Drei Wochen vergingen.
Luke aß. Er schlief, wachte auf, aß wieder. Bald kannte er die Speisekarte auswendig und brach mit den anderen Kindern in sarkastischen Applaus aus, wenn sich etwas darauf änderte. An manchen Tagen gab es Tests. An manchen Tagen gab es Spritzen. An manchen Tagen gab es beides, und an manchen Tagen weder das eine noch das andere. Von manchen Injektionen wurde ihm übel, von den meisten nicht. Seine Kehle verkrampfte sich nicht wieder, wofür er dankbar war. Er hing auf dem Spielplatz herum. Es sah fern und schloss dabei Freundschaft mit Oprah, Ellen, Dr. Phil und Judge Judy. Er sah Youtube-Videos von Katzen, die sich im Spiegel betrachteten, und von Hunden, die Frisbees fingen. Manchmal schaute er sich solche Sachen allein an, manchmal gemeinsam mit einigen von den anderen Kindern. Wenn Luke das Zimmer von Harry aufsuchte, waren fast immer die Zwillinge da. Harry stand nicht auf Zeichentrickfilme, er war ein Fan von Wrestling, Mixed Martial Arts und NASCAR-Massenkarambolagen. Für gewöhnlich begrüßte er Luke mit »Schau dir das an!«. Die Zwillinge wiederum waren versessen auf Ausmalbilder, weshalb die Pfleger ständig neue Malbücher anschleppten. Normalerweise hielten sich Gerda und Greta an die vorgezeichneten Linien, aber an einem Tag taten sie das nicht und lachten außerdem ständig, weshalb Luke folgerte, dass sie entweder betrunken oder high waren. Als er Harry danach fragte, sagte der, sie hätten das Zeug mal versuchen wollen. Er hatte den Anstand, dabei beschämt dreinzublicken, und als die beiden sich erbrachen (im Tandem, wie sie alles taten), hatte er den Anstand, noch beschämter dreinzublicken. Außerdem beseitigte er die Schweinerei. Eines Tages machte Helen dreimal hintereinander eine Rolle vorwärts auf dem Trampolin, lachte, verbeugte sich, brach dann in Tränen aus und weigerte sich, getröstet zu werden. Als Luke es versuchte, schlug sie mit ihren kleinen Fäusten auf ihn ein, bamm, bamm, bamm. Eine Weile schlug Luke alle im Schach, und als das langweilig wurde, suchte er nach Möglichkeiten zu verlieren, was ihm erstaunlich schwerfiel.
Selbst wenn er wach war, hatte er das Gefühl zu schlafen. Er spürte, wie sein IQ abnahm, das spürte er tatsächlich. Es war so, als würde der Wasserspiegel in einem Wasserspender sinken, weil jemand den Hahn aufgelassen hatte. Er zählte die Zeit dieses seltsamen Sommers mit dem Kalender seines Computers ab. Sonst verwendete er diesen – mit einer bedeutsamen Ausnahme – ausschließlich dazu, sich Videos auf YouTube anzuschauen und um Nachrichten mit George und Helen auszutauschen, wenn die in ihren Zimmern waren. Von sich aus begann er solche Unterhaltungen nie und hielt sie so kurz wie möglich.
Scheiße, was ist los mit dir?, schrieb Helen ihm einmal.
Nichts, schrieb er zurück.
Was meinst du, wieso wir immer noch im Vorderbau sind?, schrieb George. Nicht dass ich mich drüber beschweren würde.
Keine Ahnung, tippte Luke und loggte sich aus.
Er bekam heraus, dass es nicht schwer war, seinen Kummer vor den Pflegern, MTAs und Ärzten zu verbergen; die waren daran gewöhnt, mit deprimierten Kindern umzugehen. Aber selbst in seiner tiefen Traurigkeit dachte er manchmal an das helle Bild, das Avery ihm gezeigt hatte: ein Kanarienvogel, der aus seinem Käfig flog.
Gelegentlich und immer unerwartet drangen strahlende Erinnerungsfragmente in seinen kummervollen Wachschlaf: wie sein Vater ihn mit dem Gartenschlauch bespritzte; wie seinem Vater mit dem Rücken zum Basketballkorb ein Wurf gelang, worauf Luke sich auf ihn stürzte und beide lachend auf den Rasen fielen; wie seine Mutter an seinem zwölften Geburtstag einen riesigen, mit brennenden Kerzen bestückten Cupcake an den Tisch gebracht hatte; wie seine Mutter ihn umarmt und zu ihm gesagt hatte: Du wirst allmählich richtig groß; wie seine Eltern zum Klang von Rihannas »Pon de Replay« wie verrückt in der Küche herumgetanzt waren. Diese Erinnerungen waren einerseits wunderschön, andererseits brannten sie wie Brennnesseln.
Wenn er nicht an das ermordete Ehepaar aus Falcon Heights dachte – oder von ihm träumte–, dachte Luke an den Käfig, in dem er steckte, und an den freien Vogel, der er werden wollte. Nur in solchen Momenten war sein Denken in der Lage, seine frühere Schärfe wiederzugewinnen. Er bemerkte Dinge, die seine Annahme zu bestätigen schienen, dass das Institut so träge dahinglitt wie ein Raumschiff, dessen Motoren man abgeschaltet hatte, sobald die Fluchtgeschwindigkeit erreicht war. Ein Beispiel dafür waren die Überwachungskuppeln an der Decke der Flure. Ihr schwarzes Glas war meistens so verschmutzt, als wäre es lange nicht mehr gereinigt worden. Vor allem im verlassenen Westflügel der Wohnebene. Wahrscheinlich funktionierten die Kameras dort noch, lieferten aber ein bestenfalls verschwommenes Bild. Dennoch hatten Fred der Hausmeister und seine Kollegen Mort, Connie und Jawed offenbar keine Anweisungen erhalten, das Glas zu reinigen, und das bedeutete, dass der Typ, der auf seinem Monitor die Flure überwachen sollte, sich einen Dreck darum scherte, dass er kaum mehr etwas sah.
Luke ging mit gesenktem Kopf durch seine Tage und tat ohne Widerspruch, was man ihm sagte, aber wenn er nicht gerade erschöpft in seinem Zimmer lag, hatte er ausgesprochen große Ohren. Das meiste, was er hörte, war nutzlos, aber er nahm trotzdem alles in sich auf. Nahm es auf und prägte es sich ein. Klatsch und Tratsch zum Beispiel. Dass Dr. Evans immer hinter Dr. Richardson her war und versuchte, Gespräche mit ihr anzuzetteln, weil er zu pussygeil war (der Ausdruck stammte von der Pflegerin Norma), als dass er merkte, dass Felicia Richardson ihn nicht mal mit Handschuhen anfassen würde. Dass Joe und zwei andere Pfleger – Chad und Gary – die Wertmünzen, die sie nicht verteilten, manchmal dazu verwendeten, an dem Automaten im Aufenthaltsraum Weinfläschchen oder Alcopops zu ziehen. Ab und zu unterhielten sie sich über ihre Familien oder darüber, zu einem Bier ins Outlaw Country zu gehen, eine Kneipe, wo Bands auftraten. »Falls man so was als Musik bezeichnen will«, hörte Luke einmal eine Pflegerin namens Sherry zu Gladys (der mit dem falschen Lächeln) sagen. Die besagte Kneipe, die von den männlichen MTAs und Pflegern auch als »The Cunt« bezeichnet wurde, befand sich in einem Ort, der Dennison River Bend hieß. Wie weit der entfernt war, war Luke nicht ganz klar, aber es konnten nicht mehr als fünfundzwanzig oder höchstens dreißig Meilen sein, weil da offenbar alle hinfuhren, wenn sie freihatten.
Luke merkte sich außerdem alle Namen, die er hörte. Dr. Evans hieß James, Dr. Hendricks hieß Dan, der Nachname von Tony war Fizzale, der von Gladys war Hickson, der von Zeke war Ionidis. Wenn er jemals hier herauskam, wenn der Kanarienvogel je aus seinem Käfig flog, wollte er eine anständige Liste parat haben, um vor Gericht gegen diese Arschlöcher auszusagen. Wahrscheinlich war das nur eine zu schöne Fantasie, das war ihm klar, aber sie hielt ihn aufrecht.
Da er nun wie ein braver kleiner Junge durch die Tage marschierte, ließ man ihn auf Ebene C manchmal für kurze Zeiträume allein, immer mit der Ermahnung, an Ort und Stelle zu bleiben. Dann nickte er, wartete, bis sein Betreuer verschwunden war, und machte sich auf den Weg. Auf den unteren Ebenen gab es massenhaft Kameras, die allesamt hübsch sauber gehalten wurden, aber es wurde nie Alarm ausgelöst, und es stürmten auch keine Pfleger mit Schockstöcken den Flur entlang. Zweimal entdeckte man ihn bei seinen Wanderungen und führte ihn zurück, einmal mit einem scharfen Verweis und einmal mit einem flüchtigen Schlag in den Nacken.
Bei diesen Streifzügen versuchte er immer, so gelangweilt und ziellos zu wirken, als wollte er sich nur die Zeit vertreiben, bis er zum nächsten Test gebracht wurde oder in sein Zimmer zurückkehren durfte. Einmal entdeckte er einen echten Schatz. Im MRT-Raum, der an diesem Tag nicht benutzt wurde, sah er eine von den Karten, die man für den Aufzug brauchte, halb versteckt unter einem Computerbildschirm liegen. Er ging am Tisch vorbei, schnappte sich die Karte und schob sie in die Hosentasche, während er in die leere MRT-Röhre spähte. Als er den Raum verließ, erwartete er geradezu, dass die Karte »Dieb, Dieb!« rief (wie die goldene Harfe, die Hans dem Riesen auf der Bohnenranke stahl), aber nichts geschah, weder in diesem Moment noch später. Wurde der Verbleib von solchen Karten nicht kontrolliert? Offenbar nicht. Vielleicht war die Karte ja auch abgelaufen und so nutzlos wie eine Schlüsselkarte im Hotel, wenn der Gast, für den sie codiert worden war, ausgecheckt hatte.
Doch als Luke die Karte am nächsten Tag im Aufzug ausprobierte, stellte er erfreut fest, dass sie funktionierte. Als Dr. Richardson ihn einen weiteren Tag später dabei erwischte, wie er auf Ebene D in den Raum spähte, in dem der Wassertank stand, erwartete er eine Bestrafung – etwa einen Stromstoß mit dem Schockstock, den sie in einem Holster unter ihrem weißen Kittel trug, oder eine Ohrfeige von Tony oder Zeke. Stattdessen steckte sie ihm doch tatsächlich eine Münze zu, wofür er ihr dankte.
»Da war ich noch nicht drin«, sagte Luke und zeigte auf den Tank. »Ist das schlimm?«
»Nein, es macht Spaß«, sagte sie, worauf Luke sie breit angrinste, als würde er ihren Schwachsinn wirklich glauben. »Sag mal, was hast du hier unten eigentlich zu suchen?«
»Ich bin mit einem von den Pflegern mitgefahren. Wie der heißt, weiß ich nicht. Er hatte wohl sein Namensschild vergessen.«
»Das ist gut«, sagte sie. »Wenn du seinen Namen wüsstest, müsste ich ihn nämlich melden, und er würde Probleme kriegen. Und dann? Papierkram, Papierkram, Papierkram.« Sie verdrehte die Augen, und Luke sah sie mit einem Ausdruck an, der besagte: Da haben Sie mein volles Mitgefühl. Sie brachte ihn zum Aufzug zurück und fragte ihn, wo er sich momentan aufhalten solle, und er sagte, auf Ebene B. Während sie mit ihm hinauffuhr, erkundigte sie sich, ob er noch Schmerzen habe. Nein, die seien völlig weg, sagte er.
Ein andermal fuhr er mit der Karte auf Ebene E, wo es eine Menge mechanisches Zeug gab, aber als er versuchte, noch tiefer hinunterzufahren – theoretisch war das möglich, er hatte Gespräche belauscht, in denen von den Ebenen F und G die Rede war–, teilte ihm die weibliche Aufzugstimme freundlich mit, dass ihm der Zugang verweigert wurde. Was okay war; schließlich ging Probieren über Studieren.
Im Vorderbau wurden keine schriftlichen Tests durchgeführt, aber viele EEG-Untersuchungen. Manchmal nahm Dr. Evans die Kinder gruppenweise dran, aber nicht immer. Einmal, als Luke allein untersucht wurde, verzog Dr. Evans plötzlich das Gesicht, presste sich die Hand auf den Bauch und sagte, er werde gleich wiederkommen. Luke solle bloß nichts anfassen. Damit hastete er hinaus. Wahrscheinlich um ein Ei zu legen.
Luke inspizierte die Computermonitore, fuhr mit den Fingern über mehrere Tastaturen und erwog, an denen ein bisschen herumzupfuschen, gelangte jedoch zu der Einschätzung, dass das eine schlechte Idee war, und ging stattdessen zur Tür. Er blickte gerade in dem Moment in den Flur, wo sich die Aufzugtür öffnete und der große Typ mit Glatze heraustrat. Er trug denselben teuren Anzug wie beim ersten Mal. Vielleicht war es auch ein anderer, womöglich besaß Stackhouse einen ganzen Kleiderschrank voll teurer brauner Anzüge. In den Händen hatte er einen kleinen Stapel Papiere, die er durchblätterte, während er den Flur entlangging. Luke zog sich schnell zurück. An Raum C4, in dem die EEG- und EKG-Geräte standen, grenzte eine kleine Gerätekammer mit Regalen für verschiedenes Zubehör. Luke schlüpfte hinein, ohne zu wissen, ob die Idee, sich zu verstecken, eine simple Ahnung, ein Resultat seiner neuen TP-Gehirnwellen oder gute, alte Paranoia war. Jedenfalls tat er es gerade noch rechtzeitig, denn Stackhouse steckte den Kopf in den Raum, blickte sich um und ging dann davon. Luke wartete ab, bis er endgültig verschwunden war, bevor er sich auf seinen Stuhl neben dem EEG-Gerät setzte.
Zwei oder drei Minuten später eilte Evans mit flatterndem weißem Kittel herein. Seine Wangen waren gerötet, die Augen weit geöffnet. Er packte Luke am T-Shirt. »Was hat Stackhouse gesagt, als er dich hier alleine gesehen hat? Sag’s mir!«
»Der hat gar nichts gesagt, weil er mich nicht gesehen hat. Ich hab gerade aus der Tür geschaut, wo Sie wohl bleiben, und als Mr. Stackhouse aus dem Aufzug gestiegen ist, bin ich da reingegangen.« Er deutete auf die Gerätekammer, dann blickte er mit großen, unschuldigen Augen zu dem Arzt hinauf. »Schließlich wollte ich nicht, dass Sie Ärger kriegen.«
»Braver Junge!«, sagte Evans und schlug ihm auf den Rücken. »Ich hatte ein dringendes Bedürfnis und war mir sicher, dass ich dir vertrauen kann. Jetzt machen wir aber den Test, ja? Dann kannst du raufgehen und mit deinen Freunden spielen.«
Bevor Evans eine Pflegerin namens Yolanda rief (Familienname: Freeman), die Luke auf Ebene A zurückbringen sollte, gab er ihm ein ganzes Dutzend Wertmünzen und einen weiteren herzhaften Klaps auf den Rücken. »Das bleibt unser kleines Geheimnis, ja?«
»Klar doch«, sagte Luke.
Der meint doch tatsächlich, dass ich ihn mag, dachte Luke staunend. Wie abgefahren war das denn? Er konnte kaum erwarten, es George zu erzählen.
Nur tat er das nie. Beim Abendessen saßen zwei neue Kinder am Tisch, und ein altes fehlte. Man hatte George abgeholt, womöglich gerade da, wo Luke sich in der Gerätekammer vor Stackhouse versteckt hatte.
»Er ist bei den anderen«, flüsterte Avery ihm später am Abend zu, als sie gemeinsam im Bett lagen. »Sha sagt, dass er weint, weil er Angst hat. Sie hat ihm gesagt, das ist normal. Dort hätten alle Angst.«
Einige Male blieb Luke bei seinen Streifzügen vor dem Pausenraum auf Ebene B stehen, wo man interessanten wie erhellenden Unterhaltungen lauschen konnte. Der Raum wurde nicht nur vom Personal verwendet, sondern auch von Gruppen, die von außen kamen und manchmal Reisetaschen ohne Gepäckanhänger einer Fluglinie am Handgriff dabeihatten. Wenn diese Leute Luke sahen – der sich etwa gerade an dem nahen Wasserspender bediente oder so tat, als würde er ein Plakat mit Hygieneinformationen studieren–, blickten sie im Allgemeinen durch ihn hindurch, als wäre er ein Möbelstück. Sie hatten einen harten Ausdruck im Gesicht, und Luke war sich zunehmend sicher, dass es sich um die Sammler und Jäger des Instituts handelte. Das lag deshalb nahe, weil sich im Westflügel jetzt mehr Kinder befanden. Einmal hörte Luke ein Gespräch zwischen Joe und Hadad mit; die beiden waren gute Kumpel. Im Institut laufe es so wie in dem Badeort auf Long Island, wo er aufgewachsen sei, sagte Joe: »Manchmal ist Ebbe, und manchmal ist Flut.«
»Inzwischen ist meistens Ebbe«, erwiderte Hadad, was stimmen mochte, aber während der Juli seinem Ende entgegenstrebte, sah es eher nach Flut aus.
Manche von außen kommende Gruppen waren ein Trio, manche ein Quartett. Sie machten einen militärischen Eindruck, wohl weil die Männer alle ziemlich kurz geschoren waren und die Frauen ihre Haare eng zusammengezogen und am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden hatten. Er hörte, wie ein Pfleger eine der Gruppen als Emerald bezeichnete, ein MTA nannte eine andere Ruby Red. Letztere war ein aus zwei Frauen und einem Mann bestehendes Trio. Luke wusste, dass es sich bei Ruby Red um das Team handelte, das nach Minneapolis gekommen war, um seine Eltern zu ermorden und ihn zu entführen. Er versuchte, die Namen zu erfahren, wobei er mit seinen Gedanken ebenso lauschte wie mit den Ohren, war jedoch nur in einem Fall erfolgreich – die Frau, die ihm in seiner letzten Nacht zu Hause etwas ins Gesicht gesprüht hatte, hieß Michelle. Als sie ihn im Flur über den Wasserspender gebeugt dastehen sah, huschte ihr Blick an ihm vorbei… um dann für einen Moment zurückzukehren.
Michelle.
Ein weiterer Name, den er sich einprägen konnte.
Luke brauchte nicht lange, um seine Theorie zu bestätigen, dass diese Gruppen den Auftrag hatten, frische TPs und TKs herbeizuschaffen. Er stand vor dem Pausenraum und studierte zum x-ten Mal das Hygieneplakat, als einer der Männer von Emerald sagte, sie müssten gleich wieder losziehen, um in Michigan schnell jemand abzuholen. Am nächsten Tag gesellte sich eine verwirrte Vierzehnjährige namens Frieda Brown zu der wachsenden Schar im Westflügel.
»Ich gehöre hier nicht hin«, sagte sie zu Luke. »Da hat jemand einen Fehler gemacht.«
»Schön wär’s«, erwiderte Luke und erklärte ihr dann, wie man an Wertmünzen gelangte. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn verstand, aber mit der Zeit würde sie schon kapieren, wie es hier lief. Das tat jeder.
Niemand schien etwas dagegen zu haben, dass Avery beinahe jede Nacht bei Luke im Zimmer schlief. Er war der Postbote, der Luke Briefe von Kalisha aus dem Hinterbau brachte, nur dass diese Briefe per Telepathie kamen anstatt mit der regulären Post. Dass Lukes Eltern ermordet worden waren, war noch zu frisch und zu schmerzlich, als dass die Briefe ihn aus seinem halb träumenden Zustand geweckt hätten, aber die Nachrichten, die sie enthielten, beunruhigten ihn trotzdem. Erhellend waren sie außerdem, wenngleich er auf die Sorte Erhellung gern verzichtet hätte. Im Vorderbau wurden die Kinder getestet und bei Fehlverhalten bestraft; im Hinterbau wurden sie an die Arbeit geschickt. Benutzt. Und, wie es schien, nach und nach zerstört.
Die Filme, die man dort zu sehen bekam, verursachten Kopfschmerzen, die zunehmend länger andauerten und sich verschlimmerten. Als George angekommen war, war es ihm gut gegangen, nur Angst hatte er laut Kalisha gehabt, doch nachdem er vier oder fünf Tage den farbigen Punkten, den Filmen und den schmerzhaften Injektionen ausgesetzt gewesen war, kamen die Kopfschmerzen dazu.
Die Filme wurden in einem kleinen Vorführraum mit bequemen Plüschsesseln gezeigt. Am Anfang kamen alte Zeichentrickfilme, darunter welche mit dem Road Runner, mit Bugs Bunny, mit Goofy und Micky. Nach dieser Aufwärmphase begann die eigentliche Show. Wie Kalisha berichtete, waren die Filme ziemlich kurz, höchstens eine halbe Stunde lang, aber das war für sie schwer zu beurteilen, weil sie während der Vorführung wie benebelt war und anschließend Kopfschmerzen hatte. Das ging allen so.
Als Kalisha die ersten beiden Male im Vorführraum gewesen war, hatte man den Kindern vom Hinterbau ein Double Feature gezeigt. Der Star des ersten Films war ein Mann mit schütterem, rotem Haar. Er trug einen schwarzen Anzug und fuhr einen glänzenden schwarzen Wagen. Avery versuchte, Luke den Wagen zu zeigen, aber Luke sah nur ein verschwommenes Bild, vielleicht weil das alles war, was Kalisha senden konnte. Dennoch tippte Luke auf eine Limousine, zum Beispiel ein Town Car, weil Avery sagte, die Fahrgäste würden immer hinten sitzen. Außerdem öffnete der rothaarige Mann ihnen die Tür, wenn sie ein- und ausstiegen. Meistens waren es dieselben Personen, hauptsächlich alte weiße Männer, aber einmal war es ein jüngerer Typ mit einer Narbe auf der Wange.
»Sha sagt, er hat Stammkunden«, flüsterte Avery, während er bei Luke im Bett lag. »Sie sagt, es muss in Washington sein, weil er am Kapitol und am Weißen Haus vorbeifährt, und manchmal sieht man diese große Nadel aus Stein.«
»Das Washington Monument.«
»Ja, genau.«
Gegen Ende des Films tauschte der Mann mit dem roten Haar seinen schwarzen Anzug gegen normale Kleidung. Man sah, wie er auf einem Pferd ritt, dann ein kleines Mädchen auf einer Schaukel anschubste und mit demselben kleinen Mädchen schließlich auf einer Parkbank Eiscreme schleckte. Danach erschien Dr. Hendricks auf der Leinwand, eine nicht angezündete Wunderkerze in der erhobenen Hand.
In dem zweiten Film ging es um einen Mann, der etwas trug, was Kalisha als arabische Kopfbedeckung bezeichnete, womit wahrscheinlich eine Kufija gemeint war. Er ging erst eine Straße entlang, dann saß er in einem Straßencafé, wo er aus einem Glas Tee oder Kaffee trank, dann hielt er eine Rede, dann schwang er einen kleinen Jungen an den Händen durch die Luft. Einmal war er im Fernsehen. Wieder endete der Film damit, dass Dr. Hendricks die nicht angezündete Wunderkerze hochhielt.
Am folgenden Morgen sahen Sha und die anderen einen Zeichentrickfilm mit Sylvester und Tweety, gefolgt von einem fünfzehn bis zwanzig Minuten langen Film mit dem rothaarigen Chauffeur. Dann Mittagessen in der Cafeteria des Hinterbaus, wo es umsonst Zigaretten gab. Am Nachmittag wurden erst Schweinchen Dick und dann der Araber vorgeführt. Beide Filme endeten mit Dr. Hendricks und der Wunderkerze. Am Abend erhielten alle schmerzhafte Injektionen und eine neue Dosis der blitzenden Lichter. Dann brachte man sie noch einmal in den Vorführraum, wo sie sich zwanzig Minuten lang Filme mit Autounfällen ansehen mussten. Nach jeder Karambolage kam Dr. Hendricks mit seiner Wunderkerze auf die Leinwand.
Da Luke zwar voller Trauer, aber nicht dämlich war, begann er zu begreifen. Es war verrückt, aber nicht verrückter, als gelegentlich in der Lage zu sein, anderen Leuten in den Kopf zu blicken. Außerdem erklärte es so allerhand.
