Für meine Enkel
Ethan, Aidan und Ryan
Samson aber rief den HERRN an und sprach: Herr, HERR, gedenke mein und stärke mich doch, Gott, diesmal, dass ich für meine beiden Augen mich einmal räche an den Philistern!
Und er fasste die zwei Mittelsäulen, auf welche das Haus gesetzt war und darauf es sich hielt, eine in seine rechte und die andere in seine linke Hand, und sprach: Meine Seele sterbe mit den Philistern!, und neigte sich kräftig. Da fiel das Haus auf die Fürsten und auf alles Volk, das darin war, dass der Toten mehr waren, die in seinem Tod starben, denn die bei seinem Leben starben.
Wer aber ärgert dieser Geringsten einen […], dem wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft werde im Meer, da es am tiefsten ist.
Laugh about it, shout about it
When you’ve got to choose
Ev’ry way you look at it you lose.
Eine halbe Stunde nachdem der Delta-Flug von Tim Jamieson Tampa in Richtung der hellen Lichter und hohen Gebäude von New York hätte verlassen sollen, stand die Maschine immer noch am Terminal. Als ein Vertreter von Delta und eine blonde Frau mit einem Security-Ausweis um den Hals die Kabine betraten, erhob sich unter den Passagieren der bis auf den letzten Platz besetzten Holzklasse ein unglückseliges, warnendes Gemurmel.
»Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«, rief der Mann von Delta.
»Wie groß wird die Verspätung?«, fragte jemand. »Und beschönigen Sie’s nicht!«
»Die Verspätung dürfte eher gering sein, und der Flugkapitän möchte Ihnen versichern, dass Sie beinahe rechtzeitig landen werden. Allerdings sieht sich ein FBI-Beamter gezwungen, diesen Flug zu nehmen, weshalb jemand von Ihnen seinen Platz zur Verfügung stellen muss.«
Ein kollektives Stöhnen hob an, und Tim sah mehrere Leute zu ihrem Handy greifen, um bereit zu sein, falls es Scherereien gab. In solchen Situationen war es schon zu dergleichen gekommen.
»Delta Air Lines ist befugt, ein kostenloses Ticket für den nächsten Flug nach New York anzubieten, der morgen früh um sechs Uhr fünfundvierzig startet…«
Ein weiteres Stöhnen. »Das kann doch wohl nicht wahr sein«, sagte jemand.
Der Funktionär fuhr unbeirrt fort. »Für die Übernachtung erhalten Sie einen Hotelcoupon und außerdem vierhundert Dollar. Das ist ein gutes Geschäft, Leute! Wer ist dazu bereit?«
Niemand meldete sich. Die blonde Security-Frau sagte nichts; sie betrachtete die voll besetzte Kabine mit alles sehenden, aber irgendwie leblosen Augen.
»Achthundert«, sagte der Mann von Delta. »Samt dem Hotelcoupon und dem kostenlosen Ticket.«
»Der Typ führt sich wie ein Quizmaster auf«, grunzte ein Mann in der Reihe vor Tim.
Noch immer meldete sich niemand.
»Vierzehnhundert?«
Trotzdem niemand, was Tim interessant, aber nicht besonders überraschend fand. Es lag nicht nur daran, dass ein Flug um sechs Uhr fünfundvierzig bedeutete, in aller Herrgottsfrühe aufzustehen. Die meisten seiner Gefährten in der Holzklasse waren Familien, die nach dem Besuch verschiedener Attraktionen in Florida nach Hause flogen, Paare mit strandseligem Sonnenbrand und fleischige, rotgesichtige, zornig wirkende Typen, deren Geschäfte im Big Apple wahrscheinlich wesentlich mehr einbringen würden als vierzehnhundert Dollar.
Jemand weit hinten rief: »Wenn’s noch ein Mustang-Cabrio und einen Trip nach Aruba für zwei dazugibt, können Sie unsere beiden Plätze haben!« Diese geistreiche Bemerkung rief Gelächter hervor, das nicht besonders freundlich klang.
Der Mann von Delta warf einen Blick auf die blonde Frau mit dem Ausweis, aber falls er auf Hilfe gehofft hatte, bekam er keine. Sie ließ nur weiter den Blick schweifen, ohne dass sich etwas außer ihren Augen bewegte. Er seufzte und sagte: »Sechzehnhundert.«
Urplötzlich gelangte Tim Jamieson zu dem Schluss, dass er dieses beknackte Flugzeug verlassen und als Anhalter nach Norden reisen wollte. Obwohl ihm eine solche Idee vor diesem Augenblick nicht einmal flüchtig in den Sinn gekommen war, stellte er mit absoluter Klarheit fest, dass er es sich bestens vorstellen konnte. Er sah sich irgendwo inmitten von Hernando County am Highway 301 stehen und den Daumen heben. Es war heiß, die Haarmücken schwärmten, eine Plakatwand warb für einen windigen Rechtsanwalt, »Take It on the Run« von REO Speedwagon dröhnte aus einem Ghettoblaster auf dem als Treppe dienenden Betonblock vor einem Trailer, neben dem ein Mann mit nacktem Oberkörper seinen Wagen wusch, und irgendwann würde ein Farmer in seinem Pick-up mit Melonen auf der mit Brettern gesicherten Ladefläche und einem magnetischen Jesus am Armaturenbrett des Weges kommen und ihn mitnehmen. Das Beste dabei würde nicht mal das Bargeld in seiner Hosentasche sein. Das Beste würde es sein, ganz allein da draußen zu stehen, meilenweit von dieser Sardinendose mit ihren sich bekriegenden Gerüchen von Parfüm, Schweiß und Haarspray entfernt.
Das Zweitbeste würde es allerdings sein, der öffentlichen Hand ein paar weitere Dollars herauszuleiern.
Tim erhob sich zu seiner absolut normalen Größe (exakt ein Meter achtundsiebzig), schob sich die Brille auf der Nase höher und hob die Hand. »Machen Sie da zweitausend draus, Sir, plus eine Barerstattung meines Tickets, dann bekommen Sie meinen Platz.«
Wie sich herausstellte, galt der Coupon für ein heruntergekommenes Hotel, das praktisch am Ende der verkehrsreichsten Start- und Landebahn vom Tampa International stand. Tim schlief beim Dröhnen von Flugzeugen ein, wachte beim selben Geräusch auf und ging ins Erdgeschoss, um beim kostenlosen Frühstücksbüfett ein hart gekochtes Ei und zwei gummiartige Pancakes zu verzehren. Obwohl es sich nicht gerade um kulinarische Köstlichkeiten handelte, aß er mit gutem Appetit und kehrte dann in sein Zimmer zurück, um zu warten, bis um neun Uhr die Banken öffneten.
Er bekam den unverhofften Geldsegen problemlos ausbezahlt, weil die Bank wusste, dass er kam, und weil der Scheck im Voraus bestätigt worden war; er hatte keine Lust, in diesem miesen Hotel herumzusitzen, bis man das erledigt hatte. Er ließ sich seine zweitausend in Fünfzigern und Zwanzigern auszahlen, steckte die Scheine gefaltet in die linke Hosentasche, holte beim Wachmann der Bank seine Reisetasche ab und bestellte ein Uber, um sich nach Ellenton bringen zu lassen. Dort bezahlte er den Fahrer, schlenderte zum nächsten Schild mit der Aufschrift 301-N und hob den Daumen. Eine Viertelstunde später nahm ihn ein alter Kerl mit einer Truckercap von Case mit. Die Ladefläche des Pick-ups war nicht mit Brettern gesichert, und Melonen lagen auch nicht darauf, aber sonst entsprach das Ganze mehr oder weniger der Vision, die Tim am vergangenen Abend gehabt hatte.
»Na, wo geht’s hin, mein Freund?«, fragte der alte Kerl.
»Tja«, sagte Tim. »Letzten Endes nach New York. Glaube ich wenigstens.«
Der alte Kerl spuckte eine Ladung Tabaksaft aus dem Fenster. »Sag mal, wieso sollte jemand, der nich mit ’nem Klammerbeutel gepudert is, da hinwollen?« Seine Aussprache war so breit wie lang.
»Keine Ahnung«, sagte Tim, obwohl das nicht stimmte; ein alter Kumpel aus seiner Militärzeit hatte ihm erzählt, im Big Apple gebe es massenhaft Arbeit im Security-Bereich, unter anderem bei Firmen, die seiner Erfahrung mehr Gewicht beimessen würden als dem absurden Vorfall, der seine Polizeikarriere in Florida torpediert hatte. »Vorläufig hoffe ich bloß, dass ich bis heute Abend nach Georgia komme. Vielleicht gefällt es mir da besser.«
»Na, das hört sich schon anders an«, sagte der alte Kerl. »Georgia is gar nich so übel, vor allem wenn man auf Pfirsiche steht. Ich krieg davon die Scheißerei. Du hast doch nix gegen ’n bisschen Mucke, oder?«
»Überhaupt nicht.«
»Wird aber ziemlich laut, muss ich dir sagen. Ich hör nämlich nich mehr so gut.«
»Ich bin einfach froh, unterwegs zu sein.«
Es war Waylon Jennings anstatt REO Speedwagon, aber das störte Tim nicht weiter. Auf Waylon folgten Shooter Jennings und dann Marty Stuart. Die beiden Männer in dem mit Dreck bespritzten Dodge Ram lauschten der Musik, während sie den Highway entlangrollten. Siebzig Meilen weiter hielt der alte Kerl am Straßenrand, tippte an den Schirm seiner Truckercap und wünschte Tim einen wunnerschön Tag.
Bis nach Georgia schaffte Tim es an diesem Abend nicht – er verbrachte die Nacht in einem weiteren miesen Motel neben einem Stand, an dem Orangensaft verkauft wurde–, aber dafür am folgenden Tag. In der Stadt Brunswick (Ursprung eines leckeren Eintopfgerichts) arbeitete er zwei Wochen in einer Recyclinganlage, ohne mehr darüber nachzudenken als über den Entschluss, auf dem Flug von Tampa nach New York seinen Platz freizugeben. Das Geld brauchte Tim nicht, aber er hatte den Eindruck, etwas Zeit zu brauchen. Schließlich befand er sich im Wandel, und so etwas passierte nicht gerade über Nacht. Außerdem war direkt nebenan eine Bowlingbahn mit einem Denny’s. Die Kombination war kaum zu übertreffen.
Mit dem Lohn von der Recyclinganlage und dem Geld von der Fluglinie in der Tasche stand Tim in Brunswick an der Nordauffahrt zur I-95 und kam sich für einen Wandersmann ziemlich wohlhabend vor. Nachdem er mehr als eine Stunde in der Sonne gewartet hatte, wollte er schon aufgeben und zum Denny’s zurückgehen, um sich ein Glas Eistee zu bestellen, als ein Volvo-Kombi bei ihm hielt. Der Kofferraum war voller Pappkartons. Die ältere Frau am Lenkrad öffnete das Beifahrerfenster und spähte Tim durch dicke Brillengläser hindurch an. »Groß sind Sie nicht, aber ziemlich muskulös«, sagte sie. »Sie sind doch wohl niemand, der Frauen vergewaltigt, oder? Und eine Psychose haben Sie auch nicht?«
»Nein, Ma’am«, sagte Tim, dachte jedoch: Was sollte ich sonst sagen?
»Tja, was sollten Sie sonst sagen, nicht wahr? Wollen Sie bis nach South Carolina? Darauf deutet jedenfalls Ihre Reisetasche hin.«
Ein anderer Wagen umkurvte den Volvo und raste hupend die Auffahrt hinauf. Ohne darauf zu reagieren, blickte die Frau ruhig weiter auf Tim.
»Ja, Ma’am. Eigentlich will ich sogar nach New York.«
»Ich bringe Sie nach South Carolina – nicht weit in diesen rückständigen Staat hinein, aber doch ein kleines Stück–, wenn Sie mir dafür ein bisschen helfen. Eine Hand wäscht die andere, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Sie kratzen mir den Rücken, und ich kratze Ihren.«
»Gekratzt wird nicht, aber Sie dürfen einsteigen.«
Das tat Tim. Sie hieß Marjorie Kellerman und leitete die Stadtbibliothek von Brunswick. Die wiederum gehörte zu einer Vereinigung von Bibliotheken in den östlichen Südstaaten, die kein Geld hatte, denn: »Trump und seine Spießgesellen haben alles gestrichen. Die haben von Kultur nicht mehr Ahnung als ein Esel von Algebra.«
Fünfundsechzig Meilen weiter nördlich und damit immer noch in Georgia hielten sie vor der winzigen Bibliothek einer Stadt namens Pooler. Tim lud die Bücherkartons auf ein Wägelchen und beförderte sie hinein. Anschließend schaffte er ein weiteres Dutzend Kartons in den Volvo. Die waren, wie Marjorie Kellerman ihm mitteilte, für die Stadtbibliothek von Yemassee bestimmt, das weitere vierzig Meilen nördlich bereits in South Carolina lag. Bald nach Hardeeville ging es jedoch nicht weiter. Auf beiden Fahrspuren stauten sich Pkws und Lastwagen, weitere sammelten sich schnell hinten an.
