SPRITZE FÜR BLITZE

1

Draußen vor der Tür zum Aufenthaltsraum des Instituts legte Kalisha Luke den Arm um die Schultern und zog ihn zu sich heran. Er dachte, sie wollte ihn noch einmal küssen (eigentlich hoffte er das sogar), aber sie flüsterte ihm nur etwas ins Ohr. Ihre Lippen kitzelten so stark, dass er eine Gänsehaut bekam. »Du kannst reden, worüber du willst, bloß sag nichts über Maureen, okay? Wir denken zwar, dass die uns nicht ständig belauschen, sondern nur ab und zu, aber es ist besser, vorsichtig zu sein. Ich will nicht, dass sie Ärger kriegt.«

Maureen war die Haushälterin, okay, aber wer waren die? Luke war sich noch nie so verloren vorgekommen, nicht mal als Vierjähriger, als er in der Mall of America fünfzehn endlose Minuten lang von seiner Mutter getrennt gewesen war.

Inzwischen hatten ihn, wie Kalisha angekündigt hatte, die Moskitos entdeckt. Kleine schwarze, die in wahren Wolken seinen Kopf umkreisten.

Der Spielplatz war größtenteils mit feinem Kies bedeckt. Der Basketballbereich, wo der Junge namens George weiter auf den Korb zielte, war asphaltiert, und rund um das Trampolin war der Boden mit schaumstoffartigem Zeug belegt, damit man sich nicht wehtat, wenn man sich bei einem Sprung verschätzte und herunterfiel. Außerdem gab es ein Shuffleboard-Feld, einen Badmintonplatz, einen kleinen Seilgarten und bunte Zylinder, die kleine Kinder zu einem Tunnel zusammensetzen konnten – nicht dass irgendwelche Kinder da waren, die klein genug dafür gewesen wären. Dazu kamen Schaukeln, Wippen und eine Rutsche. Neben mehreren Picknicktischen stand ein langer, grüner Schrank, auf dem Schilder mit der Aufschrift SPIELE UND GERÄTE und SACHEN NACH GEBRAUCH BITTE ZURÜCKLEGEN angebracht waren.

Umgeben war der Spielplatz von einem mindestens drei Meter hohen Maschendrahtzaun. An zwei Ecken sah Luke Kameras, die alles im Blick behielten. Allerdings waren sie so verstaubt, dass sie wahrscheinlich eine ganze Weile nicht gereinigt wurden. Hinter dem Zaun war nichts als Wald, hauptsächlich Tannen. Nach der Dicke ihrer Stämme schätzte Luke sie auf ungefähr achtzig Jahre. Die Formel – sie stand in Bäume Nordamerikas, das er mit zehn an einem Sonntagnachmittag gelesen hatte – war ziemlich simpel. Es war nicht nötig, die Ringe zu zählen. Man schätzte lediglich den Umfang eines Baumstamms, teilte ihn durch Pi, um den Durchmesser zu bestimmen, und multiplizierte diesen dann mit dem durchschnittlichen Wachstumsfaktor der nordamerikanischen Tanne, der 4,5 betrug. Das war ebenso leicht wie die logische Schlussfolgerung: Die Bäume dort wurden schon sehr lange nicht mehr geschlagen, vielleicht seit mehreren Generationen nicht mehr. Was immer das Institut darstellte, es stand inmitten eines uralten Waldes, also inmitten von nirgendwo. Was den Spielplatz anging, war Lukes erster Gedanke: Wenn es einen Gefängnishof für Kinder im Alter von sechs bis sechzehn geben würde, dann sähe der exakt so aus.

Das Mädchen – Iris – winkte den beiden wieder zu. Mit hüpfendem Pferdeschwanz sprang sie zweimal auf dem Trampolin auf, dann flog sie zur Seite und landete breitbeinig und mit gebeugten Knien auf dem Schaumstoff. »Sha! Wen hast du denn da mitgebracht?«

»Das ist Luke Ellis«, sagte Kalisha. »Heute Morgen frisch eingetroffen.«

»Hi, Luke.« Iris kam angelaufen und hielt ihm die Hand hin. Sie war hager, ein Stück größer als Kalisha und hatte ein freundliches, hübsches Gesicht. Wangen und Stirn glänzten, was wohl an einer Mischung aus Schweiß und Mückenmittel lag. »Iris Stanhope.«

Während Luke ihr die Hand schüttelte, merkte er, dass die Moskitos – in Minnesota nannte man sie Schnaken, wie man sie hier nannte, wusste er nicht – sich bereits über ihn hermachten. »Dass ich hier bin, freut mich zwar nicht, aber ich freu mich, dich kennenzulernen.«

»Ich bin aus Abilene, das ist in Texas. Wo kommst du her?«

»Aus Minneapolis. Das ist in…«

»Ich weiß schon, wo das ist«, sagte Iris. »Im Land der hunderttausend Seen oder so ähnlich.«

»George!«, rief Kalisha. »Wo bleiben deine Manieren, junger Mann! Komm endlich her!«

»Moment noch. Das ist wichtig.« George stellte sich an die Linie, die den Rand des Spielfelds markierte, hielt den Basketball an die Brust und legte mit tiefer, angespannter Stimme los: »Okay, Leute, nach sieben hart umkämpften Spielen sind wir am Ende angelangt. Zweite Verlängerung, die Wizards haben einen Punkt weniger als die Celtics, und George Iles, gerade erst eingewechselt, hat die Chance, das Spiel von der Freiwurflinie aus zu gewinnen. Trifft er ein Mal, ziehen die Wizards gleich. Trifft er zwei Mal, schreibt er Geschichte. Wahrscheinlich kommt sein Foto in die Hall of Fame, vielleicht gewinnt er ein Tesla-Cabrio…«

»Das wäre dann eine Spezialanfertigung«, unterbrach ihn Luke. »Tesla produziert nämlich keine Cabrios, zumindest noch nicht.«

George achtete nicht auf ihn. »Niemand hätte je erwartet, dass Iles in eine solche Lage kommt, am wenigsten Iles selbst. Eine gespenstische Stille hat sich über die Capital One Arena gesenkt…«

»Und da furzt jemand!«, rief Iris. Sie schob die Zunge zwischen die Lippen und ließ ein langes, energisches Prusten ertönen. »Ein echter Trompetenstoß! Und was für ein Gestank!«

»Iles holt tief Luft… er lässt den Ball zweimal aufspringen, was sein Markenzeichen ist…«

»George quasselt nicht bloß wie ein Weltmeister, sondern hat auch eine extrem lebhafte Fantasie«, sagte Iris zu Luke. »Du wirst dich dran gewöhnen.«

George blickte zu den dreien herüber. »Iles wirft einen wütenden Blick auf einen einsamen Celtics-Fan, der ihn von der Tribüne her anpöbelt… Es ist ein Mädchen, das nicht bloß dämlich, sondern auch erstaunlich hässlich aussieht…«

Iris gab ein weiteres Prusten von sich.

»Jetzt blickt Iles zum Korb empor… Iles wirft…«

Ein Airball.

»Mann, George, das war echt furchtbar«, sagte Kalisha. »Stell jetzt entweder Gleichstand her, oder verlier das verdammte Spiel, damit wir miteinander reden können. Der Typ da hat nämlich keine Ahnung, was mit ihm passiert ist.«

»Als ob wir das wüssten«, sagte Iris.

George ging leicht in die Knie und warf. Der Ball rollte innen im Ring herum… überlegte es sich anders… und sprang wieder heraus.

»Sieg für die Celtics, Sieg für die Celtics!«, brüllte Iris. Sie sprang in die Höhe wie ein Cheerleader und schüttelte unsichtbare Pompons. »Jetzt komm endlich her, und schau dir den Neuen an.«

Während George auf sie zukam, wedelte er die Moskitos weg. Er war klein und stämmig, weshalb er sicher nur in seiner Fantasie jemals professionell Basketball spielen würde. Das blasse Blau seiner Augen erinnerte Luke an die Filme mit Paul Newman und Steve McQueen, die er sich mit Rolf auf TCM angeschaut hatte. Ihm wurde flau im Magen, wenn er daran dachte, wie sie zu zweit vor dem Fernseher gelegen und Popcorn gefuttert hatten.

»Yo, Alter. Wie heißt du?«

»Luke Ellis.«

»Ich bin George Iles, aber das hast du wahrscheinlich schon von den zwei Mädels hier gehört. Für die bin ich ein wahrer Gott.«

Kalisha hielt sich den Kopf, als würde er wehtun. Iris zeigte George den Finger.

»Ein Liebesgott.«

»Dann eher Adonis als Cupido«, sagte Luke, um ein bisschen darauf einzugehen. Jedenfalls versuchte er das. »Adonis ist der Gott von Schönheit und Begehren.«

»Wenn du meinst… Na, wie findest du es hier? Beschissen, oder?«

»Wo sind wir überhaupt? Kalisha nennt es das Institut, aber was hat das zu bedeuten?«

»Man könnte es auch Mrs. Sigsbys Heim für missratene Kinder mit übersinnlichen Fähigkeiten nennen«, sagt Iris und spuckte aus.

Das hier fühlte sich nicht einfach so an, als würde man sich mitten in einem Film vor den Fernseher setzen. Das hier war, als würde man erst in der dritten Staffel einer Serie einsteigen. Einer Serie mit komplizierter Handlung.

»Wer ist denn Mrs. Sigsby?«

»Die Oberzicke«, sagte George. »Du wirst sie bald kennenlernen, und ich geb dir den guten Rat, bloß nicht frech zu ihr zu sein. Das kann sie nämlich nicht ausstehen.«

»Bist du TP oder TK?«, fragte Iris.

»TK, nehme ich an.« In Wirklichkeit war es wesentlich mehr als eine bloße Annahme. »Manchmal bewegen sich Sachen, die in meiner Nähe sind, und da ich nicht an Poltergeister glaube, bin wahrscheinlich ich dran schuld. Aber das kann doch nicht ausreichen…« Er unterbrach sich. Das kann doch nicht ausreichen, um mich hierherzuschaffen, dachte er. Aber er war hier.

»TK-positiv?«, fragte George. Er ging zu einem von den Picknicktischen. Luke folgte ihm, die beiden Mädchen gingen hinterher. Luke konnte grob das Alter des Waldes berechnen, der sie umgab, er kannte die Namen von hundert unterschiedlichen Bakterien, er hätte seinen Gefährten allerhand über Hemingway, Faulkner und Voltaire erzählen können, aber jetzt verstand er nicht mal Bahnhof.

»Was soll das sein?«, fragte er.

»Pos oder positiv werden Kids wie ich und George genannt«, sagte Kalisha. »Von den MTAs und den Ärzten und allen anderen, meine ich. Wir sollen das eigentlich nicht wissen…«

»Aber wir wissen es trotzdem«, ergänzte Iris. »Das ist so was wie ein offenes Geheimnis. Wer TK- und TP-positiv ist, kann seine Fähigkeiten nutzen, wenn er will, wenigstens manchmal. Wir anderen können das nicht. Bei mir zum Beispiel bewegen sich Sachen bloß, wenn ich total sauer oder glücklich bin oder einfach erschrocken. Das heißt, es passiert unwillkürlich, wie wenn man niest. Ich bin also bloß Durchschnitt. Durchschnittliche TKs und TPs nennen sie Pinks.«

»Wieso?«, fragte Luke.

»Wenn man zum Durchschnitt gehört, ist auf den Papieren in deiner Akte ein kleiner pinker Punkt. Wir sollen eigentlich nicht sehen, was in unserer Akte ist, aber einmal habe ich trotzdem einen Blick reingeworfen. Manchmal sind sie eben achtlos.«

»Pass bloß auf, dass du nichts anstellst, Luke, sonst springen sie mächtig achtlos mit dir um«, sagte Kalisha.

»Mit Pinks macht man mehr Tests, und sie kriegen auch mehr Spritzen«, fuhr Iris fort. »Mich hat man in den Wassertank gesteckt. Das war beschissen, aber ich hab’s überlebt.«

»Was ist denn der…«

George ließ Luke keine Chance, seine Frage zu vollenden. »Also, ich bin TK-pos, in meiner Akte ist kein pinker Punkt. Null Pink für mich, Alter.«

»Hast du denn deine Akte gesehen?«, fragte Luke.

»Nicht nötig. Ich bin nämlich der totale Wahnsinn. Sieh her!«

George musste sich nicht konzentrieren wie ein indischer Heiliger, er stand einfach da, während sich etwas Außerordentliches ereignete. (Jedenfalls kam es Luke außerordentlich vor, obwohl keines der Mädchen besonders beeindruckt zu sein schien.) Die Mückenwolke, die den Kopf von George umkreiste, zog sich plötzlich ein Stück zurück und bildete eine Art Kometenschweif, als wäre sie von einer starken Windbö erfasst worden. Dabei wehte keinerlei Wind.

»Siehst du?«, sagte George. »TK-pos in Aktion. Leider hält es nicht lange.«

Wohl wahr. Die Mücken waren bereits wieder da, sie umkreisten ihn und wurden sichtlich nur durch das Abwehrmittel, das er aufgetragen hatte, auf Distanz gehalten.

»Dein zweiter Wurf auf den Korb vorhin«, sagte Luke. »Hättest du den reingehen lassen können?«

Mit bedauernder Miene schüttelte George den Kopf.