»Kalisha sagt, sie hat wohl einen Blackout gehabt und was geträumt, während die Autounfälle gelaufen sind«, flüsterte Avery Luke ins Ohr. »Bloß ist sie sich nicht sicher, ob es wirklich ein Traum war. Sie sagt, die Kids – sie, Nicky, Iris, Donna, Len und ein paar andere – haben mitten in so farbigen Punkten gestanden. Sie haben die Arme umeinandergelegt und die Köpfe zusammengesteckt. Dr. Hendricks wär auch da gewesen, und diesmal hat er die Wunderkerze angezündet, was irgendwie unheimlich war. Aber solange die Kinder zusammengeblieben sind und sich umarmt haben, hat ihnen der Kopf nicht mehr wehgetan. Vielleicht war es doch ein Traum, sagt sie, weil sie in ihrem Zimmer aufgewacht ist. Die Zimmer im Hinterbau sind nicht wie unsere. Dort wird man nachts eingesperrt.« Avery machte eine Pause. »Heute Nacht will ich nicht mehr drüber reden, Lukey.«
»Schon okay. Schlaf jetzt.«
Das tat Avery, aber Luke lag noch lange wach.
Am nächsten Tag nutzte er seinen Laptop endlich für etwas anderes als dazu, das Datum zu checken, Nachrichten mit Helen auszutauschen und sich BoJack Horseman anzuschauen. Er suchte Mr. Griffin auf und von dem aus die New York Times, die ihm mitteilte, er könne kostenlos zehn Artikel lesen, bevor er auf eine Paywall stoßen werde. Luke wusste zwar nicht genau, wonach er suchte, war sich jedoch sicher, dass er es sofort erkennen würde, wenn er es fand. Was auch zutraf. Eine Überschrift auf der Titelseite vom 15. Juli lautete: Kongressabgeordneter Berkowitz erliegt seinen Verletzungen.
Anstatt den Artikel zu lesen, klickte Luke auf den Tag davor. Hier hieß es: Präsidentschaftskandidat Mark Berkowitz bei Autounfall lebensgefährlich verletzt. Man sah ein Foto. Berkowitz, ein Kongressabgeordneter aus Ohio, hatte schwarzes Haar und auf der Wange eine Narbe, die von einer in Afghanistan erlittenen Verwundung stammte. Das Lincoln Town Car, in dem Berkowitz zu einem Treffen mit Politikern aus Polen und Serbien unterwegs war, war ins Schleudern geraten und auf den Betonpfeiler einer Brücke geprallt. Der Fahrer war sofort tot gewesen, eine nicht namentlich genannte Quelle aus dem Med-Star-Hospital bezeichnete die Verletzungen von Berkowitz als »extrem schwer«. Ob der Fahrer rote Haare hatte, stand nicht in dem Artikel, aber Luke wusste auch so Bescheid, und er war sich ziemlich sicher, dass bald jemand in einem arabischen Land sterben würde, falls das nicht schon geschehen war. Vielleicht würde der Betreffende auch eine wichtige Person ermorden.
Lukes wachsende Gewissheit, dass er und die anderen Kinder für ihren Einsatz als mentale Drohnen vorbereitet wurden – ja, selbst der harmlose Avery Dixon, der keiner Fliege etwas zuleide tun würde–, weckte ihn langsam auf, aber es bedurfte der Horrorshow mit Harry Cross, um ihn vollends aus seinem kummervollem Halbschlaf zu reißen.
Am folgenden Abend saßen gut fünfzehn Kinder beim Abendessen. Manche unterhielten sich und lachten, manche von den Neuen weinten oder riefen irgendwelches Zeug. In gewisser Weise, dachte Luke, ging es im Institut zu wie in einem Irrenhaus früherer Zeiten, wo die Verrückten einfach verwahrt wurden, ohne jemals geheilt zu werden.
Zuerst war Harry nicht da; am Mittagessen hatte er auch nicht teilgenommen. Das Riesenbaby hinterließ zwar meist nur einen mickrigen Echoimpuls auf Lukes Radarschirm, aber beim Essen war er kaum zu übersehen, weil Gerda und Greta in ihren genau gleichen Klamotten immer neben ihm saßen. Sie beobachteten ihn mit leuchtenden Augen, während er über die NASCAR, über Wrestling, über seine Lieblingssendungen und über das Leben »drunten in Selma« plapperte. Wenn jemand ihn aufforderte, mal die Luft anzuhalten, warfen die Zwillinge dem Störenfried tödliche Blicke zu.
An diesem Abend saßen die beiden Mädchen allein beim Essen und waren sichtlich unglücklich darüber. Allerdings hatten sie Harry den Platz zwischen sich reserviert, und als er langsam hereingetappt kam, mit wabbelndem Bauch und einem gewaltigen Sonnenbrand, liefen sie hallo rufend auf ihn zu. Ausnahmsweise schien er sie kaum zu bemerken. In seinen Augen lag ein leerer Ausdruck, und sie waren nicht so koordiniert, wie es sich gehört hätte. An seinem Kinn glänzte Speichel, auf seiner Hose war am Schritt ein feuchter Fleck. Alle Gespräche verstummten. Die Neuankömmlinge wirkten verwirrt und erschrocken; wer schon lange genug da war, dass er mit allerhand Tests traktiert worden war, sah sein Gegenüber besorgt an.
Luke und Helen tauschten einen Blick. »Der wird schon wieder«, sagte sie. »Für manche ist es eben schlimmer als für…«
Avery, der neben ihr saß, ergriff mit beiden Händen ihre linke Hand. »Der wird nicht wieder«, sagte er mit gespenstischer Ruhe. »Nie wieder.«
Harry stieß einen Schrei aus, sank auf die Knie und prallte dann mit dem Gesicht auf dem Boden auf. Aus Nase und Lippen floss Blut aufs Linoleum. Er begann zu zittern, dann bekam er Zuckungen. Seine Beine hoben und spreizten sich, die Arme flatterten. Aus seinem Mund kam ein knurrendes Geräusch, nicht wie das eines Tieres, sondern wie ein Motor, der in einem niedrigen Gang zu hoch gejagt wurde. Immer noch knurrend, wälzte er sich auf den Rücken. Zwischen den zitternden Lippen trat blutiger Schaum hervor; der Mund klappte auf und zu.
Die Zwillinge begannen zu kreischen. Während Gladys aus dem Flur und Norma vom Büfett herbeigerannt kamen, kniete eines der kleinen Mädchen sich neben Harry hin und wollte ihn umarmen. Seine große, rechte Hand erhob sich, holte Schwung und kam zurückgesaust. Er traf die Kleine mit so furchtbarer Wucht seitlich am Gesicht, dass sie durch die Gegend flog. Mit einem dumpfen Schlag prallte sie mit dem Kopf an die Wand. Schreiend rannte ihre Schwester zu ihr.
An den Esstischen brach Tumult aus. Luke und Helen blieben sitzen, Helen hatte Avery den Arm um die Schultern gelegt (offenbar wollte sie damit mehr sich selbst trösten als ihn, denn er wirkte ungerührt), aber viele von den anderen Kindern versammelten sich um den auf dem Boden liegenden Jungen. »Verzieht euch, ihr Idioten!«, schnauzte Gladys, während sie einige wegstieß. Keine Spur mehr von ihrem breiten falschen Lächeln.
Nun tauchte weiteres Institutspersonal auf: Joe und Hadad, Chad, Carlos, mehrere Pfleger, die Luke nicht kannte, darunter einer in Straßenkleidung, der wohl gerade erst zum Dienst gekommen war. Der Körper von Harry hob und senkte sich mit einer zuckenden Bewegung, als wäre der Boden elektrisch geladen. Chad und Carlos pressten seine Arme auf den Boden, und Hadad versetzte ihm einen Stromstoß an den Solarplexus. Weil das die Krämpfe nicht beendete, richtete Joe seinen Schockstock auf den Hals. Das Knistern des Geräts war selbst in dem lauten Stimmengewirr zu hören. Harry erschlaffte. Unter den halb geschlossenen Lidern wölbten sich seine Augen vor, aus den Mundwinkeln quoll Schaum. Die Zungenspitze schob sich aus dem Mund.
»Dem ist nichts passiert, die Lage ist unter Kontrolle!«, brüllte Hadad. »Zurück an eure Tische! Der erholt sich schon wieder!«
Die Kinder wichen zurück, beobachteten die Szene jedoch weiter. Sie waren still geworden. Luke beugte sich zu Helen hinüber. »Ich glaube nicht, dass er noch atmet«, sagte er mit leiser Stimme.
»Vielleicht tut er’s, vielleicht auch nicht«, sagte Helen. »Aber schau mal da rüber.« Sie deutete auf den Zwilling, der an die Wand geschleudert worden war. Luke sah, dass die Augen des kleinen Mädchens glasig waren. Der Kopf hing ganz schief auf dem Hals. An einer Wange rann Blut herab und tropfte auf die Schulter.
»Wach auf!«, schrie ihre Schwester und schüttelte sie. Messer, Gabeln und Löffel erhoben sich von den Tischen und sausten durch die Luft, sodass sich die Kinder und Pfleger ducken mussten. »Wach auf, Harry wollte dir nicht wehtun, wach auf, WACH AUF!«
»Welche ist welche?«, fragte Luke Helen. Die Antwort gab Avery mit derselben gespenstisch ruhigen Stimme wie zuvor.
»Die da schreit und das Besteck durch die Gegend schmeißt, ist Gerda. Die Tote ist Greta.«
»Die ist doch nicht tot«, sagte Helen entsetzt. »Das kann sie doch nicht sein!«
Die Messer, Gabeln und Löffel stiegen bis an die Decke (das würde ich nie schaffen, dachte Luke) und fielen dann klappernd herab.
»Doch, ist sie«, sagte Avery nüchtern. »Harry auch.« Er stand auf, in einer Hand die von Helen und in der anderen die von Luke. »Ich hab Harry gemocht, obwohl er mich umgestoßen hat. Jetzt bin ich nicht mehr hungrig.« Er blickte die beiden an. »Ihr auch nicht.«
Die drei gingen unbemerkt davon, wobei sie einen großen Bogen um das schreiende Mädchen und seine tote Schwester machten. Vom Aufzug her kam Dr. Evans durch den Flur geeilt. Er sah gestresst und verärgert aus. Wahrscheinlich hatte er gerade beim Abendessen gesessen.
»Alles in Ordnung, Leute!«, hörten sie Carlos hinter sich rufen. »Setzt euch und esst zu Ende, es ist alles in bester Ordnung!«
»Die Blitze haben ihn umgebracht«, sagte Avery. »Dr. Hendricks und Dr. Evans hätten ihm die nie zeigen sollen, obwohl er ein Pink war. Vielleicht war nämlich sein BDNF trotzdem zu hoch. Oder es lag an was anderem, zum Beispiel an einer Allergie.«
»Was ist denn ein BDNF?«, fragte Helen.
»Keine Ahnung. Ich weiß bloß, dass man die starken Spritzen erst im Hinterbau kriegen sollte, wenn man einen total hohen hat.«
»Weißt du, was das ist?«, fragte Helen an Luke gewandt.
Luke schüttelte den Kopf. Kalisha hatte die Abkürzung einmal erwähnt, und auch auf seinen Streifzügen hatte er manchmal jemand davon sprechen hören. Er hatte sogar überlegt, ob er danach googeln sollte, jedoch Angst gehabt, damit einen Alarm auszulösen.
»Du hast die also auch noch nicht gekriegt, stimmt’s?«, sagte Luke zu Avery. »Die starken Spritzen, meine ich. Und die speziellen Tests.«
»Nein. Aber ich werde sie kriegen. Im Hinterbau.« Avery sah Luke ernst an. »Dr. Evans nennt die Blitze Stass-Lichter. Vielleicht kriegt er Probleme wegen dem, was er mit Harry gemacht hat. Hoffentlich kriegt er welche. Ich hab unheimliche Angst vor den Lichtern. Und vor den starken Spritzen. Vor den brutalen.«
»Ich auch«, sagte Helen. »Die Spritzen, die sie mir schon verabreicht haben, sind schlimm genug.«
Luke überlegte, ob er Helen und Avery von der Injektion erzählen sollte, bei der sich seine Kehle verkrampft hatte, und von den beiden Spritzen, nach denen er sich erbrochen hatte (mit den verdammten Blitzen vor den Augen), aber verglichen mit dem, was gerade mit Harry geschehen war, kam ihm das ziemlich belanglos vor.
»Macht Platz, Leute«, sagte Joe.
Sie drückten sich in der Nähe des Posters mit der Aufschrift ENTSCHIEDEN GLÜCKLICH! an die Wand, damit Joe und Hadad mit der Leiche von Harry Cross vorbeigehen konnten. Dahinter kam Carlos, der das kleine Mädchen mit dem gebrochenen Hals trug. Ihr Kopf baumelte über seinem Arm hin und her, die Haare hingen herab. Die drei blickten der Prozession hinterher, bis sie im Aufzug verschwand. Luke fragte sich unwillkürlich, ob sich die Leichenkammer wohl auf Ebene E oder auf Ebene F befand.
»Sie sah aus wie eine Puppe«, hörte Luke sich sagen. »Wie ihre eigene Puppe.«
Avery, bei dessen ebenso gespenstischer wie rätselhafter Ruhe es sich offenbar um ein Schocksymptom gehandelt hatte, begann zu weinen.
»Ich gehe in mein Zimmer«, sagte Helen. Sie klopfte Luke auf die Schulter und gab Avery einen Kuss auf die Wange. »Morgen sehen wir uns wieder.«
Nur kam es nicht dazu. In der Nacht kamen die Männer in der roten Uniform, und sie sahen Helen nicht wieder.
Avery pinkelte, putzte sich die Zähne, zog den Schlafanzug an, den er inzwischen immer in Lukes Zimmer liegen ließ, und stieg ins Bett. Luke erledigte die eigene Badezimmerprozedur, legte sich zu dem Avester und schaltete das Licht aus. Dann legte er die Stirn an die von Avery und flüsterte: »Ich muss hier raus.«
Wie?
Das Wort wurde nicht ausgesprochen, sondern leuchtete kurz in Lukes Kopf auf, um dann zu verblassen. Inzwischen gelang es ihm ein bisschen besser, solche Gedanken einzufangen, aber nur wenn Avery ganz in der Nähe war, und manchmal schaffte er es überhaupt nicht. Die farbigen Punkte – die man laut Avery als Stass-Lichter bezeichnete – hatten ihm gewisse TP-Fähigkeiten verliehen, aber nicht besonders viele. Genau wie seine TK nie besonders stark gewesen war. Auch wenn er einen noch so fantastischen IQ hatte, waren seine paranormalen Fähigkeiten ziemlich beschränkt. Wenn ich bloß mehr davon hätte, dachte er, worauf ihm einer von den alten Sprüchen seines Großvaters einfiel: Wenn Schweine fliegen könnten…
»Das weiß ich nicht«, flüsterte Luke. Er wusste nur, dass er sich schon sehr lange an diesem Ort befand – länger als Helen, und die war fort. Bald würden sie ihn holen kommen.
Mitten in der Nacht wurde Luke von Avery aus einem Traum über Greta Wilcox gerüttelt – die hatte mit total verdrehtem Kopf an der Wand gelegen. Es war ein Traum, den er nicht ungern hinter sich ließ. Der Avester drückte sich so eng an ihn, dass Luke seine Knie und seine spitzen Ellbogen spürte, und er zitterte wie Espenlaub. Luke schaltete die Nachttischlampe an. In Averys Augen standen Tränen.
»Was ist denn?«, fragte Luke. »Böser Traum?«
»Nein. Die haben mich aufgeweckt.«
»Wer?« Luke blickte sich um, aber es war niemand im Zimmer, und die Tür war zu.
»Sha. Und Iris.«
»Du kannst also auch Iris hören, nicht nur Sha?« Das war etwas Neues.
»Vorher konnte ich das nicht, aber… sie haben die Filme gesehen, dann die Blitze, dann die Wunderkerze, und dann haben sie sich alle umarmt und die Köpfe zusammengesteckt, das hab ich dir doch erzählt…«
»Hast du.«
»Normalerweise ist es nachher besser, die Kopfschmerzen gehen eine Zeit lang weg, aber diesmal sind die von Iris wiedergekommen, sobald die Umarmung vorbei war, und es war so schlimm, dass sie angefangen hat zu schreien, und jetzt hört sie einfach nicht mehr auf!« Averys Stimme wurde lauter als gewöhnlich und zitterte auf eine Weise, bei der es Luke eiskalt wurde. »Mein Kopf, mein Kopf, der platzt gleich, ach, mein armer Kopf, mach, dass es aufhört, bitte mach, dass es…«
Luke schüttelte Avery heftig. »Sei leise! Wahrscheinlich belauschen sie uns.«
Avery holte ein paarmal tief Luft. »Wenn du mich in deinem Kopf hören könntest wie Sha, dann könnte ich dir alles erzählen. Es laut zu sagen ist total schwer für mich.«
»Versuch’s.«
»Sha und Nicky haben versucht, sie zu beruhigen, haben’s aber nicht geschafft. Sie hat Sha gekratzt und mit der Faust nach Nicky geschlagen. Dann ist Dr. Hendricks gekommen – er war noch in seinem Schlafanzug – und hat die roten Männer gerufen. Die sollten Iris wegschaffen.«
»In den hinteren Teil vom Hinterbau?«
»Glaub ja. Aber dann ist es ihr langsam besser gegangen.«
»Vielleicht haben sie ihr ein Schmerzmittel gegeben. Oder ein Beruhigungsmittel.«
»Das glaub ich nicht. Ich glaub, es ist ihr einfach so besser gegangen. Ob Kalisha ihr wohl geholfen hat?«
»Mich brauchst du da nicht fragen«, sagte Luke. »Woher soll ich das wissen?«
Avery hörte gar nicht zu. »Vielleicht gibt’s eine Chance zu helfen. Eine Chance, wie sie…« Er verstummte, und Luke dachte schon, er würde wieder einschlafen, doch dann regte er sich und sagte: »Da drüben läuft was total Schlimmes.«
»Alles, was da drüben läuft, ist schlimm«, sagte Luke. »Die Filme, die Spritzen, die Blitze… alles schlimm.«
»Ja, aber da ist noch was anderes. Was Schlimmeres. Ich glaub… weiß nicht…«
Luke legte seine Stirn an die von Avery und lauschte so angestrengt, wie er konnte. Was er auffing, war das Geräusch eines Flugzeugs, das hoch am Himmel vorüberzog. »Ein Geräusch? So eine Art Summen?«
»Ja! Aber nicht wie von ’nem Flugzeug. Mehr wie ein Bienenstock. Ich glaub, das kommt von der hinteren Hälfte vom Hinterbau.«
Avery legte sich anders hin. Im Licht der Lampe sah er nicht mehr wie ein Kind aus, sondern wie ein sorgenvoller alter Mann. »Das Kopfweh von denen wird immer schlimmer und dauert immer länger, weil man sie ständig zwingt, auf die farbigen Punkte zu schauen… die Lichter, du weißt schon… und man gibt ihnen immer mehr Spritzen und lässt sie die Filme anschauen.«
»Und die Wunderkerze«, sagte Luke. »Die zeigen sie ihnen auch, weil das der Trigger ist.«
»Was meinst du damit?«
»Nichts. Schlaf wieder ein.«
»Ich glaub, das geht nicht.«
»Versuch’s.«
Luke legte die Arme um Avery und blickte an die Zimmerdecke. Er dachte an einen alten, bluesigen Song, den seine Mutter manchmal gesungen hatte: I was yours from the start, you took my heart. You got the best, so what the hell, come on, baby, take the rest.
Luke war sich zunehmend sicher, dass die Kids genau dafür hier waren: Damit man ihnen das Beste wegnahm. Man benutzte sie als Waffe, und zwar so lange, bis sie völlig leer waren. Dann kamen sie in die hintere Hälfte vom Hinterbau, hinein in das Summen… was immer das auch war.
So etwas kann es doch gar nicht geben, sagte er sich. Nur würden die Leute auch sagen, so was wie das Institut könne es nicht geben, jedenfalls nicht in Amerika, und falls doch, würde es ans Tageslicht kommen, weil man heutzutage nichts mehr geheim halten könne; es werde ja so viel geplappert. Dennoch war er hier. Er und die anderen. Die Erinnerung daran, wie Harry Cross mit Schaum vor dem Mund auf dem Boden des Aufenthaltsraums herumgezuckt hatte, war schlimm, der Anblick des harmlosen kleinen Mädchens, das mit schief hängendem Kopf und glasigen Augen in die Leere gestarrt hatte, war noch schlimmer gewesen, aber nichts, was er sich vorstellen konnte, war so schrecklich wie ein menschlicher Geist, der unablässig vergewaltigt wurde, bis er schließlich zum Teil eines bienenstockartigen Summens geworden war. Laut Avery war das in dieser Nacht beinahe mit Iris geschehen, und bald würde es mit Nicky geschehen, dem Schwarm aller Mädchen, und mit dem ständig witzelnden George.
Und mit Kalisha.
Schließlich schlief Luke ein. Als er aufwachte, war das Frühstück schon lange vorbei, und er lag allein im Bett. Er stürmte durch den Flur ins Zimmer von Avery, weil er zu wissen glaubte, was aus ihm geworden war, aber die Poster des Avesters hingen noch an der Wand, und seine Actionfiguren standen noch auf der Kommode, an diesem Morgen in einer Schützenlinie angeordnet.
Luke atmete erleichtert aus, doch dann zuckte er zusammen, weil ihm jemand einen heftigen Klaps auf den Hinterkopf verpasste. Als er sich umdrehte, sah er Winona (Familienname: Briggs) vor sich stehen. »Zieh dir was an, junger Mann. Ich hab kein Interesse, ein männliches Geschöpf in Unterwäsche zu sehen, falls es nicht mindestens zweiundzwanzig und durchtrainiert ist. Was du bekanntlich beides nicht bist.«
Sie wartete darauf, dass er sich in Bewegung setzte. Luke reckte den Mittelfinger (okay, das tat er versteckt an der Brust, anstatt ihn zu heben, aber es fühlte sich trotzdem gut an) und kehrte in sein Zimmer zurück, um sich anzuziehen. Auf dem Weg sah er ganz hinten, wo der Flur in den nächsten überging, einen Wäschewagen stehen. Der hätte Jolene oder einer von den anderen Haushälterinnen gehören können, die aufgetaucht waren, um mit dem aktuellen Ansturm von »Gästen« fertigzuwerden, aber er wusste, dass es der von Maureen war. Er konnte sie spüren. Sie war wieder da.
Als Luke sie eine Viertelstunde später sah, dachte er: Die Frau ist kränker denn je.
Sie war damit beschäftigt, das Zimmer der Zwillinge auszuräumen. Gerade nahm sie die Poster mit Disney-Prinzen und -Prinzessinnen von den Wänden und verstaute sie sorgfältig in einem Pappkarton. Die Betten der kleinen Mädchen waren bereits abgezogen; die Laken lagen in dem Wagen bei der anderen schmutzigen Wäsche, die Maureen eingesammelt hatte.
»Wo ist Gerda?«, fragte Luke. Er hätte auch gern gewusst, wo Greta und Harry waren, ganz zu schweigen von allen anderen, die womöglich als Folge dieser schwachsinnigen Experimente gestorben waren. Ob es in diesem Höllenloch wohl irgendwo ein Krematorium gab? Vielleicht ganz unten auf Ebene F? Falls ja, musste es mit hochmodernen Filtern ausgerüstet sein, sonst hätte er den Rauch von brennenden Kindern gerochen.
»Stell mir keine Fragen, dann lüg ich dich auch nicht an. Raus hier, Junge, kümmre dich um deinen eigenen Kram.« Ihre Stimme war scharf, trocken und herablassend, aber das war reine Schau. Selbst drittklassige Telepathie konnte nützlich sein.
Luke holte sich aus der Obstschale im Aufenthaltsraum einen Apfel, dann zog er eine Packung Zuckerzigaretten (RAUCH WIE DEIN DADDY) aus dem Automaten. Beim Anblick der Zigaretten vermisste er Kalisha, fühlte sich ihr jedoch zugleich nahe. Er spähte hinaus auf den Spielplatz, wo acht oder zehn Kinder zugange waren – eine ganz schöne Truppe, verglichen mit der Zeit, wo er angekommen war. Auf einem der Schaumstoffpolster rings um das Trampolin saß Avery, den Kopf auf der Brust. Er hatte die Augen geschlossen, offenbar schlief er tief und fest. Das überraschte Luke wenig. Der kleine Scheißer hatte eine schwere Nacht gehabt.