»Ach, ich hasse es, wenn so etwas passiert«, sagte Marjorie. »Und das offenbar auch immer noch in South Carolina, wo sie zu knausrig sind, die Autobahn zu verbreitern. Bestimmt ist da vorne ein Unfall, und weil es bloß zwei Fahrspuren gibt, kommt niemand vorbei. Ich werde den halben Tag hier stehen. Mr. Jamieson, hiermit entbinde ich Sie von weiteren Pflichten. An Ihrer Stelle würde ich mein Fahrzeug jetzt verlassen, zur Ausfahrt nach Hardeeville zurückmarschieren und auf dem Highway siebzehn mein Glück versuchen.«
»Aber was ist mit den ganzen Bücherkartons?«
»Ach, ich finde schon jemand mit einem starken Rücken, der mir ausladen hilft«, sagte sie und strahlte Tim an. »Offen gesagt, habe ich Sie da in der heißen Sonne stehen sehen und einfach beschlossen, ein kleines Risiko einzugehen.«
»Tja, wenn Sie sich sicher sind…« Der Verkehrsstau verursachte ihm Platzangst, genau wie damals, als er in der Holzklasse jenes Delta-Flugs gesessen hatte. »Sonst halte ich gerne durch. Es ist ja nicht so, als ob ich irgendwelche Termine hätte.«
»Ja, ich bin mir sicher«, sagte sie. »Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Mr. Jamieson.«
»Ganz meinerseits, Ms. Kellerman.«
»Brauchen Sie etwas finanzielle Unterstützung? Falls ja, kann ich zehn Dollar entbehren.«
Nicht zum ersten Mal war Tim berührt und überrascht von der alltäglichen Freundlichkeit und Großzügigkeit von ganz normalen Leuten, vor allem von solchen, die eigentlich nicht viel erübrigen konnten. Amerika war immer noch ein guter Ort, auch wenn manche (gelegentlich auch er selbst) anderer Meinung waren. »Nein, das ist nicht nötig, aber danke für das Angebot.«
Er schüttelte ihr die Hand, stieg aus und ging auf der Standspur zur Ausfahrt nach Hardeeville zurück. Als ihn auf der US 17 nicht gleich jemand mitnahm, wanderte er ein paar Meilen weiter bis dorthin, wo sie auf die State Road 92 traf. Hier wies ein Schild zu einem Ort namens DuPray. Da es schon spät am Nachmittag war, hielt Tim es für angebracht, sich ein Motel für die Nacht zu suchen. Zweifellos würde es sich wieder um einen ziemlich miesen Schuppen handeln, aber die Alternativen – sich in die Scheune irgendeines Farmers zu schleichen oder draußen zu pennen und von den Stechmücken aufgefressen zu werden – waren noch weniger verlockend. Und daher machte er sich auf den Weg nach DuPray.
Große Ereignisse warfen manchmal kleine Schatten voraus.
Eine Stunde später saß er am Rand einer zweispurigen Straße auf einem großen Steinbrocken und wartete darauf, dass ein schier endloser Güterzug den Bahnübergang hinter sich ließ. Der Zug fuhr mit gemächlichen dreißig Meilen pro Stunde Richtung DuPray: geschlossene und offene Güterwagen, Autotransporter (hauptsächlich mit Wracks anstatt mit neuen Fahrzeugen bestückt), Flachwagen und Tankwagen, gefüllt mit weiß Gott was für üblen Substanzen, die im Falle des Entgleisens den Nadelwald in Brand setzen oder die Bevölkerung von DuPray schädlichen, wenn nicht gar tödlichen Dämpfen aussetzen würden. Den Abschluss bildete ein orangefarbener Begleitwagen, auf dem ein Mann in Latzhose auf einem Gartensessel saß. Er las in einem Taschenbuch und rauchte eine Zigarette. Als er Tim sah, ließ er das Buch sinken und tippte an die Mütze. Tim erwiderte den Gruß.
Zwei Meilen weiter gelangte er in die Stadt, die rund um die Kreuzung der SR 92 (hier als Main Street bezeichnet) mit zwei weiteren Straßen erbaut war. Den großen Einzelhandelsketten, von denen die größeren Städte übernommen worden waren, war DuPray offenbar weitgehend entkommen; es gab zwar eine Filiale von Western Auto, die war jedoch längst geschlossen. Die Fenster hatte man mit Seife undurchsichtig gemacht. Tim kam an einem Lebensmittelladen vorüber, einem Drugstore, einem Laden, wo es anscheinend so ziemlich alles gab, und zwei oder drei Friseursalons. Außerdem gab es ein Kino, auf dessen Vordach ein Schild mit der Aufschrift ZU VERKAUFEN ODER ZU VERMIETEN prangte, ein Geschäft für Autozubehör, das sich den stolzen Namen DuPray Speed Shop gegeben hatte, und ein Restaurant namens Bev’s Eatery. Zudem begegnete er drei Kirchen, einer methodistischen und zweien ohne Zugehörigkeit, alle von der missionarischen Sorte. Nicht mehr als zwei Dutzend Personenwagen und Pick-ups, wie Farmer sie verwendeten, standen verstreut auf den Schrägparkbuchten, mit denen das Geschäftsviertel ausgestattet war. Die Gehsteige waren praktisch menschenleer.
Drei Querstraßen weiter erblickte Tim hinter einer vierten Kirche das DuPray Motel. Jenseits davon, wo die Main Street wahrscheinlich wieder zur SR 92 wurde, folgten ein weiterer Bahnübergang, ein Güterbahnhof und eine Reihe von in der Sonne glitzernden Metalldächern. Hinter diesen Bauten erstreckte sich wieder der Nadelwald. Alles in allem, fand Tim, erinnerte der Ort an eine Country-Ballade, an eines von diesen nostalgischen Liedern, wie Alan Jackson und George Strait sie sangen. Das alte, rostige Schild am Motel ließ vermuten, dass das Etablissement ebenso dichtgemacht hatte wie das Kino, doch da der Nachmittag zur Neige ging und es dort offenbar die einzige Möglichkeit gab, Obdach zu finden, ging Tim trotzdem darauf zu.
Auf halbem Wege gelangte er gleich nach dem Rathaus von DuPray zu einem Backsteinbau mit Spalieren, an denen sich Efeu emporrankte. Auf dem sorgfältig gemähten Rasen verkündete ein Schild, dass hier der Sheriff von Fairlee County residiere. Das musste eine bettelarme County sein, wenn so ein Ort als Verwaltungssitz diente.
Vor dem Gebäude standen zwei Streifenwagen. Der eine war eine relativ neue Limousine, der ältere ein mit Dreck bespritzter 4Runner mit einer Rundumleuchte auf dem Armaturenbrett. Tim beäugte den Eingang – es war der beinahe unwillkürliche Blick eines Wanderers, der eine Menge Bargeld in der Tasche hatte–, ging ein paar Schritte weiter und drehte sich dann wieder um, damit er die Anschlagbretter zu beiden Seiten der Tür genauer betrachten konnte. Vor allem eine der Bekanntmachungen. Er dachte schon, er hätte sich verlesen, und wollte sich vergewissern.
Das ist doch ganz unmöglich heutzutage, dachte er. Das kann einfach nicht sein.
Aber da hatte er sich geirrt. Neben einem Plakat mit der Aufschrift WENN DU GEDACHT HAST, IN SOUTH CAROLINA WÄRE MARIHUANA LEGAL, DENK NOCH MAL DRÜBER NACH hing ein Zettel, auf dem schlicht und einfach stand: NACHTKLOPFER GESUCHT. BEWERBUNG HIER.
Wow, dachte er. Ein echter Ruf aus der Vergangenheit.
Er wandte sich dem rostigen Motelschild zu, hielt jedoch gleich wieder inne, weil ihm der Zettel nicht aus dem Kopf ging. Genau in diesem Augenblick gingen die beiden Türflügel der Polizeistation auf. Ein schlaksiger Cop trat heraus und setzte sich die Mütze auf den roten Haarschopf. In seinem Abzeichen funkelte die Abendsonne. Er musterte Tims Arbeiterstiefel, seine staubigen Jeans und sein blaues Chambrayhemd. Dann blieb sein Blick einen Moment auf der über Tims Schulter hängenden Reisetasche haften, bevor er ihm ins Gesicht sah. »Kann ich was für Sie tun, Sir?«
Derselbe Impuls, der Tim im Flugzeug dazu gebracht hatte aufzustehen, überkam ihn auch jetzt. »Wahrscheinlich nicht, aber wer weiß?«
Der rothaarige Cop war Deputy Taggart Faraday. Er begleitete Tim hinein, wo von den vier Zellen im hinteren Teil des Gebäudes der vertraute Geruch von Bleichmittel und Ammoniak hereinwehte. Faraday stellte Veronica Gibson vor, eine nicht mehr ganz junge Beamtin, die an diesem Nachmittag das Telefon betreute, dann bat er Tim um seinen Führerschein und mindestens ein weiteres Dokument. Was Tim zusätzlich zum Führerschein vorlegte, war sein Ausweis von der Polizei von Sarasota, wobei er nicht verbarg, dass der vor neun Monaten abgelaufen war. Dennoch änderte sich die Haltung der beiden Deputys leicht, als sie ihn sahen.
»Sie sind kein Einwohner von Fairlee County«, sagte Veronica Gibson.
»Nein, keineswegs«, sagte Tim. »Aber ich könnte einer werden, wenn man mir den Job als Nachtklopfer anvertraut.«
»Viel verdient man damit nicht gerade«, sagte Faraday. »Aber von mir hängt das ohnehin nicht ab. Für so was ist Sheriff Ashworth zuständig.«
»Unser letzter Nachtklopfer ist in Rente gegangen und nach Georgia gezogen«, sagte Gibson. »Ed Whitlock hieß er. Netter Mensch. Er hat ALS bekommen, diese Nervenkrankheit. Ist ’ne harte Sache. Aber er hat Verwandte da unten, die sich um ihn kümmern.«
»Es trifft immer die Guten«, sagte Faraday. »Gib ihm doch mal ein Bewerbungsformular, Ronnie.« Und zu Tim: »Wir sind hier eine kleine Truppe, Mr. Jamieson, ein Team aus sieben Leuten, von denen zwei bloß Teilzeit arbeiten. Mehr kann der Steuerzahler sich nicht leisten. Sheriff John ist momentan auf Streife. Wenn er bis fünf oder spätestens halb sechs nicht kommt, ist er nach Hause zum Abendessen und erst morgen früh wieder da.«
»Ich bleibe sowieso über Nacht. Vorausgesetzt, das Motel hat offen.«
»Ach, ich glaube schon, dass Norbert ein paar Zimmer frei hat«, sagte Ronnie Gibson. Sie wechselte einen Blick mit Faraday, worauf beide lachten.
»Vier Sterne hat der Laden wohl nicht, hm?«
»Kein Kommentar«, sagte Gibson. »Aber an Ihrer Stelle würde ich das Laken nach diesen kleinen roten Tierchen absuchen, bevor ich mich ins Bett lege. Wieso sind Sie denn nicht mehr bei der Polizei von Sarasota, Mr. Jamieson? Um in Rente zu gehen, sind Sie nämlich zu jung, würde ich sagen.«
»Über das Thema würde ich gerne mit Ihrem Chef reden, falls er mich zu einem Vorstellungsgespräch einlädt.«
Die beiden Beamten tauschten einen weiteren, diesmal längeren Blick, dann sagte Faraday: »Nett, Sie kennenzulernen, Sir. Willkommen in DuPray. Halten Sie sich an die Regeln, dann werden wir gut miteinander auskommen.« Damit ging er hinaus, ohne näher zu erläutern, was passieren würde, wenn Tim sich nicht an die Regeln hielte. Durch das vergitterte Fenster hindurch sah Tim, wie der 4Runner zurückstieß, um dann die kurze Hauptstraße von DuPray entlangzurollen.
Das Bewerbungsformular war auf einem Klemmbrett befestigt. Tim setzte sich auf einen der drei Stühle, die an der linken Wand standen, stellte die Reisetasche zwischen die Beine und fing mit dem Ausfüllen an.
Ein Nachtklopfer, dachte er. Mich laust der Affe.
