wahnsinnig, er war noch genauso bei Verstand wie gestern Abend, als er ins Bett gegangen war. In einem Film würde der wahnsinnig gewordene Junge zwar meinen, er wäre noch normal – ein typisches Stilmerkmal von Shyamalan–, aber laut den Psychologiebüchern, die Luke gelesen hatte, wussten die meisten Geisteskranken, dass sie krank waren. Er war das nicht.
Als kleines Kind (so mit fünf anstatt mit zwölf Jahren) hatte er eine Weile begeistert politische Buttons gesammelt. Sein Vater hatte ihm gern geholfen, eine Sammlung aufzubauen, denn auf E-Bay waren die meisten Buttons richtig billig. Aus Gründen, die er sich selbst nicht erklären konnte, hatten ihn besonders die von Präsidentschaftskandidaten fasziniert, die verloren hatten. Irgendwann war die Besessenheit vorübergegangen, und jetzt waren die meisten Buttons wahrscheinlich auf dem Dachboden oder im Keller verstaut, aber einen hatte er sich als Talisman aufgehoben. Auf dem war ein blaues Flugzeug abgebildet, umgeben von den Worten WINGS FOR WILLKIE. Wendell Willkie war 1940 gegen Präsident Franklin Roosevelt angetreten, jedoch übel gescheitert. Er hatte lediglich zehn Staaten mit insgesamt zweiundachtzig Wahlmännerstimmen gewonnen.
Diesen Button hatte Luke in die Schale seines Baseballpokals gelegt. Als er jetzt danach tastete, fand er ihn nicht.
Als Nächstes trat er zu dem Poster, auf dem Tony Hawk mit seinem Birdhouse-Board abgebildet war. Es sah echt aus, war es aber nicht. Der kleine Einriss an der linken Seite war verschwunden.
Nicht seine Sneakers, nicht sein Poster, kein Willkie-Button.
Nicht sein Zimmer.
In seiner Brust begann etwas zu flattern, und er atmete einige Male tief durch, um es zu beruhigen. Dann ging er zur Tür und ergriff den Knauf, überzeugt davon, dass er eingesperrt war.
Das war er nicht, aber der Flur jenseits der Tür sah überhaupt nicht wie der obere Flur in dem Haus aus, in dem er mehr als zwölf Jahre gelebt hatte. Anstatt der Holztäfelung sah er Hohlblocksteine, die in einem bleichen Industriegrün getüncht waren. Gegenüber der Tür hing ein Poster, auf dem drei Jungen in Lukes Alter abgebildet waren. Sie rannten durch das hohe Gras einer Wiese; einer war mitten im Sprung erstarrt. Die drei Jungen waren entweder völlig irre oder irrsinnig glücklich. Der Spruch am unteren Rand schien auf Letzteres hinzudeuten. Er lautete: EIN TAG WIE IM PARADIES.
Luke trat auf den Flur. Rechts von ihm endete der an einer zweiflügeligen, mit Druckstangen ausgestatteten Tür, wie man sie in öffentlichen Gebäuden fand. Links hockte etwa drei Meter vor noch so einer Tür ein Mädchen auf dem Boden. Obwohl sie etwa so alt wie Luke war, schien sie eine Zigarette zu rauchen.
Mrs. Sigsby saß an ihrem Schreibtisch und blickte auf den Bildschirm ihres Computers. Sie trug ein eng anliegendes Geschäftskostüm von DVF, das ihre übermäßig hagere Gestalt in keiner Weise verschleierte. Ihre grauen Haare waren perfekt frisiert. Hinter ihrer Schulter stand Dr. Hendricks. Guten Morgen, du Vogelscheuche, dachte er, aber gesagt hätte er das nie.
»Tja, das ist er«, sagte Mrs. Sigsby. »Unser Neuankömmling. Ist zum ersten und einzigen Mal mit einer Challenger geflogen und weiß es nicht einmal. Nach allem, was man hört, ist er ein echtes Wunderkind.«
»Lange wird er das nicht mehr sein«, sagte Dr. Hendricks und gab das für ihn typische Lachen von sich, bei dem er erst aus- und dann einatmete, was sich wie ein Iahen anhörte. Zusammen mit seinen vorstehenden Vorderzähnen und seiner gewaltigen Körpergröße – er war knapp über zwei Meter groß – war das der Grund für den Spitznamen, mit dem die MTAs ihn bedachten: Donkey Kong.
Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn scharf an. »Das sind unsere Schützlinge. Billige Witze sind da nicht angebracht, Dan.«
»Tut mir leid.« Am liebsten hätte er hinzugefügt: Wem willst du da eigentlich was vormachen, Siggers?