Jemand schlug ihn auf die Schulter, fest, aber nicht unfreundlich. Als er sich umdrehte, stand da Stevie Whipple, einer von den neuen Kids. »Mann, das war wirklich übel gestern Abend«, sagte er. »Du weißt schon, das mit dem großen rothaarigen Typ und dem kleinen Mädchen.«
»Das kannst du laut sagen.«
»Und dann sind heute Morgen auch noch Männer in roten Klamotten gekommen und haben dieses Punkgirl in den Hinterbau gebracht.«
Luke sah ihn bestürzt an. »Helen?«
»Genau die«, sagte Stevie und starrte auf den Spielplatz hinaus. »Hier ist es wirklich beschissen. Ich wünsch mir so was wie Düsenstiefel. Dann wäre ich schneller weg, als du gucken kannst.«
»Düsenstiefel und eine Bombe«, sagte Luke.
»Hä?«
»Um den Scheiß in die Luft zu sprengen, bevor du wegfliegst.«
Während Stevie darüber nachdachte, erschlaffte sein Mondgesicht, dann lachte er. »Echt gut. Ja, erst alles in Grund und Boden bomben und dann schleunigst mit den Stiefeln abdüsen. He, du hast nicht zufällig ’ne Münze übrig? Um die Zeit krieg ich nämlich immer Hunger, und Äpfel mag ich nicht besonders. Ich steh mehr auf Twix. Oder auf Zwiebelringe. Das ist was Feines.«
Luke, der, während er fleißig seinen Ruf als braver Junge polierte, viele Münzen bekommen hatte, gab Stevie Whipple drei davon ab und ermutigte ihn, am Automaten ordentlich zuzuschlagen.
In Erinnerung an seine erste Begegnung mit Kalisha, vielleicht auch um diese Begegnung zu feiern, ging Luke nach hinten, setzte sich neben den Eiswürfelspender und steckte sich eine von den Zuckerzigaretten in den Mund. Er war schon bei der zweiten, als Maureen mit ihrem Wäschewagen, der jetzt mit frischen Laken und Kissenhüllen gefüllt war, angezuckelt kam.
»Wie geht es Ihrem Rücken?«, fragte Luke.
»Schlimmer denn je.«
»Das tut mir leid. Scheußlich, so was.«
»Ich hab ja meine Pillen. Die helfen.« Sie bückte sich und legte die Hände auf die Schienbeine, wodurch ihr Gesicht nah an das von Luke kam.
»Sie haben meine Freundin Kalisha mitgenommen«, flüsterte er. »Nicky und George auch. Und Helen, gerade heute Morgen.« Die meisten seiner Freunde waren fort. Und wer war zum Veteranen des Vorderbaus geworden? Tja, niemand anderes als Luke Ellis.
»Ich weiß«, sagte sie, ebenfalls flüsternd. »Bin ja im Hinterbau gewesen. Wir können uns nicht mehr hier treffen, um miteinander zu reden. Sonst schöpfen sie Verdacht.«
Das klang logisch, dennoch war etwas merkwürdig daran. Wie Joe und Hadad unterhielt sich Maureen dauernd mit den Kindern und überreichte ihnen Münzen, wenn das angebracht war. Und gab es nicht noch andere Orte, tote Zonen, wo die Audioüberwachung nicht hinreichte? Jedenfalls hatte Kalisha das gedacht.
Maureen richtete sich auf, dehnte sich und stemmte die Hände ins Kreuz. »Willst du eigentlich den ganzen Tag da sitzen?«, sagte sie mit normaler Stimme.
Luke sog die Zuckerzigarette, die ihm von der Unterlippe hing, in den Mund, zerkaute sie und erhob sich.
»Wart mal, ich hab was für dich.« Sie zog eine Münze aus der Tasche ihrer Uniform und reichte sie ihm. »Kauf dir was Leckeres!«
Luke schlenderte in sein Zimmer und legte sich aufs Bett. Dann drehte er sich auf die Seite und entfaltete den Zettel, den Maureen ihm zusammen mit der Münze in die Hand gedrückt hatte. Ihre Handschrift war zittrig und altmodisch, aber das war nicht der einzige Grund, weshalb sie schwer zu lesen war. Die Buchstaben waren wirklich winzig. Maureen hatte den Zettel auf einer Seite komplett von links nach rechts und von oben nach unten vollgekritzelt, die Rückseite war nicht mehr ganz so voll. Bei dem Anblick musste Luke an etwas denken, was Mr. Sirois im Englischunterricht über die besten Kurzgeschichten von Ernest Hemingway gesagt hatte: Sie sind Wunder an Verdichtung. Das galt auch für diese Mitteilung. Wie viele Entwürfe Maureen wohl gebraucht hatte, um das, was sie ihm sagen musste, aufs Wesentliche zu beschränken und auf ein kleines Stück Papier zu schreiben? Er bewunderte sie dafür, auch dann noch, als er langsam begriff, was sie getan hatte. Was sie war.
Luke, Du musst diesen Zettel vernichten, sobald du ihn gelesen hast. Es ist, als hätte Gott dich mir als letzte Chance geschickt, damit ich manches Unrecht, das ich getan hab, wiedergutmachen kann. Ich hab mit Leah Fink aus Burlington gesprochen. Alles, was du gesagt hast, stimmt, und das mit meinen Schulden kommt in Ordnung. Mit mir wird’s leider nichts mehr, weil meine Rückenschmerzen das sind, was ich befürchtet hab. ABER da meine gesparten $$$ jetzt sicher sind, hab ich mir alles auszahlen lassen. Ich hab eine Möglichkeit, es meinem Sohn zu schicken, damit er aufs College gehen kann. Er wird nie erfahren, dass es von mir kommt u. ich will es so. Ich schulde dir so viel!! Luke, du musst hier raus, sonst kommst du bald in den Hinterbau. Du bist ein „Pink“, und wenn sie keine Tests mehr mit dir machen, hast du vielleicht bloß noch 3 Tage. Ich muss dir was geben und dir allerhand Wichtiges sagen, aber ich weiß nicht wie, bloß am Eisspender ist es sicher u. da sind wir schon zu oft gewesen. Es geht mir nicht um mich, aber ich will nicht, dass du deine einzige Chance versäumst. Wenn ich bloß nicht getan hätte, was ich getan hab, oder nie an diesen Ort gekommen wär. Ich dachte nur an das Kind, das ich weggegeben hab, aber das ist keine Entschuldigung. Jetzt ist es zu spät. Wär besser, wenn wir uns nicht am Eisspender treffen, aber vielleicht müssen wir’s riskieren. BITTE vernichte diesen Zettel, Luke, und SEI VORSICHTIG, nicht wegen mir, mein Leben ist bald vorüber, sondern wegen dir selbst. DANKE, DASS DU MIR GEHOLFEN HAST. Maureen A.
Maureen war also ein Spitzel; sie plauderte mit den Kids an Orten, die angeblich sicher waren, und lief dann mit dem, was man ihr zugeflüstert hatte, zu Sigsby (oder Stackhouse). Vielleicht war sie da nicht die Einzige; die beiden freundlichen Pfleger, Joe und Hadad, verpfiffen die Kinder womöglich ebenfalls. Im Juni hätte Luke Maureen dafür gehasst, aber jetzt war es Juli, und er war wesentlich älter geworden.
Er ging ins Bad und ließ den Zettel von Maureen in die Kloschüssel fallen, während er die Hosen herunterließ. So wie damals die Botschaft von Kalisha. Das kam ihm hundert Jahre her vor.
An diesem Nachmittag organisierte Stevie Whipple ein Völkerballspiel. Während die meisten Kinder mitspielten, lehnte Luke dankend ab. Zum Andenken an Nicky holte er das Schachbrett aus dem Spieleschrank und spielte die Partie nach, die von vielen für die beste aller Zeiten gehalten wurde: Jakow Estrin gegen Hans Berliner, Kopenhagen 1965. Zweiundvierzig Züge, ein Klassiker. Er sprang hin und her, Weiß-Schwarz, Weiß-Schwarz, Weiß-Schwarz. Seine Erinnerung führte die Figuren, während seine Gedanken sich hauptsächlich mit der Botschaft von Maureen beschäftigten.
Die Vorstellung, dass Maureen ihn bespitzelt hatte, war ihm zuwider, aber er begriff ihre Gründe. Es gab noch andere Leute hier, denen wenigstens ein Rest Anstand geblieben war, aber wenn man an einem solchen Ort arbeitete, ging der moralische Kompass in die Brüche. Dann war man verdammt, ob man es nun wusste oder nicht. Maureen war das vielleicht ebenfalls. So oder so, von Interesse war jetzt lediglich, ob sie wirklich wusste, wie er hier herauskam. Wenn ja, musste sie ihm Informationen übermitteln, ohne den Verdacht von Mrs. Sigsby und diesem Stackhouse (Vorname: Trevor) zu erregen. Damit verknüpft war die Frage, ob man ihr vertrauen konnte. Luke fand, man konnte. Nicht nur weil er ihr in einer Notlage geholfen hatte, sondern auch weil ihre Botschaft einen verzweifelten Ton hatte, den Ton einer Frau, die beschlossen hatte, alles auf eine Karte zu setzen. Außerdem – welche andere Wahl hatte er denn?
Avery, der zu denen gehörte, die im Innern des Kreises herumrannten, wurde vom Ball direkt im Gesicht getroffen. Er ließ sich auf den Boden plumpsen und heulte los. Stevie Whipple half ihm auf und untersuchte seine Nase. »Kein Blut, dir ist nichts passiert. Wie wär’s, wenn du da rübergehst und dich zu Luke setzt?«
»Du meinst, ich soll nicht mehr mitspielen«, sagte Avery schniefend. »Schon okay. Ich kann trotzdem…«
»Avery!«, rief Luke und hielt eine Münze in die Höhe. »Willst du Erdnussbuttercracker und eine Cola?«
Avery kam herbeigetrottet. Den Treffer ins Gesicht hatte er offenbar schon vergessen. »Klar!«
Gemeinsam gingen sie hinein. Avery warf eine Münze in den Snackautomaten, und als er sich bückte, um die Packung aus dem Fach zu nehmen, bückte Luke sich ebenfalls. »Willst du mir helfen, hier rauszukommen?«, flüsterte er ihm ins Ohr.
Avery hielt ihm die Packung Cracker hin. »Magst du welche?« Wobei im Kopf von Luke kurz ein Wort aufleuchtete und wieder verblasste: Wie?
»Ich nehme bloß einen, der Rest ist für dich«, sagte Luke und sandte vier Wörter zurück: Sag ich dir abends.
Das waren zwei Gespräche gewesen, eines laut, das andere mental. So würde es auch mit Maureen laufen.
Hoffte er jedenfalls.
Am darauffolgenden Tag brachten Gladys und Hadad Luke hinunter zum Wassertank. Dort überließen sie ihn Zeke und Dave.
»Wir machen hier Tests«, sagte Zeke Ionidis. »Aber böse Jungen und Mädchen, die nicht die Wahrheit sagen, werden untergetunkt. Sagst du die Wahrheit, Luke?«
»Ja«, sagte Luke.
»Hast du die Telep?«
»Die was?« Obwohl er genau wusste, was Zeke der Freak meinte.
»Die Telep. Die TP. Hast du die?«
»Nein. Ich bin TK, schon vergessen? Kann Löffel und anderes Zeug herumschieben.« Er versuchte zu lächeln. »Biegen kann ich die Löffel allerdings nicht. Ich hab’s versucht.«
Zeke schüttelte den Kopf. »Wenn du TK bist und die Blitze siehst, kriegst du die Telep. Wenn du TP bist und die Blitze siehst, schiebst du Löffel herum. So funktioniert das.«
Du hast keine Ahnung, wie es funktioniert, dachte Luke. Keiner von euch hat irgendeine Ahnung davon. Nur fiel ihm ein, dass jemand – vielleicht Kalisha, vielleicht George – ihm gesagt hatte, sie würden merken, wenn er auf die Frage nach den Blitzen log. Das stimmte wohl, womöglich war es auf dem EEG erkennbar, aber wussten die beiden Typen da Bescheid? Das taten sie nicht. Zeke bluffte.
»Ich hab die Blitze zwar ein paarmal gesehen«, sagte Luke. »Aber Gedanken lesen kann ich nicht.«
»Hendricks und Evans sind anderer Meinung«, sagte Dave.
»Ich kann es wirklich nicht.« Er sah die beiden mit seinem treuherzigsten Blick an.
»Wir werden schon rauskriegen, ob das die Wahrheit ist«, sagte Dave. »Zieh dich aus, Kumpel.«
Da Luke keine andere Wahl hatte, zog er sich aus und trat in den Tank, der gut einen Meter breit und zweieinhalb Meter lang war. Das Wasser war kühl und angenehm; so weit, so gut.
»Ich denke gerade an ein Tier«, sagte Zeke. »Was für eines ist das?«
Es war eine Katze. Luke sah kein Bild, nur das Wort, so groß und hell wie eine Bierreklame in einem Kneipenfenster.
»Das weiß ich nicht.«
»Okay, Kumpel, du willst es offenbar nicht anders. Hol tief Luft, tauch unter und zähl bis fünfzehn. Mach eine kleine Pause zwischen jeder Zahl. Eins, Pause, zwei, Pause, drei, Pause, und so weiter.«
Luke gehorchte. Als er wieder auftauchte, fragte ihn diesmal Dave (Familienname bisher unbekannt), an welches Tier er denke. Das Wort, das Luke in seinem Kopf sah, lautete KÄNGURU.
»Das weiß ich nicht. Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich TK bin, nicht TP. Und nicht mal TK-pos.«
»Runter mit dir«, sagte Zeke. »Dreißig Sekunden, mit einer Pause zwischen den Zahlen. Ich schau auf die Uhr, Kumpel.«
Der dritte Tauchgang dauerte fünfundvierzig Sekunden, der vierte eine ganze Minute. Nach jedem Mal stellte man ihm eine Frage. Anstatt Tieren nahmen die beiden jetzt die Namen von verschiedenen Pflegern: Gladys, Norma, Pete, Priscilla.
»Ich kann es nicht!«, rief Luke und wischte sich das Wasser aus den Augen. »Kapieren Sie das nicht?«
»Tja, dann werden wir’s jetzt mit einer Minute und fünfzehn Sekunden probieren«, sagte Zeke. »Denk beim Zählen doch mal nach, wie lange du das noch treiben willst. Es liegt in deiner Hand, Kumpel.«
Nachdem Luke auf siebenundsechzig gezählt hatte, versuchte er aufzutauchen. Zeke packte seinen Kopf und drückte ihn wieder nach unten. Nach Luft ringend, kam er nach fünfundsiebzig Sekunden hoch. Sein Herz hämmerte.
»An welche Sportmannschaft denke ich?«, fragte Dave, und Luke sah im Kopf eine helle Kneipenreklame mit dem Wort VIKINGS.
»Das weiß ich nicht!«
»Bullshit«, sagte Zeke. »Versuchen wir’s mal mit eineinhalb Minuten.«
»Nein«, sagte Luke und platschte rückwärts in die Mitte des Tanks. Er bemühte sich, nicht in Panik zu geraten. »Das schaffe ich nicht.«
Zeke verdrehte die Augen. »Sei keine Pussy. Abalone-Taucher können volle neun Minuten unter Wasser sein. Ich verlange gerade mal neunzig Sekunden von dir. Falls du deinem Onkel Dave hier nicht erzählst, auf welche Sportmannschaft er steht.«
»Der ist nicht mein Onkel, und ich hab wirklich keine Ahnung. Lassen Sie mich jetzt raus.« Und weil er nicht anders konnte: »Bitte.«
Zeke zog seinen Schockstock aus dem Holster und drehte den Regler mit einer dramatischen Geste auf maximal. »Willst du, dass ich das Ding da ans Wasser halte? Wenn ich das tue, tanzt du wie Michael Jackson. Komm jetzt wieder her.«
Luke blieb keine Wahl, als zum Rand des Wassertanks zu waten. Es mache Spaß, hatte Dr. Richardson gesagt.
»Noch eine letzte Chance«, sagte Zeke. »Woran denkt er?«
An die Vikings, die Minnesota Vikings, das Team aus meiner Heimatstadt.
»Das weiß ich nicht.«
»Na gut«, sagte Luke in bedauerndem Ton. »U-Boot Luke geht auf Tauchgang.«
»Moment, lass ihm ein paar Sekunden Zeit, sich vorzubereiten«, sagte Dave. Er blickte besorgt drein, was Luke ebenfalls Sorgen machte. »Füll deine Lunge ganz mit Luft, Luke. Und versuch, ruhig zu bleiben. Wenn dein Körper in Alarmbereitschaft ist, verbraucht er mehr Sauerstoff.«
Luke atmete einige Male tief ein und aus, dann tauchte er unter. Er spürte, wie die Hand von Zeke sich auf seinen Hinterkopf legte und ihn an den Haaren packte. Ruhig, ruhig, ruhig, dachte Luke. Aber auch: Du Arschloch, Zeke, du gemeiner Sadist, ich hasse dich!
Er schaffte die neunzig Sekunden und kam keuchend an die Oberfläche. Dave trocknete ihm mit einem Handtuch das Gesicht ab. »Hör endlich auf«, murmelte er Luke ins Ohr. »Sag mir einfach, was ich denke. Diesmal ist es ein Filmstar.«
MATT DAMON verkündete die Kneipenreklame in Lukes Kopf jetzt.
»Ich weiß es nicht.« Luke begann zu weinen. Die Tränen liefen ihm an seinem feuchten Gesicht herab.
»Gut«, sagte Zeke. »Dann nehmen wir jetzt eindreiviertel Minuten. Einhundertundfünf lange Sekunden, und vergiss nicht, zwischen den Zahlen eine Pause einzulegen. Wir machen schon noch einen Abalone-Taucher aus dir!«
Luke holte wieder mehrmals tief Luft, aber als er dann untergetaucht bis hundert gezählt hatte, war er sich sicher, dass er gleich den Mund öffnen und Wasser einatmen würde. Dann würden sie ihn herausholen, wiederbeleben und von vorn anfangen. Das würden sie tun, bis er ihnen entweder sagte, was sie hören wollten, oder ertrank.
Endlich spürte er die Hand auf seinem Kopf nicht mehr. Keuchend und hustend, kam er hoch. Die beiden ließen ihm Zeit, sich zu erholen, dann sagte Zeke: »Vergessen wir mal die Tiere und die Sportmannschaften und so weiter. Sag’s einfach. Sag: ›Ich bin ein Telep, ich bin TP‹, dann machen wir Schluss.«
»Okay! Okay, ich bin ein Telep!«
»Super!«, rief Zeke. »Wir machen Fortschritte! An welche Zahl denke ich gerade?«
Auf dem Kneipenschild stand: 17.
»Sechs«, sagte Luke.
Zeke machte ein Geräusch wie der Buzzer bei einer Quizshow. »Tut mir leid, es war siebzehn. Diesmal sind es zwei Minuten.«
»Nein! Das schaffe ich nicht! Bitte!«
»Das ist das letzte Mal«, sagte Dave leise.
Zeke rempelte seinen Kollegen so heftig mit der Schulter an, dass der fast umkippte. »Erzähl ihm nichts, was vielleicht nicht stimmt!« Er sah Luke an. »Ich lass dir dreißig Sekunden Zeit, dich vollzupumpen, dann tauchst du unter. Stell dir vor, du bist bei der Olympiade, Kleiner.«
Gezwungenermaßen atmete Luke schnell ein und aus, aber schon lange bevor er im Kopf bis dreißig zählen konnte, packte die Hand von Zeke ihn an den Haaren und stieß ihn nach unten.
Luke öffnete die Augen und starrte auf die weiße Wand des Tanks. An mehreren Stellen war die Farbe abgekratzt, vielleicht von den Fingernägeln anderer Kinder, die man dieser strikt für Pinks reservierten Folter unterzogen hatte. Und weshalb? Das war ziemlich offensichtlich. Weil Hendricks und Evans meinten, man könne die Bandbreite an paranormalen Talenten erweitern, und weil Pinks entbehrlich waren.
Ruhig, ganz ruhig, dachte er. Ruhig, ruhig, ruhig.
Obwohl er sein Bestes tat, in einen meditativen Zustand zu kommen, verlangte seine Lunge irgendwann doch wieder Luft. Schließlich brach sein meditativer Zustand, der ohnehin nicht besonders meditativ gewesen war, vollständig in sich zusammen, weil ihm der Gedanke kam, dass man ihn – wenn er das jetzt überlebte – zwingen würde, zwei Minuten und fünfzehn Sekunden unterzutauchen, dann zweieinhalb Minuten und dann…
Er begann zu zappeln. Zeke hielt ihn unter Wasser. Luke setzte die Füße auf den Boden, drückte sich ab und schaffte es beinahe an die Oberfläche, aber Zeke nahm seine andere Hand zu Hilfe und zwang ihn wieder nach unten. Dann waren wieder die farbigen Punkte da, sie blitzten vor seinen Augen auf, jagten auf ihn zu, zogen sich zurück, jagten wieder auf ihn zu. Sie fingen an, um ihn herumzuwirbeln wie ein verrückt gewordenes Karussell. Die Stass-Lichter, dachte Luke. Ich werde ertrinken, während ich die…
Zeke zerrte ihn an den Haaren nach oben. Sein blauer Kasack war durchnässt. Er sah Luke direkt in die Augen. »Ich werde dich wieder untertauchen, Luke. Wieder und wieder und wieder. Ich tauche dich unter, bis du ertrinkst, dann werden wir dich wiederbeleben und wieder ertrinken lassen und noch mal wiederbeleben. Letzte Chance: An welche Zahl denke ich?
»Das weiß…« Luke spuckte würgend Wasser aus. »… ich nicht!«
Zeke behielt seinen starren Blick etwa fünf Sekunden bei. Luke hielt stand, obwohl ihm Tränen aus den Augen liefen. »Schluss mit dem Scheiß, und fick dich, Kumpel«, sagte Zeke schließlich. »Dave, trockne ihn ab, und schick ihn nach oben zurück. Ich will sein beschissenes kleines Gesicht nicht mehr sehen.«
Er ging hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.
Luke taumelte aus dem Tank, stolperte und wäre um ein Haar der Länge nach hingeschlagen. Dave hielt ihn fest und reichte ihm ein Handtuch, mit dem Luke sich abtrocknete. Dann schlüpfte er in seine Klamotten, so schnell er konnte. Er wollte schleunigst weg von diesem Mann und diesem Ort, aber obwohl er sich halb tot fühlte, meldete sich seine Neugier. »Wieso ist das so wichtig?«, fragte er. »Wieso ist es so wichtig, wenn es nicht mal das ist, wofür wir hier sind?«
»Woher willst du wissen, wofür ihr hier seid?«, fragte Dave.
»Weil ich nicht bescheuert bin, deshalb.«
»Du solltest lieber die Klappe halten, Luke«, sagte Dave. »Ich mag dich, aber das heißt noch lange nicht, dass ich hören will, wie du irgendwelchen Mist plapperst.«
»Egal wozu die Blitze gut sind, es hat absolut nichts damit zu tun, ob ich beides bin, TP und TK. Was tut ihr hier eigentlich? Habt ihr auch nur die leiseste Ah…«
Dave holte zu einer gewaltigen Ohrfeige aus, die Luke von den Beinen riss. Er spürte, wie das auf den gefliesten Boden gelaufene Wasser ins Hinterteil seiner Jeans sickerte. »Ich bin nicht dazu da, deine Fragen zu beantworten«, sagte Dave und bückte sich zu Luke hinunter. »Wir wissen, was du tust, du Klugscheißer! Wir wissen genau, was du tust!« Und während er Luke hochzerrte: »Letztes Jahr hatten wir einen, der dreieinhalb Minuten geschafft hat. Der war zwar extrem nervig, aber wenigstens hatte er Mumm!«
Als Avery mit besorgter Miene in sein Zimmer kam, bat Luke ihn, wieder zu gehen, er wolle eine Weile allein sein.
»Es war schlimm, stimmt’s?«, sagte Avery. »Der Wassertank. Es tut mir leid, Luke.«
»Danke. Geh jetzt. Wir reden später.«
»Okay.«
Avery ging hinaus und zog rücksichtsvoll die Tür hinter sich zu. Luke legte sich auf den Rücken und versuchte, nicht ständig an die endlosen Minuten zu denken, die er untergetaucht gewesen war, dachte jedoch trotzdem daran. Er wartete darauf, dass die Lichter wieder auftauchten, dass sie hüpfend durch sein Blickfeld rasten, sich im Kreis drehten und schwindelerregende Wirbel bildeten. Weil das nicht geschah, beruhigte er sich allmählich. Ein Gedanke überlagerte alle anderen, selbst seine Furcht, dass die Lichter doch wiederkamen… und diesmal nicht mehr verschwanden.
Raus. Ich muss hier raus. Und wenn ich das nicht schaffe, muss ich sterben, bevor sie mich in den Hinterbau bringen und benutzen, bis sie mich aufgebraucht haben.