Sheriff Ashworth – der, wie Tim später herausfand, von den meisten Einwohnern wie von seinen Deputys mit Sheriff John angeredet wurde – kam mit seinem dicken Bauch nur langsam vorwärts. Er hatte Hängebacken wie ein Basset und massenhaft weiße Haare. Auf seiner Uniformbluse sah man einen Ketchupfleck. An der Hüfte trug er eine Glock, an einem kleinen Finger einen Rubinring. Er sprach einen starken Dialekt und gab den freundlichen alten Herrn, aber seine tief in ihren fetten Höhlen liegenden Augen wirkten klug und neugierig. Wenn er nicht schwarz gewesen wäre, hätte er gut in einem Film wie Der Große aus dem Dunkeln auftreten können, wo ein klischeehafter Süden dargestellt wurde. Und noch etwas: Neben dem offiziellen Foto von Präsident Trump hing an der Wand seines Büros ein gerahmtes Abschlusszeugnis von der FBI National Academy in Quantico. So was bekam man nicht, indem man die Coupons auf Cornflakespackungen sammelte und einschickte.
»Na, dann wollen wir mal«, sagte Sheriff John und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. »Ich hab nicht viel Zeit, Marcella kann es nicht ausstehen, wenn ich zu spät zum Essen komme. Falls nicht gerade irgend ’ne Krise herrscht.«
»Schon kapiert.«
»Kommen wir also gleich zum Knackpunkt. Wieso arbeiten Sie nicht mehr bei den Kollegen in Sarasota, und was machen Sie ausgerechnet hier? South Cah-lina bietet ohnehin nicht gerade viele Attraktionen, und DuPray gehört eindeutig nicht dazu.«
An diesem Abend würde Ashworth wahrscheinlich nicht in Sarasota anrufen, aber dafür morgen früh, weshalb es keinen Sinn hatte, die Sache zu beschönigen. Nicht dass Tim das überhaupt gewollt hätte. Wenn er den Job als Nachtklopfer nicht bekam, würde er die Nacht in DuPray verbringen und morgens einfach auf seiner unsteten Reise nach New York weiterziehen, die ihm inzwischen wie eine notwendige Auszeit zwischen dem vorkam, was gegen Ende des vergangenen Jahres in der Westfield Mall von Sarasota geschehen war, und dem, was als Nächstes geschehen würde. Abgesehen davon war Ehrlichkeit die beste Strategie, schon deshalb, weil Lügen normalerweise kurze Beine hatten, besonders in einer Zeit, wo praktisch alle Informationen für jeden zugänglich waren, der über eine Tastatur und einen Internetzugang verfügte.
»Man hat mir die Wahl gelassen, ob ich selbst kündige oder gekündigt werde. Ich habe mich für Ersteres entschieden. Glücklich war niemand darüber, ich am allerwenigsten – ich hab mich in meinem Job ebenso wohlgefühlt wie am Golf von Mexiko–, aber es war die beste Lösung. So kriege ich ein bisschen Geld, zwar nicht annähernd eine richtige Pension, aber mehr als nichts. Das teile ich mit meiner Exfrau.«
»Und warum? Machen Sie’s kurz, damit ich mich an mein Abendessen setzen kann, solange es noch warm ist.«
»Es dauert nicht lange. Im vergangenen November bin ich eines Tages nach dem Dienst zur Westfield Mall gefahren, um mir ein Paar Schuhe zu kaufen. Musste zu einer Hochzeit. Ich trug da noch meine Uniform, okay?«
»Okay.«
»Als ich gerade aus dem Schuhladen trat, kam eine Frau angerannt und meinte, vor dem Kino würde ein junger Kerl mit einer Waffe herumwedeln. Worauf ich mich schleunigst dorthin begeben habe.«
»Haben Sie selbst die Waffe gezogen?«
»Nein, Sir, da noch nicht. Der Kerl mit der Waffe war etwa vierzehn Jahre alt, und ich hab angenommen, dass er entweder betrunken oder high ist. Er hatte einen anderen jungen Burschen zu Boden geschlagen und trat auf ihn ein. Außerdem hat er die Waffe auf ihn gerichtet.«
»Klingt ganz wie diese Sache in Cleveland. Wo dieser Cop einen schwarzen Jugendlichen erschossen hat, weil der mit einer Softairpistole herumgewedelt hat.«
»Daran habe ich auch gedacht, als ich mich dem Tatort genähert habe, aber der Cop, der Tamir Rice erschossen hat, dachte, dass der eine echte Waffe gehabt hätte. Hat er jedenfalls geschworen. Ich dagegen war mir ziemlich sicher, dass die Waffe, die ich vor mir sah, nicht echt war, aber völlig sicher konnte ich mir nicht sein. Können Sie sich ja vielleicht denken, warum.«
Sheriff John Ashworth hatte sein Abendessen offenbar ganz vergessen. »Weil der Täter sie auf den Jungen gerichtet hat, der auf dem Boden lag. Sinnlos, jemand mit einer Fake-Waffe zu bedrohen. Außer der auf dem Boden wusste nicht Bescheid.«
»Der Täter hat später ausgesagt, er hätte die Pistole nicht auf den anderen gerichtet, sondern sie nur hin und her geschwenkt und dabei gesagt: ›Das ist meine, du Penner, und die kriegst du nicht!‹ Was ich nicht gesehen habe; ich hatte den Eindruck, dass er damit gedroht hat. Ich habe ihm zugebrüllt, er soll die Waffe fallen lassen und die Hände heben. Das hat er entweder nicht gehört oder sich nicht drum geschert. Er hat einfach weiter auf den anderen eingetreten und ihn mit der Waffe bedroht. Oder die Waffe geschwenkt, wie auch immer. Jedenfalls habe ich da meine Pistole gezogen.« Er hielt kurz inne. »Falls das für Sie eine Rolle spielen sollte – die Kids waren beide weiß.«
»Aus meiner Sicht ist das egal. Zwei junge Kerle haben sich geprügelt. Einer lag auf dem Boden und wurde misshandelt. Der andere hatte ein Ding in der Hand, bei dem es sich um eine echte Waffe handeln konnte. Haben Sie auf ihn geschossen? Sagen Sie mir bitte, dass es nicht dazu gekommen ist!«
»Ich habe auf niemand geschossen. Aber… Sie wissen ja, dass bei einer Prügelei allerhand Gaffer zusammenlaufen, die aber normalerweise Reißaus nehmen, sobald eine Schusswaffe ins Spiel kommt.«
»Klar. Wer Grips hat, rennt dann schleunigst davon.«
»So war es auch in dem Fall, bloß dass ein paar Leute trotzdem dageblieben sind.«
»Um die Szene mit ihren Handys zu filmen.«
Tim nickte. »Vier oder fünf Typen, die sich für Spielberg hielten. Jedenfalls habe ich meine Waffe an die Decke gerichtet und einen Warnschuss abgegeben. Vielleicht war das eine schlechte Entscheidung, aber in dem Moment kam es mir angebracht vor. Als wäre es die einzige Option. Nun ist die Mall an der Stelle mit Hängelampen ausgestattet. Eine davon wurde von meinem Schuss getroffen und ist einem Schaulustigen direkt auf den Kopf gestürzt. Inzwischen hat der junge Kerl seine Waffe fallen lassen, und sobald sie auf dem Boden aufkam, wusste ich, dass sie nicht echt war, weil sie gehüpft ist. Wie sich herausstellte, war es eine Wasserpistole, die wie eine Automatik Kaliber fünfundvierzig aussah. Der Junge auf dem Boden hatte ein paar blaue Flecke und hat ein bisschen geblutet, ohne dass was genäht werden musste, aber der Mann, dem die Lampe auf den Schädel gefallen ist, war bewusstlos, und zwar drei Stunden lang. Gehirnerschütterung. Laut seinem Anwalt leidet er jetzt unter Gedächtnisschwund und wahnsinnigen Kopfschmerzen.«
»Hat er die Polizei verklagt?«
»Ja. Es wird ein bisschen dauern, aber irgendwas wird er bestimmt einheimsen.«
Sheriff John dachte nach. »Wenn er bloß dageblieben ist, um die Auseinandersetzung zu filmen, kriegt er eventuell nicht besonders viel, egal wie schlimm seine Kopfschmerzen sind. Aber Ihnen hat man wahrscheinlich vorgeworfen, grob fahrlässig einen Schuss abgefeuert zu haben.«
Das hatte man, und Tim hätte es am liebsten dabei belassen. Aber das ging nicht. Sheriff John sah zwar wie eine afroamerikanische Version von Boss Hogg in Ein Duke kommt selten allein aus, war jedoch kein Trottel. Obwohl er eindeutig Verständnis für Tims Situation hatte – was beinahe jeder Polizist gehabt hätte–, würde er die Geschichte überprüfen. Deshalb war es besser, wenn er den Rest von Tim selbst erfuhr.
»Bevor ich die Schuhe gekauft habe, war ich im Beachcombers und hab mir zwei Glas Bier genehmigt. Das haben die Kollegen, die den Jungen mit der Pistole festgenommen haben, an meinem Atem gerochen und mich ins Röhrchen pusten lassen. Ich hatte null Komma sechs Promille, was unter dem gesetzlichen Limit war, aber nicht gerade ideal, nachdem ich soeben meine Waffe abgefeuert und einen Mann ins Krankenhaus befördert hatte.«
»Trinken Sie regelmäßig, Mr. Jamieson?«
»In den ersten sechs Monaten nach meiner Scheidung war das der Fall, aber das ist jetzt schon zwei Jahre her. Jetzt nicht mehr.« Was ich natürlich in jedem Fall sagen würde, dachte er.
»Mhm, mhm, dann sehen wir mal, ob ich alles richtig verstanden habe.« Der Sheriff hob seinen dicken Zeigefinger. »Sie waren nicht im Dienst. Wenn Sie also keine Uniform getragen hätten, wäre die Frau erst gar nicht auf Sie zugerannt.«
»Wahrscheinlich nicht, aber ich hätte den Tumult gehört und wäre auf jeden Fall am Tatort aufgetaucht. Als Cop ist man nie ganz außer Dienst. Wie Sie sicher wissen.«
»Mhm, mhm, aber hätten Sie Ihre Waffe dabeigehabt?«
»Nein, die hätte gesichert in meinem Wagen gelegen.«
Für diesen Punkt hob Ashworth einen zweiten Finger und fügte gleich einen dritten hinzu. »Der junge Kerl hatte wahrscheinlich eine Spielzeugpistole, aber sie hätte auch echt sein können. Jedenfalls konnten Sie sich da nicht sicher sein.«
»Stimmt.«
Worauf sich Finger Nummer vier hob. »Ihr Warnschuss hat eine Lampe getroffen und die nicht nur abstürzen lassen, sondern auch noch auf den Kopf eines unbeteiligten Beobachters. Falls man einen Trottel, der mit seinem Handy eine Schlägerei filmt, als unbeteiligten Beobachter bezeichnen kann.«
Tim nickte.
Nun hob sich auch noch der Daumen des Sheriffs. »Und bevor sich das Ganze ereignet hat, hatten Sie zufällig zwei alkoholische Getränke zu sich genommen.«
»Ja. Und zwar in Uniform.«
»Keine gute Entscheidung, keine gute… wie sagt man noch… Optik, aber ich würde trotzdem sagen, dass Sie eine irrsinnige Pechsträhne hatten.« Sheriff John trommelte mit den Fingern auf die Tischkante. Der Rubinring am kleinen Finger unterstrich jeden Trommelwirbel mit einem leisen Klicken. »Ihre Geschichte ist zwar zu haarsträubend, um nicht wahr zu sein, aber ich glaube, ich rufe trotzdem bei Ihrer früheren Dienststelle an und lasse sie mir bestätigen. Wenn auch nur, um sie noch mal zu hören und Bauklötze zu staunen.«
Tim grinste. »Ich war Bernadette DiPino unterstellt. Die ist die Polizeichefin von Sarasota. Aber jetzt sollten Sie nach Hause zum Abendessen, sonst reißt Ihre Frau Ihnen den Kopf ab.«
»Ach, das mit Marcy können Sie schon mir überlassen.« Der Sheriff beugte sich über seinen Bauch. Seine Augen funkelten heller denn je. »Wenn Sie jetzt pusten müssten, Mr. Jamieson, was käme dann heraus?«
»Das können Sie gerne testen.«
»Ich glaube, das werde ich bleiben lassen. Weil es wohl nicht nötig ist.« Er lehnte sich zurück, wobei sein Stuhl ein weiteres qualvolles Ächzen von sich gab. »Wieso wollen Sie eigentlich Nachtklopfer in einem miesen kleinen Kaff wie dem hier werden? Man kriegt gerade mal hundert Dollar pro Woche, und während man von Sonntag bis Donnerstag nicht viel zu tun hat, kann es am Freitag- und Samstagabend ganz schön Zoff geben. Der Stripclub in Penley hat zwar letztes Jahr dichtgemacht, aber in der Gegend gibt es gleich mehrere Tanzschuppen und Spelunken.«
»Mein Großvater hat in Hibbing in Minnesota als Nachtklopfer gearbeitet, dem Ort, wo Bob Dylan aufgewachsen ist. Vorher war er bei der State Police. Das war der Grund, weshalb ich schon als Junge Polizist werden wollte. Als ich den Zettel draußen gesehen habe, dachte ich einfach…« Tim zuckte die Achseln. Was hatte er eigentlich gedacht? Mehr oder weniger dasselbe wie in dem Moment, als er den Job in der Recyclinganlage angenommen hatte. Praktisch nichts. Ihm kam in den Sinn, dass er zumindest mental nicht im besten Zustand war.