»Wäre toll, wenn sie mal einen TK-pos herschaffen würden, der richtig Power hat«, sagte Iris. Die Aufregung, jemand Neues kennenzulernen, hatte sich in Luft aufgelöst. Jetzt sah sie müde, verängstigt und älter aus, als sie war. Luke schätzte sie auf etwa fünfzehn. »Einen, der uns schleunigst hier rausteleportieren könnte.« Sie setzte sich auf eine Bank am Picknicktisch und legte die Hand über die Augen.

Kalisha setzte sich daneben und legte den Arm um sie. »Komm, Knuffel, komm, es wird schon wieder gut.«

»Nein, wird es nicht«, sagte Iris. »Sieh dir das an, ich bin ein richtiges Nadelkissen!« Sie streckte die Arme aus. Auf dem linken klebten zwei Pflaster, auf dem rechten drei. Dann rieb sie sich kräftig die Augen und setzte ein Pokerface auf. »Sag doch mal, Neuer – kannst du absichtlich Sachen verschieben?«

Über den auch als Psychokinese bekannten Triumph von Geist über Materie, zu dem Luke fähig war, hatte er noch nie mit jemand gesprochen – außer mit seinen Eltern. Seine Mutter sagte, die Leute würden schlicht durchdrehen, wenn sie darüber Bescheid wüssten, und sein Vater meinte, es sei das Unwichtigste an ihm. Mit beidem stimmte Luke überein, aber diese Kids da drehten bestimmt nicht durch, und hier war so etwas doch wichtig. Das war klar.

»Nein«, sagte er. »Ich kann nicht mal richtig mit den Ohren wackeln.«

Die anderen lachten, worauf Luke sich entspannte. Dieser Ort war seltsam und beängstigend, aber immerhin schienen die drei da in Ordnung zu sein.

»Ab und zu bewegen sich Sachen von selbst, das ist alles. Teller oder Besteck. Manchmal geht eine Tür von alleine zu, und ein paarmal ist die Lampe auf meinem Schreibtisch angegangen. Was Besonderes ist nie passiert. Ich war mir dabei nicht mal ganz sicher, ob es an mir lag. Ich dachte, vielleicht ist es ein Luftzug… oder ein Beben tief in der Erde…«

Die drei blickten ihn wissend an.

»Okay«, sagte er. »Ich hab es doch gewusst. Meine Eltern ebenfalls. Aber es war nie eine große Sache für uns.«

Vielleicht, dachte er, wäre es ja anders gewesen, wenn ich nicht so verdammt intelligent wäre, dass mich gleich zwei Colleges angenommen haben, obwohl ich erst zwölf bin. Wenn ein Siebenjähriger so gut Klavier spielen könnte wie Van Cliburn, würde es dann irgendjemand kümmern, wenn er außerdem noch ein paar simple Kartentricks beherrschte? Oder mit den Ohren wackeln konnte? Vor George, Iris und Kalisha konnte er das allerdings nicht sagen. Es hätte angeberisch geklungen.

»Stimmt, es ist wirklich keine große Sache!«, sagte Kalisha in wütendem Ton. »Das ist das Beschissene daran! Wir sind nicht die Justice League oder die X-Men!«

»Sind wir eigentlich gekidnappt worden?«, fragte Luke und wünschte sich inbrünstig, dass die anderen laut loslachten. Dass einer von ihnen sagte: Natürlich nicht!

»Was denn sonst?«, sagte George.

»Aber warum? Weil du irgendwelche Mücken dazu bringen kannst, dich einen Moment in Ruhe zu lassen? Weil ich…« Er dachte daran, wie das Blech in der Pizzeria zu Boden gefallen war. »Weil ab und zu hinter mir die Tür von selbst zugeht, wenn ich in ein Zimmer gehe?«

»Na ja«, sagte George. »Wenn sie die Leute nach Schönheit auswählen würden, wären Iris und Sha bestimmt nicht hier.«

»Vollpfosten«, sagte Kalisha

George grinste. »Ein extrem niveauvoller Konter. Fast so gut wie ›Leck mich am Ärmel‹.«

»Manchmal kann ich es kaum erwarten, dass du in den Hinterbau kommst«, sagte Iris. »Gott wird mir dafür wahrscheinlich in den Arsch treten, aber…«

»Moment«, sagte Luke. »Moment. Fang bitte mal am Anfang an.«

»Das ist der Anfang, Kumpel«, sagte jemand hinter ihnen. »Leider ist es wahrscheinlich auch das Ende.«

2

Luke schätzte das Alter des frisch dazugekommenen Jungen auf sechzehn, stellte jedoch später fest, dass er zwei Jahre zu hoch gelegen hatte. Nicky Wilholm war groß und blauäugig; sein ungepflegter Haarschopf war rabenschwarz und schrie nach einer doppelten Dosis Shampoo. Er trug ein zerknittertes Hemd und ebenso zerknitterte Shorts, seine weißen Sportsocken hingen auf halbmast, und seine Sneakers waren schmutzig. Luke erinnerte sich daran, dass Maureen gesagt hatte, Nicky sei wie Pig Pen von den Peanuts.

Die anderen beäugten ihn mit respektvoller Vorsicht, und Luke begriff sofort, dass Kalisha, Iris und George zwar nicht glücklicher als er selbst darüber waren, sich an diesem Ort zu befinden, aber doch versuchten, positiv zu bleiben. Bis auf den Moment, wo Iris sich hatte gehen lassen, stellten sie die etwas alberne Absicht zur Schau, das Beste aus der Situation zu machen. Das ließ sich von dem Typen da nicht behaupten. Momentan wirkte Nicky zwar nicht wütend, aber es war klar, dass er es vor nicht allzu langer Zeit gewesen war. Seine geschwollene Unterlippe war an einer Stelle aufgeplatzt, außerdem war das ehemals blaue, jetzt noch blassblaue Auge so wenig zu übersehen wie der frische Bluterguss auf einer Wange.

Also jemand, der gern handgreiflich wurde. So welche hatte Luke schon erlebt, selbst an seiner Schule gab es ein paar, von denen er und Rolf Abstand hielten. Aber wenn dieser Ort eine Art Gefängnis war, wie Luke vermutete, würde es keine Möglichkeit geben, Abstand von Nicky Wilholm zu halten. Dass die anderen vor ihm keine Angst zu haben schienen, war immerhin ein gutes Zeichen. Wahrscheinlich war Nicky wütend auf das, was sich hinter der neutralen Bezeichnung Institut verbarg, verhielt sich gegenüber den anderen Kindern jedoch einfach schroff. Kaltblütig. In dem Fall ließen die Spuren auf seinem Gesicht nichts Gutes vermuten, vor allem wenn er nicht von Natur aus gewalttätig war. Ob er wohl von einem Erwachsenen verprügelt worden war? Hätte ein Lehrer sich zu so etwas hinreißen lassen, hätte man ihn gefeuert, wahrscheinlich angezeigt und vielleicht festgenommen, nicht nur an Lukes Schule, sondern praktisch überall.

In Kansas sind wir auch nicht mehr, Toto, hatte Kalisha gesagt.

»Ich bin Luke Ellis.« Er streckte Nicky die Hand hin, ohne recht zu wissen, was er zu erwarten hatte.

Anstatt die Hand auch nur zu beachten, öffnete Nicky den grünen Geräteschrank. »Spielst du Schach, Ellis? Die drei anderen da haben keine blasse Ahnung davon. Donna Gibson konnte wenigstens einigermaßen mithalten, aber die ist vor drei Tagen in den Hinterbau gekommen.«

»Und wir werden sie nie wiedersehen«, sagte George trübselig.

»Ich spiele Schach, aber jetzt hab ich keine Lust dazu«, sagte Luke. »Erst will ich wissen, wo ich bin und was hier vor sich geht.«

Nick holte ein Schachbrett und den Kasten mit den Figuren aus dem Schrank. Während er schnell alles aufbaute, spähte er durch die Haare hindurch, die ihm in die Augen gefallen waren, anstatt sie zurückzustreichen. »Du bist im Institut. Irgendwo in der Wildnis von Maine. Hier gibt es keinen Ort, sondern nur Kartenkoordinaten. TR-110. Das hat Sha von ein paar Leuten aufgeschnappt. Donna ebenfalls, genau wie Pete Littlejohn. Das ist ein weiterer TP, der im Hinterbau verschwunden ist.«

»Kommt mir so vor, als wär Petey schon ewig weg, dabei war er noch letzte Woche hier«, sagte Kalisha wehmütig. »Erinnert ihr euch an seine ganzen Pickel? Und daran, wie ihm immer die Brille über die Nase gerutscht ist?«

Nicky achtete nicht auf sie. »Die Zoowärter versuchen erst gar nicht, irgendwas zu verschleiern oder zu leugnen. Wieso sollten sie auch, wenn sie die Kids mit TP tagaus, tagein in die Mangel nehmen? Und wegen dem, was sie geheim halten wollen, machen sie sich keine Sorgen, weil selbst Sha nicht richtig tief eindringen kann, und die ist ziemlich gut.«

»Bei den Zenerkarten schaffe ich meistens neunzig Prozent«, sagte Kalisha. Ohne zu prahlen, ganz sachlich. »Und ich kann dir den Vornamen deiner Großmutter sagen, wenn du ihn ganz vorne in deinen Kopf schiebst, aber tiefer komme ich nicht.«

Der Vorname meiner Großmutter ist Rebecca, dachte Luke.

»Rebecca«, sagte Kalisha, und als sie Lukes verblüffte Miene sah, bekam sie einen Kicheranfall, bei dem sie wie das Kind aussah, das sie vor kurzem noch gewesen war.

»Du kriegst die Weißen«, sagte Nicky. »Ich spiele immer Schwarz.«

»Nick ist unser Ehrenrevoluzzer«, sagte George.

»Den Beweis sieht man an seinem Gesicht«, sagte Kalisha. »Es bekommt ihm nicht gut, aber offenbar kann er nicht anders. Das Chaos in seinem Zimmer ist auch so eine kindische Rebellion und macht Maureen bloß mehr Arbeit.«

Nicky sah sie scharf an. »Wenn Maureen wirklich die Heilige wäre, für die du sie hältst, würde sie uns hier rausholen. Oder sich bei der nächsten Polizeistation melden und das Ganze auffliegen lassen.«

Kalisha schüttelte den Kopf. »So läuft das nicht. Wenn du hier arbeitest, gehörst du dazu. Egal ob du gut oder schlecht bist.«

»Beziehungsweise fies oder nett«, fügte George hinzu. Er blickte ernst drein.

»Außerdem hocken in der nächsten Polizeistation wahrscheinlich bloß ein Haufen Hillbillys«, sagte Iris. »Da du dich anscheinend zum Obererklärer ernannt hast, Nicky, wie wär’s, wenn du dem Neuen wirklich sagst, was Sache ist? Shit, weißt du denn nicht mehr, wie krass es ist, hier in ’nem Zimmer aufzuwachen, das wie deins zu Hause aussieht?«

Nicky lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Luke sah aus den Augenwinkeln, wie Kalisha ihn anhimmelte. Wenn die Nicky mal einen Kuss gab, tat sie das bestimmt nicht nur, um ihre Windpocken weiterzugeben.

»Okay, Ellis, dann erzähle ich dir jetzt mal, was wir wissen. Oder was wir zu wissen glauben. Es wird nicht lange dauern. Ihr zwei Ladys könnt gern was beitragen. George, du hältst die Klappe, wenn du ’nen Bullshit-Anfall kriegen solltest.«

»Danke für den Hinweis«, sagte George. »Da kannst du lange warten.«

»Kalisha ist am längsten hier«, sagte Nicky. »Wegen den Windpocken. Wie viele Kids hast du in der Zeit kennengelernt, Sha?«

Sie überlegte. »So um die fünfundzwanzig. Vielleicht auch ein paar mehr.«

Er nickte. »Die Kids – wir – kommen von überall her. Sha ist aus Ohio, Iris ist aus Texas, George ist aus Schwanzloch, Montana…«

»Ich bin aus Billings«, sagte George. »Einer absolut anständigen Stadt.«

»Als Erstes markieren sie uns, als ob wir Zugvögel oder irgendwelche verdammten Büffel wären.« Nicky strich seine Haare zurück und klappte sein rechtes Ohrläppchen nach vorn. Eine Scheibe aus glänzendem Metall, halb so groß wie eine kleine Münze, wurde sichtbar. »Sie untersuchen uns, sie machen Tests an uns, sie geben uns manchmal eine Spritze für Blitze, dann untersuchen sie uns wieder und machen weitere Tests. Wenn du ein Pink bist, kriegst du mehr Spritzen und wirst öfter getestet.«

»Ich bin in den Wassertank gekommen«, rief Iris in Erinnerung.

»Schön für dich«, sagte Nicky. »Wenn wir pos sind, lassen sie uns allerhand dämliche Hundetricks machen. Ich bin zufällig selbst TK-pos, aber George, die Labertasche da, ist in der Hinsicht wesentlich begabter als ich. Einmal war einer da, weiß nicht mehr, wie er heißt, der hat George sogar noch übertroffen.«

»Bobby Washington«, sagte Kalisha. »Ein kleiner Schwarzer, etwa neun. Der konnte ’nen Teller einfach so vom Tisch rutschen lassen. Wie lange ist der jetzt schon weg, Nicky? Zwei Wochen?«

»Etwas weniger«, sagte Nicky. »Wenn es zwei Wochen wären, wäre ich noch gar nicht da gewesen.«

»An einem Abend saß er am Esstisch, und am nächsten Tag war er im Hinterbau«, sagte Kalisha. »Simsalabim! Eben noch da, schon wieder weg. Die Nächste bin wohl ich. Hab den Eindruck, dass sie mit ihren ganzen Tests allmählich fertig sind.«

»Bei mir auch«, sagte Nicky säuerlich. »Wahrscheinlich sind sie froh, mich loszuwerden.«

»Das wahrscheinlich kannst du streichen«, sagte George.