Seit Ende Juni war die schlimmste Mückenplage vorüber, weshalb Dr. Hendricks sich vor dem Verwaltungsgebäude mit Zeke Ionidis traf. Dort stand unter einer Schatten spendenden Eiche eine Bank. In der Nähe erhob sich ein Fahnenmast, an dem das Sternenbanner in der leichten Sommerbrise träge vor sich hin flatterte. Auf dem Schoß hatte Dr. Hendricks die Akte von Luke liegen.
»Sie sind sich da sicher, ja?«, sagte er zu Zeke.
»Absolut. Ich hab den kleinen Scheißer bestimmt fünf- oder sechsmal getunkt, jedes Mal fünfzehn Sekunden länger, genau wie Sie’s mir aufgetragen haben. Wenn der Gedanken lesen könnte, hätte er’s getan, da können Sie Gift drauf nehmen. So was würde nicht mal ein Navy-SEAL aushalten, geschweige denn ein Kind, das kaum alt genug ist, mehr als sechs Haare an den Eiern zu haben.«
Damit schien Hendricks sich erst nicht zufriedengeben zu wollen, doch dann seufzte er und schüttelte den Kopf. »Na gut. Damit kann ich leben. Wir sind momentan ganz gut mit Pinks ausgestattet, und es sind weitere angekündigt. Ein Luxusproblem. Trotzdem ist es enttäuschend. Ich hatte einige Hoffnung in den Jungen gesetzt.«
Er klappte die Akte mit dem kleinen rosa Punkt in der oberen rechten Ecke zu, dann holte er einen Kugelschreiber aus der Tasche und zog eine diagonale Linie quer über die erste Seite. »Wenigstens ist er gesund. Evans hat ihn durchgecheckt. Dieses nervige Mädchen – Benson – hat ihn nicht mit ihren Windpocken infiziert.«
»War er dagegen denn nicht geimpft?«, fragte Zeke.
»Doch, aber sie hat sich die größte Mühe gegeben, Speichel mit ihm auszutauschen, und sie hatte eine ziemlich schwere Infektion. Da wollten wir kein Risiko eingehen. Nein, nein. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.«
»Wann kommt er dann in den Hinterbau?«
Hendricks setzte ein schmales Lächeln auf. »Sie können’s wohl kaum erwarten, ihn loszuwerden, was?«
»Stimmt«, sagte Zeke. »Mag sein, dass die kleine Benson ihn nicht mit Windpocken angesteckt hat, aber dafür hat Wilholm ihm seine Leck-mich-Haltung hinterlassen.«
»Er kommt rüber, sobald mir Heckle und Jeckle grünes Licht geben.«
Zeke tat so, als würde er erschauern. »Diese beiden. Brrr. Gruselig.«
Hendricks äußerte sich nicht zu den Hinterbauärzten. »Jedenfalls sind Sie sich sicher, dass er keinerlei telepathische Fähigkeiten hat?«
Zeke klopfte ihm auf die Schulter. »Definitiv, Doc. Da können Sie sich drauf verlassen.«
Während Hendricks und Zeke über Lukes Zukunft diskutierten, war er auf dem Weg zum Mittagessen. Der Aufenthalt im Wassertank hatte ihn nicht nur gepeinigt, sondern auch heißhungrig gemacht. Als Stevie Whipple ihn fragte, wo er gewesen und was passiert sei, schüttelte Luke nur den Kopf. Er wollte nicht über den Tank sprechen. Nicht jetzt, eigentlich nie. So war es wahrscheinlich auch im Krieg. Man wurde eingezogen, man ging hin, aber man wollte nicht über das sprechen, was man gesehen hatte oder was einem dort zugestoßen war.
Mit der Institutsversion von Fettuccine Alfredo gefüllt, machte er einen Mittagsschlaf, und als er aufwachte, fühlte er sich minimal besser. Er hielt Ausschau nach Maureen und erspähte sie im früher menschenleeren Ostflügel. Offenbar erwartete das Institut in Bälde weitere »Gäste«. Er ging zu ihr hinüber und fragte, ob sie Hilfe brauche. »Ich hätte nämlich nichts dagegen, mir ein paar Münzen zu verdienen«, fügte er hinzu.
»Nein, das ist nicht nötig.« Luke kam es vor, als würde sie beinahe stündlich altern. Ihr Gesicht war totenbleich. Er fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis jemand ihren Zustand bemerkte und dafür sorgte, dass sie nicht mehr arbeitete. Darüber, was dann aus ihr werden würde, dachte er nicht gern nach. Ob es wohl ein Ruhestandsprogramm für Haushälterinnen gab, die nebenbei Institutsspitzel waren? Das war zu bezweifeln.
Ihr Wäschewagen war zur Hälfte mit frischen Laken gefüllt, auf die Luke seine Botschaft fallen ließ. Geschrieben hatte er sie auf ein Notizblatt, das er aus der Gerätekammer in Raum C4 entwendet hatte, zusammen mit einem billigen Kugelschreiber, der jetzt unter seiner Matratze versteckt war. Auf dem Kugelschreiber prangte der Schriftzug DENNISON RIVER BEND IMMOBILIEN. Als Maureen den gefalteten Zettel sah, legte sie einen Kissenbezug darüber und nickte Luke leicht zu. Er ging wieder seines Weges.
Nachts im Bett flüsterte er Avery eine Menge ins Ohr, bevor er den Kleinen endlich einschlafen ließ. Es gab zwei Strategien, erklärte er ihm, das musste so sein. Er dachte, dass der Avester begriff. Vielleicht hoffte er das auch eher.
Luke blieb lange wach, lauschte Averys leisem Schnarchen und grübelte über seine Flucht nach. Seine Idee kam ihm zugleich absurd und absolut durchführbar vor. Zum einen waren da die verstaubten Überwachungskuppeln und die Tatsache, dass man ihn so oft allein hatte umherstreifen und eine kleine Information nach der anderen sammeln lassen. Und zum anderen waren da die angeblich nicht überwachten Stellen, die Sigsby und ihre Handlanger kannten, und der echte tote Winkel, den sie nicht kannten (hoffte er jedenfalls). Letztlich war es eine ziemlich simple Schlussfolgerung. Er musste es versuchen. Die Alternative waren die Stass-Lichter, die Filme, die Kopfschmerzen und die Wunderkerze, durch die irgendetwas getriggert wurde. Und am Ende von allem wartete das Summen.
Wenn sie keine Tests mehr mit dir machen, hast du vielleicht bloß noch 3 Tage.
Am folgenden Nachmittag suchte Trevor Stackhouse das Büro von Mrs. Sigsby auf. Die beugte sich gerade über einen geöffneten Aktenordner, las darin und machte sich Notizen. Ohne aufzublicken, hob sie den Zeigefinger. Er trat zum Fenster, aus dem man auf den Ostflügel des Gebäudes blickte. Den bezeichneten sie als Wohnheim, als wäre das Institut ein College-Campus, der zufällig in den dichten Wäldern im nördlichen Maine lag. Stackhouse sah ein paar Kinder an den Snack- und Getränkeautomaten herumlungern, die gerade erst aufgefüllt worden waren. In diesem Aufenthaltsraum war weder Tabak noch Alkohol erhältlich, schon seit 2005 nicht mehr. Normalerweise war der Ostflügel kaum oder überhaupt nicht belegt, und wenn dort einmal Kinder untergebracht waren, konnten sie sich ihre Zigaretten und Alcopops an den Automaten am anderen Ende des Gebäudes besorgen. Manche probierten das Zeug nur aus, doch eine erstaunliche Anzahl – meist jene, die durch die ebenso plötzliche wie katastrophale Veränderung in ihrem Leben besonders deprimiert und verängstigt waren – wurden schnell abhängig. Mit denen wurde man am leichtesten fertig, weil sie die Wertmünzen nicht einfach nur haben wollten, die brauchten sie. Karl Marx hatte Religion als Opium des Volkes bezeichnet, aber Stackhouse war da anderer Ansicht. Seiner Meinung nach reichten Lucky Strike und Boone’s Farm (besonders beliebt bei den weiblichen Gästen) völlig aus.
»Okay«, sagte Mrs. Sigsby und klappte den Aktendeckel zu. »Ich bin ganz Ohr, Trevor.«
»Team Opal liefert morgen vier weitere an«, sagte Stackhouse. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und sich breitbeinig hingestellt. Wie ein Kapitän auf dem Vorderdeck seines Schiffes, dachte Mrs. Sigsby. Er trug einen seiner üblichen braunen Anzüge, die mitten im Sommer eigentlich eine schreckliche Wahl darstellten, aber für ihn zweifellos zu seinem Image gehörten. »So viele hatten wir seit 2008 nicht mehr an Bord.«
Er wandte sich von dem Blick aus dem Fenster ab, der eigentlich nicht besonders interessant war. Manchmal – oft sogar – hatte er Kinder gründlich satt. Ihm war nicht klar, wie Lehrer ihren Job schafften, zumal sie nicht einmal die Freiheit hatten, frechen Exemplaren eine anständige Ohrfeige zu verpassen und rebellische Burschen wie den inzwischen nach hinten verlegten Nicholas Wilholm mit einem Stromstoß zu bestrafen.
»Früher, lange vor Ihrer und meiner Zeit, waren einmal mehr als hundert Kinder hier«, sagte Mrs. Sigsby. »Es gab sogar eine Warteliste.«
»So, so, es gab eine Warteliste. Gut zu wissen. Aber weshalb haben Sie mich denn nun herbestellt? Team Opal bereitet sich auf seinen Einsatz vor, der aber in mindestens einem Fall recht heikel werden wird. Daher fliege ich heute Abend hin. Es geht um ein Mädchen, das sich in einer streng überwachten Umgebung befindet.«
»In einer Entzugsklinik, meinen Sie.«
»So ist es.« Hochfunktionale TKs schienen in der Gesellschaft relativ gut zurechtzukommen, aber ähnlich hochfunktionale TPs hatten damit Probleme, weshalb sie sich oft dem Alkohol oder Drogen zuwandten. Wahrscheinlich dämpften sie damit den reißenden Strom an Eindrücken, dem sie ausgesetzt waren. »Aber die junge Dame ist es wert. Mit dem kleinen Dixon ist sie nicht ganz zu vergleichen – der ist ein wahres Kraftpaket–, aber beinahe. Sagen Sie mir also, was Ihnen Sorgen bereitet, damit ich mich um meine Arbeit kümmern kann.«
»Es geht nicht um irgendwelche Sorgen, sondern um einen Hinweis. Und stehen Sie nicht da hinter mir rum, das macht mich nervös. Setzen Sie sich neben mich.«
Während er von der anderen Seite des Schreibtischs den Besucherstuhl holte, öffnete Mrs. Sigsby auf ihrem Desktop eine Videodatei und ließ sie laufen. Zu sehen waren die Snackautomaten im Aufenthaltsraum. Das Bild war verschwommen, es schwankte alle zehn Sekunden und wurde gelegentlich durch ein statisches Flimmern unterbrochen. Bei einer dieser Phasen hielt Mrs. Sigsby das Video an.
»Worauf ich Sie als Erstes aufmerksam machen möchte, ist die Qualität der Aufnahme«, sagte sie mit der trockenen Vortragsstimme, die ihm inzwischen so zuwider war. »Die ist absolut unannehmbar. Dasselbe gilt für mindestens die Hälfte aller Überwachungskameras. Die in dem miesen kleinen Supermarkt in Bend ist besser als die meisten von unseren.« Womit sie, wie Stackhouse wusste, Dennison River Bend meinte, und sie hatte recht.
»Ich werde das weitermelden«, sagte er. »Aber uns ist ja beiden klar, dass die Infrastruktur in dem Laden hier beschissen ist. Die letzte richtige Renovierung war vor vierzig Jahren, als es in unserem Land noch anders lief. Wesentlich lockerer. Wie die Dinge heute stehen, haben wir bloß zwei IT-Leute, und einer von denen ist momentan im Urlaub. Die Computerausstattung ist ebenso veraltet wie die Generatoren. Das wissen Sie alles.«
Ja, das wusste Mrs. Sigsby bestens. Es lag nicht an der mangelnden finanziellen Ausstattung, sondern daran, dass es ihnen nicht gelang, sich Unterstützung von außen zu holen. Eine typische Zwickmühle. Das Institut musste streng geheim bleiben, was im Zeitalter der sozialen Medien immer schwieriger wurde, von Hackern ganz zu schweigen. Wenn auch nur eine winzige Information darüber, was sie hier taten, nach außen drang, wäre das der Todesstoß. Nicht nur für die ungemein wichtige Arbeit, die sie leisteten, sondern auch für das Personal. Das machte es schwer, Leute einzustellen und die für den Betrieb notwendigen Waren zu besorgen. Reparaturen waren ein Albtraum.
»Das Flimmern wird durch Küchengeräte verursacht«, fuhr er fort. »Mixer, Abfallzerkleinerer, Mikrowellen. Was das angeht, kann ich eventuell was unternehmen.«
»Vielleicht können Sie sogar was im Hinblick auf die Gehäuse unternehmen, in denen die Kameras stecken. Etwas technisch völlig Anspruchsloses. Soweit ich weiß, nennt man es Abstauben. Ein paar Hausmeister haben wir ja immerhin.«
Stackhouse warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
»Schon gut, Trevor. Ich hab’s kapiert.« Sie ließ das Video wieder laufen. Maureen Alvorson tauchte mit ihrem Wäschewagen auf. Begleitet wurde sie von zwei Insassen. Der eine war Luke Ellis, der andere Avery Dixon, der außergewöhnliche TP-pos, der inzwischen meistens bei Ellis schlief. Die Bildqualität war minderwertig, der Ton jedoch gut.
»Hier können wir miteinander sprechen«, sagte Maureen zu den beiden Jungen. »Da oben ist zwar ein Mikrofon, aber das funktioniert schon jahrelang nicht mehr. Setzt einfach ein nettes Lächeln auf. Falls jemand sich das Video anschauen sollte, wird er denken, dass ihr mir ein paar Münzen abluchsen wollt. Also, was habt ihr auf dem Herzen? Aber kurz und bündig!«
Eine Pause entstand. Der kleinere Junge kratzte sich am Arm, kniff sich mit den Fingern in die Nase und sah Ellis an. Dixon war also nur mitgekommen; das Ganze ging von Ellis aus. Was Stackhouse nicht weiter wunderte, denn Ellis war ein cleveres Bürschchen. Ein Schachspieler.
»Tja«, sagte Ellis. »Es geht darum, was neulich beim Abendessen passiert ist. Mit Harry und den Zwillingen. Das geht uns im Kopf rum.«
Maureen seufzte und stützte sich auf ihren Wäschewagen. »Davon hab ich gehört. Ziemlich schlimm, aber soweit man mir gesagt hat, geht es allen wieder gut.«
»Echt? Allen dreien?«
Maureen schwieg einen Moment. Dixon starrte ängstlich zu ihr hinauf; er kratzte sich an den Armen, kniff sich in die Nase und sah ganz allgemein so aus, als müsste er dringend pinkeln. »Na ja, jetzt vielleicht noch nicht«, sagte sie schließlich. »Jedenfalls noch nicht ganz. Ich hab Dr. Evans sagen hören, dass man sie auf die Krankenstation im Hinterbau gebracht hat. Dort werden sie gut versorgt.«
»Was haben Sie sonst noch…«
»Still!« Sie hob die Hand, um Ellis zum Schweigen zu bringen, und blickte sich um. Das Bild flimmerte, aber der Ton blieb deutlich hörbar. »Fragt mich nicht nach dem Hinterbau. Darüber darf ich nichts sagen, außer dass es wirklich schön da ist, schöner als hier im Vorderbau, und nachdem die Jungen und Mädchen dort einige Zeit verbracht haben, kommen sie wieder nach Hause.«
Als das Bild wieder besser sichtbar wurde, hatte sie die Arme um die beiden gelegt und zog sie nah zu sich heran. »Sehen Sie sich das an«, sagte Stackhouse bewundernd. »Wie Mutter Courage. Die ist richtig gut.«
»Pst!«, machte Mrs. Sigsby.
Ellis fragte Maureen, ob sie sich absolut sicher sei, dass Harry und Greta am Leben waren. »Die sahen nämlich… äh… tot aus.«
»Ja, das sagen alle Kinder«, stimmte Dixon zu, kniff sich in die Nase und schnäuzte sich lautstark. »Harry ist ausgetickt und hat nicht mehr geatmet. Und der Kopf von Greta hat ganz krumm und schief auf dem Hals gesessen.«
Maureen gab keine übereilte Antwort; Stackhouse sah, dass sie ihre Worte sorgfältig wählte. An einem Ort, wo das Sammeln von Geheiminformationen tatsächlich von Belang gewesen wäre, hätte sie wohl eine anständige Geheimagentin abgegeben. Die beiden Jungen blickten erwartungswohl zu ihr hinauf.
»Natürlich war ich nicht dabei«, sagte sie schließlich. »Und es war bestimmt schrecklich für euch, aber ich glaube, es hat wesentlich schlimmer ausgesehen, als es war.« Wieder hielt sie inne, doch nachdem Dixon sich abermals nervös in die Nase gekniffen hatte, sprach sie weiter. »Falls Harry Cross einen Krampfanfall hatte – ich sagte falls–, gibt man ihm bestimmt die richtigen Medikamente. Und was Greta angeht… als ich am Pausenraum vorübergekommen bin, hab ich gehört, wie Dr. Evans zu Dr. Hendricks gesagt hat, dass sie sich den Hals verrenkt hat. Wahrscheinlich hat man ihr eine Halskrause verpasst. Bestimmt ist ihre Schwester bei ihr. Um sie zu trösten, wisst ihr?«
»Okay«, sagte Ellis erleichtert. »Falls Sie sich da wirklich sicher sind.«
»So sicher, wie ich mir sein kann, mehr kann ich dir nicht sagen, Luke. Hier wird ziemlich viel gelogen, aber meine Eltern haben mir beigebracht, dass man niemand anlügen soll, vor allem Kinder nicht. Deshalb kann ich bloß sagen, dass ich mir so sicher bin, wie es eben geht. Aber wieso ist das eigentlich so wichtig? Weil ihr euch Sorgen um eure Freunde macht, oder geht’s noch um was anderes?«
Ellis sah Dixon an, der diesmal richtig an seiner Nase zerrte und dann nickte.
Stackhouse verdrehte die Augen. »Du lieber Himmel, Kleiner, wenn du dir in der Nase bohren willst, dann tu es endlich! Das Vorspiel macht mich kirre.«
Mrs. Sigsby stoppte das Video. »Das ist eine Geste, mit der man sich selbst beruhigt. Besser, als wenn er sich in den Schritt greifen würde, was ich im Lauf der Jahre gar nicht so selten gesehen habe, bei Mädchen wie bei Jungen. Still jetzt! Es wird nämlich interessant.«
»Wenn ich Ihnen was verrate, versprechen Sie dann, dass Sie’s für sich behalten?«, fragte Ellis.
Maureen überlegte, während Dixon damit fortfuhr, seinen armen Zinken zu malträtieren. Dann nickte sie.
Ellis senkte die Stimme. Mrs. Sigsby drehte die Lautstärke hoch.
»Manche von den Kids reden darüber, in den Hungerstreik zu treten. Kein Essen mehr, bis wir sicher wissen, dass es den Zwillingen und Harry gut geht.«
»Welche Kids sind das?«, fragte Maureen leise.
»Das weiß ich nicht genau«, sagte Ellis. »Ein paar von den Neuen.«
»Sag denen, dass das eine ganz schlechte Idee wäre. Du bist ein kluger Junge, Luke, ein sehr kluger, und daher weißt du sicher, was das Wort Repressalien bedeutet. Avery kannst du das später erklären.« Sie richtete den Blick auf den kleinen Jungen, der sich aus ihrem Arm löste und schützend die Hand auf seine Nase legte, als hätte er Angst, dass sie die packen und abreißen würde. »Jetzt muss ich aber weiter. Ich will nicht, dass ihr Scherereien bekommt, und ich will auch keine. Falls jemand euch fragen sollte, worüber wir gesprochen haben…«
»Dann sagen wir, dass wir Ihnen helfen wollten, damit wir Münzen kriegen«, sagte Dixon. »Schon kapiert.«
»Gut.« Sie blickte kurz in die Kamera und ging los, drehte sich jedoch gleich wieder um. »Ihr werdet bald hier raus und nach Hause kommen. Bis dahin müsst ihr clever sein. Macht keinen Ärger, ja?«
Sie griff nach einem Staubtuch, wischte kurz das Ausgabefach des Getränkeautomaten ab, in dem es Alkoholika gab, dann verschwand sie mit ihrem Wagen aus dem Bild. Ellis und Dixon blieben noch einen Moment stehen, bis sie ebenfalls abzogen. Mrs. Sigsby stellte das Video ab.
»Ein Hungerstreik«, sagte Stackhouse mit leichtem Lächeln. »Das ist was Neues.«
»Stimmt«, sagte Mrs. Sigsby.
»Schon die Vorstellung erfüllt mich mit Schrecken.« Sein Lächeln verbreiterte sich zu einem Grinsen. Siggers missbilligte das wahrscheinlich, aber er konnte nicht anders.
Zu seiner Überraschung lachte sie. Wann hatte er das bei ihr schon mal erlebt? Die korrekte Antwort lautete wohl: Noch nie. »Das hat tatsächlich einen lustigen Aspekt. Kinder sind für einen Hungerstreik besonders schlecht geeignet, schließlich sind sie noch im Wachstum. Wahre Essmaschinen. Aber Sie haben recht, es ist mal was anderes. Was meinen Sie, welche von den Neuankömmlingen das wohl in die Welt gesetzt haben?«
»Ach, kommen Sie! Keiner von denen. Wir haben nur ein Kind, das so clever ist, dass es überhaupt weiß, was ein Hungerstreik ist, und das ist schon fast einen Monat hier.«
»Stimmt«, sagte sie. »Und ich bin froh, wenn er nach hinten kommt. Wilholm war eine Plage, aber der hat seine Wut wenigstens offen gezeigt. Ellis hingegen… der ist verschlagen. Ich mag verschlagene Kinder nicht.«
»Wann kommt er denn weg?«
»Am Sonntag oder Montag, wenn Hallas und James im Hinterbau einverstanden sind. Was sie sein werden. Hendricks ist weitgehend mit ihm fertig.«
»Gut. Wollen Sie sich mit dieser Hungerstreikidee beschäftigen oder die Sache auf sich beruhen lassen? Ich schlage Letzteres vor. Das Ganze wird eines natürlichen Todes sterben, falls es überhaupt so weit kommt.«
»Ich glaube, ich werde es zur Sprache bringen. Wie Sie selbst sagen, haben wir momentan eine Menge Insassen, und es könnte gut sein, wenigstens einmal zu allen gemeinsam zu sprechen.«
»Wenn Sie das tun, wird Ellis wahrscheinlich herausbekommen, dass Alvorson ein Spitzel ist.« Bei dem IQ, den der Knabe hatte, war das eigentlich nicht nur wahrscheinlich, sondern sicher.
»Das macht nichts. In ein paar Tagen ist er sowieso hier weg, und sein kleiner Freund, der Nasenkneifer, wird ihm bald folgen. Aber was die Überwachungskameras angeht…«
»Bevor ich heute Abend abreise, schreibe ich eine Notiz an Andy Fellowes, und sobald ich wieder da bin, behandeln wir die Angelegenheit vorrangig.« Er beugte sich vor, verschränkte die Hände und richtete seine braunen Augen auf ihre stahlgrauen. »Wie wär’s, wenn Sie das alles bis dahin ein bisschen lockerer sehen? Sonst kriegen Sie noch Magengeschwüre. Erinnern Sie sich doch mindestens einmal am Tag daran, dass wir es mit Kindern zu tun haben, nicht mit hartgesottenen Verbrechern.«
Mrs. Sigsby erwiderte nichts, weil sie wusste, dass er recht hatte. Selbst Luke Ellis war nur ein Kind, so clever er auch sein mochte. Und wenn er eine Weile im Hinterbau verbracht hatte, würde er immer noch ein Kind sein, wenngleich überhaupt nicht mehr clever.
Als Mrs. Sigsby am Abend den Aufenthaltsraum betrat, schlank und aufrecht in ihrem scharlachroten Kostüm mit grauer Bluse und einer einreihigen Perlenkette, hatte sie es nicht nötig, mit einem Löffel gegen ein Glas zu klopfen, um auf sich aufmerksam zu machen. Alles Geschnatter verstummte augenblicklich. In dem zum Westflügel führenden Gang versammelten sich mehrere MTAs und Pfleger. Selbst das Küchenpersonal kam heraus und postierte sich hinter der Salattheke.