So etwas laut auszusprechen wäre unhöflich gewesen, und außerdem war die Frage bestenfalls rhetorisch. Er wusste, dass sie niemand etwas vormachte, am wenigsten sich selbst. Siggers war wie jener unbekannte Naziwitzbold, der es für eine fantastische Idee gehalten hatte, über dem Eingang von Auschwitz den Spruch Arbeit macht frei anzubringen.
Mrs. Sigsby hob das Aufnahmeformular für den neuen Jungen in die Höhe. In die rechte obere Ecke hatte Hendricks einen rosa Punkt geklebt. »Bringt Ihre Arbeit mit den Pinks eigentlich etwas, Dan? Irgendetwas?«
»Das wissen Sie doch. Sie haben ja die Ergebnisse gesehen.«
»Ja, aber irgendwas, was nachweislich Wert hat?«
Bevor der gute Doktor etwas erwidern konnte, steckte Rosalind den Kopf durch die Tür. »Ich habe allerhand Papierkram für Sie, Mrs. Sigsby. Es kommen nämlich noch fünf weitere. Die stehen zwar bestimmt schon auf Ihrer Liste, aber sie treffen früher als geplant ein.«
Mrs. Sigsby blickte erfreut drein. »Alle fünf schon heute! Anscheinend führe ich ein korrektes Leben!«
Du kannst nicht einfach sagen, offensichtlich mach ich irgendwas richtig, dachte Hendricks (alias Donkey Kong). Dir könnte glatt ein Zacken aus der Pedantenkrone fallen.
»Also, heute kommen nur zwei«, sagte Rosalind. »Heute Nacht, genauer gesagt. Von Team Smaragd. Drei kommen morgen von Team Opal. Vier sind TK. Einer ist TP, und der ist ein richtig guter Fang. Dreiundneunzig Nanogramm BDNF.«
»Avery Dixon, nicht wahr?«, sagte Mrs. Sigsby. »Aus Salt Lake City.«
»Aus Orem«, berichtigte Rosalind.
»Ein Mormone aus Orem«, sagte Dr. Hendricks und brach in sein wieherndes Lachen aus.
Das ist wirklich ein guter Fang, dachte Mrs. Sigsby. Auf Dixons Formular würde kein rosa Punkt kleben. Dafür war er zu wertvoll. Kein Fall für viele Injektionen, riskante Krampfanfälle und die Vorstellung zu ertrinken. Bei einem BDNF von über 90 kam das nicht infrage.
»Ausgezeichnete Nachrichten. Wirklich ausgezeichnet. Holen Sie gleich mal die Akten, und legen Sie sie auf meinen Schreibtisch. Per E-Mail haben Sie alles wohl schon geschickt?«
»Natürlich.« Rosalind lächelte. Die ganze Welt kommunizierte per E-Mail, aber es war bekannt, dass Mrs. Sigsby lieber Papier als Pixel vor sich hatte; in der Hinsicht war sie vom alten Schlag. »Ich hole die Akten unverzüglich.«
»Samt Kaffee, bitte, und zwar ebenfalls unverzüglich.«
Mrs. Sigsby wandte sich Dr. Hendricks zu. So ein langer Lulatsch, und trotzdem schleppt er eine Wampe mit sich rum, dachte sie. Als Arzt hätte er wissen sollen, wie gefährlich das war, besonders für jemand von seiner Größe, bei dem das Gefäßsystem ohnehin schon härter arbeiten musste. Aber bekanntlich war niemand so gut darin, die medizinischen Realitäten zu ignorieren, wie ein Mediziner.
Weder Mrs. Sigsby noch Hendricks waren TP, hatten in diesem Augenblick jedoch trotzdem denselben Gedanken: Wie viel leichter alles doch wäre, wenn man sich mögen anstatt gegenseitig verabscheuen würde!