»Diese Spritzen, die sie uns geben…«, sagte Iris. »Manche tun weh, andere nicht, manche machen was mit einem, manche nicht. Nach einer hab ich hohes Fieber gekriegt und brutales Kopfweh. Ich dachte schon, dass ich mich bei Sha mit Windpocken angesteckt hätte, aber nach einem Tag war es vorüber. Jedenfalls geben sie dir Spritzen, bis du die Blitze siehst und das Summen hörst.«

»Du bist noch gut weggekommen«, sagte Kalisha. »Ein paar andere Kids… Da war einer, der hieß Morty… an seinen Nachnamen kann ich mich nicht erinnern…«

»Der Nasenbohrer«, sagte Iris. »Hing immer mit Bobby Washington rum. Seinen Nachnamen weiß ich auch nicht mehr. Zwei Tage nachdem ich hier angekommen bin, ist er in den Hinterbau entschwunden.«

»Oder sonst wohin«, sagte Kalisha. »Er war nämlich nicht besonders lange hier, und nach einer von den Spritzen war er am ganzen Körper mit Flecken übersät. Das hat er mir beim Essen erzählt. Außerdem hat sein Herz wie irre geschlagen. Ich glaube, er ist total krank geworden.« Sie schwieg einen Moment. »Vielleicht ist er sogar gestorben.«

George starrte sie mit entsetzter Miene an. »Von mir aus kannst du gerne so zynisch sein, wie du willst, aber das glaubst du doch nicht wirklich, oder?«

»Ist ja nicht so, als ob ich’s glauben wollte«, sagte Kalisha.

»Klappe, ihr alle«, sagte Nicky. Er beugte sich über das Schachbrett und sah Luke in die Augen. »Ja, sie kidnappen uns. Weil wir besondere Kräfte haben. Wie sie uns finden? Keine Ahnung. Aber es muss eine große Operation sein, weil das hier groß angelegt ist. Es ist eine richtige Anlage, verdammt noch mal. Sie haben Ärzte, MTAs und Leute, die sich Pfleger schimpfen… Es ist wie ein kleines Krankenhaus, das man hier mitten in den Wald gesetzt hat.«

»Security haben sie auch«, sagte Kalisha.

»Stimmt. Der Chef von denen ist ein fettes Arschloch mit Glatze. Stackhouse heißt der.«

»Aber das ist doch verrückt«, sagte Luke. »Mitten in Amerika?«

»Wir sind hier nicht in Amerika, sondern im Königreich des Instituts. Wenn wir zum Mittagessen da reingehen, solltest du mal aus den Fenstern schauen, Ellis. Da wirst du massenhaft weitere Bäume sehen, aber wenn du genau hinschaust, siehst du noch ein Gebäude. Aus grünen Betonsteinen, genau wie das hier. Damit es zwischen den Bäumen nicht so auffällt, denke ich. Egal, das ist der Hinterbau. Wo wir hinkommen, wenn alle Tests und Spritzen erledigt sind.«

»Und was passiert dort?«

Die Antwort gab Kalisha. »Das wissen wir nicht.«

Luke lag es auf der Zunge zu fragen, ob Maureen Bescheid wusste, doch dann fiel ihm ein, was Kalisha ihm ins Ohr geflüstert hatte: Die belauschen uns.

»Wir wissen bloß, was sie uns sagen«, ergänzte Iris. »Sie sagen…«

»Sie sagen, dass alles wieder GUUUUUT wird!«

Das brüllte Nicky so laut und so plötzlich, dass Luke zusammenzuckte und beinahe von der Picknickbank gefallen wäre. Der schwarzhaarige Junge erhob sich, stellte sich in Positur und blickte zu der staubigen Linse einer Überwachungskamera hinauf. Dabei fiel Luke noch etwas ein, was Kalisha gesagt hatte: Wenn du Nicky kennenlernst, mach dir nichts draus, wenn er Randale macht. So lässt er eben Dampf ab.

»Die sind wie Missionare, die Jesus verkaufen. An einen Haufen Indianer, die so… so…«

»Naiv?«, schlug Luke vor.

»Genau! Das ist es!« Nicky starrte immer noch in die Kamera. »An einen Haufen Indianer, die so naiv sind, dass sie praktisch alles glauben! Die ihr Land für eine Handvoll Glasperlen und ein paar mit Flöhen gespickte Decken aufgeben, weil man ihnen weismacht, dass sie in den Himmel kommen, dort alle ihre toten Verwandten wiedersehen und für immer glücklich sind! Das sind wir, ein Haufen Indianer, die so naiv sind, dass sie alles glauben, was sich gut anhört. Was sich anhört, als gäb es ein verdammtes HAPPY END!«

Mit fliegenden Haaren wirbelte er zu den anderen herum. Seine Augen brannten, die Hände hatte er zur Faust geballt. Auf seinen Fingerknöcheln sah Luke verschorfte Wunden. Wahrscheinlich hatte Nicky nicht so erfolgreich ausgeteilt, wie er eingesteckt hatte – schließlich war er praktisch noch ein Kind–, aber offenbar hatte er es irgendjemand nach Kräften heimgezahlt.

»Meint ihr, als man Bobby Washington in den Hinterbau geschafft hat, hätte der irgendwelche Zweifel dran gehabt, dass es ihm dort blendend gehen würde? Oder Pete Littlejohn? Scheiße, die hatten doch gerade mal so viel Hirn wie ein Pfannkuchen.«

Er wandte sich wieder der verstaubten Überwachungskamera zu. Dass er kein anderes Objekt zur Verfügung hatte, um seinem Zorn Luft zu machen, ließ seinen Auftritt ein bisschen lächerlich wirken, aber Luke bewunderte ihn trotzdem. Nicky war nicht bereit, sich in seine Lage zu fügen.

»Hört gut zu, ihr Typen! Ihr könnt mich grün und blau prügeln, und ihr könnt mich in den Hinterbau schleppen, aber ich werde mich wehren, so gut ich kann! Nick Wilholm lässt sich keine Glasperlen und Decken andrehen!«

Schwer atmend, setzte er sich hin. Dann lächelte er, dass einem Grübchen, weiße Zähne und muntere Augen entgegenleuchteten. Der mürrische, finstere Ausdruck war wie weggeblasen. Luke fühlte sich zwar von Jungen nicht angezogen, aber als er dieses Lächeln sah, begriff er, weshalb Nicky von Kalisha und Iris wie der Leadsänger einer Boygroup angehimmelt wurde.

»Eigentlich sollte ich bei denen im Team sein, statt hier zu hocken wie in einem Hühnerstall. Ich könnte euch den Laden besser verkaufen als Sigsby und Hendricks und die ganzen anderen Typen. Ich strahle nämlich Überzeugung aus.«

»Auf jeden Fall«, sagte Luke. »Aber ich bin mir trotzdem nicht ganz sicher, worauf du rauswolltest.«

»Ja, irgendwie bist du auf den Holzweg geraten, Nicky«, sagte George.

Nicky verschränkte die Arme. »Also, Neuer, bevor ich dich im Schach nach Strich und Faden abziehe, fasse ich noch mal zusammen. Sie bringen uns hierher. Sie machen Tests an uns. Sie spritzen uns weiß der Teufel was und machen dann weitere Tests. Manche Kids kommen in den Wassertank, alle müssen durch diesen gruseligen Augentest, bei dem man dauernd meint, jeden Moment umzukippen. Wir haben Zimmer, die wie unsere Zimmer zu Hause aussehen, was wahrscheinlich ’ne Art Trost für unsere zarte Seele darstellen soll. Oder so.«

»Emotionale Akklimatisierung«, sagte Luke. »Das leuchtet durchaus ein.«

»Das Essen ist gut. Wir können sogar von einer Speisekarte auswählen, so überschaubar die auch ist. Die Zimmer sind nicht abgeschlossen; wenn du also nicht einschlafen kannst, kannst du dir in der Cafeteria nachts einen Snack besorgen. Da stehen Kekse, Nüsse, Äpfel und so Zeug. Oder du gehst in den Aufenthaltsraum. Die Automaten da funktionieren mit Wertmünzen, von denen ich allerdings keine einzige habe, weil die bloß brave kleine Mädchen und Jungen kriegen, und ich bin kein braver kleiner Junge. Wenn ich mal einen Pfadfinder in die Finger kriegen sollte, ramme ich ihn ungespitzt…«

»Stopp!«, sagte Kalisha scharf. »Hör auf mit diesem Scheiß.«

»Geht klar.« Nicky ließ sein charmantes Lächeln aufblitzen, dann wandte er sich wieder Luke zu. »Es gibt massenhaft Anreize, brav zu sein, um Münzen zu bekommen. Schließlich findet man in den Automaten ein fantastisches Angebot an Snacks und Erfrischungsgetränken.«

»Snickers«, sagte George träumerisch. »Kinder Bueno.«

»Ganz zu schweigen von Zigaretten, Alcopops und härterem Zeug.«

»Da hängt ein Schild, auf dem steht: BITTE TRINKT VERANTWORTUNGSBEWUSST«, sagte Iris. »Echt lustig, wenn Kinder, die gerade mal zehn sind, die Tasten für Boone’s Farm Blue Hawaiian und Mike’s Hard Lemonade drücken.«

»Das ist ein Scherz, oder?«, sagte Luke, aber Kalisha und George quittierten die Aussagen mit einem Nicken.

»Man kann sich ein bisschen antütern, aber stockbesoffen wird man nicht«, sagte Nicky. »So viele Münzen hat nämlich niemand.«

»Stimmt«, sagte Kalisha. »Aber manche Kids sorgen dafür, dass sie möglichst ständig angetütert sind.«

»Um einen bestimmten Pegel aufrechtzuerhalten? Zehn- und elfjährige Alkoholiker?« Luke konnte es immer noch nicht glauben. »Das meinst du jetzt aber wirklich nicht ernst.«

»Doch. Es gibt Kids, die alles machen, was man von ihnen verlangt, damit sie sich jeden Tag so Zeug ziehen können. Ich bin zwar noch nicht lange genug hier, dass ich das genauer studieren konnte, aber man hört so Geschichten von Leuten, die vorher da waren.«

»Außerdem geben manche sich alle Mühe, Kettenraucher zu werden«, sagte Iris.

So absurd das war, leuchtete es Luke auf irre Weise ein. Schließlich hatte der römische Satiriker Juvenal geschrieben, wenn man den Leuten Brot und Spiele gebe, wären sie zufrieden und würden keine Probleme machen. Dasselbe galt wahrscheinlich auch für Alkohol und Zigaretten, vor allem wenn man damit eingesperrte Kinder versorgte, die verängstigt und unglücklich waren.

»Hat das denn keine Auswirkungen auf die Tests?«, fragte er.

»Da wir nicht wissen, was für Tests es sind, ist das schwer zu sagen«, sagte George. »Vermutlich haben sie es bloß darauf angelegt, dass du die Blitze siehst und das Summen hörst.«

»Was für Blitze? Und was für ein Summen?«

»Das wirst du schon noch rauskriegen«, sagte George. »Ist übrigens nicht so schlimm. Da hinzukommen ist allerdings echt beschissen. Ich hasse es, Spritzen zu kriegen!«

»Drei Wochen, mehr oder weniger«, sagte Nicky. »So lange bleiben die meisten Kids im Vorderbau. Jedenfalls meint Sha das, und die ist am längsten hier. Dann kommen wir in den Hinterbau. Und danach – so behaupten sie wenigstens – findet eine Art Gehirnwäsche statt, bei der unsere Erinnerungen an den Ort hier irgendwie ausgelöscht werden.« Er hob die Arme in den Himmel und spreizte die Finger. »Und dann, liebe Kinderlein, kommen wir in den Himmel. Von allen Sünden rein, bloß dass wir vielleicht Kette rauchen! Halleluja!«

»Er meint, wir kommen heim zu unseren Eltern«, sagte Iris leise.

»Wo man uns mit offenen Armen empfangen wird«, sagte Nicky. »Ohne Fragen zu stellen. Da heißt’s dann einfach: Willkommen daheim, fahren wir doch gleich mal rüber zu Chuck E. Cheese, um zu feiern! Findest du, das hört sich realistisch an, Ellis?«

Dem war nicht so.

»Aber unsere Eltern sind doch am Leben, oder?« Luke wusste nicht, wie seine Stimme in den Ohren der anderen klang, aber für ihn hörte sie sich sehr dünn an.

Niemand gab eine Antwort, alle sahen ihn nur an. Was eigentlich Antwort genug war.

3

An der Tür von Mrs. Sigsbys Büro klopfte es. Sie bat den Besucher herein, ohne den Blick von ihrem Computerbildschirm abzuwenden. Der Mann, der eintrat, war beinahe so groß wie Dr. Hendricks, aber zehn Jahre jünger und wesentlich besser in Form – breitschultrig und muskulös. Sein kahl rasierter Schädel glänzte. Er trug Jeans und ein legeres blaues Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren, um seine bewundernswerten Bizepse zu präsentieren. An einer Hüfte trug er ein Holster, aus dem ein kurzer Metallstab ragte.