»Wie die meisten von euch wissen, ist hier vorgestern beim Essen etwas Bedauerliches vorgefallen«, sagte Mrs. Sigsby mit einer angenehmen, tragenden Stimme. »Es hat Gerüchte und Geschwätz gegeben, dass dabei zwei Kinder zu Tode gekommen seien. Das ist absolut unwahr. Hier im Institut kommen keine Kinder um.«
Sie ließ den Blick in die Runde schweifen. Die Kinder starrten sie mit großen Augen an. Ans Essen dachten sie nicht mehr.
»Falls einige von euch sich auf ihren Obstsalat konzentriert und mir nicht zugehört haben sollten, will ich meine Feststellung wiederholen: Hier kommen keine Kinder um.« Sie machte eine Pause, um das wirken zu lassen. »Ihr habt nicht darum gebeten, hier zu sein. Das ist uns allen klar, aber wir entschuldigen uns nicht dafür. Ihr seid hier, um nicht nur eurem Land, sondern der ganzen Welt zu dienen. Wenn euer Dienst beendet ist, werdet ihr keine Orden bekommen, und es werden zu euren Ehren keine Paraden stattfinden. Ihr werdet euch unseres aufrichtigen Dankes nicht einmal bewusst sein, denn bevor ihr abreist, werden eure Erinnerungen an das Institut annihiliert werden. Ausradiert, falls ihr den Ausdruck nicht kennt.« Ihr Blick richtete sich für einen Moment auf Ellis und teilte ihm mit: Aber du kennst ihn natürlich. »Aber bitte begreift, dass wir euch trotzdem dankbar sind. Bei eurem Aufenthalt hier werden Tests an euch durchgeführt, die teilweise anstrengend sind, aber ihr werdet überleben und eure Eltern wiedersehen. Wir haben noch nie ein Kind verloren.«
Wieder machte sie eine Pause und wartete darauf, ob jemand etwas erwiderte oder einen Einwand äußerte. Wilholm hätte das wohl getan, aber der war fort. Ellis tat es nicht, weil direkte Reaktionen nicht seine Sache waren. Als Schachspieler zog er trickreiche Eröffnungen einem direkten Angriff vor. Nützen würde ihm das wenig.
»Nach dem Gesichtsfeld- und Sehschärfetest, den jene von euch, die ihn schon kennen, als ›die Punkte‹, ›die Blitze‹ oder ›die Lichter‹ bezeichnen, hatte Harold Cross einen kurzen Krampfanfall. Dabei hat er unbeabsichtigt nach Greta Wilcox geschlagen, die ihn – bewundernswerterweise, wie wir sicher alle finden–, beruhigen wollte. Sie hat sich dabei stark den Hals verrenkt, aber sie befindet sich auf dem Wege der Genesung. Ihre Schwester ist bei ihr. Die Wilcox-Zwillinge und Harold werden nächste Woche nach Hause geschickt, und unsere guten Wünsche werden sie begleiten.«
Wieder suchte ihr Blick Ellis, der an einem Tisch an der rückwärtigen Wand saß. Sein kleiner Freund war bei ihm. Dem hing die Kinnlade herab, aber wenigstens ließ er momentan seine Nase in Frieden.
»Falls irgendjemand etwas anderes behaupten sollte als das, was ich euch gerade erzählt habe, könnt ihr euch sicher sein, dass derjenige lügt. Dann solltet ihr seine Lügen unverzüglich einem von den Pflegern oder MTAs melden. Habt ihr mich verstanden?«
Stille, die nicht einmal von einem nervösen Husten durchbrochen wurde.
»Wenn ihr mich verstanden habt, sagt ihr: Ja, Mrs. Sigsby.«
»Ja, Mrs. Sigsby«, erwiderten die Kinder.
Sie setzte ein schmales Lächeln auf. »Das könnt ihr doch bestimmt besser.«
»Ja, Mrs. Sigsby!«
»Und jetzt mit echter Überzeugung.«
»JA, MRS. SIGSBY!« Diesmal stimmten selbst das Küchenpersonal, die MTAs und die Pfleger mit ein.
»Gut.« Mrs. Sigsby lächelte. »Um Lunge und Kopf klar zu bekommen, ist doch nichts besser geeignet als ein herzhaftes Ja, nicht wahr? Jetzt könnt ihr weiteressen.« Sie wandte sich an das weiß gewandete Küchenpersonal. »Und vor der Schlafenszeit gibt’s einen speziellen Leckerbissen, vorausgesetzt, unser Küchenchef kann Kuchen und Eiscreme zur Verfügung stellen. Wie steht es damit, Mr. Doug?«
Der Küchenchef formte Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis. Jemand begann zu klatschen. Andere fielen ein. Während Mrs. Sigsby den Raum verließ, nickte sie dankend nach rechts und links. Sie marschierte mit erhobenem Kopf dahin; ihre Hände schwangen in winzigen, präzisen Bogen vor und zurück. Um ihre Mundwinkel spielte ein leichtes Lächeln, das Luke an das der Mona Lisa erinnerte. Die Schar in Blau und Rosa trat auseinander, um ihr Platz zu machen.
Weiter applaudierend, beugte Avery sich zu Luke herüber und flüsterte: »Was sie gesagt hat, ist alles gelogen.«
Luke nickte beinahe unmerklich.
»Diese verdammte Bitch«, flüsterte Avery.
Mit demselben winzigen Nicken sandte Luke ihm eine kurze mentale Botschaft: Klatsch weiter.
In der Nacht lagen Luke und Avery nebeneinander in Lukes Bett, während ein weiterer Tag im Institut zu Ende ging.
Avery gab flüsternd alles wieder, was Maureen ihm jedes Mal mitgeteilt hatte, wenn er sich als Signal zum Senden an die Nase gegriffen hatte. Luke hatte befürchtet, dass Maureen die Botschaft, die er ihr in ihren Wagen geworfen hatte, nicht verstehen würde (ein kleines unbewusstes Vorurteil, vielleicht wegen der braunen Haushälterinnenuniform, die sie trug, daran musste er noch arbeiten), aber sie hatte alles kapiert und Avery mit einer Liste aller nötigen Schritte versorgt. Was die Signale anging, hätte der Avester nach Lukes Meinung etwas raffinierter vorgehen können, aber offenbar war alles glattgegangen. Jedenfalls musste er das hoffen. Falls das zutraf, blieb als einzige echte Frage nur noch, ob der erste Schritt tatsächlich klappen konnte. Die Frage war brutal simpel.
Die beiden Jungen lagen auf dem Rücken und blickten in die Dunkelheit. Luke ging die nötigen Schritte gerade zum zehnten – wenn nicht gar zum fünfzehnten – Mal durch, als Avery mit drei Wörtern, die wie ein rotes Neonschild leuchteten, in seinen Kopf eindrang. Als sie verblassten, hinterließen sie ein Nachbild.
Ja, Mrs. Sigsby.
Luke stupste ihn.
Avery kicherte.
Einige Sekunden später kamen die Worte wieder, diesmal noch greller.
Ja, Mrs. Sigsby!
Luke stupste Avery wieder, aber er lächelte dabei, was Avery trotz der Dunkelheit wahrscheinlich wusste. Das Lächeln spielte nicht nur um seinen Mund, sondern auch in seinem Kopf, und Luke fand, dass er ein Recht darauf hatte. Vielleicht würde ihm die Flucht aus dem Institut nicht gelingen – er musste zugeben, dass die Chancen gering waren–, aber heute war ein guter Tag gewesen. Hoffnung war so ein schönes Wort, das ihm so ein schönes Gefühl verschaffte.
JA, MRS. SIGSBY, DU VERFLUCHTE BITCH!
»Hör auf, sonst kitzle ich dich«, murmelte Luke.
»Es hat geklappt, oder etwa nicht?«, flüsterte Avery. »Es hat echt geklappt. Meinst du, dass du wirklich…«
»Keine Ahnung, ich weiß bloß, dass ich’s versuchen werde. Halt jetzt die Klappe und schlaf ein.«
»Ich tät mir wünschen, dass du mich mitnehmen kannst. Ganz doll sogar.«
»Ich auch«, sagte Luke und meinte es. Es würde schwer sein, Avery hier alleinzulassen. Der kam zwar besser mit den anderen zurecht als die Zwillinge und Stevie Whipple, aber als besonders umgänglich hätte ihn sicher niemand bezeichnet.
»Wenn du wiederkommst, musst du mindestens tausend Cops mitbringen«, flüsterte Avery. »Und tu das bald, bevor sie mich in den Hinterbau bringen. Tu es, solange wir Sha noch retten können.«
»Ich tu, was ich kann«, versprach Luke. »Aber hör jetzt auf, in meinem Kopf herumzubrüllen. Das ist allmählich nicht mehr lustig.«
»Wenn du mehr TP hättest, würde es dir nicht wehtun, mir was zu schicken, und wir könnten besser miteinander reden.«
»Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, wär mein Vater Millionär. Zum letzten Mal: Schlaf endlich!«
Das tat Avery, und Luke verlor sich in seinen eigenen Gedanken. Der erste Schritt, den Maureen ihm übermittelt hatte, war so durchsichtig wie das Eis aus dem Automaten, an dem sie sich manchmal unterhalten hatten, aber er musste zugeben, dass er zu allem passte, was er beobachtet hatte: verstaubte Kameragehäuse, abgescheuerte Fußleisten, die nie frisch lackiert worden waren, die sorglos hinterlassene Aufzugkarte. Wieder hatte er den Eindruck, dass dieser Ort nur noch träge dahinglitt wie ein Raumschiff, dessen Motoren abgeschaltet worden waren.
Am nächsten Tag eskortierte Winona ihn auf Ebene C, wo er kurz durchgecheckt wurde: Blutdruck, Herzfrequenz, Temperatur, Sauerstoffsättigung. Als Luke fragte, was als Nächstes dran sei, warf Dave einen Blick auf sein Klemmbrett, schenkte ihm ein sonniges Grinsen – als ob er ihm nie eine brutale Ohrfeige verpasst hätte – und sagte, sonst stehe nichts auf dem Terminplan.
»Du hast den Tag frei, Luke. Genieß ihn!« Er hob die flache Hand.
Luke erwiderte sein Grinsen und klatschte ab, aber er dachte dabei an das, was auf Maureens Zettel gestanden hatte: Wenn sie keine Tests mehr mit dir machen, hast du vielleicht bloß noch 3 Tage.
»Was ist mit morgen?«, fragte er, als Dave ihn zum Aufzug zurückbrachte.
»Um morgen kümmern wir uns morgen«, sagte Dave. »So läuft es eben.«
Für manche Leute mochte das gelten, doch für Luke galt es nicht mehr. Er hätte gern mehr Zeit gehabt, Maureens Plan überdenken zu können – wobei er ihn wohl auf die lange Bank geschoben hätte–, aber er fürchtete, dass seine Zeit so gut wie abgelaufen war.
Inzwischen wurde auf dem Institutsspielplatz täglich Völkerball gespielt. Das war beinahe zu einem Ritual geworden, und praktisch alle nahmen zumindest eine Weile daran teil. Luke stellte sich in den Kreis und rannte mit den anderen etwa zehn Minuten lang umher, bis er sich treffen ließ. Anstatt sich anschließend zu den Werfern zu gesellen, schlenderte er über den Baseballplatz, an Frieda Brown vorüber, die allein und trostlos dastand und sich an Freiwürfen versuchte. Offenbar hatte sie immer noch keine richtige Ahnung, wo sie sich befand. Das konnte er gut verstehen. Er setzte sich auf den Kies und lehnte sich mit dem Rücken an den Maschendrahtzaun. Immerhin gab es nicht mehr so viele Stechmücken. Er legte die Handflächen auf den Boden und bewegte sie beiläufig hin und her, den Blick auf das Völkerballspiel gerichtet.
»Willst du mitmachen?«, fragte Frieda.
»Vielleicht später«, sagte Luke. Unauffällig griff er mit einer Hand nach hinten, tastete nach der Unterseite des Zauns und stellte fest, dass Maureen recht hatte – da war eine Lücke, weil der Boden leicht abfiel. Entstanden war sie vielleicht bei der Schneeschmelze im Frühjahr. Es waren nicht mehr als drei bis höchstens fünf Zentimeter, aber die Lücke war vorhanden. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie aufzufüllen. Luke legte die umgedrehte Hand an die freiliegende Unterkante des Zauns und spürte, wie sich die Drahtenden in seine Handfläche pressten. Einen Moment lang wackelte er mit den Fingerspitzen in der freien Luft außerhalb vom Institut, dann stand er auf, klopfte sich den Hintern ab und fragte Frieda, ob sie Horse spielen wolle. Sie strahlte ihn mit einem Ausdruck an, der besagte: Ja! Natürlich! Sei mein Freund!
Das brach ihm irgendwie das Herz.
Auch am folgenden Tag wurden an Luke keinerlei Tests durchgeführt; diesmal machte man sich noch nicht einmal die Mühe, seine Vitalfunktionen zu kontrollieren. Er half Connie, einem von den Hausmeistern, zwei Matratzen vom Aufzug zu zwei Zimmern im Ostflügel zu schleppen, bekam jedoch nur eine lausige Münze für seine Mühe (was das Verteilen von Münzen anging, waren alle Hausmeister geizig). Auf dem Rückweg zu seinem Zimmer sah er Maureen am Eiswürfelspender stehen. Sie trank aus der Wasserflasche, die sie immer in dem Spender kühl stellte. Er fragte, ob sie Hilfe brauche.
»Nein, ist nicht nötig.« Dann, mit gesenkter Stimme: »Hendricks und Zeke haben sich draußen am Fahnenmast unterhalten. Ich habe sie beobachtet. Hattest du irgendwelche Tests?«
»Nein. Schon seit zwei Tagen nicht mehr.«
»Das hab ich mir gedacht. Heute ist Freitag. Eventuell hast du bis Samstag oder Sonntag Zeit, aber das Risiko würde ich an deiner Stelle nicht eingehen.« Die Mischung aus Besorgnis und Mitgefühl, die er auf ihrem abgezehrten Gesicht sah, erschreckte ihn.
Heute Nacht.
Das sprach er nicht laut aus, er formte die Worte nur mit dem Mund, während er sich mit der rechten Hand ans Gesicht griff und unter dem Auge kratzte. Sie nickte.
»Maureen… wissen die eigentlich, dass Sie…« Er konnte den Satz nicht vollenden, musste es aber auch gar nicht.
»Sie meinen, es ist Ischias.« Ihr Flüstern war kaum zu verstehen. »Hendricks ahnt vielleicht was, aber er kümmert sich nicht drum. Solange ich weiterarbeite, ist es ihnen völlig egal. Geh jetzt weiter, Luke. Ich räume dein Zimmer auf, während du beim Mittagessen bist. Wirf einen Blick unter die Matratze, wenn du zu Bett gehst. Viel Glück.« Sie zögerte. »Ich wünschte, ich könnte dich umarmen, Sohnemann.«
Luke spürte, wie seine Augen sich mit Tränen füllten. Er hastete davon, bevor sie es bemerken konnte.
Beim Mittagessen griff er kräftig zu, obwohl er nicht besonders hungrig war. Dasselbe würde er beim Abendessen tun. Wenn es klappte, würde er so viele Kalorien brauchen, wie er speichern konnte.
Beim Abendessen setzte sich Frieda, die offenbar anhänglich geworden war, zu Luke und Avery an den Tisch. Anschließend gingen sie auf den Spielplatz, wo Luke es allerdings dankend ablehnte, mit Frieda noch einmal Basketball zu spielen. Er werde stattdessen aufpassen, dass Avery auf dem Trampolin nichts passiere.
Während der Avester sich lustlos abwechselnd auf den Hintern und den Bauch fallen ließ, leuchtete in Lukes Kopf wieder eine neonrote Botschaft auf.
Heute Nacht?
Luke schüttelte den Kopf. »Aber du musst trotzdem in deinem eigenen Zimmer schlafen. Ich brauche ausnahmsweise mal volle acht Stunden.«
Avery rutschte vom Trampolin und sah Luke ernst an. »Erzähl mir bloß nichts, was nicht stimmt, weil du meinst, jemand könnte finden, ich seh traurig aus, und sich fragen, warum. Ich muss nicht traurig aussehen.« Womit er seinen Mund zu einem hoffnungslos unechten Grinsen verzog.
Okay. Hauptsache, du vermasselst mir nicht meine Chance, Avester.
Komm wieder, und hol mich hier raus, wenn du kannst. Bitte.
Mach ich.
Nun kamen die Blitze wieder und mit ihnen eine lebhafte Erinnerung an den Wassertank. Das lag wohl an der Anstrengung, bewusst Gedanken an jemand zu senden.
Avery betrachtete ihn noch einen Moment, dann rannte er zum Basketballplatz. »Spielen wir Horse, Frieda?«
Sie blickte auf ihn herab und grinste ihn an. »Gegen mich hast du doch keine Chance, Kleiner.«
»Gib mir ein H und ein O Vorsprung, dann schauen wir mal.«
Die beiden spielten, während es langsam dunkel wurde. Als Luke den Spielplatz überquerte, warf er einen Blick zurück. Avery, den Harry Cross einmal als Lukes »Minikumpel« bezeichnet hatte, versuchte einen Hakenwurf, der total danebenging. Wahrscheinlich würde er vor dem Zubettgehen in Lukes Zimmer kommen, um wenigstens seine Zahnbürste zu holen, doch das tat er nicht.
Luke spielte auf seinem Laptop ein paarmal Slap Dash und 100 Balls, dann putzte er sich die Zähne, zog sich bis auf die Boxershorts aus und stieg ins Bett. Er schaltete die Lampe aus und griff unter seine Matratze. Womöglich hätte er sich die Finger an dem Messer aufgeschlitzt, das Maureen dort hinterlegt hatte (im Gegensatz zu denen aus Plastik, die man beim Essen bekam, fühlte sich dieses wie ein Gemüsemesser mit einer echten Klinge an), wenn sie es nicht in einen Waschlappen gewickelt hätte. Außerdem fand er noch etwas anderes, was er identifizieren konnte, indem er es betastete. Bevor er hierhergekommen war, hatte er so etwas oft genug verwendet. Einen USB-Stick. Er lehnte sich im Dunkeln aus dem Bett und schob die beiden Gegenstände in seine Hosentasche.
Nun kam die Zeit des Wartens. Eine Weile rannten Kinder den Flur rauf und runter. Vielleicht spielten sie Fangen, vielleicht tobten sie einfach nur so herum. Da jetzt mehr Zimmer belegt waren, lief es praktisch jeden Abend so. Man hörte Geschrei und Gelächter, gefolgt von übertriebenen Beschwichtigungsgeräuschen, denen weiteres Gelächter folgte. Die da draußen ließen Dampf ab und damit auch ihre Furcht. Mit am lautesten brüllte heute Stevie Whipple, was Luke darauf zurückführte, dass er ein Fläschchen Wein oder einen Alcopop intus hatte. Es gab keine strengen Erwachsenen, die Ruhe verlangt hätten; wer für die Überwachung zuständig war, hatte offenbar keinerlei Interesse, irgendwelche Regeln oder Sperrstunden durchzusetzen.
Endlich kam der Flur zur Ruhe. Nun hörte Luke nur das Geräusch seines zuverlässig schlagenden Herzens und die Bewegung seiner Gedanken, während er zum letzten Mal Maureens Liste durchging.
Sobald ich draußen bin, muss ich dahin, wo das Trampolin steht, erinnerte er sich. Dann drehe ich mich ein Stück weit nach rechts. Und falls nötig, muss ich das Messer zu Hilfe nehmen.
Falls er es tatsächlich hinausschaffte.
Erleichtert stellte er fest, dass er zu achtzig Prozent entschlossen war und nur zu zwanzig Prozent Angst hatte. Selbst dieses Maß an Angst war eigentlich nicht ganz echt, aber es war wohl naturbedingt. Was seine Entschlossenheit antrieb – was er ohne jeden Zweifel wusste–, war ganz simpel: Er hatte nur diese eine Chance, und er beabsichtigte, das Beste daraus zu machen.
Nachdem es draußen auf dem Flur eine geschätzte halbe Stunde lang ruhig war, stieg Luke aus dem Bett und griff sich den Plastikkübel für Eis, der auf dem Fernseher stand. Er hatte sich eine Geschichte ausgedacht, falls jemand zu dieser Stunde tatsächlich die Monitore beobachtete, anstatt irgendwo da unten in einem Überwachungsraum zu sitzen und Solitaire zu spielen.
Diese Geschichte handelte von einem Jungen, der früh zu Bett ging und dann aus irgendeinem Grund aufwachte, vielleicht weil er pinkeln musste, vielleicht weil er schlecht geträumt hatte. Jedenfalls befand dieser Junge sich noch im Halbschlaf, weshalb er in seiner Unterwäsche durch den Flur tappte. Kameras in staubigen Gehäusen beobachteten ihn, während er zum Eiswürfelspender ging, um seinen Kübel zu füllen. Als er in sein Zimmer zurückkehrte, hatte er nicht nur den Kübel, sondern auch die Schaufel aus dem Spender dabei, aber bestimmt nur, weil er so verschlafen war, dass er nicht merkte, das Ding noch in der Hand zu haben. Morgens würde er es auf seinem Schreibtisch oder im Waschbecken liegen sehen und sich fragen, wie es da wohl hingelangt war.
In sein Zimmer zurückgekehrt, schaufelte Luke etwas Eis in ein Glas, ließ Wasser hineinlaufen und trank sofort die Hälfte davon. Das war gut. Sein Mund und sein Hals waren total ausgetrocknet. Er ließ die Schaufel auf dem Spülkasten liegen und legte sich wieder ins Bett, wo er sich unruhig hin und her warf. Dabei murmelte er vor sich hin. Vielleicht vermisste der Junge in der Geschichte seinen Minikumpel und konnte deshalb nicht mehr einschlafen. Und vielleicht wurde er auch von niemand beobachtet oder belauscht, aber das konnte er nicht wissen, weshalb er dieses Schauspiel bieten musste.
Schließlich schaltete er die Nachttischlampe ein und zog sich an. Er ging ins Bad, wo sich keine Überwachungskamera befand (jedenfalls wahrscheinlich nicht), schob sich die Schaufel vorn in die Hose und drapierte sein T-Shirt darüber. Falls es hier doch eine Kamera gab und falls jemand gerade die Livebilder betrachtete, war er vermutlich jetzt schon geliefert. Dagegen konnte er nichts tun, außer zum nächsten Teil seiner Geschichte überzugehen.
Er verließ sein Zimmer und ging durch den Flur zum Aufenthaltsraum. Dort lagen Stevie Whipple und irgendein anderer Junge, einer von den Neuen, tief schlafend auf dem Boden. Um sie herum waren etwa ein halbes Dutzend leere Alcopops verstreut. Die kleinen Fläschchen entsprachen einer anständigen Menge Münzen. Stevie und sein neuer Freund würden daher mit einem Kater und leeren Taschen aufwachen.
Luke trat über Stevie und ging in den Essbereich. Da nur das fluoreszierende Licht der Salattheke brannte, war es hier düster und ein bisschen unheimlich. Luke nahm sich aus der nie leeren Obstschale einen Apfel und biss hinein, während er durch den Raum ging und hoffte, dass niemand ihn beobachtete. Falls doch, würde dieser Jemand hoffentlich auf die Pantomime hereinfallen, die Luke zum Besten gab. Der Junge aus der Geschichte war aufgewacht. Er hatte sich am Spender Eis besorgt und ein schön kaltes Glas Wasser getrunken, aber dadurch war er noch wacher geworden, weshalb er in den Aufenthaltsraum gegangen war, um sich etwas zu essen zu holen. Jetzt dachte er: Ach, ich könnte ja mal eine Weile auf den Spielplatz gehen, um frische Luft zu schnappen. Damit wäre er nicht der Erste; Kalisha hatte erzählt, dass sie mit Iris mehrmals hinausgegangen war, um sich die Sterne anzuschauen – die waren hier draußen, wo es keinerlei Lichtverschmutzung gab, unglaublich hell. Manche Kids, hatte sie gesagt, verzogen sich nachts auch auf den Spielplatz, um zu knutschen. Daher hoffte Luke, dass sich jetzt gerade niemand zu einem dieser beiden Zwecke da draußen befand.
Es war tatsächlich niemand da, und weil kein Mond schien, war es ziemlich dunkel. Die verschiedenen Spielgeräte waren nur als eckige Schatten erkennbar. Wenn kleine Kinder ganz allein waren, hatten sie im Dunkeln häufig Angst. Für größere Kinder galt das ebenfalls, wenngleich die meisten das nicht zugegeben hätten.