Sobald die beiden wieder allein waren, lehnte Mrs. Sigsby sich zurück und blickte den über ihr aufragenden Arzt an. »Ich stimme mit Ihnen überein, dass die Intelligenz des jungen Mr. Ellis keine Bedeutung für unsere Arbeit im Institut hat. Er könnte genauso gut einen IQ von fünfundsiebzig haben. Allerdings ist die Intelligenz genau der Grund, weshalb wir ihn relativ früh einkassiert haben. Schließlich ist er nicht nur an einem, sondern an gleich zwei erstklassigen Colleges angenommen worden, am MIT und am Emerson.«
Hendricks blinzelte. »Mit zwölf?«
»Richtig. Die Ermordung seiner Eltern und sein anschließendes Verschwinden werden zwar Schlagzeilen machen, aber außerhalb der Twin Cities keine großen Wellen schlagen. Eventuell läuft die Sache eine Woche lang durchs Internet. Wesentlich mehr Aufsehen hätte es erregt, wenn er sich vorher in Boston als akademische Sensation etabliert hätte. Kinder, die so was schaffen, bringt man gern in den Fernsehnachrichten, damit die Leute was zu staunen haben. Und was sage ich immer, Doc?«
»Dass in unserem Metier keine Nachrichten gute Nachrichten sind.«
»Genau. Wenn alles perfekt liefe, hätten wir auf so jemand verzichtet. An TKs haben wir bekanntlich keinen Mangel.« Sie tippte auf den rosa Punkt auf dem Formular. »Das weist darauf hin, dass sein BDNF nicht mal besonders hoch ist. Allerdings…«
Sie musste nicht zu Ende sprechen. Bestimmte Ressourcen wurden allmählich seltener. Elefantenstoßzähne. Tigerfelle. Rhinozeroshörner. Seltene Metalle. Sogar Erdöl. Dazu kamen neuerdings auch solche speziellen Kinder, deren außergewöhnliche Eigenschaften nichts mit ihrem IQ zu tun hatten. In dieser Woche würden noch weitere fünf eintreffen, darunter der kleine Dixon. Ein sehr guter Fang, aber noch vor zwei Jahren hätten sie womöglich dreißig schnappen können.
»Ach, sehen Sie mal!«, sagte Mrs. Sigsby. Auf dem Bildschirm ihres Computers näherte sich der Neuankömmling der dienstältesten Insassin des Vorderbaus. »Gleich wird er Benson kennenlernen, dieses neunmalkluge Ding. Die wird ihm die Situation erläutern… beziehungsweise eine Version davon.«
»Tja, die ist immer noch im Vorderbau«, sagte Hendricks. »Wir sollten sie zum Empfangskomitee ernennen, verdammt noch mal.«
Mrs. Sigsby bedachte ihn mit ihrem eisigsten Lächeln. »Dazu wäre sie jedenfalls besser geeignet als Sie, Doc.«
Hendricks blickte auf sie hinunter. Von hier oben kann ich sehen, wie schnell deine Haare dünner werden, Siggers, hätte er gern gesagt. Das ist eine Folge deiner leichten, aber schon lange praktizierten Anorexie. Deine Kopfhaut ist so rosa wie die Augen eines Albinokaninchens.
Es gab vieles, was er gern zu ihr gesagt hätte, zu dieser grammatikalisch perfekten, tittenlosen Verwaltungschefin des Instituts. Aber er sagte nie etwas. Es wäre unklug gewesen.
Auf dem Weg durch den aus Hohlblocksteinen gemauerten Flur kam Luke an mehreren Türen und weiteren Postern vorüber. Das Mädchen saß unter einem Plakat, auf dem ein schwarzer Junge und ein weißes Mädchen die Stirn aneinandergelegt hatten und dabei wie Volltrottel grinsten. Der Spruch darunter lautete: ENTSCHIEDEN GLÜCKLICH!
»Na, wie gefällt dir das?«, fragte das schwarze Mädchen. Aus der Nähe stellte sich heraus, dass die aus ihrem Mund hängende Zigarette aus Zuckerzeug war. »Ich würde ja gerne ENTSCHIEDEN FICKDICH draus machen, aber dann würden sie mir wahrscheinlich meinen Kugelschreiber wegnehmen. Manchmal lassen sie einem solchen Scheiß durchgehen, aber nicht immer. Das Problem ist, dass man nicht sagen kann, wie die Dinge sich entwickeln werden.«
»Wo bin ich hier?«, fragte Luke. »Was ist das für ein Ort?« Er hätte am liebsten losgeheult. Was wohl hauptsächlich daran lag, dass er desorientiert war.
»Willkommen im Institut«, sagte sie.
»Sind wir noch in Minneapolis?«
Sie lachte. »Ganz im Gegenteil. Und in Kansas sind wir auch nicht mehr, Toto. Wir sind in Maine. Irgendwo in der Pampa. Jedenfalls behauptet das Maureen.«
»In Maine?« Er schüttelte den Kopf, als hätte er einen Faustschlag an die Schläfe bekommen. »Echt jetzt?«
»Jep. Du siehst mächtig weiß aus, weißer Junge. Ich glaube, du solltest dich hinsetzen, bevor du umkippst.«
Während er sich auf den Boden setzte, stützte er sich mit einer Hand ab, weil seine Beine sich nicht so beugten, wie sie es hätten tun sollen. Es war eher wie ein Kollaps.