»Die Leute von Team Ruby Red sind da. Falls Sie mit ihnen über die Operation Ellis sprechen wollen.«

»Gibt es da irgendetwas Dringendes oder Außergewöhnliches, Trevor?«

»Nein, Ma’am, eigentlich nicht. Falls ich gerade störe, kann ich später wiederkommen.«

»Nein, ist schon in Ordnung. Unsere Insassen versorgen den neuen Jungen gerade mit ein paar Hintergrundinformationen. Kommen Sie doch her, und sehen Sie sich’s an. Die Mischung aus Gerüchten und Beobachtungen ist recht amüsant. Wie eine Szene aus Herr der Fliegen.«

Trevor Stackhouse kam um den Schreibtisch herum. Er sah Wilholm – einen nervigen kleinen Scheißer, wie er im Buche stand – an einem Schachbrett sitzen, auf dem alle Figuren spielbereit aufgebaut waren. Der Neuankömmling saß ihm gegenüber. Die Mädchen standen daneben und richteten ihre Aufmerksamkeit wie üblich hauptsächlich auf Wilholm – gut aussehend, finster dreinblickend, rebellisch, ein moderner James Dean. Bald würde man ihn los sein; Stackhouse konnte es kaum erwarten, dass Hendricks mit ihm fertig war.

»Was meint ihr, wie viele Leute hier arbeiten?«, fragte der neue Junge.

Iris und Kalisha (auch als Windpockentussi bekannt) sahen sich an. Die Antwort kam von Iris. »Fünfzig? So viele sind es mindestens, glaube ich. Da sind die Ärzte… die MTAs und Pfleger… das Personal in der Cafeteria… äh…«

»Zwei oder drei Hausmeister«, sagte Wilholm. »Und die Haushälterinnen. Momentan ist bloß Maureen da, weil wir gerade mal zu fünft sind, aber wenn es mehr werden, kommen ein, zwei Haushälterinnen dazu. Vielleicht arbeiten die sonst im Hinterbau, aber da bin ich mir nicht sicher.«

»Wie können die das bei so vielen Leuten denn geheim halten?«, fragte Ellis. »Wo parken denn zum Beispiel die ganzen Autos?«

»Interessant«, sagte Stackhouse. »Ich glaube nicht, dass sich das jemand schon einmal gefragt hat.«

Mrs. Sigsby nickte. »Der Junge da ist ausgesprochen klug, und das ist nicht nur angelesen. Jetzt aber pst! Ich will zuhören.«

»… muss bleiben«, sagte Luke gerade. »Erkennt ihr die Logik? Wie ein Kampfeinsatz beim Militär. Was bedeuten würde, dass das hier eine Regierungseinrichtung ist. Wie eine von den Black Sites, wo man Terroristen hinschafft, um sie zu verhören.«

»Samt dem guten, alten Waterboarding«, sagte Wilholm. »Ich hab zwar nicht gehört, dass man das hier schon jemand angetan hätte, aber zutrauen würde ich es denen schon.«

»Die haben ja den Wassertank«, sagte Iris. »Das ist ihr Waterboarding. Sie ziehen dir eine Kappe über den Kopf, tauchen dich unter und machen sich Notizen. Ist eigentlich sogar besser als die Spritzen.« Sie machte eine kleine Pause. »Wenigstens war das für mich so.«

»Bestimmt wechseln sie die Angestellten gruppenweise aus«, sagte Ellis. Mrs. Sigsby hatte den Eindruck, dass er mehr mit sich selbst als mit den anderen sprach. Das tut er sicher oft, dachte sie. »Anders könnte das nicht klappen.«

Stackhouse nickte. »Gute Schlussfolgerungen. Verdammt gute. Wie alt ist der, zwölf?«

»Lesen Sie den Bericht, Trevor.« Sie drückte eine Taste auf ihrem Computer, worauf der Bildschirmschoner auftauchte: ein Foto ihrer Zwillingstöchter in ihrem doppelten Kinderwagen, viele Jahre, bevor die beiden Brüste, ein freches Mundwerk und üble Boyfriends bekommen hatten. Im Falle von Judy außerdem eine üble Drogensucht. »Hat die Nachbesprechung mit Ruby Red schon stattgefunden?«

»Durch mich persönlich. Wenn die Polizei den Computer des Jungen untersucht, wird man feststellen, dass er sich Berichte über Kinder angesehen hat, die ihre Eltern umgebracht haben. Nicht oft, aber doch zwei- oder dreimal.«

»Der Standardablauf also.«

»Ja, Ma’am. Bewährtes soll man bekanntlich beibehalten.«

Stackhouse bedachte sie mit einem strahlenden Lächeln, das sie beinahe so charmant fand wie das von Nicky Wilholm, wenn der es auf volle Wattzahl stellte. Aber nur beinahe. Nicky war ein echter Herzensbrecher. Jedenfalls jetzt noch.

»Wollen Sie mit dem Team sprechen oder sich nur den Bericht anschauen?«, fragte Stackhouse. »Den schreibt Denny Williams, also sollte er einigermaßen lesbar sein.«

»Wenn alles glattgegangen ist, reicht mir der Bericht. Ich lasse ihn mir von Rosalind vorlegen.«

»Gut. Was ist mit Alvorson? Hat die in letzter Zeit irgendwelche neuen Informationen geliefert?«

»Meinen Sie, ob Wilholm und Kalisha schon miteinander rumknutschen?« Sigsby hob eine Augenbraue. »Ist das für Ihren Auftrag als Security-Chef relevant, Trevor?«

»Es ist mir scheißegal, ob die beiden knutschen. Ich würde mich sogar freuen, wenn sie aufs Ganze gehen und ihre Unschuld verlieren, solange sie die Chance dazu haben. Falls sie überhaupt noch jungfräulich sind. Aber von Zeit zu Zeit schnappt Alvorson doch was auf, was relevant für meinen Auftrag ist. Wie damals bei ihrer Unterhaltung mit dem kleinen Washington.«

Maureen Alvorson, die Haushälterin, die scheinbar mit den jungen Insassen des Instituts sympathisierte, war in Wirklichkeit eine Schnüfflerin. (Angesichts der banalen Gesprächsfetzen, mit denen sie ankam, hielt Mrs. Sigsby den Begriff Spitzel nicht für angemessen.) Darauf war weder Kalisha noch irgendjemand von den anderen TPs gekommen, weil Maureen es ausgesprochen gut verstand, ihren kleinen Zusatzjob weit unter der Oberfläche zu halten.

Ihr besonderer Wert bestand darin, dass sie den Insassen geschickt weismachte, bestimmte Bereiche im Institut – wie die südliche Ecke der Cafeteria und der Platz neben den Automaten – würden nicht von der Audioüberwachung erfasst. Das waren die Orte, wo Alvorson die Geheimnisse der Kids erfuhr. In den meisten Fällen handelte es sich um Belanglosigkeiten, aber manchmal fand man eine Perle im Dreck. Zum Beispiel hatte der kleine Washington Maureen anvertraut, dass er an Selbstmord denke.

»In letzter Zeit nicht«, sagte Sigsby. »Ich werde Sie informieren, falls sie mir etwas mitteilt, was meiner Meinung nach von Interesse für Sie sein könnte, Trevor.«

»Okay. Hab bloß gefragt.«

»Schon klar. Gehen Sie jetzt bitte. Ich habe viel zu tun.«

4

»Schluss mit dem Scheiß«, sagte Nicky, setzte sich wieder auf die Bank und strich sich endlich die Haare aus dem Gesicht. »Bald kommt das Dingdong, und nach dem Essen hab ich einen Augentest, bei dem ich auf die weiße Wand starren muss. Zeig endlich, was du draufhast, Ellis. Mach einen Zug.«

Luke hatte noch nie weniger Lust gehabt, Schach zu spielen. Er hatte zahllose weitere Fragen – vor allem darüber, was es mit den Spritzen und den Blitzen auf sich hatte–, aber vielleicht war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Schließlich gab es ein Phänomen namens Informationsüberlastung. Er zog seinen Königsbauern zwei Felder vor. Nicky tat dasselbe. Luke reagierte, indem er seine Dame diagonal vier Felder nach rechts zog, um den Bauern zu bedrohen. Nach kurzem Zögern deckte Nicky den mit einem Springer. Luke zog seinen weißen Läufer vor, und als Nicky die Dame daraufhin mit dem anderen Springer angriff, war die Sache gelaufen. Luke schlug den Bauern neben dem König, und das war es.

Nicky starrte stirnrunzelnd auf das Brett. »Schachmatt? In vier Zügen? Soll das ein Witz sein?«

Luke zuckte die Achseln. »Das nennt man Schäfermatt, und es klappt nur, wenn man mit Weiß spielt. Beim nächsten Mal bist du vorbereitet und kannst kontern. Am besten, du ziehst den Damenbauern zwei Felder vor oder den Königsbauern eines.«

»Und wenn ich das tue, kannst du mich dann trotzdem schlagen?«

»Eventuell.« Eine diplomatische Antwort. Die ehrliche hätte gelautet: Natürlich.

»Heilige Scheiße.« Nicky studierte immer noch das Brett. »Das ist verdammt clever. Wer hat dir das beigebracht?«

»Ich hab ein paar Bücher gelesen.«

Nicky hob den Kopf, schien Luke zum ersten Mal richtig zu sehen und stellte dieselbe Frage wie Kalisha vor einer Weile: »Wie gescheit bist du eigentlich?«

»Gescheit genug, dich zu schlagen«, sagte Iris, was Luke eine Antwort ersparte.

In diesem Augenblick ertönte ein leiser, aus zwei Tönen bestehender Glockenton – das Dingdong.

»Gehen wir zum Essen«, sagte Kalisha. »Ich bin furchtbar hungrig. Komm, Luke. Der Verlierer muss die Figuren aufräumen.«

Nicky richtete die Fingerpistole auf sie und machte mit den Lippen lautlos peng, grinste dabei jedoch. Luke stand auf und folgte den Mädchen. An der Tür zum Aufenthaltsraum holte George ihn ein und fasste ihn am Arm. Luke wusste von seiner soziologischen Lektüre her (und aus persönlicher Erfahrung), dass sich in einer Gruppe von Kindern normalerweise leicht erkennbare Rollen bildeten. Wenn Nicky Wilholm der Rebell in der Gruppe war, dann war George Iles der Klassenclown. Allerdings sah er jetzt todernst drein. Er sprach leise und schnell.

»Nicky ist cool, ich mag ihn, und die Mädchen sind verrückt nach ihm, wahrscheinlich wirst du ihn auch mögen, und das ist okay, aber nimm ihn dir bloß nicht als Vorbild. Er akzeptiert nicht, dass wir hier festsitzen, aber so ist es eben, also überleg dir gut, wann du dich querlegst. Die Blitze zum Beispiel. Wenn du sie siehst, dann sag das auch. Wenn du sie nicht siehst, ebenfalls. Lüg nicht. Die merken das nämlich.«

Nicky gesellte sich zu den beiden. »Worüber redest du denn da, Georgie Boy?«

»Er wollte wissen, wo die kleinen Kinder herkommen«, sagte Luke. »Ich hab gemeint, da soll er dich fragen.«

»Ach du Schande, noch so ein Komiker. Da haben wir gerade drauf gewartet.« Nicky packte Luke am Hals und tat so, als wollte er ihn erwürgen. Luke hoffte, dass er damit Sympathie bezeugte. Vielleicht sogar Respekt. »Komm, setzen wir uns an den Tisch.«

5

Was seine neuen Freunde als Cafeteria bezeichneten, war ein Teil des Aufenthaltsraums gegenüber dem großen Fernseher. Luke hätte gern einen Blick auf die Warenautomaten geworfen, aber die anderen gingen so schnell daran vorbei, dass er keine Chance dazu hatte. Immerhin fiel ihm das Schild ins Auge, das Iris erwähnt hatte: BITTE TRINKT VERANTWORTUNGSBEWUSST. Also hatten sie ihn wohl doch nicht auf die Schippe genommen, was die Verfügbarkeit von Alkohol anging.

Wir sind hier nicht in Kansas und auch nicht auf der Vergnügungsinsel, dachte er, sondern im Wunderland. Jemand ist mitten in der Nacht in mein Zimmer gekommen und hat mich in den Kaninchenbau geschubst.

Der Aufenthaltsraum war nicht so groß wie die Cafeteria in seiner Schule, aber doch beinahe. Weil sie nur zu fünft zum Essen kamen, wirkte er noch größer. Die meisten Tische waren für vier Stühle gedacht, doch in der Mitte standen ein paar größere. Einen davon hatte man für fünf Personen gedeckt. Eine Frau in einem rosa Kittel und dazu passenden Hosen kam herbei und füllte allen die Wassergläser. Wie Maureen trug sie ein Namensschildchen. Auf ihrem stand NORMA.

»Na, wie geht es euch, meine Schäfchen?«, sagte sie.

»Ach, wir haben ein dickes Fell«, sagte George vergnügt. »Und wie geht’s Ihnen?«

»Bestens«, sagte Norma.

»Sie haben nicht zufällig ’ne Karte mit Du kommst aus dem Gefängnis frei dabei?«

Norma warf George ein besänftigendes Lächeln zu und verschwand durch die Pendeltür, die vermutlich in die Küche führte.