Luke schlenderte über den Spielplatz und wartete ab, ob einer von den ihm weniger vertrauten Pflegern der Nachtschicht auftauchte und fragte, was er hier draußen zu suchen habe, und das auch noch mit einer Eisschaufel unter dem T-Shirt. Er wolle doch nicht etwa fliehen, oder? Das wäre nämlich ganz schön bekloppt!
»Bekloppt«, murmelte Luke, während er sich mit dem Rücken am Maschendrahtzaun auf den Boden setzte. »Das bin ich tatsächlich, echt bekloppt.«
Wieder wartete er, ob jemand auftauchte. Das war nicht der Fall. Man hörte nur das Zirpen von Grillen und den Ruf einer Eule. Da drüben befand sich zwar eine Kamera, aber ob jemand die wirklich überwachte? Ja, es gab Überwachungsmaßnahmen, aber die waren schlampig. Das war völlig klar. Wie schlampig sie waren, würde er jetzt herausfinden.
Er hob sein Shirt hoch und zog die Schaufel hervor. Nach seinem Plan würde er hinter seinem Rücken mit der rechten Hand schaufeln und eventuell zur linken überwechseln, wenn ihm der Arm erlahmte. In der Realität klappte das nicht besonders gut. Er stieß mit der Schaufel wiederholt an die Unterkante des Zauns, was ein Geräusch hervorrief, das in der Stille deutlich zu hören war. Außerdem sah er nicht, ob er irgendwelche Fortschritte machte.
So geht das nicht, dachte er.
Luke schob alle Sorgen wegen der Kamera beiseite, kniete sich hin und fing an, unter dem Zaun zu buddeln, dass der Kies nur so nach rechts und links spritzte. Die Zeit schien sich auszudehnen, und er hatte das Gefühl, dass Stunden vergingen. Ob da wohl jemand im Überwachungsraum saß, den er noch nie gesehen hatte (aber sich lebhaft vorstellen konnte) und der sich allmählich wunderte, weshalb der an Schlaflosigkeit leidende Junge nicht vom Spielplatz zurückgekehrt war? Ob er dann jemand herschicken würde, um die Lage zu checken? Und was war, wenn die Kamera mit einer Nachtsichtfunktion ausgestattet war, Lukey? Wie stand es damit?
Luke buddelte. Er spürte, wie sein Gesicht vom Schweiß ölig wurde und wie die für die Nachtschicht eingeteilten Mücken sich darauf niederließen. Er buddelte. Er konnte seine Achselhöhlen riechen. Sein Herzschlag steigerte sich zum Galopp. Er spürte, dass jemand hinter ihm stand, doch als er sich umblickte, sah er nur den Pfosten des Basketballkorbs, der vor den Sternen aufragte.
Schließlich hatte er unter dem Zaun einen Graben ausgehoben. Der war zwar nicht besonders tief, aber Luke war schon vor der Ankunft im Institut mager gewesen und hatte seither noch mehr abgenommen. Vielleicht…
Doch als er sich platt auf den Boden legte und untendurch robben wollte, hielt der Zaun ihn auf. Der Zwischenraum war noch längst nicht groß genug.
Geh wieder rein. Geh wieder rein und schnell ins Bett, bevor man dich entdeckt und dir etwas Grässliches antut, weil du versuchst, von hier zu fliehen.
Aber das war keine Option, bloß Feigheit. Man würde ihm nämlich in jedem Fall etwas Grässliches antun: die Filme, die Kopfschmerzen, die Stass-Lichter… und schließlich das Summen.
Keuchend buddelte er weiter, hin und her, links und rechts. Allmählich vergrößerte sich der Zwischenraum zwischen der Unterkante des Zauns und dem Boden. Wie dumm von denen, dass sie den Boden hier nicht asphaltiert hatten. Wie dumm von ihnen, dass sie den Zaun nicht wenigstens unter eine leichte elektrische Spannung gesetzt hatten. Aber das hatten sie nicht getan, und deshalb war er hier.
Er legte sich wieder auf den Boden, um untendurch zu robben. Auch diesmal hinderte ihn der Zaun daran, aber viel fehlte nicht mehr. Luke kniete sich hin und buddelte weiter, immer schneller, links und rechts, hin und her. Mit einem leisen Knall brach der Handgriff der Schaufel ab. Luke warf ihn beiseite. Während er weiterarbeitete, spürte er, wie sich der Rand der Schaufel in seine Handflächen bohrte. Als er innehielt, um einen Blick darauf zu werfen, sah er, dass sie bluteten.
Jetzt musste es aber klappen. Definitiv.
Dennoch passte er immer noch nicht… ganz… hindurch.
Also griff er wieder nach der Schaufel. Links und rechts, backbord und steuerbord. Von seinen Fingern tropfte Blut, die verschwitzten Haare klebten an der Stirn, in den Ohren summten die Mücken. Er warf die Schaufel weg, legte sich hin und versuchte noch einmal, sich unter dem Zaun durchzuschieben. Die hervorstehenden Drahtenden zerfetzten sein T-Shirt und bohrten sich in seine Haut. Er spürte, dass er an den Schulterblättern blutete, aber er robbte weiter.
Auf halbem Weg blieb er stecken. Als er keuchend auf den Kies starrte, sah er, wie der von dem Luftstrom aus seiner Nase erfasste Staub in der Luft winzige Wirbel bildete. Er musste zurück, musste noch tiefer graben… vielleicht nur ein bisschen. Als er sich nun zurück auf den Spielplatz schieben wollte, stellte er fest, dass das ebenfalls nicht ging. Er steckte in jeder Beziehung fest. Wenn morgen früh die Sonne aufging, würde er unter diesem beschissenen Zaun immer noch gefangen sein wie ein Kaninchen in der Falle.
Nun kamen auch die farbigen Punkte wieder. Rot und grün und violett stiegen sie aus dem aufgewühlten Boden auf, der nur wenige Zentimeter von seinen Augen entfernt war. Sie jagten auf ihn zu, zerbrachen und verschmolzen, drehten sich und blitzten. Er spürte, wie Klaustrophobie ihm Herz und Kopf zusammenpresste. Seine Hände pochten und kribbelten.
Luke streckte die Arme aus, krallte sich mit den Fingern in den Dreck und zog mit aller Kraft. Einen Moment besetzten die Blitze nicht nur sein Blickfeld, sondern sein gesamtes Gehirn; er war in ihrem Licht verloren. Dann schien die Unterkante des Zauns sich minimal anzuheben. Womöglich war das bloße Einbildung, aber wohl doch nicht, denn er hörte es knarren.
Vielleicht bin ich durch die Spritzen und den Wassertank TK-pos geworden. Zu so jemand wie George.
Darauf kam es jetzt allerdings nicht an. Das Einzige, worauf es ankam, war die Tatsache, dass er sich wieder vorwärtsbewegen konnte.
Die Punkte verblassten. Falls der Zaun sich tatsächlich gehoben hatte, so hatte er sich jetzt wieder gesenkt. Die Metallspitzen rissen Luke nicht mehr die Schulterblätter, sondern Hintern und Oberschenkel auf. Sobald er einen qualvollen Moment lang innehielt, griff der Zaun wieder gierig nach ihm und wollte nicht mehr loslassen, doch als er den Kopf zur Seite drehte und die Wange auf den kiesbestreuten Boden legte, sah er vor sich einen Strauch, der vielleicht in Reichweite war. Er streckte sich, kam nicht nah genug heran, streckte sich ein kleines Stück weiter und bekam den Strauch zu fassen. Er zog. Der Strauch begann sich aus dem Boden zu lösen, aber bevor das ganz geschehen war, rutschte Luke wieder vorwärts. Er ruckelte mit den Hüften und schob mit den Füßen nach. Eine Drahtspitze gab ihm einen Abschiedskuss, indem sie ihm einen heißen Strich über eine Wade zog, dann schlängelte er sich endgültig auf die andere Seite des Zauns.
Luke war draußen.
Schwankend erhob er sich auf alle viere und sah sich mit wildem Blick um, weil er erwartete, dass alle Lichter aufflammten, nicht nur im Aufenthaltsraum, sondern auch in den Fluren, und dass er in ihrem Schein rennende Gestalten sah – Pfleger, die ihre Schockstöcke aus dem Holster gezogen und auf maximale Stärke gestellt hatten.
Da war niemand.
Er richtete sich ganz auf und rannte blindlings los, weil er den entscheidenden nächsten Schritt – sich zu orientieren – in seiner Panik vergessen hatte. Womöglich wäre er in den Wald gerannt und hätte sich darin verirrt, bevor sich seine Vernunft wieder zu Wort meldete, doch da spürte er plötzlich einen brennenden Schmerz, weil er mit der linken Ferse auf einen scharfkantigen Stein getreten war. Ihm wurde klar, dass er bei seinem verzweifelten Ausbruch einen Schuh verloren hatte.
Luke lief zum Zaun zurück, bückte sich, hob den Schuh auf und zog ihn an. Sein Rücken und sein Hintern taten zwar weh, aber der letzte Schnitt in die Wade war tiefer gegangen und brannte wie ein heißer Draht. Während sein Herzschlag sich verlangsamte, konnte er allmählich wieder klar denken. Sobald du draußen bist, musst du da hin, wo das Trampolin steht. So hatte Avery ihm den zweiten von Maureens Schritten übermittelt. Stell dich mit dem Rücken dazu hin, und mach eine Vierteldrehung nach rechts. Das ist die Richtung, die du nehmen musst. Es ist nur etwa eine Meile, und du musst nicht total geradeaus gehen, weil dein Ziel ziemlich groß ist, aber versuch dein Bestes. Am Abend, als sie schon im Bett lagen, hatte Avery gesagt, vielleicht könne Luke sich von den Sternen leiten lassen. Er selbst kenne sich mit so etwas nicht aus.
Na gut. Zeit zu gehen. Aber vorher musste noch etwas anderes erledigt werden.
Er griff an sein rechtes Ohr und tastete nach der kleinen Scheibe, die dort eingebettet war. Dabei fiel ihm ein, dass eines von den Mädchen – vielleicht Iris, vielleicht auch Helen – gesagt hatte, die Implantation habe ihr nicht wehgetan, weil ihre Ohren bereits vorher durchstochen gewesen seien. Allerdings konnte man Ohrringe herausnehmen, das hatte Luke bei seiner Mutter gesehen. Das Ding da war jedoch fixiert.
Bitte, lieber Gott, mach, dass ich nicht das Messer brauche.
Luke nahm sich zusammen, bohrte die Fingernägel unter den runden oberen Rand des Ortungschips und zog. Sein Ohrläppchen dehnte sich, und es tat weh, brutal weh sogar, aber der Chip rührte sich nicht vom Fleck. Luke ließ los, holte zweimal tief Luft (wobei die Erinnerung an den Wassertank wiederkam) und zog noch einmal. Fester. Es tat noch mehr weh, aber der Chip blieb an Ort und Stelle, und die Zeit verging. Im Westflügel, der aus der ungewohnten Perspektive fremd aussah, war es immer noch dunkel und ruhig, aber wie lange würde es dabei bleiben?
Er überlegte, ob er noch einmal versuchen sollte, den Chip herauszuziehen, aber das hätte nur bedeutet, das Unvermeidliche aufzuschieben. Maureen hatte Bescheid gewusst; deshalb hatte sie ihm ja das Schälmesser unter die Matratze gesteckt. Er zog es aus der Hosentasche (wobei er darauf achtete, dass der USB-Stick nicht ebenfalls herausrutschte) und hielt es sich im schwachen Sternenlicht vor die Augen. Nachdem er mit dem Daumenballen die Schneide ertastet hatte, griff er mit der linken Hand ans rechte Ohr und dehnte das Ohrläppchen so weit, wie es ging, was nicht besonders weit war.
Luke zögerte und nahm sich einen Moment Zeit, wirklich zu begreifen, dass er auf der freien Seite des Zauns stand. Wieder heulte die Eule, ein schläfriges Geräusch. Er sah in der Dunkelheit Glühwürmchen aufleuchten und registrierte selbst in dieser extremen Lage, was für ein schönes Gefühl das war.
Mach schnell, sagte er sich. Tu so, als würdest du ein Steak durchschneiden. Und schrei nicht, auch wenn es noch so wehtut. Du darfst auf keinen Fall schreien.
Er setzte die Messerschneide oben an sein Ohrläppchen und stand so einige Sekunden da, die sich wie einige Ewigkeiten anfühlten. Dann ließ er das Messer sinken.
Ich kann nicht.
Du musst.
Ich kann nicht.
O Gott, ich muss es tun.
Wieder legte er das Messer an das zarte, ungeschützte Fleisch und zog sofort durch, bevor er Zeit hatte, mehr zu tun als nur zu hoffen, dass die Schneide so scharf war, es mit einem einzigen Schnitt zu schaffen.
Die Schneide war tatsächlich scharf, doch im letzten Moment ließ seine Kraft ihn minimal im Stich, weshalb das Ohrläppchen an einem Hautfetzen herabhing, anstatt ganz abzugehen. Zuerst spürte er keine Schmerzen, nur das warme Blut, das ihm am Hals herablief. Dann waren sie plötzlich da. Es war, als hätte eine riesenhafte Wespe ihn gestochen und ihr Gift in ihn hineingespritzt. Er sog zischend Luft in die Lunge, ergriff das herabhängende Ohrläppchen und zog es ab wie die Haut von einer Hähnchenkeule. Dann beugte er sich darüber, obwohl er wusste, dass er das verdammte Ding in den Fingern hielt. Er musste es trotzdem sehen, musste sich vergewissern. Da war es.
Luke stellte sich mit dem Rücken zum Trampolin an den Zaun und machte eine Vierteldrehung nach rechts. Vor ihm erstreckte sich der dunkle Wald von Maine für weiß Gott wie viele Meilen. Als Luke den Kopf hob, sah er den Großen Wagen. Ein Eckstern stand in gerader Linie vor ihm. Dem musst du folgen, sagte er sich, mehr musst du gar nicht tun. Bis zum Morgen würde er ohnehin nicht unterwegs sein; Maureen hatte zu Avery gesagt, es sei nur etwa eine Meile, dann komme der nächste Schritt. Achte nicht auf die Schmerzen in deinen Schulterblättern, die schlimmeren Schmerzen in deiner Wade und die allerschlimmsten in deinem Van-Gogh-Ohr. Achte nicht darauf, dass deine Arme und Beine zittern. Mach dich auf den Weg. Aber zuerst…
Er hob die zur Faust geballte rechte Hand über die Schulter und schleuderte das Ohrläppchen, in dem der Chip eingebettet war, über den Zaun. Mit einem leisen Klicken (das er sich vielleicht nur einbildete) landete es auf dem Asphalt, von dem der erbärmliche Basketballplatz umgeben war. Sollen sie es da finden.
Luke ging los, den Blick nach oben auf jenen einzelnen Stern gerichtet.
Davon leiten lassen konnte Luke sich kaum mehr als dreißig Sekunden. Sobald er zwischen die Bäume trat, war der Stern verschwunden. Luke blieb abrupt stehen. Hinter ihm war das Institut durch die ersten, sich verflechtenden Äste des Waldes hindurch noch teilweise sichtbar.
Bloß eine Meile, sagte er sich, und ich müsste das Ziel selbst dann finden, wenn ich ein bisschen vom Weg abweiche, weil Maureen zu Avery gesagt hat, dass es groß ist. Ziemlich groß jedenfalls. Geh also langsam. Du bist Rechtshänder, was bedeutet, dass deine rechte Seite dominiert. Versuch, das zu kompensieren, aber nicht zu stark, sonst wirst du nach links vom Weg abweichen. Und zähl mit. Eine Meile dürften zweitausend bis zweitausendfünfhundert Schritte sein. Grob geschätzt natürlich, denn das hängt vom Gelände ab. Und pass auf, dass du dir nicht mit einem Ast ein Auge ausstichst. Du bist schon durchlöchert genug.
Luke ging weiter. Wenigstens musste er sich nicht durch Gestrüpp hindurcharbeiten; stattdessen standen hier alte Bäume, die viel Schatten warfen. Außerdem war der Boden mit einer dicken Nadelschicht bedeckt, die das Wachstum von Unterholz verhinderte. Jedes Mal wenn Luke einen Umweg um einen der hohen Bäume machen musste (wahrscheinlich waren es Stroben, was sich im Dunkeln jedoch nicht recht erkennen ließ), versuchte er, sich wieder zu orientieren und in einer geraden Linie weiterzugehen, die inzwischen – das musste er zugeben – weitgehend hypothetisch war. Es war, als müsste er sich durch einen riesigen, mit kaum sichtbaren Gegenständen gefüllten Raum hindurchtasten.
Links von ihm grunzte es plötzlich, dann rannte etwas davon. Ein Ast brach ab, weitere raschelten. Luke, der Stadtjunge, erstarrte. War das ein Reh? Und wenn es ein Bär war? Ein Reh würde wegrennen, aber ein Bär hatte vielleicht Lust auf einen Mitternachtssnack. Wenn es einer war, dann tappte der jetzt womöglich wieder auf ihn zu, vom Geruch von Blut angezogen. Davon gab es an Lukes Hals und an der rechten Schulter seines T-Shirts bekanntlich mehr als genug.
Dann verstummte das Geräusch, und er hörte wieder nur noch die Grillen und den gelegentlichen Ruf der Eule. Als das Was-auch-immer davongelaufen war, hatte er etwa achthundert Schritte zurückgelegt. Während er nun weiterging, die Hände vor sich ausgestreckt wie ein Blinder, machte er mit dem Zählen weiter. Eintausend… zwölfhundert… er musste einen Baum umrunden, ein echtes Ungeheuer, dessen unterste Äste so weit über seinem Kopf waren, dass er sie nicht sah… vierzehnhundert… fünfzehnhun…
Luke stolperte über einen umgestürzten Baumstamm und schlug der Länge nach hin. Etwas, wohl ein Aststummel, bohrte sich in seinen linken Oberschenkel. Vor Schmerz stöhnte er auf. Eine kleine Weile blieb er auf den weichen Nadeln liegen, um zu Atem zu kommen. Dabei sehnte er sich – was für eine totale, tödliche Absurdität – nach seinem Zimmer im Institut zurück. Nach einem Zimmer, in dem es für alles einen Ort gab, in dem alles dort war, wo es hingehörte, und in dem keine Tiere von unbestimmbarer Größe durch die Bäume brachen. Ein sicherer Ort.
»Von wegen«, flüsterte er, stand auf und rieb sich den neuen Riss in seinen Jeans und die frische Schramme in seiner Haut darunter. Wenigstens haben sie keine Hunde, dachte er, weil ihm gerade ein alter Gefängnisfilm in Schwarz-Weiß eingefallen war, in dem zwei zusammengekettete Häftlinge entflohen waren, verfolgt von einem Rudel bellender Bluthunde. Außerdem waren sie in einen Sumpf geraten. Wo es Alligatoren gab.
Siehst du, Lukey, hörte er Kalisha sagen. Alles ist gut. Geh einfach weiter. Immer geradeaus, so gut wie du kannst jedenfalls.
Bei zweitausend Schritten fing Luke an, nach Lichtern Ausschau zu halten, die zwischen den Bäumen hindurchflackerten. Ein paar sieht man immer, hatte Maureen zu Avery gesagt, aber das gelbe ist am hellsten. Bei zweitausendfünfhundert Schritten wurde er allmählich nervös. Bei dreitausendfünfhundert war er sich sicher, dass er vom richtigen Weg abgewichen war, und zwar nicht nur ein bisschen.
Das war der Baum, über den ich gefallen bin, dachte er. Der verdammte Baum. Als ich wieder aufgestanden bin, bin ich falsch gegangen, und jetzt marschiere ich wahrscheinlich in Richtung Kanada. Wenn die Typen vom Institut mich nicht finden, werde ich hier im Wald krepieren.
Aber weil eine Rückkehr keine Option darstellte (er hätte den Weg selbst dann nicht gefunden, wenn er es gewollt hätte), ging er weiter. Er wedelte mit den Händen, um sich vor Ästen zu schützen, die ihn an weiteren Stellen verwunden wollten. In seinem rechten Ohr pochte es.
Die Schritte zählte er inzwischen nicht mehr, aber er war bei ungefähr fünftausend – weit mehr als zwei Meilen–, als er zwischen den Bäumen ein schwaches, orangegelbes Licht schimmern sah. Zuerst hielt er es fälschlich für eine Halluzination oder einen von den Blitzen, zu dem sich bald Schwärme von weiteren gesellen würden. Nach den nächsten zehn Schritten stellte sich jedoch heraus, dass die Sorgen unberechtigt waren. Das orangegelbe Licht war nun deutlicher, und außerdem sah er zwei weitere, wesentlich mattere Lichter. Es musste sich um elektrische Lampen handeln. Das hellste Licht war wohl eine Natriumdampflampe, wie man sie auf großen Parkplätzen aufstellte. Als Rolfs Vater mit Luke und Rolf eines Abends zum Multiplex von Southdale gefahren war, hatte er erzählt, dass man mit solchen Lampen Raubüberfälle und Autoaufbrüche verhindern wolle.
Luke spürte den Drang, einfach vorwärtszustürmen, bezähmte sich aber. Auf keinen Fall wollte er noch mal über einen umgestürzten Baumstamm fallen oder in ein Loch treten und sich das Bein brechen. Inzwischen waren noch mehr Lichter aufgetaucht, aber er richtete den Blick fest auf das erste. Der Große Wagen war nicht lange von Nutzen gewesen, aber jetzt hatte er einen neuen Leitstern, einen besseren. Zehn Minuten nachdem er das Licht zum ersten Mal erblickt hatte, erreichte er den Waldrand. Hinter etwa fünfzig Meter offenem Gelände erhob sich ein Maschendrahtzaun wie am Institut, aber der hier war mit Stacheldraht gekrönt und im Abstand von ungefähr zehn Metern mit Lichtpfosten bestückt. Die wiederum waren mit Bewegungsmeldern gekoppelt, hatte Maureen gesagt. Luke solle genügend Abstand halten. Das war ein Rat, den er eigentlich nicht gebraucht hätte.
Hinter dem Zaun standen kleine Häuser. Sehr klein waren die. Raum ist in der kleinsten Hütte, hätte Lukes Vater gesagt. Mehr als drei Zimmer konnten die nicht haben, wahrscheinlich sogar nur zwei. Alle sahen gleich aus. Laut Avery hatte Maureen von einem Dorf gesprochen, aber Luke fühlte sich eher an ein Kasernenareal erinnert. Jeweils vier Häuser waren zusammengruppiert, in der Mitte befand sich immer eine Rasenfläche. Hinter einigen wenigen Fenstern war es hell; wahrscheinlich hatten da die Leute das Licht im Bad angelassen, falls sie nachts aufstehen und zur Toilette gehen mussten.
Luke sah eine einzelne Straße, die an einem größeren Gebäude endete. Links und rechts davon war jeweils ein kleiner Parkplatz, auf dem Seite an Seite Pkws und Pick-ups standen. Insgesamt dreißig bis vierzig, schätzte Luke und erinnerte sich daran, dass er sich gefragt hatte, wo die Institutsmitarbeiter ihre Autos parkten. Jetzt wusste er es. Wie die Lebensmittel geliefert wurden, war ihm allerdings immer noch nicht klar. Vor dem Gebäude erhob sich der Mast mit der Natriumdampflampe, die zwei Zapfsäulen beleuchtete. Bestimmt war in dem Bau da eine Art Laden, die Institutsversion eines Army-Supermarkts.
Jetzt begriff Luke alles ein bisschen mehr. Das Institutspersonal hatte zwar manchmal Urlaub – Maureen zum Beispiel war eine Woche in Vermont gewesen–, blieb aber meistens in der Nähe und verbrachte seine Freizeit in diesen klapprigen Häuschen, wo es auch wohnte. Eventuell war die Arbeitszeit so eingeteilt, dass mehrere Leute zusammen untergebracht waren. Wenn sie Abwechslung brauchten, stiegen sie in ihre Privatwagen und fuhren in den nächsten Ort, der Dennison River Bend hieß.
Bestimmt waren die Einheimischen neugierig, was diese Männer und Frauen da mitten im Wald trieben. Sie würden also Fragen stellen, zu deren Beantwortung es eine Fantasiegeschichte geben musste. Luke konnte sich nicht vorstellen, was für eine (in diesem Moment war das auch nicht weiter wichtig), aber sie musste ziemlich einleuchtend sein, wenn sie so viele Jahre standgehalten hatte.
Geh am Waldrand entlang. Sieh dich nach einem Halstuch um.