»Sie wollen also in die Fußstapfen Ihres Opas treten, mhm.« Sheriff John verschränkte die Hände über seinem beachtlichen Bauch und starrte Tim mit diesen hellen, neugierigen Augen in ihren fleischigen Höhlen an. »Halten Sie sich etwa für einen Rentner? Suchen bloß nach irgendwas, um sich die Zeit zu vertreiben? Dafür sind Sie eigentlich noch ein bisschen jung, meinen Sie nicht?«
»Was meine Zeit bei der Polizei angeht, bin ich tatsächlich in Rente. Das ist vorbei. Ein Freund hat mir gesagt, er könnte mir in New York Arbeit bei einer Security-Firma verschaffen, und ich brauchte einen Tapetenwechsel. Aber vielleicht muss ich dafür ja gar nicht bis nach New York.« Was er eigentlich brauchte, war wohl ein innerer Kurswechsel. Das würde der Job als Nachtklopfer zwar eher nicht zustande bringen, aber vielleicht ja doch.
»Geschieden, sagen Sie?«
»Ja.«
»Kinder?«
»Nein. Meine Frau wollte welche, ich nicht. Hatte das Gefühl, nicht bereit dafür zu sein.«
Sheriff John blickte auf das Bewerbungsformular. »Hier steht, dass Sie zweiundvierzig sind. Wenn man da noch nicht bereit ist, heißt das in den meisten Fällen, wenn auch wahrscheinlich nicht in allen, dass man…«
Er beendete den Satz nicht und wartete nach bester Polizistenmanier darauf, dass Tim das Schweigen füllte. Was Tim nicht tat.
»Irgendwann fahren Sie vielleicht wirklich nach New York, Mr. Jamieson, aber momentan lassen Sie sich einfach treiben. Kann man das so sagen?«
Tim dachte nach und stimmte zu.
»Wenn ich Ihnen den Job gebe, woher weiß ich dann, dass Sie in zwei Wochen oder einem Monat nicht plötzlich auf die Idee kommen, sich weitertreiben zu lassen? Schließlich ist DuPray nicht gerade der spannendste Ort auf dem Erdboden oder auch nur in South Cah-lina. Meine Frage lautet also, Sir: Woher weiß ich, dass man sich auf Sie verlassen kann?«
»Ich werde bleiben. Vorausgesetzt natürlich, Sie haben den Eindruck, dass ich meinen Job so mache, wie man ihn machen muss. Sonst können Sie mich gerne rausschmeißen. Und falls ich mich selbst entschließen sollte weiterzuziehen, sage ich Ihnen lange im Voraus Bescheid. Das ist ein Versprechen.«
»Der Job reicht zum Leben nicht aus.«
Tim hob die Schultern. »Falls nötig, suche mir noch was dazu. Sie wollen sicher nicht behaupten, dass ich der Einzige hier wäre, der zwei Jobs haben muss, um über die Runden zu kommen. Außerdem habe ich für den Anfang ein bisschen was auf der hohen Kante.«
Sheriff John blieb eine kleine Weile nachdenklich sitzen, bevor er sich erhob. Für einen derart korpulenten Mann tat er das mit erstaunlicher Gewandtheit. »Kommen Sie morgen Vormittag wieder, dann sehen wir, was wir aus der Sache machen. Gegen zehn würde in etwa passen.«
Womit du mehr als genügend Zeit hast, mit der Polizei von Sarasota zu telefonieren und festzustellen, ob meine Story stimmt, dachte Tim. Und um zu fragen, ob ich noch weitere Flecken auf meiner ehemals weißen Weste habe.
Er stand ebenfalls auf und streckte Sheriff John die Hand hin, die gut und kräftig gedrückt wurde.
»Wo wollen Sie heute übernachten, Mr. Jamieson?«
»In dem Motel da hinten, falls ein Zimmer frei ist.«
»Ach, Norbert hat bestimmt mehr als genügend Zimmer«, sagte der Sheriff. »Und ich glaube, er wird nicht versuchen, Ihnen was von seinem Kraut zu verkaufen. Ich hab nämlich den Eindruck, dass Sie immer noch ein bisschen was von einem Cop an sich haben. Wenn Sie kein Problem mit gebratenem Essen haben, kriegen Sie das bei Bev’s die Straße runter. Die haben bis sieben auf. Mein Lieblingsgericht da ist Leber mit Zwiebeln.«
»Danke. Auch dafür, dass Sie mit mir gesprochen haben.«
»Gern geschehen. Interessante Unterhaltung. Übrigens, wenn Sie im Motel einchecken, teilen Sie Norbert doch mit, Sheriff John hätte gesagt, dass er Ihnen eines von den guten Zimmern geben soll.«
»Mach ich.«
»Aber ich würde an Ihrer Stelle trotzdem nach Wanzen suchen, bevor ich in die Federn gehe.«
Tim grinste. »Den Rat geben Sie mir nicht als Erster.«
Zum Abendessen gab es in Bev’s Eatery paniertes Steak mit Cremesoße und grünen Bohnen, gefolgt von Pfirsichpastete. Nicht schlecht. Das Zimmer, das man Tim im DuPray Motel zuwies, war eine andere Sache. Verglichen damit waren die Räume, in denen er bisher auf seiner Wanderung nach Norden übernachtet hatte, geradezu Paläste. Die Klimaanlage im Fenster rasselte geschäftig vor sich hin, ohne die Luft nennenswert abzukühlen. Der rostige Duschkopf tropfte, was sich anscheinend auch nicht abstellen ließ. (Zu guter Letzt legte Tim ein Handtuch darunter, um das regelmäßig wie ein Uhrwerk klopfende Geräusch zu dämpfen.) Der Schirm der Nachttischlampe war an mehreren Stellen angekokelt. Das einzige Bild im Zimmer – eine beunruhigende Komposition, die ein ausschließlich von grinsenden und möglicherweise mordlüsternen Schwarzen bemanntes Segelschiff darstellte – hing schief. Als Tim es gerade rückte, stellte sich der vorherige Zustand sofort wieder ein.
Draußen stand ein Gartensessel. Der Sitz hing durch, und die Beine waren so verrostet wie der defekte Duschkopf, aber er brach nicht zusammen. Tim saß mit ausgestreckten Beinen da, schlug nach den Stechmücken und sah das orangerote Glühen der Sonne durch die Bäume brennen. Bei diesem Anblick fühlte er sich zugleich glücklich und melancholisch. Gegen Viertel nach acht tauchte ein weiterer schier endloser Güterzug auf, der die Straße überquerte und an den Lagerhäusern am Ortsrand vorbeirollte.
»Der verfluchte Georgia Southern kommt aber auch immer zu spät.«
Als Tim sich umblickte, sah er den Eigentümer und zu dieser Abendstunde einzigen Angestellten des noblen Etablissements vor sich stehen. Der Mann war klapperdürr. Auf seiner oberen Hälfte hing eine Weste mit Paisleymuster. Seine Khakihose trug er im Hochwasserstil, wohl damit seine weißen Socken und seine alten Converse-Sneakers besser zur Geltung kamen. Sein etwas rattenhaftes Gesicht wurde von einem klassischen Beatles-Haarschnitt umrahmt.
»Sagen Sie bloß«, erwiderte Tim.
»Is eigentlich schnuppe.« Norbert zuckte die Achseln. »Der Abendzug fährt sowieso immer bloß durch. Das tut der um Mitternacht meistens auch, falls er nicht Diesel liefert oder frisches Obst und Gemüse für den Laden. Da hinten kommt ’ne Kreuzung.« Zur Demonstration kreuzte er die Zeigefinger. »Eine Strecke geht runter nach Atlanta, Birmingham, Huntsville und so weiter. Die andere kommt von Jacksonville rauf und geht nach Charleston, Wilmington, Newport News und so weiter. Bloß die Züge, wo tagsüber kommen, machen meistens halt. Übrigens, ham Sie sich schon mal überlegt, im Lagerhaus zu arbeiten? Die suchen nämlich normalerweise ein oder zwei Leute. Braucht man allerdings ’nen starken Rücken für. Nix für mich.«
Tim sah Norbert an. Der trat von einem Bein auf das andere und setzte ein Grinsen auf, bei dem eine Reihe todgeweihter Zähne sichtbar wurden. Die waren zwar noch vorhanden, aber ganz sicher nicht mehr lange.
»Wo steht eigentlich Ihr Auto?«
Tim blickte Norbert nur weiter an.
»Sind Sie ’n Cop?«
»Momentan bin ich bloß jemand, der zuschaut, wie die Sonne hinter den Bäumen untergeht«, sagte Tim. »Und das würde ich ganz gern alleine tun.«
»Schon kapiert, schon kapiert«, sagte Norbert und trat den Rückzug an. Er blieb lediglich kurz stehen, um mit zusammengekniffenen Augen einen einzelnen, prüfenden Blick über die Schulter zu werfen.
Irgendwann war der Güterzug vorübergefahren. Das rote Blinklicht am Bahnübergang erlosch, und die Schranken hoben sich. Die zwei oder drei Fahrer, die gewartet hatten, ließen den Motor an und fuhren los. Tim sah die Farbe der sinkenden Sonne von Orange in Rot übergehen – Abendrot, Gutwetterbot hätte sein Großvater, der Nachtklopfer, gesagt. Die Schatten der Kiefern streckten sich lang über die SR 92 und flossen ineinander. Er war sich ziemlich sicher, dass er den Job nicht bekommen würde, was vielleicht ohnehin besser war. DuPray schien weit von allem weg zu sein; es war weniger eine Nebenstrecke als ein verdammtes Abstellgleis. Hätte es nicht die vier Lagerhäuser da hinten gegeben, würde die Stadt wahrscheinlich gar nicht existieren. Und weshalb existierten die Lagerhäuser? Um irgendwo aus dem Norden, zum Beispiel aus Wilmington oder Norfolk, stammende Fernseher zwischenzulagern und irgendwann nach Atlanta oder Marietta zu verschicken? Um aus Atlanta stammende Kartons mit Computerzubehör zu lagern, um sie irgendwann wieder in einen Zug zu laden und nach Wilmington, Norfolk oder Jacksonville zu transportieren? Um Düngemittel oder gefährliche Chemikalien zu lagern, weil es in diesem Teil der Vereinigten Staaten kein Gesetz dagegen gab? Das Ganze drehte sich offenbar ständig im Kreis, und was sich im Kreis drehte, gelangte nie irgendwohin, das wusste jeder Trottel.
Er ging in sein Zimmer, schloss die Tür ab (was eigentlich Quatsch war, das Ding war so klapprig, dass man es mit einem einzigen Fußtritt aufsprengen konnte), zog sich bis auf die Unterwäsche aus und legte sich aufs Bett, das durchhing, aber wanzenlos war (zumindest soweit er hatte feststellen können). Dann verschränkte er die Hände hinter dem Kopf und starrte auf das Bild mit den grinsenden Schwarzen, mit denen die Fregatte – oder wie immer man so ein Schiff bezeichnete – bemannt war. Wohin sie wohl segelten? Waren es Piraten? Jedenfalls sahen sie so aus. Egal was sie waren, das Ganze lief darauf hinaus, dass sie im nächsten Hafen, den sie ansteuerten, etwas ausladen und einladen würden. Vielleicht lief es mit allem so. Und bei jedem. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er sich aus einem Delta-Flug nach New York ausgeladen. Anschließend hatte er Dosen und Flaschen in eine Sortiermaschine geladen. Heute hatte er für eine nette Bibliothekarin an einem Ort Bücher eingeladen und an einem anderen ausgeladen. Er war nur hier, weil die I-95 vollgeladen mit Fahrzeugen gewesen war, die darauf warteten, dass ein Abschleppwagen kam und das Wrack irgendeines bedauernswerten Zeitgenossen abtransportierte. Wahrscheinlich nachdem ein Rettungswagen den verunglückten Fahrer eingeladen und am nächsten Krankenhaus ausgeladen hatte.
Ein Nachtklopfer war jedoch nicht damit beschäftigt, ein- und auszuladen. Der ging einfach durch die Gegend und klopfte. Das war, hätte Tims Opa gesagt, das Schöne daran.
Tim schlief ein und wachte erst um Mitternacht wieder auf, als ein weiterer Güterzug vorüberrumpelte. Er ging auf die Toilette, und bevor er sich wieder ins Bett legte, nahm er das schief hängende Bild herunter und lehnte die Mannschaft aus grinsenden Männern so an die Wand, dass sie nicht mehr zu sehen war.