»Ich war zu Hause«, sagte er. »Ich war zu Hause, und dann bin ich hier aufgewacht. In einem Zimmer, das wie mein Zimmer aussieht, es aber nicht ist.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Ziemlicher Schock, was?« Sie zwängte die Hand in ihre Hosentasche und zog ein Schächtelchen heraus. Geschmückt war es mit dem Bild eines Cowboys, der ein Lasso schwang. RODEO ZUCKER-ZIGARETTEN stand darauf. RAUCH WIE DEIN DADDY! »Willst du eine? In deinem Geisteszustand ist ein bisschen Zucker vielleicht hilfreich. Mir hilft so was in solchen Fällen immer.«
Luke nahm das Schächtelchen entgegen. Es waren noch sechs Zigaretten übrig, die alle eine rote Spitze hatten. Das sollte wohl die Glut darstellen. Er zog eine heraus, steckte sie sich zwischen die Lippen und biss sie in zwei Teile. Süße überflutete seinen Mund.
»Tu das bloß nicht mit einer echten Zigarette«, sagte sie. »Das schmeckt nämlich nicht halb so gut.«
»Ich wusste gar nicht, dass so Zeug überhaupt noch verkauft wird«, sagte er.
»Die Sorte hier verkaufen sie sicher nicht mehr«, sagte sie. »Rauchen wie dein Daddy? Was für ein Schwachsinn. Das muss eine Antiquität sein. Allerdings haben sie im Aufenthaltsraum allerhand krassen Scheiß. Unter anderem echte Zigaretten, kaum zu glauben. Sämtliche Marken, Lucky Strike und Chesterfield und Camel, genau wie in den alten Filmen auf Turner Classic Movies. Ich würde ja gerne mal welche probieren, aber Mann, dafür braucht man massenhaft Münzen.«
»Echte Zigaretten? Du meinst doch nicht etwa für Kinder?«
»Kinder sind hier die einzigen Insassen. Momentan sind hier im Vorderbau allerdings nicht so viele. Maureen meint, es kommen wahrscheinlich wieder welche. Ich weiß nicht, wo sie ihre Informationen herhat, aber normalerweise stimmen die.«
»Zigaretten für Kinder? Was ist das hier? Die Vergnügungsinsel?« Nicht dass er gerade besonders vergnügt gewesen wäre.
Darüber musste sie lachen. »Wie in Pinocchio! Nicht schlecht!« Sie hob die Hand. Luke klatschte sie ab und fühlte sich daraufhin ein bisschen besser. Schwer zu sagen, weshalb.
»Wie heißt du eigentlich? Ich kann dich schließlich nicht bloß weißer Junge nennen. Das wäre ja ’ne Art Rassendiskriminierung.«
»Luke Ellis. Und wer bist du?«
»Kalisha Benson.« Sie hob den Zeigefinger. »Jetzt pass gut auf, Luke. Du kannst Kalisha oder einfach Sha zu mir sagen. Aber sag bloß nicht Kumpel zu mir.«
»Wieso nicht?« Er versuchte immer noch, sich zurechtzufinden, was ihm jedoch nicht gelang. Nicht mal annähernd. Er steckte sich die andere Hälfte der Zigarette in den Mund, die mit der nachgemachten Glut am Ende.
»Weil das Hendricks und die anderen Penner sagen, wenn sie dir eine Spritze geben oder ihre Tests machen. ›Ich stecke dir jetzt eine Nadel in den Arm, was wehtun wird, aber sei einfach mal ein guter Kumpel. Ich mach bei dir jetzt einen Rachenabstrich, bei dem du sicher wie verfickt würgen musst, aber sei ein guter Kumpel. Wir tauchen dich jetzt in den Wassertank, aber halt dabei einfach den Atem an und sei ein guter Kumpel.‹ Deshalb darfst du nicht Kumpel zu mir sagen.«
Der Sache mit den Tests schenkte Luke kaum Aufmerksamkeit, darüber würde er später nachdenken. Er dachte über das Wort verfickt nach. Von Jungen hatte er das oft gehört (auch er und Rolf verwendeten es, wenn sie zusammen waren), und er hatte es von der hübschen Rothaarigen gehört, die wahrscheinlich ihre Zugangsprüfung verbockt hatte, aber noch nie von einem Mädchen seines Alters. Das bedeutete wohl, dass er bisher ein behütetes Leben geführt hatte.