Luke ging wieder los, Zaun und Siedlung zu seiner Linken, den Waldrand zu seiner Rechten. Wieder musste er gegen den Impuls ankämpfen, einfach loszurennen, vor allem weil er jetzt einen besseren Blick hatte. Die Unterhaltung mit Maureen war notwendigerweise kurz gewesen, zum einen, weil ein zu langes Palaver eventuell Verdacht geweckt hätte, und zum anderen, weil man sich irgendwann wohl gefragt hätte, wieso Avery sich ständig derart auffällig an die Nase fasste. Deshalb hatte Luke keine Ahnung, wo sich das Halstuch genau befand, und Angst, es zu verpassen.
Wie sich herausstellte, war das kein Problem. Maureen hatte es an den herabhängenden Ast einer hohen Kiefer gebunden, kurz vor der Stelle, wo der Zaun einen Knick nach links machte und sich vom Wald entfernte. Luke nahm es herunter und knotete es sich um die Taille, um seinen Verfolgern, die bald zu erwarten waren, kein derart auffälliges Zeichen zu hinterlassen. Dabei fragte er sich, wie lange Mrs. Sigsby und Stackhouse wohl brauchen würden, um dahinterzukommen, wer ihm bei seiner Flucht geholfen hatte. Wahrscheinlich nicht besonders lange.
Sag ihnen alles, Maureen, dachte er. Warte nicht, bis sie dich foltern. Wenn du versuchst dichtzuhalten, werden sie dich nämlich in die Mangel nehmen, und du bist zu alt und zu krank dafür, ins Wasser getunkt zu werden.
Das helle Licht vor dem Gebäude, bei dem es sich vielleicht um einen Laden handelte, befand sich bereits ziemlich weit hinter ihm, und er musste sich sorgfältig umsehen, bevor er den alten Weg entdeckte, der in den Wald zurückführte. Vor langer Zeit hatten den wohl Holzfäller genommen. Sein Anfang war von einem Dickicht aus Blaubeersträuchern verdeckt, und obwohl Luke es eilig hatte, blieb er kurz stehen, um zwei Handvoll davon zu pflücken und sich in den Mund zu stopfen. Die Beeren waren süß und köstlich. Sie schmeckten nach draußen.
Sobald er den alten Weg gefunden hatte, konnte er ihm selbst im Dunkeln problemlos folgen. Auf dem erodierten Mittelstreifen wuchsen kleine Sträucher, die Fahrspuren waren durch eine doppelte Reihe von Gräsern und Kräutern markiert. Luke stieß zwar auf herabgefallene Äste, über die man treten (oder stolpern) konnte, aber es war unmöglich, versehentlich zwischen die Bäume zu geraten.
Zuerst machte Luke Anstalten, seine Schritte zu zählen, was er bis viertausend einigermaßen schaffte, aber dann gab er auf. Gelegentlich stieg der Weg an, führte jedoch meistens abwärts. Mehrere Male stieß Luke auf umgestürzte Bäume und einmal auf ein so dichtes Gestrüpp, dass er schon befürchtete, der alte Weg würde da enden, doch als er sich durchgeschlagen hatte, fand er die Fahrspuren wieder und konnte weitergehen. Er hatte keinerlei Gefühl dafür, wie viel Zeit vergangen war. Vielleicht war es eine Stunde, wahrscheinlich eher zwei. Nur dass es immer noch Nacht war, wusste er, und obwohl es unheimlich war, im Dunkeln hier draußen zu sein, vor allem als Stadtkind, hoffte er, dass es noch lange, sehr lange dunkel bleiben würde. Nur würde es das nicht tun. Zu dieser Jahreszeit kroch das erste Licht schon um vier Uhr morgens in den Himmel.
Als er die nächste Anhöhe erreichte, hielt er einen Moment inne, um sich auszuruhen. Das tat er stehend. Er glaubte eigentlich nicht, dass er einschlafen würde, wenn er sich hinsetzte, aber schon die Vorstellung jagte ihm Angst ein. Das Adrenalin, das ihn unter den stachligen Zaun hindurch und dann durch den Wald zur Siedlung getrieben hatte, war längst aufgebraucht. Die Wunden am Rücken, an den Beinen und am Ohr bluteten zwar nicht mehr, aber dort pochte und brannte es überall. Bei weitem am schlimmsten war das Ohr. Als er es behutsam berührte, zuckte er zurück, und er sog mit zusammengebissenen Zähnen scharf die Luft ein. Vorher hatte er jedoch bereits einen unregelmäßigen Klumpen aus verschorftem Blut gespürt.
Ich habe mich verstümmelt, dachte er. Das Ohrläppchen wird nie wieder nachwachsen.
»Diese Scheißkerle haben mich dazu gezwungen«, sagte er flüsternd. »Sie haben mich gezwungen.«
Da er es nicht wagte, sich hinzusetzen, beugte er sich vor und stützte sich auf die Knie. Die Haltung hatte er oft an Maureen gesehen. Gegen die Kratzer auf dem Rücken, die Wunden an den Beinen und das verstümmelte Ohrläppchen half das nichts, aber seine müden Muskeln entspannten sich ein bisschen. Er richtete sich auf und wollte weitergehen, hielt jedoch inne. Irgendwo vor sich hörte er ein leises Geräusch. Eine Art Rauschen wie der Wind in den Bäumen, aber auf der kleinen Anhöhe wehte nicht mal eine Brise.
Mach, dass es keine Halluzination ist, dachte er. Lass es wahr sein.
Fünfhundert Schritte weiter – die zählte er! – wusste Luke, dass es sich bei dem Geräusch tatsächlich um dahinströmendes Wasser handelte. Der Weg wurde breiter und steiler, bis er schließlich so abschüssig war, dass Luke seitwärts gehen und sich an Ästen festhalten musste, um nicht auf den Hintern zu fallen. Als links und rechts keine Bäume mehr zu sehen waren, blieb er stehen. Die Bäume waren nicht nur gefällt worden, man hatte auch die Stümpfe herausgerissen und eine Lichtung geschaffen, auf der jetzt Sträucher wuchsen. Dahinter sah er ein breites Band aus schwarzer Seide, so glatt, dass sich darin das Sternenlicht kräuselte. Er konnte sich vorstellen, dass die Holzfäller früherer Zeiten, die schon vor dem Zweiten Weltkrieg in diesen nördlichen Wäldern gearbeitet hatten, die geschlagenen Bäume bis hierher transportiert hatten, mit Holzlastern von Ford oder International Harvester, wenn nicht gar mit Pferdegespannen. Die Lichtung war ihr Ziel gewesen. Hier hatten sie das Holz abgeladen und es zum Dennison River hinunterrutschen lassen, auf dem es seine Reise zu den Papierfabriken im Süden des Staates antrat.
Mit Beinen, die schmerzten und zitterten, mühte Luke sich abwärts. Die letzten fünfzig oder sechzig Meter waren am steilsten; hier war der Boden durch die Baumstämme, die vor langer Zeit darübergeglitten waren, bis zum Fels abgeschliffen. Luke setzte sich auf den Hosenboden und rutschte ebenfalls hinunter, wobei er sich an Sträuchern festhielt, um nicht zu schnell zu werden. Endlich kam er so abrupt auf dem felsigen Ufer zum Halten, dass ihm die Zähne klapperten. Er befand sich einen guten Meter über dem Wasser, und da – genau wie Maureen es versprochen hatte – lugte der Bug eines morschen alten Ruderboots unter einer grünen, mit Tannennadeln bedeckten Plane hervor. Es war mit einem Strick an einen zerklüfteten Baumstumpf gebunden.
Woher wusste Maureen von diesem Ort? Hatte jemand ihr davon erzählt? Aber darauf hätte sie sich wohl nicht verlassen, nicht wenn das Leben eines Jungen vom Vorhandensein dieses klapprigen alten Boots abhing. Vielleicht hatte sie es bei einem Spaziergang entdeckt, bevor sie krank geworden war. Oder sie war mit anderen – zum Beispiel mit den Frauen aus der Küche, mit denen sie mehr oder weniger befreundet war – von der kasernenartigen Siedlung zu einem Picknick hergekommen, mit Sandwiches und Cola oder einer Flasche Wein. Egal, Hauptsache, das Boot war da.
Luke ließ sich vorsichtig ins Wasser hinunter, das ihm bis zu den Knien reichte. Er bückte sich und schöpfte sich zwei hohle Hände in den Mund. Das Flusswasser war kalt und schmeckte noch besser als die Blaubeeren zuvor. Sobald er seinen Durst gelöscht hatte, versuchte er, das Seil aufzubinden, mit dem das Boot am Stumpf befestigt war, aber die Knoten waren kompliziert, und die Zeit verging. Schließlich nahm er das Schälmesser, um das Seil durchzusäbeln, wobei seine rechte Handfläche wieder zu bluten anfing. Schlimmer noch war, dass das Boot sofort davontrieb.
Er stürzte sich darauf, packte den Bug und zerrte das Ding ans Ufer zurück. Jetzt bluteten beide Handflächen. Trotzdem machte er sich daran, die Plane herunterzuzerren, doch sobald er das Boot losließ, wurde es von der Strömung wieder mitgezogen. Er verfluchte sich, weil er die Plane nicht als Erstes entfernt hatte. Das Ufer war zu hoch, als dass er das Boot hinaufziehen könnte, weshalb er am Ende das Einzige tat, was ihm übrig blieb. Er schlüpfte mit dem Oberkörper unter die Plane mit ihrem irgendwie fischigen Geruch nach uraltem Segeltuch, dann griff er nach der splittrigen Sitzbank und zog sich ganz hinein. Er landete in einer Wasserlache und auf etwas Langem und Kantigem. Im selben Moment wurde das Boot mit dem Heck voraus von der leichten Strömung flussabwärts gezogen.
Das ist ja ein richtiges Abenteuer, dachte Luke. Ja, tatsächlich, was ein Abenteuer!
Er setzte sich unter der Plane auf, die sich um ihn herumlegte und einen noch stärkeren Gestank von sich gab. Mit blutenden Händen schob und zerrte er sie von sich herunter, bis sie über Bord rutschte. Zuerst schwamm sie neben dem Boot, dann versank sie allmählich. Das kantige Ding, auf dem er gelandet war, entpuppte sich als ein Paddel, das im Gegensatz zum Boot relativ neu aussah. Maureen hatte das Halstuch an den Baum gebunden; hatte sie auch das Paddel für ihn hinterlassen? Er war sich nicht sicher, ob sie in ihrem jetzigen Zustand in der Lage gewesen wäre, es auf dem alten Holzweg hierher zu schaffen, geschweige denn das letzte Stück hinunter zum Ufer. Falls sie es doch getan hatte, verdiente sie ein episches Gedicht zu ihren Ehren – allermindestens. Und das alles, bloß weil er für sie ein paar Sachen im Internet recherchiert hatte, die sie wahrscheinlich selbst hätte finden können, wenn sie nicht so krank gewesen wäre? Luke wusste nicht, wie er über so etwas denken oder es gar begreifen sollte. Er wusste nur, dass das Paddel da war und dass er es benutzen musste, obwohl er erschöpft war und seine Hände bluteten.
Immerhin wusste er, wie man damit umging. Er mochte ein Stadtjunge sein, aber Minnesota war das Land der zehntausend Seen, und Luke war mit einem seiner Großväter (der sich gern als »gewöhnliches altes Barschloch aus Mankato« bezeichnete) oft zum Angeln gegangen. Nun machte er es sich auf dem Sitz bequem und verwendete das Paddel erst dazu, das Boot so umzudrehen, dass der Bug stromabwärts zeigte. Nachdem ihm das gelungen war, paddelte er in die Mitte des Flusses, der hier etwa siebzig Meter breit war, und holte das Paddel ins Boot. Dann zog er die Schuhe aus und legte sie zum Trocknen auf den kleinen hinteren Sitz. Auf dem Sitz stand in verblichener schwarzer Farbe etwas geschrieben, was aus der Nähe lesbar war: S. S. Pokey. Luke musste grinsen. Er lehnte sich, auf die Ellbogen gestützt, zurück, blickte zu dem irrsinnigen Gewimmel der Sterne hinauf und versuchte, sich davon zu überzeugen, dass alles kein Traum war – dass er es wirklich geschafft hatte zu fliehen.
Irgendwo links hinter ihm dröhnte der doppelte Trompetenstoß einer elektrischen Hupe. Als er sich umdrehte, sah er zwischen den Bäumen einen grellen Scheinwerfer aufflackern, der sein Boot zuerst streifte und dann weiterglitt. Die Lokomotive und den daran angehängten Zug sah er nicht, dazu standen die Bäume zu dicht, aber er hörte das Rumpeln der Wagen und das schrille Kreischen von Stahlrädern auf Stahlschienen. Das überzeugte ihn endgültig. Das Ganze war keine unglaublich detaillierte Fantasie, die sich in seinem Kopf abspulte, während er schlafend in seinem Institutsbett lag. Da drüben rollte ein echter Zug, wahrscheinlich in Richtung Dennison River Bend. Er saß in einem echten Boot und glitt auf einer trägen, wunderbaren Strömung gen Süden. Am Himmel standen echte Sterne. Natürlich würden die Handlanger von Mrs. Sigsby ihn verfolgen, aber…
»Ich lande nie im Hinterbau. Niemals!«
Er hielt eine Hand über die Kante der S. S. Pokey ins Wasser, spreizte die Finger und beobachtete, wie vier winzige Wellen hinter ihm ins Dunkel liefen. Im kleinen Aluminiumkahn seines Großvaters mit dem tuckernden Zweitakter hatte er das schon oft getan, aber noch nie war er vom Anblick der flüchtigen Erscheinung so überwältigt gewesen, nicht mal als Vierjähriger, für den alles neu und staunenswert gewesen war. Mit der Kraft einer Offenbarung wurde ihm bewusst, dass man eingesperrt gewesen sein musste, um ganz zu begreifen, was Freiheit bedeutete.
»Ich sterbe lieber, als mich zurückbringen zu lassen.«
Er wusste, dass es die Wahrheit war und dass es womöglich dazu kommen würde, aber er wusste auch, dass es momentan noch nicht so weit war. Luke Ellis hob seine verwundeten, tropfenden Hände in die Nacht, spürte die freie Luft darüberstreichen und begann zu weinen.
Während er so auf der Bank saß, die nackten Füße in der Wasserlache auf dem Boden, sank sein Kinn auf die Brust, die Hände baumelten zwischen den Beinen, und er döste ein. Womöglich hätte er noch geschlafen, während die Pokey ihn an der nächsten Station seiner unglaublichen Pilgerfahrt vorübertrug, wenn nicht wieder ein Zug gehupt hätte, diesmal nicht am Flussufer, sondern vor und oberhalb von ihm. Außerdem war das Geräusch lauter – kein einsames Tuten, sondern ein gebieterisches WAAA, bei dem Luke so abrupt aufwachte, dass er beinahe rückwärts ins Boot gefallen wäre. Noch während er zum Schutz automatisch die Hand hob, wurde ihm klar, wie kläglich die Geste war. Das Hupen verstummte; an seine Stelle traten ein metallisches Quietschen und ein tiefes, hohles Rumpeln. Luke packte die Kanten, wo das Boot zum Bug hin schmaler wurde, und starrte mit wildem Blick nach vorn. Er war sich sicher, dass er gleich überfahren werden würde.
Die Dämmerung ließ noch auf sich warten, aber der Himmel hatte sich bereits aufgehellt und warf seinen Schein auf den Fluss, der jetzt wesentlich breiter war. Etwa dreihundert Meter flussabwärts rumpelte ein Güterzug langsamer werdend über eine Bockbrücke. Luke sah geschlossene Wagen mit der Aufschrift New England Land Express und Massachusetts Red, zwei Autotransporter und einige Tankwagen, von denen einer mit Canadian Clean-Gas und ein anderer mit Virginia Util-X gekennzeichnet war. Als er unter der Brücke hindurchtrieb, hob er die Hand, um sich vor dem herunterrieselnden Dreck zu schützen. Mehrere Schotterbrocken klatschten auf beiden Seiten ins Wasser.
Luke griff nach dem Paddel, um das Boot zum rechten Ufer zu lenken, wo er einige trist aussehende Gebäude mit zugenagelten Fenstern und einen rostigen, offenbar schon lange ausgedienten Kran sah. Das Ufer war mit Papiermüll, alten Reifen und weggeworfenen Getränkedosen übersät. Der Zug, der die Brücke inzwischen überquert hatte, bremste kreischend und dröhnend immer noch ab. Vic Destin, der Vater von Lukes Freund Rolf, hatte einmal bemerkt, es gebe keine Transportmethode, die so dreckig und lärmig sei wie die Eisenbahn. Das hatte er in befriedigtem anstatt in angewidertem Ton gesagt, was keinen der beiden Jungen erstaunte. Mr. Destin war ein waschechter Eisenbahnfan.
Hier hatte Luke beinahe das Ende der von Maureen ausgetüftelten Schritte erreicht, und jetzt musste er nach einer Treppe Ausschau halten. Die Stufen waren rot. Aber nicht richtig rot, hatte Avery ihm mitgeteilt. Jedenfalls nicht mehr. Inzwischen sind sie eher rosa. Als Luke sie, fünf Minuten nachdem er unter der Brücke durchgekommen war, erspähte, waren sie nicht einmal mehr das. Auf den senkrechten Flächen konnte man zwar noch ein wenig rötliche Farbe erkennen, aber die Oberseite der Stufen war grau. Die Treppe führte vom Wasser zum Ufer hinauf und war etwa fünfzig Meter lang. Luke paddelte darauf zu, bis der Kiel auf die Stufe knapp unterhalb der Wasseroberfläche auflief.
Während er langsam an Land stieg, fühlte er sich so steif in den Gliedern wie ein alter Mann. Er überlegte, ob er das Boot anbinden sollte – der abgeschabte Rost an den Pfosten zu beiden Seiten der Stufen ließ erkennen, dass andere, wahrscheinlich Angler, so etwas schon getan hatten–, aber das restliche Seil, das noch am Bug hing, war zu kurz.
Er ließ das Boot los, das daraufhin sofort von der sanften Strömung erfasst wurde und sich in Bewegung setzte. Da sah er, dass seine Schuhe, in die er die Socken gesteckt hatte, noch auf dem Sitz am Heck standen. Hektisch kniete er sich auf die vom Wasser bedeckte Stufe und schaffte es gerade noch, das Boot zu erwischen. Hand über Hand zog er es an sich vorbei, bis er seine Schuhe zu fassen bekam. Dann murmelte er: »Danke, Pokey«, und ließ endgültig los.
Nachdem er einige Stufen hinaufgestiegen war, setzte er sich hin, um die Schuhe anzuziehen. Die waren einigermaßen getrocknet, doch jetzt war er anderswo klatschnass. Sein zerkratzter Rücken tat beim Lachen weh, aber er lachte trotzdem. Während er die Stufen erklomm, die früher rot gewesen waren, blieb er ab und zu stehen, damit seine Beine sich ausruhen konnten. Das Halstuch von Maureen – im Morgenlicht sah er, dass es lila war – löste sich von seiner Taille. Er wollte es schon liegen lassen, band es dann jedoch wieder fest. Bis hierher würde man seinen Weg wohl kaum verfolgen können, aber die Stadt war ein logisches Ziel, und er wollte kein Kennzeichen hinterlassen, das eventuell entdeckt wurde, und wenn auch nur durch Zufall. Abgesehen davon kam ihm das Halstuch wichtig vor. Es war… er suchte nach einem Wort, das der Bedeutung wenigstens nahekam. Kein Glücksbringer, sondern ein Talisman. Weil es von Maureen stammte, und die war seine Retterin.
Als er die letzte Stufe erreicht hatte, stand die Sonne groß und rot über dem Horizont; ihr Licht fiel auf ein Geflecht aus Eisenbahngleisen. Der Güterzug, unter dem Luke hindurchgetrieben war, stand nun auf dem Rangierbahnhof von Dennison River Bend. Während die Lokomotive, die ihn dorthin gezogen hatte, langsam davonrollte, näherte sich eine hellgelbe Rangierlok dem anderen Zugende und würde ihn bald auf die Gleise schieben, wo die Züge getrennt und neu zusammengesetzt wurden.
In Lukes Schule waren die Feinheiten des Güterverkehrs nicht unterrichtet worden, da der Lehrkörper sich für esoterischere Themen wie fortgeschrittene Mathematik, Klimakunde und neuere englische Lyrik begeisterte. Die einschlägigen Lektionen stammten vielmehr von Vic Destin, einem eingefleischten Eisenbahnenthusiasten und stolzen Besitzer einer riesigen Modellbahnanlage, die er in seinem Keller aufgebaut hatte. Luke und Rolf hatten dort viele Stunden als willige Gehilfen verbracht. Rolf war es darum gegangen, die Züge fahren zu lassen; auf Informationen über echte Eisenbahnen hätte er gut und gern verzichten können. Luke hingegen war an beidem interessiert gewesen. Hätte Vic Destin Briefmarken gesammelt, so hätte Luke seine philatelistischen Aktivitäten mit demselben Interesse verfolgt; so war er eben gepolt. Genau deshalb kam er den Leuten wohl leicht unheimlich vor (auf jeden Fall hatte er Rolfs Mutter ab und zu dabei erwischt, dass sie ihn mit einem entsprechenden Blick betrachtete), aber momentan war er ausgesprochen froh über die leidenschaftlichen Vorträge von Mr. Destin.
Maureen wiederum wusste bestimmt praktisch nichts über Eisenbahnen, nur dass es in Dennison River Bend einen Güterbahnhof gab. Die Züge, die hier durchkamen, fuhren ihrer Meinung nach an vielerlei Orte. Was für Orte das waren, war ihr unbekannt.
»Sie meint, wenn du es bis dahin schaffst, kannst du vielleicht auf einen Güterzug springen«, hatte Avery gesagt.
Tja, er hatte es tatsächlich bis hierher geschafft. Ob er wirklich auf einen Güterzug springen konnte, war eine andere Frage. In Filmen hatte er das zwar schon gesehen, und da hatte es problemlos geklappt, aber in den meisten Filmen wurde jede Menge Mist verzapft. Vielleicht war es besser, in das sogenannte Stadtzentrum von diesem Kaff hier zu marschieren, um die Polizeistation aufzusuchen, falls es eine gab, und andernfalls bei der State Police anzurufen. Bloß womit sollte er anrufen? Er hatte kein Handy, und öffentliche Telefone waren vom Aussterben bedroht. Selbst wenn er eines fand, was sollte er in den Münzschlitz werfen? Eine von seinen Wertmünzen aus dem Institut? Den Notruf konnte er zwar wohl kostenlos wählen, aber war das der richtige Schachzug? Irgendetwas hielt ihn davon ab.
Da stand er also an einem Tag, der viel schneller hell wurde, als ihm lieb war. Nervös zupfte er an dem Halstuch um seine Taille. Es gab weitere Argumente dagegen, sich so nah am Institut an die Polizei zu wenden; er erkannte sie selbst in seinem von Angst und Erschöpfung gekennzeichneten Zustand. Die Polizei würde bald herausfinden, dass seine Eltern ermordet worden waren und er als mutmaßlicher Täter gehandelt wurde. Problematisch war auch Dennison River Bend selbst. Städte existierten nur dort, wo Geld hereinkam, Geld war ihr Lebenssaft, und woher kam das Geld in Dennison River Bend? Nicht von dem Rangierbahnhof da, der bestimmt weitgehend automatisch betrieben wurde. Auch nicht von den trist aussehenden Gebäuden, an denen er vorübergetrieben war. Früher waren das wohl Fabriken gewesen, aber die Zeiten waren vorüber. Dafür gab es da draußen in einer nicht zur Gemeinde gehörenden Siedlung eine gewisse Einrichtung (»Regierungskram«, das würden die Einheimischen sagen und sich wissend beim Friseur oder auf dem Marktplatz zunicken), und die Leute, die dort arbeiteten, hatten Geld. Es waren Männer und Frauen, die regelmäßig in die Stadt kamen, und zwar nicht nur um jene Kneipe namens Outlaw Country aufzusuchen, wenn dort irgendeine beschissene Band spielte. Sie brachten Dollars mit. Vielleicht trug das Institut auch zum Gemeinwohl bei, indem es ein Gemeindezentrum oder einen Sportplatz gespendet hatte oder indem es sich an der Instandhaltung des Straßennetzes beteiligte. Alles, was diese Dollars gefährdete, würde man mit Skepsis und Missfallen betrachten. Eventuell wurden die städtischen Amtsträger sogar regelmäßig bestochen, damit sie dafür sorgten, dass das Institut nicht die Aufmerksamkeit der falschen Leute auf sich zog. Waren das paranoide Gedanken? Vielleicht. Aber vielleicht auch nicht.
Luke konnte es kaum erwarten, Mrs. Sigsby und ihre Handlanger auffliegen zu lassen, aber momentan war es am besten und sichersten für ihn, so weit Abstand vom Institut zu gewinnen wie möglich.