Das verdammte Ding machte ihn nervös.
Als am nächsten Morgen in seinem Zimmer das Telefon läutete, hatte Tim bereits geduscht, saß wieder in dem Gartensessel und sah zu, wie die Schatten, die sich bei Sonnenaufgang über die Straße gelegt hatten, in die andere Richtung zurückschmolzen. Es war Sheriff John, und der wollte keine Zeit vergeuden.
»Ich dachte, dass Ihre ehemalige Chefin so früh noch nicht im Büro ist, deshalb hab ich im Internet über Sie recherchiert, Mr. Jamieson. Offenbar haben Sie auf Ihrem Bewerbungsformular versäumt, ein paar Sachen zu notieren. In unserem Gespräch haben Sie die ebenfalls nicht erwähnt. 2017 wurden Sie belobigt, weil Sie jemand das Leben gerettet haben, und 2018 wurden Sie zum örtlichen Polizeibeamten des Jahres ernannt. Haben Sie das einfach vergessen?«
»Nein«, sagte Tim. »Ich habe mich spontan für den Job beworben. Wenn ich mehr Zeit zum Nachdenken gehabt hätte, dann hätte ich das sicher hingeschrieben.«
»Erzählen Sie mir doch mal die Geschichte mit dem Alligator. Ich bin am Sumpf vom Little Pee Dee River aufgewachsen und liebe gute Krokodilgeschichten.«
»Richtig gut ist die nicht, weil es kein besonders großer Alligator war. Außerdem hab ich dem Jungen gar nicht das Leben gerettet, aber irgendwie lustig war die Sache trotzdem.«
»Dann lassen Sie mal hören.«
»Der Notruf kam vom Highlands, das ist ein privater Golfplatz. Ich war gerade in der Nähe. Neben einem Wasserhindernis stand ein Baum, und auf dem saß ein Junge, etwa elf oder zwölf Jahre alt. Hat gebrüllt wie am Spieß. Der Alligator war direkt unter ihm.«
»Hört sich wie die Geschichte vom kleinen schwarzen Sambo an«, sagte Sheriff John. »Nur waren es da, soweit ich mich erinnere, mehrere Tiger statt einem Alligator, und wenn sich’s um einen privaten Golfplatz gehandelt hat, war der Knabe auf dem Baum bestimmt nicht schwarz.«
»Stimmt. Und der Alligator war praktisch eingepennt. Kaum mehr als ein Meter fünfzig lang. Höchstens eins achtzig. Ich habe mir vom Vater des Jungen – der mich später für die Belobigung vorgeschlagen hat – ein Fünfer-Eisen geborgt und es ihm ein paarmal übergezogen.«
»Dem Alligator, nicht dem Vater, oder?«
Tim lachte. »Richtig. Worauf das Viech sich wieder in das Wasserhindernis verzogen hat. Der Junge ist vom Baum geklettert, und das war’s.« Er dachte einen Moment nach. »Abgesehen davon, dass ich in die Abendnachrichten gekommen bin. Mit einem Golfschläger in der Hand. Der Moderator hat mir zu meinem Abschlag gratuliert. Golfhumor, Sie wissen schon.«
»Mhm, mhm, und das mit dem Beamten des Jahres?«
»Tja«, sagte Tim. »Ich bin immer rechtzeitig zum Dienst erschienen, habe mich nie krankgemeldet, und irgendwen musste man ja auszeichnen.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte mehrere Momente Schweigen. »Ich weiß nicht, ob man so was als geziemende Bescheidenheit oder als mangelndes Selbstwertgefühl bezeichnen sollte«, sagte Sheriff John dann. »Aber egal was es ist, ich will es nicht hören. Wir kennen uns zwar noch nicht lange, aber ich bin jemand, der offen seine Meinung sagt. Was manche Leute als unüberlegt bezeichnen, meine Frau zum Beispiel.«
Tim betrachtete die Straße, die Bahngleise, die schrumpfenden Schatten. Warf einen Blick auf den städtischen Wasserturm, der wie ein Kampfroboter aus einem Science-Fiction-Film in den Himmel ragte. Es würde wieder ein heißer Tag werden, vermutete er. Außerdem vermutete er noch etwas anderes. Es kam auf genau diesen Augenblick an, ob er den Job bekam oder nicht. Alles hing davon ab, was er als Nächstes sagte. Die Frage war: Wollte er diesen Job wirklich oder war es nur eine vorübergehende Laune, entstanden durch die Erinnerung an seinen Großvater?
»Mr. Jamieson? Sind Sie noch dran?«
»Ich habe diese Auszeichnung verdient. Sie hätte auch an einen anderen Kollegen gehen können, ich habe mit ein paar guten Leuten zusammengearbeitet, aber es stimmt, ich habe sie verdient. Als ich Sarasota verließ, habe ich nicht viel mitgenommen – den Rest wollte ich mir schicken lassen, sobald ich in New York was an Land gezogen hab–, aber die Auszeichnung habe ich eingepackt. Sie ist in meiner Reisetasche. Wenn Sie wollen, kann ich sie Ihnen gerne zeigen.«
»Das will ich«, sagte Sheriff John. »Aber nicht, weil ich Ihnen nicht glaube. Ich möchte das Ding einfach sehen. Sie sind zwar geradezu grotesk überqualifiziert für einen Job als Nachtklopfer, aber wenn Sie ihn wirklich wollen, können Sie heute Abend um elf anfangen. Dienstzeit ist von elf bis sechs.«
»Ich will ihn«, sagte Tim.
»In Ordnung.«
»Einfach so?«
»Ich bin jemand, der seinem Instinkt vertraut, und ich stelle ja gerade einen Nachtklopfer ein, keinen Wachmann für einen Geldtransporter, daher ja, einfach so. Sie brauchen auch nicht jetzt um zehn hier aufkreuzen. Legen Sie sich noch ein bisschen aufs Ohr und kommen Sie gegen Mittag vorbei. Officer Gullickson wird Ihnen alles erklären. Wird nicht lange dauern. Für den Job muss man nicht studiert haben, wie man so sagt. Allerdings werden Sie Samstag nachts, wenn die Kneipen zumachen, auf der Straße allerhand interessante Studien treiben können.«
»Alles klar. Vielen Dank.«
»Sehen wir mal, ob Sie mir nach Ihrem ersten Wochenende immer noch dankbar sind. Ach, noch was. Sie sind kein Deputy, und Sie haben nicht die Erlaubnis, eine Schusswaffe zu tragen. Wenn Sie auf eine Situation stoßen, mit der Sie nicht fertigwerden oder die Sie für gefährlich halten, funken Sie die Zentrale an. Ist das klar?«
»Ja.«
»Hoffentlich, Mr. Jamieson. Wenn ich feststellen sollte, dass Sie doch eine Waffe einpacken, können Sie Ihre Koffer packen.«
»Kapiert.«
»Dann ruhen Sie sich jetzt noch ein bisschen aus. Schließlich sollen Sie zu einem Geschöpf der Nacht werden, wie man so sagt.«
Wie Graf Dracula, dachte Tim. Er legte auf, hängte das Schild mit der Aufschrift BITTE NICHT STÖREN an die Tür, zog den dünnen, verschlissenen Vorhang vors Fenster, stellte auf seinem Handy den Wecker ein und legte sich wieder schlafen.
Deputy Wendy Gullickson, die in Teilzeit für den Sheriff arbeitete, war zehn Jahre jünger als Ronnie Gibson und absolut umwerfend, obwohl sie ihre blonden Haare zu einem so engen Knoten zusammengebunden hatte, dass der zu schreien schien. Tim versuchte erst gar nicht, mit ihr zu flirten; es war deutlich, dass sie in der Hinsicht sämtliche Schutzschilde hochgefahren hatte. Er überlegte sogar kurz, ob sie lieber jemand anderes als Nachtklopfer gesehen hätte, zum Beispiel ihren Bruder oder ihren Boyfriend.
Sie überreichte ihm einen Plan mit dem ausgesprochen überschaubaren Geschäfts- und Kneipenviertel von DuPray, ein Handfunkgerät, das man am Gürtel befestigen konnte, und eine Kontrolluhr, die ebenfalls an den Gürtel kam. Batterien hatte die Uhr keine, wie Deputy Gullickson erklärte; man zog sie am Anfang jeder Schicht auf.
»Tja, im Jahre 1946 war das Ding wahrscheinlich hochmodern«, sagte Tim. »Irgendwie ist es richtig cool. Retro.«
Sie lächelte nicht. »Sie drücken die Uhr bei Fromie’s Maschinenhandlung und dann wieder beim Güterbahnhof am westlichen Ende von der Hauptstraße. Das ist eine Strecke von eins Komma sechs Meilen. Ed Whitlock hat pro Schicht vier Rundgänge gemacht.«
Was beinahe dreizehn Meilen ergab. »Bei Weight Watchers anmelden muss ich mich da nicht, das ist klar.«
Noch immer kein Lächeln. »Ich werde zusammen mit Ronnie Gibson einen Dienstplan für Sie erstellen. Pro Woche haben Sie zwei Nächte frei, wahrscheinlich am Montag und am Dienstag. Nach dem Wochenende ist es in der Stadt ziemlich ruhig, aber manchmal werden wir Sie da trotzdem einsetzen müssen. Falls Sie uns erhalten bleiben.«
Tim faltete die Hände im Schoß und betrachtete sein Gegenüber mit einem schiefen Grinsen. »Haben Sie vielleicht ein Problem mit mir, Deputy Gullickson? Falls ja, sagen Sie es mir bitte jetzt oder schweigen Sie für immer.«
Sie hatte einen nordisch hellen Teint, weshalb nicht zu übersehen war, dass ihr das Blut in die Wangen stieg. Damit sah sie noch besser aus als bisher, aber wahrscheinlich war es ihr trotzdem peinlich.
»Das weiß ich jetzt noch nicht«, sagte sie. »Wird sich erst in Zukunft zeigen. Wir sind ein gutes Team hier. Klein, aber gut. Wir ziehen alle am selben Strang. Während Sie erst mal bloß jemand sind, der hereingeschneit ist und einen Job an Land gezogen hat. Die Leute in der Stadt veräppeln den Nachtklopfer gern, was Ed mit Humor genommen hat, aber es ist eine wichtige Aufgabe, vor allem in einem Ort, in dem es nur eine so kleine Polizeibehörde gibt wie unsere.«
»Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste«, sagte Tim. »Das hat mein Opa häufig von sich gegeben. Der war Nachtklopfer, Officer Gullickson. Deshalb habe ich mich für den Job beworben.«
Daraufhin schien sie ein bisschen aufzutauen. »Was die Kontrolluhr angeht, die ist vorsintflutlich, das stimmt. Ich kann nur sagen: Gewöhnen Sie sich daran. Als Nachtklopfer hat man einen analogen Job in einem digitalen Zeitalter. Zumindest in DuPray.«
Was sie damit meinte, fand Tim schon bald heraus. Er fühlte sich wie ein Streifenpolizist so um das Jahr 1954, nur ohne Pistole oder auch nur einen Schlagstock. Er war nicht befugt, jemand festzunehmen. Einige der größeren Geschäfte in der Stadt waren mit Alarmanlagen ausgestattet, aber die meisten kleineren Läden verfügten nicht über derartige technische Finessen. Bei Geschäften wie dem DuPray Mercantile und Oberg’s Drugstore vergewisserte Tim sich daher, ob die grünen Lämpchen der Anlage brannten und ob irgendwelche Anzeichen für einen Einbruch zu entdecken waren. Sonst rüttelte er an Türknauf oder Klinke, spähte durch die Glasscheiben und klopfte dreimal, wie man es seit jeher tat. Gelegentlich folgte darauf eine Reaktion – jemand winkte oder rief einige Worte–, aber meistens nicht, was in Ordnung war. Dann hinterließ er ein Kreidezeichen und ging weiter. Auf dem Rückweg wiederholte er die Prozedur, nur dass er diesmal das Kreidezeichen abwischte. Wobei ihm manchmal ein alter irischer Witz in den Sinn kam: Wenn du als Erster hinkommst, Paddy, machst du ein Zeichen an die Tür. Wenn ich der Erste bin, wisch ich es weg. Einen praktischen Grund für diese Zeichen gab es anscheinend nicht; es war einfach eine Tradition, die vielleicht über eine lange Reihe von Nachtklopfern bis in die Zeit nach dem Bürgerkrieg zurückreichte.