Sie legte ihm die Hand aufs Knie, was bei ihm ein leichtes Kribbeln hervorrief, und sah ihn ernsthaft an. »Aber ich würde dir raten, trotzdem ein guter Kumpel zu sein, egal wie beschissen es läuft und egal was sie dir in den Hals oder den Hintern stecken. Über den Wassertank weiß ich nicht richtig Bescheid, das hat man mit mir noch nicht gemacht, ich hab bloß davon gehört, aber solange sie Tests mit dir machen, bleibst du im Vorderbau, das ist mal sicher. Was im Hinterbau läuft, weiß ich nicht, und ich will es auch nicht wissen. Ich weiß bloß, dass es da wie im Bermuda-Dreieck ist – man kommt zwar rein, aber nicht wieder raus. Jedenfalls kommt man nicht hierher zurück.«
Er blickte in die Richtung, aus der er gekommen war. An der Wand hingen allerhand aufmunternde Poster, außerdem sah man allerhand Türen, etwa acht auf jeder Seite. »Wie viele Kids sind in den Zimmern da?«
»Fünf, du und ich eingerechnet«, sagte sie. »Ganz voll ist es hier im Vorderbau nie, aber momentan ist es wie in ’ner Geisterstadt. Die Kids kommen und gehen.«
»Und schwätzen so daher von Michelangelo«, murmelte Luke.
»Hä?«
»Nichts. Was…«
Einer der Türflügel am näheren Ende des Flurs ging auf, und eine Frau in einem braunen Kleid tauchte auf. Sie hatte den beiden den Rücken zugewandt und hielt die Tür mit ihrem Hintern auf, während sie sich mit irgendetwas abmühte. Kalisha sprang augenblicklich auf. »Moment, Maureen, Moment, wart mal, wir helfen dir schon!«
Da Kalisha wir anstatt ich gesagt hatte, stand Luke ebenfalls auf und ging hinter ihr her. Aus der Nähe sah er, dass es sich bei dem braunen Kleid um eine Art Uniform handelte, wie von einem Zimmermädchen in einem mondänen Hotel – na ja, eher in einem mittelmäßig mondänen Hotel, da das Ding nicht mit Rüschen oder Ähnlichem verziert war. Die Frau versuchte, einen Wäschewagen über die Metallschwelle zwischen dem Flur und dem großen Raum jenseits davon zu ziehen – offenbar einem Aufenthaltsraum. Er enthielt Tische, Stühle und Sessel, außerdem einen Fernseher, der fast so groß wie eine Kinoleinwand war, und durch die Fenster strömte helles Sonnenlicht herein. Kalisha öffnete den anderen Türflügel, um Platz zu schaffen. Luke fasste den Wäschewagen (auf der Seite stand DANDUX) und half der Frau, ihn in den Flur des Wohnheims zu ziehen, in dem sie sich offenbar befanden. Im Wagen lagen Bettwäsche und Handtücher.
»Vielen Dank, mein Junge«, sagte die Frau. Sie war ziemlich alt, hatte viel Grau in den Haaren und sah müde aus. Auf dem Namensschildchen über ihrer schlaffen linken Brust stand MAUREEN. Sie musterte ihn. »Du bist neu. Luke, nicht wahr?«
»Luke Ellis. Woher wissen Sie das?«
»Steht auf meinem Tagesplan.« Sie zog ein gefaltetes Blatt Papier halb aus der Tasche ihres Rocks und schob es wieder hinein.
Luke streckte ihr die Hand hin, wie man es ihm beigebracht hatte. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Maureen begrüßte ihn. Sie war anscheinend ganz nett, also freute er sich wohl tatsächlich, sie kennenzulernen. An diesem Ort zu sein freute ihn jedoch gar nicht; er hatte Angst und machte sich Sorgen um sich selbst und um seine Eltern. Bestimmt vermissten die ihn inzwischen. Sie würden zwar nur ungern glauben, dass er weggelaufen war, aber welchen anderen Schluss konnten sie ziehen, wenn sie sein Zimmer leer vorfanden? Bald würde die Polizei nach ihm suchen, wenn sie das nicht bereits tat. Wenn Kalisha recht hatte, würde die Suche allerdings weit weg von hier stattfinden.
Die Handfläche von Maureen war warm und trocken. »Ich bin Maureen Alvorson. Ich kümmere mich um den Haushalt und alles andere, was gerade anfällt. Zum Beispiel werde ich dafür sorgen, dass du immer ein sauberes Zimmer hast.«
»Mach ihr bloß keine Extraarbeit«, sagte Kalisha und warf ihm einen strengen Blick zu.