»Wieso mache ich mir überhaupt die Mühe?«, sagte George. »Hier drin sind meine besten Sprüche für die Katz. Für die Katz, sag ich dir!«

Er griff nach den in der Tischmitte aufgestapelten Speisekarten und verteilte sie ringsum. Ganz oben stand das Tagesdatum. Darunter aufgeführt waren die VORSPEISEN (Chicken Wings oder Tomatencremesuppe), die HAUPTGERICHTE (Bison-Burger oder Chop Suey) und die DESSERTS (Apple Pie mit Eiscreme oder etwas namens Zauberkuchen). Aufgeführt waren ferner etwa ein Dutzend Softdrinks.

»Man kann auch Milch bestellen, aber das schreiben sie nicht auf die Speisekarte«, sagte Kalisha. »Die meisten Kids wollen keine, außer sie essen Cornflakes zum Frühstück.«

»Ist das Essen wirklich gut?«, fragte Luke. Die prosaische Natur dieser Frage – so als ob das hier ein Cluburlaub mit Vollpension wäre – weckte in ihm wieder ein Gefühl von Unwirklichkeit und Orientierungslosigkeit.

»Klar«, sagte Iris. »Manchmal wiegen sie uns. Ich hab zwei Kilo zugelegt.«

»Sie mästen uns vor dem Schlachtfest«, sagte Nicky. »Wie Hänsel und Gretel.«

»Am Freitagabend und am Sonntagmittag gibt es ein Büfett«, sagte Kalisha. »All you can eat.«

»Eben, wie Hänsel und Gretel, verdammt noch mal«, wiederholte Nicky. Er drehte sich halb um und blickte zu der Überwachungskamera in der Ecke hinauf. »Kommen Sie wieder her, Norma. Ich glaube, wir sind so weit.«

Sofort tauchte Norma wieder auf, was Lukes Gefühl der Unwirklichkeit noch verstärkte. Als seine Chicken Wings und sein Chop Suey kamen, griff er trotzdem herzhaft zu. Er befand sich an einem seltsamen Ort, er hatte Angst um sich und fragte sich voll Entsetzen, was mit seinen Eltern geschehen war, aber außerdem war er erst zwölf.

Ein heranwachsender Junge.

6

Offenbar hatten sie alles beobachtet, wer immer sie waren, denn kaum hatte Luke sich den letzten Bissen seines Zauberkuchens in den Mund geschoben, tauchte neben ihm eine Frau auf. Sie trug eine von diesen rosa Quasiuniformen; auf ihrem Namensschildchen stand GLADYS. »Luke? Komm mit, bitte.«

Er warf einen Blick auf die anderen vier. Kalisha und Iris senkten den Kopf. Nicky sah Gladys an. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und ein mattes Lächeln aufgesetzt. »Wie wär’s, wenn Sie später wiederkommen, Süße? So um Weihnachten herum. Dann kitzle ich Sie unter dem Mistelzweig.«

Sie achtete nicht auf ihn. »Luke? Bitte!«

George war der Einzige, der ihn direkt anblickte, und bei dem Ausdruck auf seinem Gesicht dachte Luke an das, was er an der Tür gesagt hatte: Überleg dir gut, wann du dich querlegst. Er stand auf. »Bis später, Leute. Hoffentlich.«

Kalisha formte mit dem Mund die Worte Spritze für Blitze.

Gladys war klein und hübsch, aber Luke hatte natürlich keine Ahnung, ob sie womöglich einen Schwarzgurt in Judo besaß und ihn locker über die Schulter werfen konnte, wenn er ihr irgendwelche Probleme bereitete. Selbst wenn nicht, beobachteten sie alles, weshalb zweifellos augenblicklich eine Verstärkung auftauchen würde. Außerdem war da noch etwas anderes, was einen starken Einfluss auf ihn ausübte. Seine Eltern hatten ihm beigebracht, höflich zu sein und Erwachsenen zu gehorchen. Selbst in der momentanen Situation war die Angewohnheit schwer zu durchbrechen.

Gladys führte ihn an der Fensterreihe vorbei, von der Nicky gesprochen hatte. Als Luke hinausblickte, konnte er tatsächlich ein weiteres Gebäude sehen. Durch die Bäume hindurch war es kaum zu erkennen, aber es stand da, keine Frage. Der Hinterbau.

Bevor er den Aufenthaltsraum verließ, warf er einen Blick zurück, weil er auf eine beruhigende Geste hoffte, ein Winken zum Beispiel. Selbst ein Lächeln von Kalisha hätte ihm ausgereicht. Er sah jedoch kein Winken, und niemand lächelte. Alle sahen ihn mit demselben Ausdruck an wie auf dem Spielplatz, als er gefragt hatte, ob ihre Eltern noch am Leben seien. Das wussten sie bekanntlich nicht, jedenfalls nicht mit Gewissheit, aber sie wussten, wohin er jetzt geführt wurde. Was immer ihn erwartete, sie hatten es bereits durchgemacht.

7

»Meine Güte, was für ein wunderschöner Tag, was?«, sagte Gladys, während sie mit ihm durch den nüchternen Flur an seinem Zimmer vorüberging. Am Ende führte der Flur in einen anderen Gebäudetrakt – weitere Türen, weitere Zimmer–, aber sie bogen nach links in eine Aufzugnische ab.

Luke, der normalerweise ganz gut Small Talk machen konnte, schwieg. Er war sich ziemlich sicher, dass Nicky sich in der gleichen Situation ebenso verhalten würde.

»Wenn bloß die Stechmücken nicht wären… puh!« Sie wedelte ein paar unsichtbare Insekten weg und lachte. »Denk dran, immer anständig Mückenmittel aufzutragen, wenigstens bis zum Juli.«

»Wenn die Libellen ausschlüpfen.«

»Ja! Genau!« Sie stieß ein trällerndes Lachen aus.

»Wo gehen wir hin?«

»Das siehst du dann schon.« Sie klimperte mit den Augen, als wollte sie sagen: Verdirb dir nicht die Überraschung.

Die Aufzugtür ging auf. Zwei Männer in blauer Pflegeruniform stiegen aus. Der eine hieß JOE, der andere HADAD. Jeder hatte ein I-Pad in der Hand.

»Hi, Leute«, sagte Gladys fröhlich.

»Hallo, Süße«, sagte Hadad. »Wie läuft’s?«

»Super«, zwitscherte Gladys.

»Und wie steht’s mit dir, Luke?«, fragte Joe. »Findest du dich zurecht?«

Luke sagte nichts.

»Du strafst uns mit Schweigen, hm?« Hadad grinste. »Vorläufig ist das okay. Später vielleicht nicht mehr unbedingt. Weißt du, es ist so, Luke – wenn du nett zu uns bist, sind wir auch nett zu dir.«

»Nur wer mitspielt, kann gewinnen«, fügte Joe hinzu. »Goldene Worte. Sehen wir uns später, Gladys?«

»Klar doch. Du schuldest mir einen Drink.«

»Wenn du meinst…«

Die Männer gingen ihres Weges. Gladys begleitete Luke in den Aufzug, in dem es keinerlei Tasten mit Zahlen gab. Sie sagte »B«, zog eine Karte aus der Hosentasche und wedelte damit vor einem Sensor. Die Tür ging zu, und die Kabine fuhr nach unten, aber nur ein kurzes Stück.

»B«, säuselte eine sanfte Frauenstimme von oben her. »Das ist Ebene B.«

Gladys wedelte wieder mit ihrer Karte. Die Tür ging auf, und man sah einen breiten, von durchsichtigen Deckenpaneelen erleuchteten Flur. Im Hintergrund lief leise Musik von der Sorte, die Luke für sich als Supermarktmusik bezeichnete. Mehrere Leute gingen umher. Manche schoben Wägelchen mit Geräten darauf, eine Frau trug einen Drahtkorb, der vielleicht Blutproben enthielt. Die Türen waren mit Zahlen gekennzeichnet, denen jeweils der Buchstabe B vorangestellt war.

Eine große Operation, hatte Nicky gesagt. Eine richtige Anlage. Das stimmte offenbar, denn wenn es eine unterirdische Ebene mit der Bezeichnung B gab, musste es logischerweise auch eine Ebene C geben. Vielleicht sogar D und E. Eigentlich müsste es wirklich eine Regierungseinrichtung sein, dachte Luke. Aber wie könnte man eine so große Operation geheim halten? Was hier läuft, ist schließlich nicht nur illegal und verfassungswidrig, es werden sogar Kinder gekidnappt.

Als sie an einer offenen Tür vorüberkamen, blieb Luke stehen und blickte hinein. Es handelte sich offenbar um einen Pausenraum, denn er war mit Tischen und Warenautomaten ausgestattet (allerdings fehlte der Hinweis, man solle verantwortungsbewusst trinken). An einem Tisch saßen drei Leute, ein Mann und zwei Frauen. Sie trugen normale Kleidung, Jeans und Hemden, und tranken Kaffee. Eine der Frauen, sie hatte blondes Haar, kam ihm bekannt vor. Zuerst wusste er nicht, weshalb, dann fiel ihm eine Stimme ein, die sagte: Klar, alles, was du verlangst. Es war das Letzte, woran er sich aus der Zeit erinnerte, bevor er hier aufgewacht war.

»Du«, sagte er und zeigte auf sie. »Das warst du.«

Die Frau sagte nichts, und ihr Gesicht sagte auch nichts aus. Aber sie sah ihn an. Das tat sie immer noch, als Gladys die Tür zuzog.

»Das war sie«, sagte Luke. »Das weiß ich.«

»Nur noch ein kleines Stück«, sagte Gladys. »Es wird nicht lange dauern, dann darfst du wieder in dein Zimmer. Wahrscheinlich willst du dich ausruhen. Die ersten Tage können erschöpfend sein.«

»Haben Sie nicht zugehört? Das war die, die in mein Zimmer gekommen ist. Sie hat mir was ins Gesicht gesprüht.«

Keine Antwort, nur wieder das Lächeln. Jedes Mal wenn Gladys es aufsetzte, kam es ihm ein bisschen gruseliger vor.

Schließlich standen sie vor einer Tür mit der Aufschrift B31. »Benimm dich, dann kriegst du fünf Münzen«, sagte Gladys. Sie griff in die Hosentasche und holte eine Handvoll Metallscheiben heraus, die wie Vierteldollarmünzen aussahen, nur dass auf beiden Seiten ein Dreieck eingeprägt war. »Siehst du? Ich hab sie schon in der Tasche.«

Sie klopfte an die Tür. Der blau gekleidete Mann, der öffnete, war TONY. Er war groß, blond und gut aussehend, wenn man davon absah, dass er auf einem Auge leicht schielte. Luke fand, dass er wie ein Schurke aus einem James-Bond-Film aussah, zum Beispiel wie der smarte Skilehrer, der sich später als Mörder entpuppte.

»Hallo, schöne Frau.« Tony gab Gladys einen Kuss auf die Wange. »Und du hast Luke mitgebracht. Hi, Luke!« Er streckte ihm die Hand hin. Luke, der sich weiterhin an Nicky Wilholm orientierte, ergriff sie nicht. Tony lachte, als wäre das ein besonders guter Witz. »Nur hereinspaziert!«

Die Aufforderung galt offenbar ausschließlich Luke, denn Gladys gab ihm nur einen leichten Schubs an die Schulter und machte dann von außen die Tür zu. Was Luke in der Mitte sah, war erschreckend. Es erinnerte an einen Zahnarztstuhl, nur dass der hier Gurte mit Schnallen an den Armlehnen hatte.

»Setz dich, mein Freund«, sagte Tony. Nicht Kumpel, dachte Luke, aber so ähnlich.

Tony trat zu einer Arbeitsfläche, zog die Schublade darunter auf und kramte darin. Dabei pfiff er vor sich hin. Als er sich wieder umdrehte, hielt er in einer Hand etwas, was wie eine kleine Lötpistole aussah. Er schien erstaunt zu sein, dass Luke immer noch an der Tür stand, und grinste. »Setz dich, hab ich gesagt!«

»Was wollen Sie damit machen? Mich tätowieren?« Er musste daran denken, dass man den Juden Häftlingsnummern auf den Arm tätowiert hatte, wenn sie in Auschwitz im KZ ankamen. Eigentlich war das eine total lächerliche Idee, aber…

Tony blickte verblüfft drein, dann lachte er. »Du lieber Himmel, nein. Ich mache dir bloß einen Chip ans Ohrläppchen. Ist nicht anders, als wenn man ein kleines Loch für einen Ohrring sticht. Nichts Besonderes. Alle unsere Gäste kriegen so was.«

»Ich bin kein Gast«, sagte Luke und wich ein Stück zurück. »Und an mein Ohr kommt überhaupt nichts.«

»Doch, kommt es«, sagte Tony, weiterhin grinsend. Er sah immer noch wie der Typ aus, der am Babyhang den kleinen Kindern half, bevor er versuchte, James Bond mit einem Giftpfeil zu töten. »Sieh mal, es ist bloß so, wie wenn einem jemand ins Ohr kneift. Mach es uns beiden also nicht so schwer. Setz dich auf den Stuhl da, dann ist es in sieben Sekunden vorbei. Wenn du fertig bist, kriegst du von Gladys eine Handvoll Münzen. Wenn du dich weigerst, kriegst du den Chip trotzdem eingepflanzt, aber keine einzige Münze. Na, was meinst du?«

»Ich setze mich da nicht hin.« Luke fühlte sich ganz zittrig, obwohl seine Stimme sich relativ kräftig anhörte.