Dank George Burkett, einem der Teilzeit-Deputys, fand Tim eine anständige Unterkunft. George hatte ihm erzählt, seine Mutter besitze eine kleine möblierte Wohnung über ihrer Garage, die sie ihm günstig vermieten werde, wenn er Interesse habe. »Es sind bloß zwei Zimmer, aber die sind ganz hübsch. Mein Bruder hat ein paar Jahre da gewohnt, bevor er nach Florida gezogen ist. Hat in Orlando in diesem Themenpark von Universal einen Job gekriegt. Verdient ganz anständig da.«
»Gut für ihn.«
»Ja, aber was in Florida alles so kostet… ganz schön heftig. Muss dich übrigens vorwarnen, Tim, wenn du die Wohnung nimmst, kannst du nachts keine laute Musik spielen. Musik mag meine Mama nämlich nicht. Ihr hat’s nicht mal gepasst, wenn Floyd Banjo gespielt hat, und der ist richtig gut. Die beiden haben sich deshalb ständig furchtbar gestritten.«
»Ich bin doch nachts kaum zu Hause, George.«
Die Miene von Officer Burkett – Mitte zwanzig, gutherzig und gut gelaunt, allerdings nicht mit einem Übermaß an angeborener Intelligenz ausgestattet – hellte sich auf. »Stimmt, das hatte ich ganz vergessen. Jedenfalls ist da oben ’ne kleine Klimaanlage, nichts Besonderes, aber es bleibt damit so kühl, dass man schlafen kann. Floyd konnte es jedenfalls. Na, interessiert?«
Das war Tim, und die ins Fenster eingebaute Anlage brachte zwar tatsächlich nicht viel, aber das Bett war bequem, das Wohnzimmer war gemütlich, und die Dusche tropfte nicht. Die Küche bestand lediglich aus einer Mikrowelle und einer Kochplatte, aber da er seine Mahlzeiten meistens in Bev’s Eatery einnehmen würde, war das in Ordnung. Außerdem war die Miete unschlagbar: siebzig pro Woche. George hatte seine Mutter als eine Art Drachen hingestellt, aber Mrs. Burkett entpuppte sich als gute alte Seele mit einem so starken Südstaatenakzent, dass Tim nur die Hälfte von dem verstand, was sie sagte. Manchmal legte sie ihm ein in Wachspapier eingeschlagenes Stück Maisbrot oder Kuchen vor die Tür. Alles in allem war es so, als hätte man eine gute Fee als Hauswirtin.
Was die Lagerhäuser anging, hatte Norbert Hollister, der rattengesichtige Motelbesitzer, recht gehabt – dort war man chronisch unterbesetzt und stellte immer jemand ein. An Orten, wo schwere körperliche Arbeit mit dem gesetzlichen Mindestlohn vergütet wurde (was in South Carolina sieben Dollar fünfundzwanzig bedeutete), war die Fluktuation wahrscheinlich immer hoch. Tim unterhielt sich mit Val Jarrett, dem Vorarbeiter, der bereit war, ihn für drei Stunden täglich einzustellen, jeweils ab acht Uhr morgens. Damit hatte Tim Zeit, sich zu duschen und etwas zu essen, nachdem er seinen Dienst als Nachtklopfer beendet hatte. Und so war er neben seinen nächtlichen Pflichten wieder damit beschäftigt, Dinge ein- und auszuladen.
Das war eben der Lauf der Welt, sagte er sich. Der Lauf der Welt. Aber nur vorläufig.
Während seine Zeit in der kleinen Stadt im Süden verging, verfiel Tim Jamieson in eine wohltuende Routine. Er hatte nicht die Absicht, sein restliches Leben in DuPray zu bleiben, konnte sich jedoch vorstellen, an Weihnachten noch da zu sein (vielleicht würde er dann einen winzigen künstlichen Weihnachtsbaum in seine winzige Wohnung über der Garage stellen), eventuell sogar bis zum nächsten Sommer. Eine kulturelle Oase war der Ort nicht, und ihm war durchaus klar, weshalb die meisten jungen Leute wild darauf waren, der eintönigen Langeweile zu entkommen, aber Tim genoss sie. Mit der Zeit würde sich das sicher ändern, aber vorläufig war es okay.
Um sechs Uhr abends aufstehen; Abendessen bei Bev’s, manchmal allein und manchmal mit einem von den Deputys; die nächsten sieben Stunden als Nachtklopfer unterwegs; bis elf im Lagerhaus Gabelstapler fahren; Mittagspause im Schatten des Güterbahnhofs mit einem Sandwich und einer Cola oder Eistee; zurück zu Mrs. Burkett; schlafen bis um sechs. An seinen freien Tagen schlief er manchmal zwölf Stunden am Stück. Er las Justizthriller von John Grisham und sämtliche Bände von Das Lied von Eis und Feuer. Tim war ein großer Fan von Tyrion Lannister. Er wusste, dass es eine auf den Büchern beruhende Fernsehserie gab, hatte jedoch kein Bedürfnis, sie sich anzusehen; seine Fantasie verschaffte ihm sämtliche Drachen, die er brauchte.
In seiner Zeit als Cop hatte er die nächtliche Seite von Sarasota kennengelernt, die sich von dem unbeschwert sonnigen Bild, das der Urlaubsort bei Tageslicht abgab, so stark unterschied wie Mr. Hyde von Dr. Jekyll. Diese nächtliche Seite war oft widerwärtig und gelegentlich gefährlich, und obwohl Tim nie so weit herabgesunken war, dass er jenen abscheulichen Polizeijargon für tote Drogensüchtige und missbrauchte Prostituierte verwendet hätte – KMB, keine Menschen betroffen–, hatten seine zehn Dienstjahre ihn zynisch werden lassen. Manchmal hatte er dieses Gefühl mit nach Hause gebracht (na, wohl eher oft als manchmal, sagte er sich, wenn er mal ehrlich sein mochte), und es war zu einem Teil der Säure geworden, die seine Ehe zerfressen hatte. Wahrscheinlich war das auch einer der Gründe gewesen, weshalb er sich allein der Vorstellung, Kinder zu haben, so verschlossen hatte. Es gab zu viele schlimme Dinge auf der Welt. Zu viel, was schieflaufen konnte. Ein Alligator auf einem Golfplatz gehörte da noch zu den harmlosen Dingen.
Als er den Job als Nachtklopfer angenommen hatte, hätte er nicht gedacht, dass ein Ort mit fünftausendvierhundert Einwohnern (von denen viele in dem umliegenden ländlichen Gebiet lebten) eine nächtliche Seite haben könnte, doch die hatte DuPray, und Tim stellte fest, dass er sie mochte. Die Leute, die er auf dieser Seite kennenlernte, waren sogar das Beste an seinem Job.
Da war zum Beispiel Mrs. Goolsby, die ihm oft zuwinkte, wenn er seinen ersten Rundgang machte. Sie saß auf der Schaukelbank ihrer Veranda und bewegte sich sanft hin und her, in den Händen einen Becher, der entweder Whiskey, Limo oder Kamillentee enthielt. Manchmal war sie bei seiner zweiten Runde immer noch da. Von Frank Potter, einem der Deputys, die ihm gelegentlich bei Bev’s Gesellschaft leisteten, wusste er, dass Mrs. G. im Vorjahr ihren Mann verloren hatte. Der Sattelschlepper von Wendell Goolsby war bei einem Schneesturm in Wisconsin vom Highway geschlittert.
»Sie ist noch keine fünfzig, aber Wen und Addie waren trotzdem unheimlich lange verheiratet«, hatte Frank gesagt. »Bei der Hochzeit war keiner von den beiden alt genug, wählen zu dürfen oder Schnaps zu kaufen. Wie in dem Song von Chuck Berry, wo’s um ’ne Teenagerhochzeit geht. Normalerweise geht so was nicht lange gut, aber bei denen schon.«
Daneben machte Tim die Bekanntschaft von Orphan Annie, einer Obdachlosen, die nachts oft in der Durchfahrt zwischen der Polizeistation und dem DuPray Mercantile schlief, wo sie ihre Luftmatratze auslegte. In dem Ödland hinter dem Güterbahnhof hatte sie außerdem ein kleines Zelt aufgebaut, in das sie sich zurückzog, wenn es regnete.
»Eigentlich heißt sie Annie Ledoux«, erklärte Bill Wicklow, als Tim ihn nach ihr fragte. Bill war der älteste Deputy. Er arbeitete in Teilzeit und schien jedermann in der Stadt zu kennen. »Sie schläft schon jahrelang in der Durchfahrt drüben. Da gefällt es ihr besser als in ihrem Zelt.«
»Was macht sie, wenn es kalt wird?«, fragte Tim.
»Dann zieht sie nach Yemassee um. Meistens bringt Ronnie Gibson sie mit dem Auto hin. Die beiden sind irgendwie verwandt, Cousinen um drei Ecken oder so. Da oben ist ein Obdachlosenasyl. Annie sagt, sie will da bloß hin, wenn es unbedingt nötig ist, weil die da alle einen Sprung in der Schüssel haben. Worauf ich immer sage, sie soll mal in den Spiegel schauen.«
Einmal in jeder Nacht warf Tim einen Blick auf Annies Unterschlupf in der Durchfahrt, und einmal machte er tagsüber nach der Arbeit im Lagerhaus einen Abstecher zu ihrem Zelt, hauptsächlich aus reiner Neugier. Vor dem Zelt waren drei Bambusstäbe mit Flaggen in den Boden gerammt: die der Vereinigten Staaten, die der Konföderierten und eine, die Tim nicht kannte.
»Das ist die Flagge von Guayana«, sagte Annie auf seine Frage hin. »Hab ich im Müllcontainer hinter Zoney’s gefunden. Hübsch, oder?«
Annie saß auf einem mit durchsichtiger Plastikfolie umhüllten Sessel und strickte einen Schal, der lang genug für einen von George R. R. Martins Riesen war. Sie war ziemlich freundlich und ließ keine Anzeichen von dem erkennen, was Tims frühere Kollegen in Sarasota als Obdachlosenparanoia-Syndrom bezeichnet hatten. Dafür war sie ein Fan der nächtlichen Radiosendungen auf WMDK, weshalb ihre Gesprächsbeiträge gelegentlich in seltsame Nebenwege abdrifteten, die mit fliegenden Untertassen, Seelenwanderung und Besessenheit durch Dämonen zu tun hatten.
Eines Nachts, als Tim sie in der Durchfahrt auf ihrer Luftmatratze liegen und ihrem kleinen Radio lauschen sah, fragte er sie, warum sie hier schlafe, wenn sie doch ein prima Zelt besitze. Worauf Orphan Annie – vielleicht sechzig, vielleicht achtzig – ihn ansah, als wäre er nicht recht bei Trost. »Hier bin ich in der Nähe von der Polizei. Wissen Sie, was hinterm Güterbahnhof und den Lagerhäusern is, Mr. J.?«
»Wälder, denke ich.«
»Wälder und Sümpfe. Meilenweit Dreck und Schmodder und umgestürzte Bäume, bis nach Georgia runter. Da hausen so Viecher und auch ein paar böse Menschen. Wenn es pisst und ich in meinem Zelt bleiben muss, red ich mir ein, dass bei ’nem Wolkenbruch sicher nix unterwegs is, aber schlafen tu ich trotzdem nich gerade gut. Ich hab ein Messer griffbereit, aber ich glaub nich, dass das viel helfen würde, wenn ’ne mit Meth vollgedröhnte Sumpfratte ankommt.«
Annie war so hager, dass sie ausgemergelt wirkte, weshalb Tim es sich angewöhnte, ihr kleine Leckerbissen von Bev’s mitzubringen, bevor er sich zu seiner kurzen Schicht im Lagerhauskomplex aufmachte. Manchmal war das ein Beutel gekochte Erdnüsse oder Dörrfleisch, manchmal eine Moon Pie oder ein Kirschtörtchen. Einmal war es ein Glas Essiggurken von Wickles, das sie ihm praktisch aus den Händen riss und zwischen ihre dürren Brüste presste.
»Wickies!«, rief sie vergnügt lachend. »So was hab ich nich gefuttert, seit Hector noch ’n Welpe war! Warum sind Sie bloß so gut zu mir, Mr. J.?«
»Weiß auch nicht«, sagte Tim. »Ich glaube, ich mag Sie einfach, Annie. Darf ich eine probieren?«
Sie streckte ihm das Glas hin. »Klar. Aufmachen müssen Sie das Ding sowieso, meine Hände tun so weh von der Arthritis.« Sie spreizte ihre Finger, die so krumm waren, dass sie wie Treibholz aussahen. »Stricken und nähen kann ich noch, aber weiß Gott, wie lang das so bleibt.«
Er öffnete das Glas, rümpfte leicht die Nase, weil der Essiggeruch derart stark war, und fischte eine Gurkenscheibe heraus. Ob das Zeug, das davon heruntertropfte, wohl Formaldehyd war?