Maureen lächelte. »Du bist ein echter Schatz, Kalisha, aber der da sieht nicht so aus, als tät er so ein Durcheinander anrichten wie dieser Nicky. Der ist wie Pig Pen von den Peanuts. Ist er jetzt eigentlich in seinem Zimmer? George und Iris sind draußen auf dem Spielplatz, aber da hab ich ihn nicht gesehen.«
»Sie kennen Nicky doch«, sagte Kalisha. »Wenn der vor ein Uhr nachmittags aufsteht, hält er das für früh.«
»Dann mache ich jetzt bloß die anderen Zimmer sauber, aber um eins wollen die Docs ihn haben. Wenn er dann noch nicht auf ist, wird man ihm auf die Sprünge helfen. Schön, dich kennenzulernen, Luke.« Damit ging sie ihres Weges, wobei sie den Wäschewagen vor sich herschob, anstatt ihn zu ziehen.
»Komm«, sagte Kalisha und nahm Luke bei der Hand. Sosehr er sich auch Sorgen um seine Eltern machte, spürte er wieder dieses Kribbeln.
Sie zog ihn in den Aufenthaltsraum. Den hätte er gern erkundet, vor allem die Warenautomaten (echte Zigaretten, war das wirklich möglich?), doch sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, baute Kalisha sich vor ihm auf. Sie blickte ernst, ja beinahe grimmig drein.
»Ich weiß zwar nicht, wie lange du hier sein wirst – oder wie lange ich noch hier sein werde–, aber solange du’s bist, sei cool zu Maureen, okay? Hier arbeiten ein paar echt gemeine Scheißkerle, aber sie gehört nicht dazu. Sie ist nett. Und sie hat Probleme.«
»Was für welche?« Das fragte er vor allem aus Höflichkeit. Er blickte aus dem Fenster auf das, was der Spielplatz sein musste. Dort sah er zwei Kids, einen Jungen und ein Mädchen, vielleicht so alt wie er, vielleicht auch ein bisschen älter.
»Vor allem meint sie, dass sie krank ist, aber sie will nicht zum Arzt gehen, weil sie es sich nicht leisten kann, krank zu sein. Sie verdient bloß vierzigtausend Dollar im Jahr und hat in etwa doppelt so viel Schulden. Vielleicht sogar mehr. Die hat ihr Mann angehäuft, bevor er abgehauen ist. Und sie werden immer höher, weißt du? Durch die Zinsen.«
»Durch den Wucher«, sagte Luke. »So nennt mein Dad es. Den gibt’s schon seit den alten Sumerern. Eigentlich ist es ein Verbrechen, und mein Dad sagt, die Kreditkartenfirmen sind im Grunde Verbrecher. Wenn man sich den Zinseszins anschaut, den sie verlangen, hat er vielleicht…«
»Was hat er? Recht?«
»Genau.« Luke wandte den Blick von den Kindern draußen ab – es musste sich um George und Iris handeln – und sah Kalisha an. »Das hat sie dir alles erzählt? Obwohl du noch ein Kind bist? Was interpersonelle Beziehungen angeht, bist du offenbar echt begabt.«
Kalisha blickte verblüfft drein, dann lachte sie laut los. Dabei stemmte sie die Hände in die Hüften und warf den Kopf zurück, wodurch sie nicht mehr wie ein Kind, sondern wie eine richtige Frau aussah. »Intrapersonelle Beziehungen! Du klopfst ja Sprüche, Lukey!«
»Inter, nicht intra«, sagte er. »Außer man kommt mit einer ganzen Gruppe zusammen. Zur Schuldenberatung oder so.« Er machte eine Pause. »Das, äh, war ein Witz.« Und zwar ein ziemlich lahmer. Ein nerdiger Witz.
Sie musterte ihn abwägend, von oben bis unten und dann wieder bis oben, was erneut dieses nicht unangenehme Kribbeln hervorrief. »Sag mal, wie gescheit bist du eigentlich?«
Leicht verlegen zuckte er die Achseln. Normalerweise gab er damit nicht an – es war die schlechteste Methode auf der Welt, Freunde zu gewinnen und sich beliebt zu machen–, aber er war durcheinander, verwirrt, besorgt, und er hatte (was er genauso gut zugeben konnte) eine Scheißangst. Es fiel ihm zunehmend schwerer, das, was geschehen war, nicht mit dem Begriff Kindesentführung zu bezeichnen. Schließlich war er ein Kind, und wenn Kalisha die Wahrheit sagte, war er Tausende Meilen von zu Hause aufgewacht. Hätten seine Eltern ihn abtransportieren lassen, ohne zu protestieren oder sich handgreiflich zu wehren? Unwahrscheinlich. Egal was man mit ihm gemacht hatte, er hoffte, dass die beiden dabei nicht aufgewacht waren.