Tony seufzte. Behutsam legte er das Werkzeug auf die Arbeitsfläche, ging auf Luke zu und stemmte die Arme in die Hüften. Jetzt sah er ernst, ja beinahe kummervoll drein. »Bist du dir da sicher?«

»Ja.«

Luke sah kaum, wie Tonys rechte Hand hochzuckte, da dröhnte ihm schon der Kopf von einer Ohrfeige. Er taumelte einen Schritt zurück und starrte den groß gewachsenen Mann mit weit aufgerissenen Augen an. Sein Vater hatte ihm einmal ein paar (sanfte) Klapse auf den Hintern verpasst, als er im Alter von vier oder fünf Jahren mit Streichhölzern gespielt hatte, aber ins Gesicht war er noch nie geschlagen worden. Seine Wange brannte, aber er konnte immer noch nicht glauben, was geschehen war.

»Das hat eindeutig mehr wehgetan als ein Kniff ins Ohrläppchen«, sagte Tony. Sein Grinsen war verschwunden. »Willst du noch eine? Den Gefallen tue ich dir gern. Ihr Kids meint wirklich, euch gehört die Welt. Mannomann.«

Erst jetzt sah Luke, dass Tony einen kleinen blauen Fleck am Kinn und eine kleine Wunde am linken Unterkiefer hatte. Er dachte an den Bluterguss auf Nicky Wilholms Gesicht und hätte gern den Mumm gehabt, sich ebenfalls zu wehren, doch den hatte er nicht. Genauer gesagt hatte er keine Ahnung, wie man sich wehrte. Wenn er es versucht hätte, dann hätte ihn Tony wahrscheinlich nach Strich und Faden verprügelt.

»Bist du bereit, dich auf den Stuhl zu setzen?«

Luke setzte sich auf den Stuhl.

»Wirst du dich benehmen, oder muss ich dich festschnallen?«

»Ich benehme mich.«

Was er tat, und Tony hatte recht. Der Stich ins Ohrläppchen war nicht so schlimm wie die Ohrfeige, entweder weil er darauf vorbereitet war oder weil sich der Vorgang eher wie eine medizinische Prozedur als ein Angriff anfühlte. Als das erledigt war, trat Tony zu einem Sterilisator und holte eine Injektionsspritze heraus. »Runde zwei, mein Freund.«

»Was ist da drin?«, fragte Luke.

»Geht dich nichts an.«

»Wenn es mir eingetrichtert werden soll, geht es mich durchaus was an.«

Tony seufzte. »Festschnallen oder nicht? Du hast die Wahl.«

Luke dachte wieder daran, was George ihm geraten hatte. »Nicht festschnallen.«

»Braver Junge. Bloß ein kleiner Stich und fertig.«

Es war mehr als ein kleiner Stich. Nicht dass es höllisch wehgetan hatte, aber es stach ziemlich stark. Lukes Arm wurde heiß bis hinunter zum Handgelenk, als würde dort ein Fieber toben. Dann fühlte sich alles wieder normal an.

Tony klebte ihm ein durchsichtiges Pflaster auf die Haut und drehte den Stuhl dann so, dass Luke auf die weiße Wand blickte. »Mach jetzt die Augen zu.«

Luke schloss die Augen.

»Hörst du etwas?«

»Was denn?«

»Stell keine Fragen und beantworte bloß meine. Also, hörst du etwas?«

»Wenn Sie reden, kann ich bestimmt nichts hören.«

Tony hielt den Mund. Luke lauschte.

»Draußen im Flur ist jemand vorbeigegangen. Und jemand andres hat gelacht. Ich glaube, das war Gladys.«

»Sonst nichts?«

»Nein.«

»Okay, dann ist ja alles in Ordnung. Zähl jetzt auf zwanzig, bevor du die Augen öffnest.«

Luke zählte und machte dann die Augen auf.

»Was siehst du?«

»Die Wand.«

»Sonst nichts?«

Offenbar redete Tony von den Blitzen. Wenn du sie siehst, hatte George gesagt, dann sag das auch. Wenn du sie nicht siehst, ebenfalls. Lüg nicht. Die merken das nämlich.

»Sonst nichts.«

»Ganz sicher?«

»Ja.«

Tony schlug ihm so heftig auf den Rücken, dass er zusammenzuckte. »Okay, mein Freund, dann sind wir hier fertig. Ich geb dir noch ein Coolpack für dein Ohr. Und wünsche dir einen wunderschönen Tag.«

8

Als Tony ihn aus Raum B31 begleitete, wartete Gladys schon auf ihn. Sie hatte ihr fröhliches, professionelles Hostessenlächeln aufgesetzt. »Na, wie hast du dich gehalten, Luke?«

Die Antwort gab Tony für ihn. »Ganz prima. Braver Junge.«

»Das ist ja auch unsere Spezialität«, trällerte Gladys. »Einen schönen Tag noch, Tony!«

»Den wünsche ich dir auch, Glad.«

Vergnügt plappernd, führte sie Luke zum Aufzug zurück. Er hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Sein Arm tat nur ein bisschen weh, aber er drückte das Coolpack an sein linkes Ohr, das noch pochte. Die Ohrfeige war richtig schlimm gewesen. Aus vielerlei Gründen.

Gladys begleitete ihn durch den industriegrünen Flur, vorbei an dem Poster, unter dem Kalisha gesessen hatte, und an dem mit dem Slogan EIN TAG WIE IM PARADIES, bis sie schließlich zu dem Zimmer kamen, das wie sein Zimmer zu Hause aussah, es jedoch nicht war.

»Freizeit!«, rief sie, als würde sie ihm einen wertvollen Preis überreichen. Die Aussicht, allein zu sein, kam ihm momentan tatsächlich wie eine Art Preis vor. »Er hat dir eine Spritze gegeben, stimmt’s?«

»Ja.«

»Wenn dein Arm wehtut oder wenn du dich schwach fühlst, sag es mir oder einer anderen Pflegerin, okay?«

»Okay.«

Er öffnete die Tür, aber bevor er das Zimmer betreten konnte, packte Gladys ihn an den Schultern und drehte ihn herum. Sie trug weiterhin ihr Hostessenlächeln auf dem Gesicht, aber ihre Finger pressten sich stählern in sein Fleisch. Nicht so fest, dass es wehtat, aber fest genug, ihn wissen zu lassen, dass es wehtun könnte.

»Münzen gibt es leider nicht«, sagte sie. »Das hab ich mit Tony gar nicht erst besprechen müssen. Der blaue Fleck auf deiner Wange sagt mir alles, was ich wissen muss.«

Ich will deine beschissenen Münzen nicht, hätte Luke gern gesagt, aber er hielt den Mund. Er hatte keine Angst davor, geschlagen zu werden; er hatte Angst, dass der Klang der eigenen Stimme – schwach, wackelig, verwirrt, die Stimme eines Sechsjährigen – ihn dazu bringen würde, vor der Frau in Tränen auszubrechen.

»Ich will dir einen Rat geben«, sagte sie. Jetzt lächelte sie nicht mehr. »Du musst dir klarmachen, dass du hier bist, um zu dienen, Luke. Das bedeutet, dass du schnell erwachsen werden musst. Es bedeutet, realistisch zu sein. Mit dir werden hier bestimmte Dinge geschehen. Manche werden nicht besonders schön sein. Dann kannst du ein guter Kumpel sein und Münzen bekommen, oder du bist ein schlechter Kumpel und kriegst keine. Geschehen werden die Dinge sowieso – wie solltest du dich also entscheiden? Eigentlich dürfte das keine große Frage sein.«

Luke erwiderte nichts. Trotzdem kehrte das Lächeln wieder, das Hostessenlächeln, als wollte sie sagen: Aber ja, Sir, ich führe Sie sogleich zu Ihrem Tisch!

»Bevor der Sommer vorüber ist, bist du wieder zu Hause, und dann wird es so sein, als ob nichts von alledem geschehen wäre. Falls du dich überhaupt daran erinnerst, wird es wie ein Traum sein. Aber solange es noch kein Traum ist, solltest du dir deinen Aufenthalt hier möglichst angenehm gestalten.« Sie lockerte ihren Griff und schob ihn sanft von sich weg. »Du solltest dich jetzt ein bisschen ausruhen, glaube ich. Leg dich hin. Hast du die Blitze gesehen?«

»Nein.«

»Das wirst du schon noch.«

Behutsam schloss sie die Tür. Schlafwandlerisch ging Luke durchs Zimmer zu dem Bett, das nicht seines war. Er legte sich hin, ließ den Kopf auf das Kissen sinken, das ebenfalls nicht seines war, und starrte an die leere Wand ohne Fenster. Blitze sah er da ebenfalls nicht, was immer das sein mochte. Er dachte: Ich will meine Mama bei mir haben. Ach Gott, ich will so sehr, dass meine Mama bei mir ist.

Das gab ihm den Rest. Er ließ das Coolpack fallen, legte die Hände über die Augen und heulte los. Ob sie ihn wohl beobachteten? Oder sein Schluchzen hörten? Das war ihm egal. Es kümmerte ihn nicht mehr. Als er einschlief, weinte er immer noch.

9

Beim Aufwachen fühlte er sich besser – irgendwie gereinigt. Er sah zwei Gegenstände, die man offenbar in sein Zimmer gebracht hatte, als er beim Mittagessen gewesen war und anschließend seine wunderbaren neuen Freunde Gladys und Tony kennengelernt hatte. Auf dem Schreibtisch stand ein Laptop. Es war ein Mac, genau wie sein eigener, aber ein älteres Modell. Die andere Ergänzung war der kleine Fernseher auf einem Gestell in der Ecke.

Zuerst ging er zu dem Computer, schaltete ihn ein, und als er die vertraute Startmelodie hörte, spürte er wieder wie einen scharfen Stich sein Heimweh. Anstatt zur Eingabe eines Passworts aufgefordert zu werden, sah er einen blauen Bildschirm mit dem Hinweis: HALT EINE WERTMÜNZE VOR DIE KAMERA. Luke hackte ein paarmal auf die Eingabetaste ein, obwohl ihm klar war, dass das nichts nützen würde.

»Scheißteil!«

Dann jedoch musste er lachen, obwohl alles so grässlich und surreal war. Es war ein heiseres und kurzes, aber echtes Lachen. Hatte er bei der Vorstellung, dass die anderen Kids nach Münzen gierten, um sich am Automaten Alcopops oder Zigaretten zu ziehen, nicht ein gewisses Gefühl der Überlegenheit – wenn nicht gar Verachtung – empfunden? Klar hatte er das. Hatte er nicht gedacht, dass er sich nie so verhalten würde? Klar hatte er das. Wenn Luke an Kids dachte, die tranken und rauchten (was er nur selten tat; er musste über wichtigere Dinge nachdenken), so kamen ihm Loser mit Gothic-Klamotten in den Sinn, die auf Pantera standen und misslungene Teufelshörner auf ihre Jeansjacke malten, Loser, die so dämlich waren, dass sie es für einen rebellischen Akt hielten, sich an etwas zu ketten, was süchtig machte. Er konnte sich nicht vorstellen, sich so zu verhalten, aber da saß er, starrte auf den leeren blauen Laptopmonitor und hämmerte auf die Eingabetaste ein wie eine in einer Skinner-Box sitzende Ratte, die wie wild den Reaktionshebel betätigte, um an ein bisschen Futter oder ein paar Körnchen Kokain zu kommen.

Er klappte den Laptop zu und holte sich die Fernbedienung, die auf dem Fernseher lag. Eigentlich hätte er erwartet, wieder einen blauen Bildschirm und den Hinweis zu sehen, dass er mindestens eine Münze für den Betrieb brauchte, aber stattdessen sah er Steve Harvey, der David Hasselhoff nach den Dingen fragte, die er in seinem Leben unbedingt noch tun wolle. Das Publikum bog sich vor Lachen über die lustigen Antworten, die der Hoff von sich gab.

Als Luke die entsprechende Taste auf der Fernbedienung drückte, erschien ein Menü, das dem zu Hause ähnelte, aber ebenso wie das Zimmer und der Laptop nicht ganz identisch war. Es gab zwar eine große Auswahl an Filmen und Sportsendern, aber keinerlei Networks und Nachrichtensender. Luke schaltete den Fernseher aus, legte die Fernbedienung wieder darauf und sah sich um.

Neben der Tür zum Flur gab es zwei weitere Türen. Hinter der einen verbarg sich ein Kleiderschrank mit Jeans, T-Shirts (man hatte sich nicht die Mühe gemacht, exakte Kopien von denen zu besorgen, die er zu Hause hatte, was ihn irgendwie erleichterte), einige Hemden, zwei Paar Sneakers und ein Paar Schlappen. Festere Schuhe waren nicht vorhanden.

Die andere Tür führte in ein kleines, blitzsauberes Badezimmer. Auf dem Waschbecken lagen zwei noch verpackte Zahnbürsten neben einer neuen Tube Crest-Zahnpasta. In dem gut bestückten Medizinschränkchen fand Luke Mundspülung, ein Döschen Kinder-Paracetamol mit lediglich vier Tabletten, Deo, Mückenmittel, Heftpflaster und mehrere andere Sachen, die mehr oder weniger nützlich waren. Das Einzige, was man als wenigstens annähernd gefährlich bezeichnen konnte, war der Nagelknipser.