Die Rangierlok schob mehrere Güterwagen die Anhöhe hinauf, die man im Eisenbahnerjargon als Ablaufberg bezeichnete. Auf der Veranda vor dem hübschen kleinen Dienstgebäude des Bahnhofs standen zwei Schaukelstühle. Auf einem saß ein Mann in Jeans und hellroten Gummistiefeln mit einer Zeitung und einem Becher Kaffee. Als der Lokführer auf die Hupe drückte, legte der Mann seine Zeitung weg, trottete die Treppe hinunter und blieb stehen, um zu einem verglasten Häuschen auf Stahlstützen hinaufzuwinken. Ein Typ, der drinnen saß, winkte zurück. Das musste der Stellwerker sein, während der Typ mit den roten Stiefeln als Rangierer bezeichnet wurde.
Rolfs Vater klagte immer über den miserablen Zustand des amerikanischen Eisenbahnverkehrs, und jetzt sah Luke, was er meinte. Die Gleise führten in zahllose Richtungen, aber es hatte den Anschein, dass zurzeit nur noch vier oder fünf in Betrieb waren. Die anderen waren von Rostflecken überzogen, zwischen den Schienen wucherte Unkraut. Auf manchen standen ausgemusterte Güterwagen, teils geschlossen, teils offen, die Luke als Deckung benutzte, während er sich an das Stationsgebäude heranschlich. An einem der Verandapfosten sah er ein Klemmbrett an einem Nagel hängen. Wenn das die heutige Auftragsliste war, wollte er sie studieren.
Unweit vom Stellwerk hockte er sich hinter einen hohen ausgemusterten Wagen und schielte darunter hindurch, während der Rangierer zu den Gleisen ging. Der neu eingetroffene Güterzug hatte jetzt die Kuppe des Ablaufbergs erreicht, weshalb der Stellwerker seine ganze Aufmerksamkeit darauf richten musste. Falls Luke doch entdeckt wurde, würde man ihn wahrscheinlich für ein harmloses Kind halten, das wie Mr. Destin ein glühender Eisenbahnfan war. Allerdings kamen solche Kinder meistens nicht um halb sechs Uhr morgens an, um sich irgendwelche Züge anzuschauen, egal wie fanatisch sie waren. Erst recht nicht, wenn sie völlig durchnässt waren und mit einem übel verstümmelten Ohr herumliefen.
Egal, er hatte keine andere Wahl. Er musste sehen, was auf dem Klemmbrett stand.
Der Mann mit den roten Stiefeln trat auf den ersten Wagen zu, der langsam an ihm vorbeifuhr, und löste die Kupplung zum nächsten. Von der Schwerkraft bewegt, rollte der erste Wagen – auf der Seite stand in roten, weißen und blauen Lettern STATE OF MAINE PRODUCTS – die schräge Ebene hinunter. Seine Geschwindigkeit wurde durch radargestützte Sensoren kontrolliert. Der Stellwerker betätigte einen Hebel, worauf STATE OF MAINE PRODUCTS auf Gleis 4 geleitet wurde.
Luke ging um den Güterwagen herum und schlenderte auf das Betriebsgebäude zu, die Hände in den Hosentaschen. Er atmete erst dann wieder gleichmäßig, als er sich unter dem Stellwerk befand und von dem Mann da oben nicht mehr gesehen werden konnte. Aber wenn der seine Arbeit richtig machte, hatte er den Blick ohnehin auf den Zug da gerichtet und nicht sonst irgendwohin.
Das nächste Element, ein Tankwagen, wurde auf Gleis 3 geschickt, ebenso wie zwei zusammenhängende Autotransporter. Die krachten aneinander, rumpelten und grollten. Die Modelleisenbahnzüge von Vic Destin waren ziemlich leise, aber hier herrschte ein Höllenlärm. Die im Umkreis von einer Meile wohnenden Leute bekamen drei- bis viermal am Tag offenbar ganz schön was zu hören. Vielleicht haben sie sich daran gewöhnt, dachte Luke. Eigentlich war das kaum zu glauben, aber dann dachte er an die Kinder, die im Institut täglich ihrem Leben nachgingen – indem sie sich den Magen vollschlugen, Alcopops tranken, ab und zu eine Zigarette rauchten, auf dem Spielplatz herumalberten und nachts mit dämlichem Gebrüll durch die Gegend rannten. Wahrscheinlich konnte man sich an alles gewöhnen. Was ein furchtbarer Gedanke war.
Luke erreichte die Veranda des Stationsgebäudes, wo er weiterhin nicht im Blickfeld des Mannes im Stellwerk war, und der Rangierer hatte ihm den Rücken zugewandt. Umdrehen würde der sich wohl kaum. »Wenn man in einem solchen Job die Konzentration verliert, kann man leicht eine Hand verlieren«, hatte Mr. Destin den beiden Jungen einmal erklärt.
Der Computerausdruck auf dem Klemmbrett enthielt nicht gerade viel; die Spalten für die Gleise 2 und Gleis 5 enthielten nur zwei Wörter: NICHTS GEPLANT. Von Gleis 1 sollte um 17 Uhr ein Zug nach New Brunswick in Kanada abfahren, was nichts brachte. Auf Gleis 4 war um 14.30 Uhr ein Zug nach Burlington und Montreal vorgesehen. Besser, aber nicht gut genug; wenn Luke um die Zeit immer noch hier herumhing, saß er mit ziemlicher Sicherheit in der Patsche. Gut sah es auf Gleis 3 aus, wo der Rangierer gerade den Wagen mit der Aufschrift New England Land Express abfertigte, den Luke beim Überqueren der Brücke beobachtet hatte. Der letzte Zeitpunkt, an dem der Bahnhofsleiter – zumindest theoretisch – weitere Güterwagen für den Zug mit der Nummer 4297 annehmen würde, war 9 Uhr, und um zehn sollte der besagte Zug Dennison River Bend in Richtung Portland/ME, Portsmouth/NH und Sturbridge/MA verlassen. Die letztgenannte Stadt musste mindestens dreihundert Meilen entfernt sein, wenn nicht gar wesentlich weiter.
Luke zog sich hinter den ausgemusterten Güterwagen zurück und beobachtete, wie die Wagen auf verschiedenen Gleisen den Ablaufberg hinunterrollten, manche zu den Zügen, die am heutigen Tag abfahren würden, andere an eine Position, wo sie stehen bleiben würden, bis man sie brauchte.
Als der Rangierer mit seiner Arbeit fertig war, stieg er aufs Trittbrett der Rangierlok, um sich mit dem Lokführer zu unterhalten. Der Stellwerker kam herunter und gesellte sich zu den beiden. Man hörte Gelächter. In der stillen Morgenluft schwebte es zu Luke herüber, und er genoss es. Aus dem Pausenraum von Ebene C hatte er oft das Lachen von Erwachsenen dringen hören, aber es hatte immer etwas Unheilvolles an sich gehabt, wie das Lachen von Orks in einer Tolkien-Geschichte. Die Männer, die hier lachten, hatten nie einen Haufen Kinder eingesperrt oder sie in einen Wassertank getunkt. Am Gürtel trugen sie keinen speziellen Taser, den sie Schockstock nannten.
Der Lokführer hatte eine Papiertüte in der Hand, die er dem Rangierer reichte. Dann trat dieser wieder auf den Boden. Während die Lok langsam den Ablaufberg hinunterrollte, zogen der Rangierer und der Stellwerker jeweils einen Donut aus der Tüte. Es waren große Donuts, mit Zucker bestäubt und wahrscheinlich mit Marmelade gefüllt. Luke knurrte der Magen.
Die beiden Männer gingen auf die Veranda, ließen sich auf den Schaukelstühlen nieder und mampften ihre Donuts. Luke wiederum wandte seine Aufmerksamkeit den auf Gleis 3 wartenden Waggons zu. Insgesamt waren es zwölf, die Hälfte davon geschlossen. Wahrscheinlich noch nicht genug für einen Zug, der bis nach Massachusetts fahren sollte, aber es konnten ja noch weitere von der anderen Seite des Bahnhofs dazukommen, wo etwa fünfzig Stück standen.
Inzwischen bog ein Sattelschlepper auf das Bahnhofsgelände ein und holperte quer über mehrere Gleise zu dem Wagen mit der Aufschrift STATE OF MAINE PRODUCTS. Ihm folgte ein Kleinbus, aus dem mehrere Männer stiegen. Sie machten sich daran, aus dem Güterwaggon Tonnen zu holen und in den Laster zu laden. Luke hörte, dass sie sich auf spanisch unterhielten, und konnte einige Wörter verstehen. Eine der Tonnen kippte um, Kartoffeln ergossen sich auf den Boden. Es folgten viel gutmütiges Gelächter und eine kurze Kartoffelschlacht. Luke beobachtete die Szene sehnsüchtig.
Der Stellwerker und der Rangierer beobachteten die Kartoffelschlacht von ihren Schaukelstühlen aus, dann gingen sie ins Stationsgebäude. Der Sattelschlepper fuhr davon, nun beladen mit frischen Knollen für McDonald’s oder Burger King. Ihm folgte der Kleinbus. Vorübergehend war der Güterbahnhof verlassen, aber dabei würde es wohl nicht lange bleiben; vielleicht wurde noch ein Waggon be- oder entladen, oder die Rangierlok würde dem Zug, der um zehn abfahren sollte, weitere Elemente hinzufügen.
Luke beschloss, seine Chance zu nutzen. Er trat hinter dem Güterwagen hervor, flitzte jedoch gleich wieder zurück, weil er sah, wie der Rangierlokführer mit dem Handy am Ohr an den Gleisen entlangging. Der Lokführer blieb einen Moment stehen, und Luke hatte schon Angst, er wäre entdeckt worden, aber offenbar war der Mann nur damit beschäftigt, seinen Anruf zu beenden. Er steckte das Telefon in die Brusttasche seines Overalls und ging an dem Wagen, hinter dem Luke sich versteckte, vorüber, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. Dann stieg er die Stufen zur Veranda hinauf und verschwand im Stationsgebäude.
Luke wartete nicht mehr, und diesmal schlenderte er auch nicht. Ohne auf die Schmerzen in seinem Rücken und seinen erschöpften Beinen zu achten, rannte er den Ablaufberg hinunter. Er sprang über Schienen und Bremsvorrichtungen, schlug Haken um Sensorpfosten. Zu dem Zug, der auf die Fahrt nach Portland, Portsmouth und Sturbridge wartete, gehörte ein roter geschlossener Waggon mit der Aufschrift SOUTHWAY EXPRESS. Durch die im Laufe seiner sichtlich vielen Dienstjahre aufgesprühten Graffiti waren die Wörter allerdings kaum mehr lesbar. Der Waggon war dreckig und nicht weiter bemerkenswert, hatte jedoch einen unleugbaren Vorteil: Die Schiebetür an der Seite war nicht vollständig geschlossen. Vielleicht war die Lücke groß genug, dass ein magerer, verzweifelter Junge hindurchschlüpfen konnte.
Luke streckte sich nach einem verrosteten Handgriff und zog sich hoch. Die Lücke war tatsächlich breit genug, breiter als die Kuhle, die er unter dem Maschendrahtzaun am Institut gegraben hatte. Es kam ihm vor, als wäre das schon sehr, sehr lange her, beinahe in einem anderen Leben. Die Türkante schrammte über seinen malträtierten Rücken und seinen Hintern, wo er frisches Blut austreten spürte, doch dann war er drin. Der Wagen war zu etwa drei Vierteln gefüllt, und während er von außen absolut erbärmlich aussah, roch es drinnen ziemlich gut – nach Holz und Lack, nach Möbelpolitur und Motoröl.
Die Ladung bestand aus einem Mischmasch, das Luke an den Dachboden seiner Tante Lacey erinnerte. Allerdings war der Kram, den sie dort verwahrte, alt, während die Sachen hier alle neu waren. Links standen Rasentraktoren und Motorsensen, Laubbläser, Kettensägen und Kartons mit Autozubehör und Außenbordmotoren. Rechts waren Möbel aufgestapelt, teilweise in Kartons, hauptsächlich jedoch mit massenhaft schützender Folie mumifiziert. Seitlich war eine Pyramide aus Stehlampen aufgeschichtet, jeweils zu dritt in Luftpolsterfolie eingewickelt. Zu den Möbeln gehörten Stühle, Tische, kleine und größere Sofas. Luke trat zu einem Sofa, das nah an der Tür stand, und studierte den auf die Folie geklebten Lieferschein. Der Artikel (und vermutlich auch die restlichen Möbel) ging an ein Einrichtungsgeschäft namens Bender and Bowen in Sturbridge, Massachusetts.
Luke strahlte. Auf den Bahnhöfen von Portland und Portsmouth wurden offenbar einige Wagen abgekoppelt, aber der hier fuhr bis zum Ende der Strecke mit. Lukes Glückssträhne war noch nicht beendet.
»Irgendjemand da oben mag mich«, flüsterte er. Dann fiel ihm ein, dass seine Mutter und sein Vater tot waren, und er dachte: Aber so sehr auch wieder nicht.
Als er einige der für Bender and Bowen bestimmten Kartons von der Seitenwand abrückte, sah er dahinter erfreut einen Haufen Möbeldecken liegen. Die rochen muffig, aber nicht schimmlig. Er kroch in den Zwischenraum und zog die Kartons wieder zu sich heran, so gut er konnte.
Endlich befand er sich an einem relativ sicheren Ort, er konnte sich auf einen weichen Haufen Decken legen, und er war erschöpft – nicht nur von seiner nächtlichen Flucht, sondern auch weil er vorher tagelang unruhig geschlafen hatte und seine Angst immer größer geworden war. Dennoch wagte er es noch nicht einzuschlafen. Einmal döste er trotzdem ein, doch dann hörte er das Rumpeln der nahenden Rangierlok und spürte, wie sich der Wagen ruckhaft in Bewegung setzte. Als er aufstand und durch den Türspalt spähte, sah er den Rangierbahnhof vorüberziehen. Im nächsten Moment blieb der Waggon so abrupt stehen, dass Luke beinahe umgefallen wäre. Ein metallisches Knirschen ließ vermuten, dass sein Waggon an einen anderen angekuppelt wurde.
Im Lauf der folgenden Stunde gab es weitere Erschütterungen, während der Zug mit der Nummer 4297 komplettiert wurde, um in den Süden von Neuengland und damit weg vom Institut zu fahren.
Weg hier, dachte Luke. Weg, weg, weg.
Mehrfach hörte er Männerstimmen, einmal ziemlich nahe, aber es herrschte so viel Lärm, dass er nichts verstand. Luke lauschte und biss an seinen Fingernägeln, die bereits bis zum Nagelbett abgekaut waren. Ob da wohl über ihn gesprochen wurde? Er erinnerte sich daran, dass der Lokführer vorhin telefoniert hatte. Wenn Maureen nun alles ausgeplappert hatte? Oder wenn man auch nur entdeckt hatte, dass er verschwunden war? Wenn einer von Mrs. Sigsbys Handlangern – wahrscheinlich Stackhouse – beim Rangierbahnhof angerufen und gesagt hatte, man solle alle abfahrbereiten Waggons durchsuchen? Falls man das tat, würde man dann wohl mit den Waggons anfangen, deren Seitentür leicht offen stand? War das nicht sonnenklar?
Dann wurden die Stimmen leiser und verstummten. Das Ruckeln und Wummern setzte sich fort, während Nummer 4297 immer länger und schwerer wurde. Lastwagen kamen und fuhren davon. Ab und zu hupte es, wobei Luke jedes Mal zusammenzuckte. Er hätte liebend gern gewusst, wie spät es war, aber woher denn auch. Er konnte nur warten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte der Lärm auf. Nichts geschah. Luke begann wieder einzudösen und hatte es fast geschafft, als der stärkste Donnerschlag von allen den Waggon erschütterte und ihn zur Seite schleuderte. Eine Pause entstand, dann setzte der Zug sich in Bewegung.
Luke schlängelte sich aus seinem Versteck und krabbelte zu dem Türspalt. Gerade als er hinausspähte, glitt das grün gestrichene Stationsgebäude vorüber. Der Stellwerker und der Rangierer saßen in ihren Schaukelstühlen, jeder mit einem Teil der Tageszeitung. Zug Nummer 4297 rumpelte über eine letzte Weiche und rollte an einer Reihe verlassener Gebäude vorbei. Als Nächstes kamen ein mit Unkraut überwucherter Baseballplatz, eine Müllkippe, eine Menge unbebaute Grundstücke. Der Zug fuhr an einem Trailer-Park vorbei, in dem Kinder spielten.
Einige Minuten später bekam Luke das Ortszentrum von Dennison River Bend zu Gesicht. Er sah Läden, Straßenlaternen, Schrägparkplätze, Gehsteige, eine Shell-Tankstelle. Ein schmutziger weißer Pick-up wartete darauf, dass der Zug vorüberfuhr. Das alles kam Luke genauso unglaublich vor wie einige Stunden zuvor der Anblick der Sterne über dem Fluss. Er war draußen. Hier gab es keine MTAs, keine Pfleger, keine Münzautomaten, wo Kinder Alkohol und Zigaretten kaufen konnten. Während der Zug in eine leichte Kurve fuhr, stützte Luke sich mit den Händen an die Wand und scharrte mit den Füßen. Er war zu müde, sie anzuheben, weshalb es ein ausgesprochen kümmerlicher Siegestanz war, aber es war trotzdem einer.
Sobald die Stadt nicht mehr zu sehen war, abgelöst von dichtem Wald, schlug die Erschöpfung über Luke zusammen. Es war, wie unter einer Lawine begraben zu werden. Er krabbelte wieder hinter die Pappkartons und legte sich zuerst auf den Rücken – seine übliche Schlafposition–, drehte sich dann jedoch auf den Bauch, weil die Kratzwunden an den Schultern und am Hintern aufbegehrten. Worauf er sofort einschlief. Er verschlief den Halt in Portland und den in Portsmouth, obwohl der Zug jedes Mal ruckelte, wenn einige alte Wagen abgekoppelt und andere hinzugefügt wurden. Selbst als der Zug in Sturbridge hielt, wachte er nicht auf. Er kam erst mühsam zu Bewusstsein, als rasselnd die Tür seines Wagens aufging und das heiße Licht eines späten Julinachmittags eindrang.
Zwei Männer kletterten herein und machten sich daran, die Möbel in einen Lastwagen zu verladen, der rückwärts an der Tür stand – zuerst die Sofas, dann die Lampentrios, dann die Stühle. Bald würden sie mit den Kartons anfangen, und dann war Luke geliefert. In der hinteren Ecke war zwar genügend Platz, sich hinter den Rasentraktoren und den anderen Geräten zu verstecken, aber sobald er dahin flitzte, würde man ihn ebenfalls entdecken.
Einer der Männer kam näher. Er war schon so nah, dass Luke sein Aftershave riechen konnte, als jemand draußen rief: »He, Leute, es gibt ’ne Verzögerung beim Lokwechsel. Lange wird es nicht dauern, aber ihr habt Zeit für einen Kaffee, wenn ihr wollt.«
»Wie wär’s mit ’nem Bier?«, sagte der Mann, der drei Sekunden später Luke auf seinem Bett aus Möbeldecken hätte liegen sehen.
Man hörte Gelächter, dann zogen die Männer ab. Luke krabbelte aus seinem Versteck und humpelte auf steifen, schmerzenden Beinen zur Tür. Hinter der Kante des Lasters, der beladen wurde, sah er drei Männer auf das Stationsgebäude zugehen. Es war rot anstatt grün gestrichen und viermal so groß wie das von Dennison River Bend. Auf dem Schild davor stand: STURBRIDGE MASSACHUSETTS.
Luke überlegte, ob er sich durch die Lücke zwischen dem Güterwagen und dem Laster schieben sollte, aber auf dem Bahnhof herrschte viel Betrieb. Es sah allerhand Arbeiter (und einige Arbeiterinnen), die sich zu Fuß oder in Fahrzeugen hin und her bewegten. Man würde ihn sehen, man würde ihn ausfragen, und er wusste, dass er in seinem momentanen Zustand nicht in der Lage war, glaubhaft seine Geschichte zu erzählen. Er nahm undeutlich wahr, dass er Hunger hatte, und deutlicher, dass es in seinem lädierten Ohr pochte, aber beides verblasste gegenüber seinem Bedürfnis nach mehr Schlaf. Vielleicht wurde sein Güterwagen auf ein Nebengleis verschoben, sobald die Möbel ausgeladen waren, und wenn es dunkel war, könnte er sich auf die Suche nach der nächsten Polizeistation machen. Bis dahin war er wahrscheinlich in der Lage, seine Situation zu erklären, ohne wie ein Verrückter zu klingen. Oder wenigstens nicht wie ein komplett Verrückter. Glauben würde man ihm möglicherweise nicht, aber man würde ihm bestimmt etwas zu essen geben und vielleicht auch ein Paracetamol für sein pochendes Ohr. Seine Trumpfkarte bestand darin, von seinen Eltern zu erzählen. Das war etwas, was man nachprüfen konnte, und dann würde man ihn nach Minneapolis zurückschicken. Was selbst dann gut war, wenn es bedeutete, dass er in irgendein Kinderheim kam. Dort würde es zwar Schlösser an den Türen geben, aber keinen Wassertank.
Massachusetts war ein ausgezeichneter Anfang; er hatte Glück gehabt, so weit zu kommen, aber es lag immer noch zu nah am Institut. Minneapolis hingegen war seine Heimat. Dort kannte er allerhand Leute. Bestimmt glaubte Mr. Destin ihm. Oder Mr. Greer von seiner Schule. Oder…
Jemand anderes fiel ihm nicht mehr ein. Er war zu müde. Nachzudenken war wie der Versuch, durch ein mit Fett verschmiertes Fenster zu blicken. Er ließ sich auf alle viere nieder, krabbelte zur hinteren rechten Ecke des Wagens, spähte zwischen zwei Bodenfräsen hindurch und wartete darauf, dass die Männer aus dem Laster wiederkamen, um die restlichen Möbel für Bender and Bowen auszuladen. Möglicherweise entdeckten sie ihn trotzdem, das war ihm völlig klar. Es waren Männer, und Männer inspizierten liebend gern alles, was einen Motor hatte. Vielleicht wollten sie sich die Rasentraktoren oder die Motorsensen anschauen. Oder sie wollten nachschauen, wie viel PS die neuen Außenbordmotoren hatten – die steckten zwar in Kisten, aber die Informationen befanden sich sicher auf den Lieferscheinen. Er würde warten, würde sich klein machen, würde hoffen, dass sein bereits reichlich strapaziertes Glück sich noch ein bisschen mehr strapazieren ließ. Und wenn man ihn nicht entdeckte, würde er sich wieder schlafen legen.
Aber Luke wartete und beobachtete nicht. Sobald er den Kopf auf den Arm gelegt hatte, war er in wenigen Minuten eingeschlafen. Er schlief, als die beiden Männer wiederkamen und ihre Arbeit abschlossen. Er schlief, als einer von ihnen keine eineinhalb Meter von der Stelle entfernt, wo Luke sich zusammengerollt hatte, einen Rasentraktor von John Deere begutachtete. Er schlief, als die beiden verschwanden und ein Bahnhofsarbeiter die Tür des Güterwagens zuschob, diesmal vollständig. Er schlief, während es rumpelte und polterte, als neue Wagen angehängt wurden, und er regte sich nur minimal, als man die Lokomotive austauschte. Dann schlief er wieder tief und fest, wie es sich für einen zwölfjährigen Flüchtling, der malträtiert und verwundet und terrorisiert worden war, gehörte.
Die bisherige Lokomotive konnte höchstens vierzig Wagen ziehen. Die neue hätte Vic Destin als eine GE AC6000CW identifiziert, wobei 6000 für die PS-Leistung stand, zu der sie fähig war. Es war eine der stärksten Dieselloks, die derzeit in Amerika eingesetzt wurden, und sie konnte einen mehr als eine Meile langen Zug ziehen. Als der Expresszug Nr. 9956 Sturbridge verließ, um erst nach Südosten und dann direkt nach Süden zu fahren, bestand er aus siebzig Waggons.
Der Wagen von Luke war jetzt weitgehend leer und würde das bleiben, bis der 9956 in Richmond in Virginia hielt, wo zwei Dutzend Heimgeneratoren Marke Kohler eingeladen werden sollten. Die meisten dieser Geräte gingen nach Wilmington, aber zwei davon – sowie der gesamte Kram, hinter dem Luke schlief – waren für die Maschinenhandlung Fromie in der kleinen Stadt DuPray in South Carolina bestimmt. Dort hielt der 9956 dreimal pro Woche.
Große Ereignisse haben manchmal kleine Ursachen.