»Her damit, her damit!«
Er reichte Annie das Glas und kaute das Gurkenstück. »Du lieber Himmel, da zieht es einem ja das ganze Zahnfleisch zusammen!«
Sie lachte, wobei ihre paar verbliebenen Zähne zum Vorschein kamen. »Am besten sind die mit Brot und Butter und ’nem schönen kühlen RC Cola. Oder ’nem Bier, aber das trink ich nich mehr.«
»Was stricken Sie da eigentlich? Ist das ein Schal?«
»Der Herr wird nicht in seinem eigenen Gewand kommen«, sagte Annie. »Jetzt aber los, Mr. J., tun Sie Ihre Pflicht. Aber hüten Sie sich vor Männern in schwarzen Autos. Von denen redet George Allman im Radio nämlich die ganze Zeit. Woher die kommen, wissen Sie ja, oder?« Sie legte den Kopf schief und warf ihm einen wissenden Blick zu. Eventuell war das ein Scherz gewesen, aber nicht unbedingt. Bei Orphan Annie war so etwas schwer zu beurteilen.
Ein weiterer Bewohner von DuPrays nächtlicher Seite war Corbett Denton. Der städtische Friseur trug den Spitznamen »Drummer«, wegen irgendeiner jugendlichen Heldentat, an die sich niemand mehr richtig erinnerte. Man wusste nur noch, dass man ihn dafür einen Monat lang von der Highschool suspendiert hatte. Gut möglich, dass er in seiner Jugendzeit richtig wild gewesen war, aber die lag weit hinter ihm. Jetzt war Drummer Ende fünfzig oder Anfang sechzig und übergewichtig. Er neigte zur Glatze und litt an Schlaflosigkeit. Wenn er nicht einschlafen konnte, setzte er sich auf die Treppe seines Ladens und betrachtete die verlassene Hauptstraße von DuPray. Verlassen bis auf Tim. Die beiden tauschten sich über belanglose Themen aus, wie man es eben tat, wenn man sich nicht besser kannte – über das Wetter, Baseball, den jährlichen Sommermarkt der Stadt–, aber eines Nachts sagte Denton etwas, was bei Tim die Alarmglocken schrillen ließ.
»Wissen Sie, Jamieson, das Leben, das wir zu leben glauben, ist nicht die Wirklichkeit. Es ist bloß ein Schattenspiel, und ich werde froh sein, wenn die Lichter ausgehen. Im Dunkeln verschwinden die Schatten nämlich alle.«
Tim setzte sich auf die Treppe unter dem Barbierstab, dessen endlose Spirale nachts stillstand. Er nahm seine Brille ab, polierte sie an seinem Hemd und setzte sie wieder auf. »Kann ich offen sprechen?«
Drummer Denton schnippte seine Zigarette in den Rinnstein, wo sie kurz Funken sprühte. »Nur zu. Von Mitternacht bis vier Uhr morgens sollte jeder offen sprechen dürfen. Wenigstens ist das meine Meinung.«
»Sie hören sich wie jemand an, der an einer Depression leidet.«
Drummer lachte. »Und Sie hören sich wie Sherlock Holmes an.«
»Sie sollten mal Doc Roper konsultieren. Es gibt Tabletten, die die Stimmung aufhellen. Meine Ex nimmt die. Obwohl es ihre Stimmung wahrscheinlich noch mehr aufgehellt hat, als sie mich losgeworden ist.« Er grinste als Zeichen, dass seine letzte Bemerkung scherzhaft gemeint war, aber Drummer Denton verzog keine Miene. Er stand lediglich auf.
»Über die Tabletten weiß ich schon Bescheid, Jamieson. Die sind wie Schnaps und Pot. Oder wie dieses Ecstasy, das die Kids heutzutage schlucken, wenn sie zu einem Rave gehen oder wie man das nennt. So Zeug gaukelt einem bloß ’ne Weile vor, dass das Ganze doch wirklich ist. Dass es irgendeinen Sinn ergibt. Aber das ist beides nicht der Fall.«
»Also ehrlich«, sagte Tim leise. »So kann man doch nicht leben.«
»Meiner Meinung nach kann man nur so leben«, sagte der Friseur und ging zu der Treppe, die zu seiner Wohnung über dem Laden führte. Seine Schritte waren langsam und schwerfällig.
Beunruhigt blickte Tim ihm hinterher. Drummer Denton gehörte zu den Leuten, die womöglich in einer regnerischen Nacht beschlossen, sich umzubringen. Vielleicht würde er seinen Hund mitnehmen, wenn er einen hatte. Wie so ein alter ägyptischer Pharao. Tim überlegte, ob er mit Sheriff John darüber reden sollte, doch dann fiel ihm Wendy Gullickson ein, die immer noch nicht aufgetaut war. Auf keinen Fall wollte er, dass sie oder jemand von den anderen Deputys auf die Idee kam, er würde seine Kompetenzen überschreiten. Schließlich war er kein Polizist mehr, sondern nur der städtische Nachtklopfer. Da war es am besten, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Dennoch ging Drummer Denton ihm nie ganz aus dem Sinn.
Als Tim in einer Nacht Ende Juni auf seiner Runde war, sah er zwei Jungen, die mit einem Rucksack auf dem Rücken und einer Lunchbox in den Händen auf der Hauptstraße nach Westen marschierten. So hätten sie zur Schule gehen können, wenn es nicht zwei Uhr morgens gewesen wäre. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei den Nachtwanderern um die Bilson-Zwillinge. Sie waren sauer auf ihre Eltern, die sich geweigert hatten, sie zum Rummelplatz in Dunning zu bringen, weil ihre Noten zu schlecht gewesen seien.
»Dabei ham wir hauptsächlich Cs gekriegt und überall bestanden«, sagte Robert Bilson. »Außerdem sind wir nich durchgefallen. Was soll denn da so schlecht dran sein?«
»Es is einfach nich richtig«, fügte Roland Bilson hinzu. »Wir wollen nämlich ganz früh morgens da sein, um uns ’nen Job zu besorgen. Ham gehört, dass die da immer Langhände brauchen.«
Tim wollte dem Jungen schon erklären, dass der korrekte Ausdruck Handlanger lautete, gelangte jedoch zu der Einschätzung, dass das am Thema vorbeiging. »Hört mal, Leute, ich ruiniere eure Pläne zwar nur äußerst ungern, aber wie alt seid ihr eigentlich? Elf?«
»Zwölf!«, riefen beide im Chor.
»Na gut, zwölf. Nicht so laut, die Leute schlafen. Beim Rummelplatz kriegt ihr bestimmt keinen Job. Stattdessen wird man euch in den Käfig stecken, der da für solche Fälle steht, und euch drin lassen, bis eure Eltern aufkreuzen. Bis dahin werden sich die Leute dort versammeln und euch anglotzen. Vielleicht werfen manche von denen euch Erdnüsse oder Speckkrusten rein.«
Die Bilson-Zwillinge starrten ihn bestürzt (und vielleicht auch erleichtert) an.
»Hört mal zu«, sagte Tim. »Ihr geht jetzt schnurstracks nach Hause, und ich folge euch, um dafür zu sorgen, dass euer kollektives Bewusstsein nicht auf dumme Gedanken kommt.«
»Was is denn ein kollektives Bewusstsein?«, fragte Robert.
»Das ist was, was Zwillinge angeblich haben, zumindest wenn man dem Volksmund Glauben schenkt. Habt ihr die Haustür genommen oder seid ihr durchs Fenster geklettert?«
»Fenster«, sagte Roland.
»Okay, dann klettert ihr da auch wieder rein. Wenn ihr Glück habt, merken eure Eltern gar nicht, dass ihr weg wart.«
»Werden Sie’s denen denn nich verraten?«, fragte Robert.
»Nicht, wenn ihr es nicht noch mal versucht«, sagte Tim. »Sonst sage ich denen nicht nur, was ihr getan habt, ich erzähle ihnen auch, wie frech ihr zu mir gewesen seid, als ich euch erwischt habe.«
»Waren wir doch gar nich!«, sagte Robert empört.
»Ich werde lügen«, sagte Tim. »Das kann ich ziemlich gut.«
Er folgte den beiden und sah zu, wie Robert Bilson eine Räuberleiter machte, um Roland in das offene Fenster zu hieven. Dann half Tim Robert auf dieselbe Weise hinein. Er wartete ab, ob irgendwo im Haus das Licht anging und darauf hinwies, dass die Möchtegernausreißer entdeckt worden waren. Als das nicht geschah, nahm er seinen Rundgang wieder auf.
Am Freitag- und Samstagabend waren mehr Leute unterwegs, zumindest bis Mitternacht oder ein Uhr morgens. Liebespaare vor allem. Anschließend gab es manchmal eine Invasion von Typen, die Sheriff John als Rennfahrer bezeichnete – junge Männer in aufgemotzten Pkws oder Pick-ups, die mit sechzig oder siebzig Stundenmeilen die leere Hauptstraße von DuPray entlangdonnerten. Sie lieferten sich Rennen und weckten die Leute mit dem nervigen Dröhnen ihrer Glasspack-Schalldämpfer auf. Manchmal schnappte ein Deputy oder ein Trooper von der State Police einen von den Typen und verpasste ihm einen Strafzettel (oder steckte ihn in eine Zelle, wenn er über der Promillegrenze lag), aber obwohl am Wochenende nachts vier Beamte im Dienst waren, kam es relativ selten zu Festnahmen. Meistens kamen die Rennfahrer ungeschoren davon.
Tim stattete Orphan Annie einen Besuch ab. Als er zu ihrem Zelt kam, saß sie davor und strickte Pantoffeln. Trotz ihrer Arthritis bewegten ihre Finger sich blitzschnell. Er fragte, ob sie sich zwanzig Dollar verdienen wolle. Ein bisschen Geld sei immer praktisch, sagte Annie, aber es hänge davon ab, worum es gehe. Als er es ihr erklärt hatte, kicherte sie.
»Klar, das mach ich gern, Mr. J. Aber bloß, wenn Sie ein paar Gläser Wickles dazugeben.«
Annie, die offenbar nicht auf halbe Sachen stand, nähte ihm ein Banner, das neun Meter breit und zwei Meter hoch war. Tim befestigte es an einer langen Stange, die er in der Werkstatt von Fromie’s Maschinenhandlung selbst aus Eisenrohren zusammengeschweißt hatte. Nachdem er Sheriff John sein Vorhaben erklärt und die Erlaubnis erhalten hatte, es zu versuchen, hängte er mit Unterstützung von Tag Faraday die Stange mit dem eingerollten Banner über der Kreuzung auf, wo zwei Straßen sich schräg von der Hauptstraße abspalteten. Das dazu nötige Kabel befestigten sie auf der einen Seite an der Blendfassade des Drugstores und auf der anderen an jener des aufgelassenen Kinos.
Ungefähr zu der Zeit, wenn die Kneipen am Freitag- und Samstagabend dichtmachten, riss Tim an einem Seil, worauf das Banner sich wie eine Jalousie entfaltete. Links und rechts hatte Annie darauf einen altmodischen Fotoapparat mit Blitz gemalt. Die Botschaft dazwischen lautete: LANGSAM, DU IDIOT! WIR FOTOGRAFIEREN DEIN NUMMERNSCHILD!
Das taten sie natürlich nicht (obgleich Tim sich die Autonummern notierte, wenn er genügend Zeit hatte, sie zu erkennen), aber Annies Banner zeigte tatsächlich Wirkung. Perfekt war es nicht, aber was im Leben war das schon?
Anfang Juli rief Sheriff John Tim in sein Büro. Tim fragte, ob er etwas falsch gemacht habe.
»Ganz im Gegenteil«, sagte der Sheriff. »Sie machen Ihre Sache gut. Das mit dem Banner ist mir anfangs verrückt vorgekommen, aber ich muss zugeben, dass ich unrecht hatte. Übrigens haben mich weder die Autorennen gestört noch die Leute, die sich beklagt haben, wir wären zu faul, die Chose zu beenden. Wohlgemerkt dieselben Leute, die Jahr für Jahr dagegen stimmen, dass unsere Gehälter erhöht werden. Was mich stört, ist die Schweinerei, die wir beseitigen müssen, wenn einer von diesen Rennfahrern sich um einen Baum oder einen Telefonmast wickelt. Durch so ’ne Dummheit zu sterben ist schlimm genug, aber wenn man nachher fürs restliche Leben gezeichnet ist… ich denke manchmal, so jemand ist noch schlimmer dran. Diesen Juni ist es allerdings ganz gut gelaufen. Besser als gut sogar. Vielleicht war es bloß eine Ausnahme von der Regel, aber ich glaube nicht. Ich glaube, es liegt an dem Banner. Sagen Sie Annie doch mal, dass sie damit womöglich ein paar Leuten das Leben gerettet hat. Und dass sie in einer von unseren Zellen schlafen kann, wenn das kalte Wetter kommt.«
»Das tue ich gern«, sagte Tim. »Wenn wir ein paar Gläser Wickles vorrätig haben, wird sie das Angebot bestimmt ausgiebig nutzen.«
Sheriff John lehnte sich zurück, wobei sein Stuhl so erbarmungsvoll ächzte wie eh und je. »Als ich gesagt hab, dass Sie für den Job als Nachtklopfer überqualifiziert sind, war mir nicht klar, was wir an Ihnen haben würden. Wenn Sie irgendwann nach New York weiterziehen, werden wir Sie vermissen.«
»Ach, ich hab keine Eile«, sagte Tim.