Er klappte das Medizinschränkchen zu und betrachtete sich im Spiegel. Seine Haare standen in alle Richtungen ab, unter den Augen waren dunkle Ringe (Rolf hätte sie als Wichsringe bezeichnet). Er sah zugleich älter und jünger aus, was merkwürdig war. Als er sein zartes rechtes Ohrläppchen in Augenschein nahm, sah er die winzige Metallscheibe, die in die leicht gerötete Haut eingebettet war. Er zweifelte nicht daran, dass sich irgendwo auf Ebene B – oder C oder D – ein Computer samt einem Techniker befand, der jetzt jede seiner Bewegungen verfolgen konnte. Vielleicht tat er das sogar genau in diesem Augenblick. Lucas David Ellis, der vorgehabt hatte, sich sowohl am MIT als auch am Emerson College zu immatrikulieren, war zu einem blinkenden Pünktchen auf einem Computerbildschirm reduziert worden.

Luke ging in sein Zimmer zurück (in das Zimmer, schärfte er sich ein, es ist das Zimmer, nicht mein Zimmer), blickte sich um und nahm etwas Bestürzendes wahr. Keine Bücher. Kein einziges. Das war genauso schlimm wie kein Computer. Vielleicht noch schlimmer. Er trat zur Kommode und zog nacheinander die Schubladen auf, weil er dort wenigstens eine Bibel oder das Buch Mormon zu finden hoffte wie in manchen Hotelzimmern. Doch lagen darin nur säuberlich aufgestapelte Unterwäsche und Socken.

Was blieb ihm da noch? Steve Harvey, der David Hasselhoff interviewte? Wiederholungen von America’s Funniest Home Videos?

Nein. Kam nicht infrage.

Er verließ das Zimmer, weil er dachte, Kalisha oder jemand von den anderen könnte draußen herumhängen. Stattdessen fand er Maureen Alvorson vor, die ihren Wäschewagen langsam den Flur entlangschob. Darin türmten sich gefaltete Laken und Handtücher. Maureen sah noch erschöpfter aus als zuvor und schien außer Atem zu sein.

»Hallo, Ms. Alvorson. Soll ich den Wagen für Sie schieben?«

»Das wäre nett«, sagte sie und lächelte. »Es kommen nämlich fünf Neue, zwei heute Abend und drei morgen, und ich muss die Zimmer fertig machen. Die sind da hinten.« Sie deutete in die Gegenrichtung von Aufenthaltsraum und Spielplatz.

Er schob den Wagen langsam weiter, weil Maureen langsam ging. »Wissen Sie vielleicht, wie ich mir eine Münze verdienen kann, Ms. Alvorson? Ich brauche nämlich eine, um den Computer in meinem Zimmer zu entsperren.«

»Kannst du ein Bett machen, wenn ich danebenstehe und dir sage, wie das geht?«

»Klar. Zu Hause mache ich mein Bett selbst.«

»Weißt du auch, wie man das Laken ganz straff bekommt?«

»Hm… nein.«

»Macht nichts, das zeige ich dir schon. Wenn du alle fünf Betten für mich machst, gebe ich dir drei Münzen. Mehr habe ich nicht in der Tasche. Da hält man mich nämlich knapp.«

»Das wäre super.«

»Na gut, aber jetzt ist endlich Schluss mit Ms. Alvorson. Du sagst Maureen zu mir oder einfach Mo. Genau wie die anderen Kids.«

»Mach ich«, sagte Luke.

Sie gingen am Aufzug vorbei in den hinteren Flur, wo weitere Poster mit motivierenden Sprüchen hingen. Außerdem stand da ein Eiswürfelspender wie in manchen Hotels, für den man offenbar keine Münzen brauchte. Direkt dahinter legte Maureen Luke die Hand auf den Arm. Er ließ den Wagen stehen und sah sie fragend an.

Sie flüsterte fast. »Ich sehe, du hast einen Chip bekommen, aber keine einzige Münze.«

»Na ja…«

»Du kannst reden, solange du leise sprichst. Hier im Vorderbau gibt es ein halbes Dutzend Stellen, wo die verdammten Mikrofone nicht hinreichen. Tote Zonen, und die kenne ich alle. Hier ist eine, direkt neben dem Automaten.«

»Okay…«

»Wer hat dir den Chip reingemacht und dir dabei den blauen Fleck da verpasst? War das Tony?«

Lukes Augen brannten, und er traute sich nicht zu, etwas zu sagen, egal ob er belauscht wurde oder nicht. Deshalb nickte er nur.

»Das ist einer von denen, die richtig gemein sind«, sagte Maureen. »Zeke gehört auch dazu. Und Gladys, obwohl die dauernd lächelt. Viele von den Leuten, die hier arbeiten, stehen drauf, euch Kinder zu schikanieren, aber die drei sind mit die schlimmsten.«

»Tony hat mich geschlagen«, flüsterte Luke. »Richtig fest.«

Sie zauste ihm die Haare. Das war etwas, was Frauen mit Babys und kleinen Kindern machten, doch das störte Luke nicht. Er wurde mit freundlicher Absicht berührt, und das bedeutete ihm jetzt viel. In diesem Moment war das unheimlich wichtig.

»Tu, was er von dir verlangt«, sagte Maureen. »Diskutier nicht mit ihm, kann ich dir bloß raten. Es gibt hier Leute, mit denen man diskutieren kann, sogar mit Mrs. Sigsby, wobei das nicht viel bringt, aber Tony und Zeke sind wie Skorpione. Gladys auch. Die stechen zu.«

Sie ging wieder los, aber Luke fasste sie am Ärmel ihrer braunen Uniform und zog sie in den abhörsicheren Bereich zurück. »Ich glaube, Nicky hat Tony angegriffen«, flüsterte er. »Er hat eine Wunde und ein blaues Auge.«

Maureen lächelte, wobei sie ein Gebiss entblößte, das sich schon lange nach dem Zahnarzt sehnte. »Gut für Nick«, sagte sie. »Tony hat es ihm wahrscheinlich doppelt heimgezahlt, aber trotzdem… gut. Komm jetzt. Wenn du mir hilfst, sind die Zimmer im Nu fertig.«

In dem ersten Raum hingen Poster mit Tommy Pickles und Zuko – zwei Nickelodeon-Figuren – an der Wand, auf der Kommode stand ein ganzer Trupp Actionfiguren aus der Serie G.I. Joe. Mehrere davon erkannte Luke sofort, da er vor noch nicht allzu langer Zeit seine eigene G.I.-Joe-Phase durchgemacht hatte. Auf der Tapete tummelten sich fröhliche Clowns mit Luftballons.

»Heilige Scheiße«, sagte Luke. »Das ist ja ein Zimmer für kleine Kinder.«

Maureen warf ihm einen belustigten Blick zu, als wollte sie sagen: Du bist auch nicht gerade steinalt. »Stimmt«, sagte sie stattdessen. »Der Junge heißt Avery Dixon, und laut meiner Liste ist er erst zehn. Machen wir uns an die Arbeit. Bestimmt muss ich dir bloß ein einziges Mal zeigen, wie man das Laken richtig glatt zieht. Du machst den Eindruck, als würdest du schnell lernen.«

10

In sein eigenes Zimmer zurückgekehrt, hielt Luke eine von den Wertmünzen vor die Kamera des Laptops. Dabei kam er sich leicht bescheuert vor, aber der Computer reagierte sofort und präsentierte als Erstes einen blauen Bildschirm mit der Begrüßung: WILLKOMMEN ZURÜCK, DONNA! Luke runzelte die Stirn, dann musste er lächeln. Irgendwann vor seiner Ankunft hatte der Computer jemand namens Donna gehört (oder war ihr zur Verfügung gestellt worden). Der Begrüßungsbildschirm war noch nicht geändert worden. Da hatte jemand einen Fehler gemacht. Nur einen ganz kleinen, aber wo ein Fehler war, gab es vielleicht noch weitere.

Die Begrüßung verschwand und wurde durch ein standardmäßiges Desktopbild ersetzt, einen menschenleeren Strand unter dem frühmorgendlichen Himmel. Die Leiste unten am Bildschirm sah aus wie die auf seinem Computer zu Hause, allerdings mit einem auffälligen (aber inzwischen nicht mehr überraschenden) Unterschied: kein Briefsymbol für E-Mails. Allerdings gab es Icons für zwei Internetbrowser. Das überraschte ihn, aber es war eine schöne Überraschung. Er rief Firefox auf und tippte AOL Login ein. Daraufhin kehrte der blaue Bildschirm wieder, diesmal mit einem pulsierenden roten Punkt in der Mitte. Eine sanfte Computerstimme sagte: »Es tut mir leid, Dave, aber das kann ich nicht tun.«

Einen Moment dachte Luke, das wäre ein weiterer Fehler – erst Donna, dann Dave–, dann wurde ihm klar, dass es sich um die Stimme von HAL 9000 aus 2001: Odyssee im Weltraum handelte. Also kein Schnitzer, sondern nerdiger Humor und unter den gegebenen Umständen so lustig wie ein Besuch beim Zahnarzt.

Als Luke Herbert Ellis googelte, hörte er wieder nur HAL. Er dachte nach, dann gab er das Orpheum Theater in der Hennepin Avenue ein, nicht weil er vorhatte, dort eine Vorstellung zu besuchen (was er in der näheren Zukunft wohl nirgendwo würde tun können), sondern weil er wissen wollte, zu welchen Informationen er Zugang hatte. Irgendwas musste er ja anschauen dürfen, wieso hätte man ihm sonst überhaupt einen Zugang zum Internet geben sollen?

Das Orf, wie seine Eltern es nannten, schien eine der Websites zu sein, die für »Gäste« des Instituts zugänglich waren. Luke erfuhr, dass Hamilton wieder aufgeführt werden sollte (»Auf vielfachen Wunsch!«) und dass im nächsten Monat Patton Oswalt auftrat (»Sie werden Tränen lachen!«). Er versuchte es mit seiner Schule und kam problemlos auf deren Website. Als er Mr. Greer, seinen Beratungslehrer, googelte, hörte er wieder HAL. Allmählich begriff er, weshalb Dr. Dave Bowman im Film so frustriert war.

Er wollte schon Schluss machen, als er es sich anders überlegte und State Police Maine ins Suchfeld eintippte. Sein Finger schwebte über der Eingabetaste, drückte sie beinahe, zog sich jedoch zurück. Er würde doch nur HALs sinnlose Entschuldigung hören, aber damit wäre die Sache wohl nicht gegessen. Wahrscheinlich würde auf einem der Stockwerke unter ihm ein Alarm ausgelöst. Nicht nur wahrscheinlich, sondern bestimmt. Selbst wenn sie vergaßen, den Namen auf dem Begrüßungsbildschirm zu ändern, hieß das noch lange nicht, dass sie kein Programm installierten, das Alarm schlug, wenn ein »Gast« versuchte, die Polizei zu kontaktieren. Die zu erwartende Strafe würde wahrscheinlich schlimmer sein als eine Ohrfeige. Der Computer, den früher einmal jemand namens Donna verwendet hatte, war nutzlos.

Luke lehnte sich zurück und verschränkte die Arme über seiner schmalen Brust. Er dachte an Maureen und daran, wie freundlich sie ihm das Haar gezaust hatte. Nur eine kleine, zerstreute Geste, aber sie (und die Wertmünzen) hatten Tonys Ohrfeige etwas von ihrer Schärfe genommen. Hatte Kalisha nicht gesagt, Maureen habe vierzigtausend Dollar Schulden? Nein, eher den doppelten Betrag.

Teilweise wegen dieser freundlichen Geste und teilweise einfach, um sich die Zeit zu vertreiben, googelte Luke Hilfe ich bin total verschuldet. Sofort lieferte der Computer ihm allerhand Informationen über das Thema, darunter mehrere Anbieter, die behaupteten, es sei kinderleicht, das lästige Problem loszuwerden; dazu müsse der mit dem Rücken zur Wand stehende Schuldner lediglich einen einzigen Telefonanruf tätigen. Das bezweifelte Luke, aber manche Leute würden es wohl glauben; auf die Weise waren sie ja gerade in ihren Schlamassel geraten.

Zu diesen Leuten zählte Maureen Alvorson jedoch nicht, zumindest laut Kalisha. Die hatte erzählt, die Schulden habe der Mann von Maureen angehäuft, bevor er abgehauen sei. Das stimmte vielleicht oder auch nicht, aber in jedem Fall gab es Lösungen für so ein Problem. Die gab es immer, es ging nur darum, sie zu finden. Vielleicht war der Computer ja doch nicht nutzlos.

Luke rief die Websites auf, die ihm am zuverlässigsten vorkamen, und steckte bald tief im Thema Schulden und Tilgung. Sein alter Hunger, etwas zu wissen, ergriff ihn wieder. Etwas Neues zu erfahren. Die Kernfragen einzugrenzen und zu begreifen. Wie immer führte jede Information zu drei (oder sechs oder zwölf) weiteren, bis sich allmählich ein zusammenhängendes Bild entwickelte. Eine Art Geländekarte. Das interessanteste Konzept – der Dreh- und Angelpunkt, an dem alles andere hing – war simpel, aber atemberaubend (zumindest für Luke). Schulden waren gewissermaßen eine Handelsware. Sie wurden gekauft und verkauft, und irgendwann waren sie zum Mittelpunkt nicht nur der amerikanischen Wirtschaft geworden, sondern zu dem der ganzen Welt. Dennoch existierten sie eigentlich nicht. Sie waren nichts Konkretes wie Erdgas, Gold oder Diamanten; sie waren lediglich eine Idee. Ein Zahlungsversprechen.

Als der Nachrichtenton des Computers erklang, schüttelte Luke den Kopf, als würde er aus einem lebhaften Traum erwachen. Laut der Zeitanzeige auf dem Bildschirm war es kurz vor siebzehn Uhr. Er klickte auf das Ballon-Icon unten auf dem Bildschirm und las:

Mrs. Sigsby: Hallo Luke, ich leite diese Einrichtung, und ich möchte gerne mit dir sprechen.