»Ich tippe auf verdammt gescheit. Bist du TP oder TK? Ich glaube, eher TK.«
»Und ich hab keine Ahnung, wovon du da redest.«
Oder vielleicht doch. Er dachte daran, wie manchmal die Teller in den Schränken klapperten, wie die Tür seines Zimmers von allein auf- oder zuging und wie das Blech in der Pizzeria vom Tisch gerutscht war. Und daran, wie bei der Zugangsprüfung der Mülleimer von selbst über den Boden gewandert war.
»TP ist Telepathie«, sagte Kalisha. »Und TK ist…«
»Telekinese.«
Grinsend richtete sie den Zeigefinger auf ihn. »Du bist echt ein gescheiter Junge. Telekinese, genau. Du bist entweder das eine oder das andere, beides ist angeblich niemand – jedenfalls behaupten das die MTAs. Ich bin TP.« Das sagte sie mit gewissem Stolz.
»Das heißt, du kannst Gedanken lesen«, sagte Luke. »Klar. Jeden Tag einmal. Und am Sonntag zweimal.«
»Was meinst du, woher ich über Maureen Bescheid weiß? Die würde niemand hier von ihren Problemen erzählen, so jemand ist sie einfach nicht. Allerdings weiß ich keine Einzelheiten, bloß ihre allgemeine Situation.« Sie überlegte. »Außerdem ist da noch was mit einem Kind. Was komisch ist. Ich hab sie einmal gefragt, ob sie Kinder hat, und da hat sie nein gesagt.« Kalisha zuckte die Achseln. »Jedenfalls hab ich das immer schon gekonnt – ab und zu, nicht die ganze Zeit–, aber es ist nicht so, dass ich eine Superheldin wäre. Sonst würde ich hier nämlich schleunigst abhauen.«
»Im Ernst?«
»Ja, und hier kommt dein erster Test. Der erste von vielen. Ich denke an eine Zahl zwischen eins und fünfzig. Was ist das für eine Zahl?«
»Keine Ahnung.«
»Ehrlich? Schwindelst du nicht?«
»Überhaupt nicht.« Er ging zu der Tür an der anderen Seite des Raums. Draußen zielte der Junge auf einen Basketballkorb, während das Mädchen auf einem Trampolin hüpfte, ohne besondere Kunststücke zu machen; sie ließ sich nur auf den Hintern fallen und machte gelegentlich eine Drehung. Spaß schien ihnen das, was sie da taten, nicht zu machen; sie wirkten, als würden sie nur die Zeit totschlagen. »Sind das da draußen George und Iris?«
»Jep.« Kalisha gesellte sich zu ihm. »George Iles und Iris Stanhope. Die sind beide TK. TPs sind dünn gesäter. He, kluger Junge, ist das korrekt oder muss man dünner gesät sagen?«
»Man versteht beides, aber ich würde dünner gesät sagen. Dünn gesäter hört sich an, als ob man was Falsches gegessen hätte.«
Darüber dachte sie einige Sekunden nach, dann lachte sie und richtete wieder den Zeigefinger auf ihn. »Nicht schlecht!«
»Können wir rausgehen?«
»Klar. Die Tür vom Spielplatz ist nie abgeschlossen. Allerdings wirst du bestimmt nicht lange draußen bleiben, hier in der Pampa gibt es massenhaft Moskitos. In dem Medizinschränkchen in deinem Bad müsste ein Fläschchen Deet sein. Das solltest du vorher immer nehmen, und schmier dich richtig damit ein! Maureen sagt, sobald die Libellen schlüpfen, wird es besser, aber bisher hab ich noch keine von denen gesehen.«
»Sind die nett?«
»George und Iris? Klar, ich glaube schon. Ist allerdings nicht so, dass wir beste Freunde wären, ich kenne George ja erst ’ne Woche. Iris ist… hm… vor zehn Tagen angekommen, glaube ich. Um den Dreh jedenfalls. Nach mir ist Nick am längsten hier. Nick Wilholm. Freu dich lieber nicht auf irgendwelche tieferen Beziehungen hier im Vorderbau, kluger Junge. Wie schon gesagt, ein ständiges Kommen und Gehen. Nur dass absolut keiner von Michelangelo daherschwätzt.«
»Wie lange bist du denn schon hier, Kalisha?«
»Fast einen Monat. Damit bin ich ein alter Hase.«
»Sagst du mir dann, was hier eigentlich läuft?« Er deutete mit dem Kinn auf die Kids draußen. »Oder sagen die es mir?«
»Wir werden dir sagen, was wir wissen und was die Pfleger und MTAs uns erzählen, aber ich hab den Eindruck, dass das meiste davon gelogen ist. George meint das auch. Iris wiederum…« Kalisha lachte. »Die ist wie Agent Mulder in Akte X. Sie will es gerne glauben.«
»Was will sie glauben?«
Bei dem Blick, den sie ihm zuwarf – zugleich weise und traurig – sah sie wieder eher wie eine Erwachsene als wie ein Kind aus. »Dass das hier nur ein kleiner Umweg auf der großen Straße des Lebens ist und dass am Ende alles gut wird, wie in Scooby-Doo.«
»Wo sind denn deine Eltern? Und wie bist du hierhergekommen?«
Das erwachsene Aussehen verschwand. »Da will ich jetzt nicht drüber reden.«
»Okay.« Vielleicht wollte er das auch nicht. Zumindest noch nicht.