Das einzige Geschäft am Ort, das täglich vierundzwanzig Stunden geöffnet hatte, war Zoney’s Go-Mart draußen in der Nähe vom Lagerhauskomplex. Neben Bier, Limo und Chips wurde dort Benzin unter der Eigenmarke Go Juice verkauft. Von Mitternacht bis acht Uhr morgens saßen Absimil und Gutaale Dobira, zwei gut aussehende Brüder aus Somalia, abwechselnd an der Kasse. Als Tim in einer glutheißen Julinacht gerade am westlichen Ende der Hauptstraße seine Kreidezeichen machte, hörte er aus der Richtung, in der Zoney’s lag, einen Knall. Der war zwar nicht besonders laut, aber Tim wusste, wie sich ein Schuss anhörte. Es folgten ein Schrei, entweder vor Schmerzen oder Wut, und das Klirren von splitterndem Glas.
Tim rannte los. Die Kontrolluhr schlug ihm an den Oberschenkel, während er mit der Hand automatisch nach dem Griff einer Pistole tastete, die nicht mehr vorhanden war. An den Zapfsäulen stand ein Auto, und als er näher kam, stürzten zwei junge Männer aus dem Laden. Einer hatte etwas in der Hand, was wahrscheinlich Bargeld war. Tim sank auf ein Knie und beobachtete, wie die beiden in den Wagen sprangen und davonrasten. Von dem mit Öl und Fett befleckten Asphalt stiegen unter den Reifen blaue Rauchwölkchen auf.
Er zog sein Funkgerät vom Gürtel. »Zentrale, hier spricht Tim. Wer immer gerade Dienst tut, bitte melden!«
Es war Wendy Gullickson, die schläfrig und verärgert klang. »Was willst du, Tim?«
»Jemand hat Zoney’s überfallen. Hab einen Schuss gehört.«
Das weckte sie auf. »Du lieber Himmel, ein Raubüberfall. Ich bin gleich…«
»Nein, hör mir erst mal zu. Zwei Täter, männlich, weiß, knapp zwanzig oder etwas älter. Wagen Kompaktklasse. Eventuell ein Chevy Cruze, Farbe war in dem fahlen Licht nicht erkennbar. Neueres Modell, Nummer aus North Carolina, fängt mit WTB-9 an, die letzten drei Ziffern hab ich nicht erkannt. Gib das an die State Police und alle von uns raus, die auf Streife sind, bevor du irgendwas anderes tust!«
»Was…«
Er schaltete das Funkgerät aus, steckte es wieder an den Gürtel und rannte auf den Laden zu. Die Glasscheibe an der Theke war zersplittert, die Registrierkasse stand offen. Einer von den Dobira-Brüdern lag in einer immer größer werdenden Blutlache auf der Seite. Er rang nach Luft, jedes Einatmen endete mit einem Pfeifen. Tim kniete sich neben ihn. »Ich muss Sie auf den Rücken drehen, Mr. Dobira.«
»Bitte nicht… tut weh…«
Das bezweifelte Tim nicht, aber er musste sich die Wunde anschauen. Das Geschoss war oben an der rechten Seite des blauen Zoney-Kittels eingedrungen, der jetzt dunkelrot gefärbt war. Aus Dobiras Mund lief Blut auf seinen Kinnbart, und als er hustete, sprühten feine Tröpfchen auf Tims Gesicht und seine Brille.
Tim griff wieder nach seinem Funkgerät und stellte erleichtert fest, dass Wendy Gullickson ihren Posten nicht verlassen hatte. »Ich brauche einen Rettungswagen, Wendy. So schnell, wie’s der von Dunning hierher schaffen kann. Einer von den Dobira-Brüdern ist verwundet; sieht ganz so aus, wie wenn das Geschoss die Lunge gestreift hat.«
Wendy bestätigte die Meldung, dann setzte sie zu einer Frage an. Tim schnitt ihr wieder das Wort ab, ließ sein Funkgerät auf den Boden fallen und zog sein T-Shirt aus. Er presste es auf das Loch in der Brust des Opfers. »Können Sie das ein paar Sekunden auf die Wunde drücken, Mr. Dobira?«
»Krieg… kaum Luft.«
»Das wundert mich nicht. Drücken Sie es auf die Wunde. Das hilft.«
Dobira presste sich das zusammengeknüllte T-Shirt auf die Brust. Lange würde er dazu nicht in der Lage sein, und der Rettungswagen brauchte bestimmt mindestens zwanzig Minuten. Selbst das wäre ein Wunder.
In Tankstellenshops gab es massenhaft Snacks, aber nur wenig Erste-Hilfe-Material. Immerhin war Vaseline da. Tim griff sich eine Dose und vom nächsten Regal eine Packung Babywindeln. Letztere riss er auf, während er zu dem Mann auf dem Boden zurückrannte. Er entfernte das inzwischen mit Blut getränkte T-Shirt, zog vorsichtig den ebenso durchtränkten blauen Kittel hoch und machte sich daran, das Hemd aufzuknöpfen, das Dobira darunter trug.
»Nein, nein, nein«, stöhnte Dobira. »Tut weh, nicht anfassen, bitte!«
»Geht nicht anders.« Tim hörte ein Motorengeräusch. In den Glasscherben tanzte blaues Blinklicht. Er sah sich nicht um. »Durchhalten, Mr. Dobira!«
Mit gekrümmten Fingern holte er einen Klumpen Vaseline aus der Dose und drückte ihn in die Wunde. Erst schrie Dobira vor Schmerzen auf, dann sah er Tim mit aufgerissenen Augen an. »Krieg jetzt… ein bisschen… besser Luft.«
»Das ist nur eine provisorische Maßnahme, aber wenn Sie besser atmen können, ist Ihre Lunge wahrscheinlich nicht kollabiert.« Zumindest nicht vollständig, dachte Tim.
Sheriff John kam herein und ließ sich neben Tim auf ein Knie sinken. Über seiner Uniformhose trug er eine Pyjamajacke, groß wie ein Zelt. Seine Haare standen in allen Richtungen vom Kopf ab.
»Sie sind aber schnell hergekommen«, sagte Tim.
»Ich war schon wach. Konnte nicht einschlafen, deshalb hab ich mir gerade ein Sandwich gemacht, als Wendy angerufen hat. Sir, sind Sie Gutaale oder Absimil?«
»Absimil, Sir.« Der Mann auf dem Boden atmete immer noch pfeifend, aber seine Stimme hörte sich kräftiger an. Tim nahm eine Einmalwindel und presste sie auf die Wunde, ohne sie aufzufalten.
»Mann, tut das weh«, stöhnte Absimil.
»War das ein Durchschuss, oder steckt das Ding noch drin?«, fragte Sheriff John.
»Weiß nicht, und ich will ihn nicht wieder auf die Seite drehen, um das herauszufinden. Sein Zustand ist relativ stabil, also sollten wir einfach auf den Rettungswagen warten.«
Tims Funkgerät knisterte. Sheriff John nahm es behutsam aus den überall verstreuten Glasscherben. Es war Wendy. »Tim? Bill Wicklow hat diese Typen draußen auf der Deep Meadow Road entdeckt und die Verfolgung aufgenommen.«
»Wendy, hier spricht John. Sag Bill, er soll vorsichtig sein. Die sind bewaffnet.«
»Die sind erledigt, das sind sie.« So schläfrig Wendy vorher auch gewirkt hatte, jetzt war sie hellwach und hörte sich ausgesprochen zufrieden an. »Als sie abhauen wollten, haben sie ihren Wagen in den Graben gesetzt. Der eine hat sich den Arm gebrochen, den anderen hat Bill an den Kuhfänger von seinem Wagen gekettet. Die State Police ist schon unterwegs. Übrigens hatte Tim recht, es war ein Cruze. Wie geht’s Dobira?«
»Der erholt sich wieder«, sagte Sheriff John. Tim war sich da nicht ganz sicher, aber ihm war klar, dass diese Bemerkung nicht nur für Deputy Gullickson, sondern auch für den Verletzten gedacht war.
»Ich hab denen das Geld aus der Kasse gegeben«, krächzte Dobira. »Das hat man uns so beigebracht.« Dennoch hörte er sich beschämt an. Tief beschämt.
»Das war auch richtig so«, sagte Tim.
»Der mit der Waffe hat trotzdem auf mich geschossen. Dann hat der andere die Schublade aufgebrochen. Um die…« Er hustete wieder.
»Nicht weiterreden«, sagte Sheriff John.
»Um die Lotterielose zu klauen«, fuhr Absimil fort. »Die zum Rubbeln. Die müssen wir unbedingt zurückkriegen. Bis man sie verkauft hat, gehören sie…« Ein mattes Husten. »Dem Staat South Carolina.«
»Jetzt aber still, Mr. Dobira«, sagte Sheriff John. »Hören Sie auf, sich Sorgen um diese verdammten Rubbellose zu machen, und sparen Sie sich Ihre Kraft.«
Absimil Dobira schloss die Augen.
Am nächsten Tag verzehrte Tim unter dem Vordach des Güterbahnhofs gerade sein Mittagessen, als Sheriff John in seinem Privatwagen angefahren kam. Der Sheriff erklomm die Stufen und warf einen Blick auf die durchhängende Sitzfläche des zweiten Sessels, der zur Verfügung stand. »Meinen Sie, der hält mich aus?«
»Das kommt auf den Versuch an«, sagte Tim.
Sheriff John ließ sich vorsichtig nieder. »Das Krankenhaus meldet, dass Dobira tatsächlich wieder in Ordnung kommt. Sein Bruder ist bei ihm, und der sagt, dass er die beiden Dreckskerle schon gesehen hat. Mehrmals sogar.«
»Die haben die Lage ausbaldowert«, sagte Tim.
»Zweifellos. Ich hab Tag Faraday hingeschickt, damit er die Aussagen von den zwei Brüdern aufnimmt. Tag ist mein bester Mann, was ich Ihnen wahrscheinlich nicht erst sagen muss.«
»Gibson und Burkett sind auch nicht schlecht.«
Sheriff John seufzte. »Mag sein, aber keiner von denen hätte so schnell und so entschieden gehandelt, wie Sie das gestern Nacht getan haben. Und die arme Wendy hätte wahrscheinlich bloß dagestanden und gegafft, wenn sie nicht gleich in Ohnmacht gefallen wäre.«
»Als Disponentin ist sie gut geeignet«, sagte Tim. »Wie für den Job geschaffen. Meiner Meinung nach jedenfalls.«
»Mhm, mhm, und was Bürokram angeht, ist sie top – letztes Jahr hat sie unsere ganzen Akten neu geordnet und alles auf USB-Sticks übertragen–, aber im Einsatz ist sie praktisch nutzlos. Immerhin ist sie unheimlich gern im Team. Wie würde es Ihnen denn gefallen, im Team zu sein, Tim?«
»Ich dachte, ein weiterer Beamter wäre finanziell nicht drin. Hat man Ihnen denn unerwartet mehr Geld bewilligt?«
»Schön wär’s. Aber Bill Wicklow gibt am Jahresende seine Dienstmarke ab. Da dachte ich, ihr beide könntet eure Jobs tauschen. Er geht herum und klopft, Sie ziehen eine Uniform an und dürfen wieder eine Waffe tragen. Mit Bill hab ich schon gesprochen, und der hätte nichts dagegen, Nachtklopfer zu werden, zumindest vorläufig.«
»Kann ich mir das ein bisschen überlegen?«
»Aber klar doch.« Sheriff John erhob sich. »Bis zum Jahresende sind es noch fünf Monate. Wir würden uns freuen, Sie dabeizuhaben.«
»Ob Deputy Gullickson wohl auch so denkt?«
Sheriff John grinste. »Ist nicht so einfach, die für sich einzunehmen, aber heute Nacht haben Sie schon einen großen Schritt getan.«
»Ehrlich? Und wenn ich ihr vorschlagen würde, mit mir mal essen zu gehen, was würde sie dann wohl sagen?«
»Ich glaube, sie wäre bereit, solange Sie nicht die Absicht haben, sie ins Bev’s auszuführen. Ein gut aussehendes Mädel wie sie erwartet wenigstens das Roundup in Dunning. Oder diesen mexikanischen Schuppen drüben in Hardeeville.«
»Danke für den Tipp.«
»Gern geschehen. Und denken Sie gut über mein Angebot nach.«
»Das werde ich.«
Was er auch tat. Er war immer noch damit beschäftigt, als in einer heißen Spätsommernacht die Hölle losbrach.