»Und wenn du Nicky kennenlernst, mach dir nichts draus, wenn er ordentlich Randale macht. So lässt er eben Dampf ab, und manche von seinen Sprüchen sind…« Sie dachte nach. »Unterhaltsam.«
»Aha. Tust du mir einen Gefallen?«
»Klar, wenn ich kann.«
»Hör auf, kluger Junge zu mir zu sagen. Mein Name ist Luke. Nimm den, okay?«
»Mach ich.«
Er griff nach dem Türknauf, aber sie packte ihn am Handgelenk.
»Noch etwas, bevor wir rausgehen. Dreh dich um, Luke.«
Das tat er. Sie war zwei, drei Zentimeter größer als er. Ihm war nicht klar, dass sie ihn küssen würde, bis sie es tat, voll auf die Lippen. Sie steckte ihm sogar ein oder zwei Sekunden lang die Zunge in den Mund, was nicht nur ein Kribbeln hervorrief, sondern einen regelrechten Elektroschock, wie wenn er den Finger in eine Steckdose gesteckt hätte. Sein erster echter Kuss, und ein wilderschmusiger noch dazu. Rolf, dachte er (soweit er direkt danach überhaupt denken konnte), wäre total neidisch gewesen.
Mit zufriedener Miene löste Kalisha sich von ihm. »Das ist jetzt keine wahre Liebe oder so was, nicht dass du auf irgendwelche Ideen kommst. Ich weiß nicht mal, ob ich dir damit einen Gefallen tue, aber vielleicht schon. In meiner ersten Woche hier war ich nämlich in Quarantäne. Keine Spritze für Blitze.«
Sie deutete auf ein Poster, das neben dem Snackautomaten an der Wand hing. Es zeigte einen Jungen, der auf einem Stuhl saß und vergnügt auf einen Haufen farbige Punkte an einer weißen Wand zeigte. Daneben stand lächelnd ein Arzt (weißer Kittel, Stethoskop um den Hals) und legte dem Jungen die Hand auf die Schulter. Über dem Foto stand SPRITZE FÜR BLITZE! Und darunter: JE SCHNELLER DU SIE SIEHST, DESTO SCHNELLER BIST DU WIEDER ZU HAUSE!
»Was soll das denn bedeuten?«
»Kümmre dich jetzt nicht darum. Meine Eltern waren totale Impfgegner, und zwei Tage nachdem ich hier im Vorderbau gelandet bin, hab ich die Windpocken bekommen. Husten, hohes Fieber, große, scheußliche rote Flecken, der ganze Scheiß. Inzwischen hab ich’s wohl überstanden, weil ich frei rumlaufen darf und sie wieder ihre Tests mit mir machen, aber vielleicht bin ich doch noch ein kleines bisschen ansteckend. Wenn du Glück hast, steckst du dich an und darfst ein paar Wochen Saft trinken und Fernsehen gucken, statt dass sie dich mit Spritzen und MRTs quälen.«
Das Mädchen draußen hatte die beiden erblickt und winkte. Kalisha winkte zurück, und bevor Luke etwas erwidern konnte, drückte sie die Tür auf. »Los, komm. Schau nicht mehr so verpeilt drein, und sag schön guten Tag!«