Er überlegte, dann begann er zu tippen.

Luke: Habe ich denn eine andere Wahl?

Die Antwort kam sofort:

Mrs. Sigsby: Nein.

»Deinen Smiley kannst du dir in den…«

Es klopfte an der Tür. Als er sie öffnete, erwartete er Gladys, aber diesmal war es Hadad, einer der Typen aus dem Aufzug.

»Na, wie wär’s mit einem Spaziergang, Alter?«

Luke seufzte. »Einen Moment. Ich muss meine Schuhe anziehen.«

»Null Problemo.«

Hadad führte ihn am Aufzug vorbei zu einer Tür, die er mit einer Karte entriegelte. Nebeneinander gingen sie das kurze Stück zum Verwaltungsgebäude hinüber, damit beschäftigt, die Stechmücken wegzuwedeln.

11

Mrs. Sigsby erinnerte Luke an Tante Rhoda, die älteste Schwester seines Vaters. Wie diese war sie so hager, dass man kaum eine Andeutung von Hüften und Brüsten sah. Nur dass Tante Rhoda Lachfältchen um den Mund und immer einen warmherzigen Blick hatte. Sie genoss es, andere Leute zu umarmen. Von der Frau, die in einem violetten Kostüm und passenden High Heels neben ihrem Schreibtisch stand, waren wohl keine Umarmungen zu erwarten. Vielleicht ab und zu ein Lächeln, aber ausgesprochen selten. In den Augen von Mrs. Sigsby sah Luke einen sorgfältig abschätzenden Ausdruck und sonst nichts. Absolut nichts.

»Danke, Hadad, ich komme alleine zurecht.«

Der Pfleger – so musste man Hadad wohl bezeichnen – nickte respektvoll und verließ das Büro.

»Fangen wir mit etwas Offensichtlichem an«, sagte sie. »Wir sind allein. Ich verbringe mit jedem Neuankömmling bald nach seinem Eintreffen etwa zehn Minuten allein. Manche waren so desorientiert und wütend, dass sie versucht haben, mich anzugreifen. Das nehme ich ihnen nicht übel. Weshalb sollte ich das tun, um Himmels willen? Unsere ältesten Insassen sind sechzehn, das Durchschnittsalter beträgt elf Jahre und sechs Monate. Anders gesagt, handelt es sich um Kinder, und Kinder verfügen über eine bestenfalls schwache Impulskontrolle. Deshalb sehe ich ein solch aggressives Verhalten als Gelegenheit, ihnen etwas beizubringen… und das tue ich. Ob ich dir wohl etwas beibringen muss, Luke?«

»Nicht in dieser Hinsicht«, sagte Luke. Er fragte sich, ob Nicky wohl zu denen gehörte, die versucht hatten, diese gepflegte kleine Frau zu attackieren. Vielleicht würde er später danach fragen.

»Gut. Setz dich, bitte.«

Luke setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, beugte sich vor und verschränkte zwischen den Knien fest die Hände. Mrs. Sigsby saß ihm mit dem Blick einer Schuldirektorin gegenüber, die keinerlei Unsinn duldete. Die hart gegen jeden Unsinn vorgehen würde. Bisher war Luke noch auf keinerlei gnadenlose Erwachsene getroffen, aber jetzt hatte er vielleicht so jemand vor sich. Das war eine erschreckende Vorstellung, weshalb sein erster Impuls darin bestand, sie als lächerlich abzutun. Er unterdrückte die Regung. Es war besser anzunehmen, dass er bisher einfach nur ein behütetes Leben geführt hatte. Es war besser – und sicherer–, die Frau als das zu sehen, wofür er sie hielt, falls sie ihm nicht das Gegenteil bewies. Er war in einer schlimmen Lage, daran bestand kein Zweifel. Sich etwas vorzumachen konnte der größtmögliche Fehler sein.

»Du hast schon Freundschaften geschlossen, Luke. Das ist gut, ein guter Anfang. Während deiner Zeit im Vorderbau wirst du noch weitere Kinder kennenlernen. Zwei davon, ein Junge namens Avery Dixon und ein Mädchen namens Helen Simms, sind soeben eingetroffen. Jetzt schlafen sie, aber du wirst bald ihre Bekanntschaft machen, die von Helen vielleicht schon, bevor um zweiundzwanzig Uhr die Nachtruhe beginnt. Avery wird eventuell die ganze Nacht durchschlafen. Er ist noch ziemlich jung und wird bestimmt in einem ziemlich emotionalen Zustand sein, wenn er aufwacht. Ich hoffe, dass du ihn unter deine Fittiche nehmen wirst, was gewiss auch Kalisha, Iris und George tun werden. Womöglich sogar Nick, obgleich man seine Reaktion schwer vorhersehen kann. Das gilt auch für ihn selbst, vermute ich. Wenn du Avery hilfst, sich in seiner neuen Situation zu akklimatisieren, wirst du dir Wertmünzen verdienen, die – wie du weißt – hier im Institut als primäres Zahlungsmittel dienen. Ob du das tust, bleibt ganz dir überlassen, aber wir werden dich beobachten.«

Das ist mir völlig klar, dachte Luke. Und belauschen werdet ihr mich auch. Außer an den wenigen Orten, wo das nicht möglich ist. Falls Maureen damit recht hat.

»Deine Freunde haben dir eine Reihe Informationen gegeben, die teilweise zutreffend und teilweise absolut unzutreffend sind. Was ich dir jetzt erzählen werde, ist in jeder Hinsicht zutreffend, also hör sorgfältig zu.« Sie beugte sich vor, legte die Hände flach auf den Tisch und sah ihm in die Augen. »Spitzt du die Ohren, Luke? Ich werde das, was ich jetzt sage, nämlich nicht wiederkäuen, wie es so schön heißt.«

»Ja.«

»Ja was?«, fuhr sie ihn an, während ihre Miene völlig ruhig blieb.

»Ohren gespitzt. Volle Aufmerksamkeit.«

»Ausgezeichnet. Du wirst einen gewissen Zeitraum im Vorderbau verbringen. Das können zehn Tage oder auch zwei Wochen sein, womöglich sogar ein ganzer Monat, wenngleich nur wenige von unseren Rekruten so lange bleiben.«

»Rekruten? Wollen Sie damit sagen, dass ich eingezogen worden bin?«

Sie nickte energisch. »Genau das will ich sagen. Es tobt ein Krieg, und du bist aufgerufen worden, deinem Land zu dienen.«

»Aber wieso? Weil ich ab und zu ein Glas oder ein Buch verschieben kann, ohne es anzufassen? Das ist doch be…«

»Halt den Mund!«

Davon beinah genauso geschockt wie von Tonys brutaler Ohrfeige, gehorchte Luke.

»Wenn ich spreche, hörst du zu. Du unterbrichst mich nicht. Ist das klar?«

Da Luke seiner Stimme nicht vertraute, nickte er nur.

»Man könnte auch sagen, es handelt sich um ein Wettrüsten mit geistigen Waffen, und wenn wir es verlieren, wären die Folgen mehr als schrecklich; sie wären unvorstellbar. Du bist zwar erst zwölf, aber dennoch bist du ein Soldat in einem nicht erklärten Krieg. Dasselbe gilt für Kalisha und die anderen. Gefällt dir das? Natürlich nicht. Leuten, die eingezogen werden, gefällt das nie, weshalb man ihnen manchmal beibringen muss, dass es Konsequenzen hat, wenn sie Befehle nicht befolgen. Ich glaube, du hast diesbezüglich bereits eine Lektion erhalten. Wenn du so gescheit bist, wie es deine Akten nahelegen, brauchst du vielleicht keine weitere. Falls doch, wirst du sie erhalten. Das hier ist nicht dein Zuhause, und deine Schule ist es auch nicht. Du musst dann nicht einfach eine zusätzliche Aufgabe im Haushalt erledigen oder zum Direktor oder nachsitzen, sondern du wirst bestraft werden. Klar?«

»Ja.« Gute Jungen und Mädchen bekamen Münzen, böse wurden mit Ohrfeigen traktiert. Oder Schlimmerem. Ein grauenvolles, aber simples Verfahren.

»Du wirst eine Reihe Injektionen erhalten. Außerdem werden mehrere Tests an dir durchgeführt. Währenddessen wird dein physischer und mentaler Zustand überwacht. Irgendwann wirst du dann in den sogenannten Hinterbau überstellt, wo du verschiedene Dienste zu leisten hast. Dein Aufenthalt im Hinterbau kann bis zu sechs Monate dauern; die durchschnittliche Länge des aktiven Dienstes beträgt allerdings lediglich sechs Wochen. Anschließend werden deine Erinnerungen ausgelöscht, und dann schicken wir dich heim zu deinen Eltern.«

»Die sind am Leben? Meine Eltern sind noch am Leben?«

Sie lachte, was sich erstaunlich fröhlich anhörte. »Natürlich sind sie noch am Leben. Wir sind doch keine Mörder, Luke!«

»Dann will ich mit ihnen sprechen. Wenn Sie mich mit ihnen sprechen lassen, tue ich alles, was Sie wollen.« Die Worte waren ihm aus dem Mund geschlüpft, bevor ihm klar wurde, wie unbesonnen sein Versprechen war.

»Nein, Luke. Offenbar verstehen wir uns immer noch nicht richtig.« Sie lehnte sich zurück und legte die Hände wieder flach auf den Tisch. »Das hier ist keine Verhandlung. Du wirst in jedem Falle tun, was wir wollen. Glaub mir das lieber, dann ersparst du dir eine Menge Schmerzen. Während deines Aufenthalts im Institut wirst du keinerlei Kontakt mit der Außenwelt haben, was deine Eltern einschließt. Du wirst sämtliche Anordnungen befolgen. Du wirst dich an sämtliche Vorschriften halten. Dennoch wirst du die Anordnungen und Vorschriften weder hart noch beschwerlich finden, bis auf ein paar wenige Ausnahmen vielleicht. Deine Zeit hier wird rasch vergehen, und wenn du uns verlässt und eines schönen Morgens im eigenen Zimmer aufwachst, wird nichts von alledem geschehen sein. Leider wirst du nicht einmal wissen, dass du das wunderbare Privileg hattest, deinem Land zu dienen. Was zumindest ich traurig finde.«

»Ich weiß nicht, wie das gehen soll«, sagte Luke. Er sprach mehr zu sich selbst als zu Mrs. Sigsby, was er immer tat, wenn etwas – ein physikalisches Problem, ein Gemälde von Manet, die kurz- und langfristigen Auswirkungen von Schulden – seine Aufmerksamkeit vollständig in Anspruch nahm. »Mich kennen so viele Leute. In der Schule… die Kollegen von meinen Eltern… meine Freunde… Man kann doch nicht die Erinnerung von denen allen auslöschen.«

Sie lachte nicht, aber sie lächelte. »Ich glaube, du wärst verblüfft darüber, was wir alles tun können. Aber jetzt sind wir fertig.« Sie erhob sich, kam um den Tisch herum und streckte ihm die Hand hin. »Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen.«

Luke stand ebenfalls auf, ergriff die Hand jedoch nicht.

»Gib mir die Hand, Luke.«

Etwas in ihm wollte gehorchen, alte Gewohnheiten waren schwer abzulegen, aber er ließ die Hand an der Seite hängen.

»Gib mir die Hand, sonst wirst du es bereuen. Ich sag es dir nicht noch einmal.«

Er sah, dass sie es voll und ganz meinte, deshalb gab er ihr die Hand. Sie hielt sie fest. Sie drückte zwar nicht zu, aber er merkte, dass ihre Hand sehr kräftig war. Ihre Augen bohrten sich in seine. »Wir sehen uns, wie man so sagt, eventuell mal auf dem Campus, aber der jetzige ist hoffentlich dein einziger Besuch in meinem Büro. Solltest du noch einmal hierherbestellt werden, wird unsere Unterhaltung weniger angenehm sein. Hast du verstanden?«

»Ja.«

»Gut. Ich weiß, dass alles eine dunkle Zeit für dich ist, aber wenn du tust, was man dir sagt, wirst du irgendwann in den Sonnenschein hinaustreten. Glaub mir. Und jetzt ab mit dir!«

Als er das Zimmer verließ, fühlte er sich wieder wie in einem Traum oder wie Alice im Kaninchenbau. Er wurde von Hadad erwartet, der mit der Sekretärin oder Assistentin von Mrs. Sigsby oder wie auch immer plauderte. »Ich bringe dich in dein Zimmer zurück. Bleib schön nah neben mir, ja? Versuch bloß nicht, in den Wald zu rennen.«

Sie gingen hinaus, aber auf dem Weg zum Vorderbau blieb Luke stehen, weil ihm plötzlich schwindlig wurde. »Halt«, sagte er. »Warten Sie mal.«

Er beugte sich vor und stützte sich auf die Knie. Einen Moment lang wimmelten farbige Lichter vor seinen Augen.

»Kippst du vielleicht gleich um?«, fragte Hadad. »Was meinst du?«

»Nein«, sagte Luke. »Aber lassen Sie mir noch ein paar Sekunden Zeit.«

»Klar doch. Du hast eine Spritze bekommen, oder?«

»Ja.«

Hadad nickte. »Auf manche Kids wirkt das so. Verzögerte Reaktion.«

Luke wartete auf die Frage, ob er Blitze oder Punkte sehe, aber Hadad wartete nur. Dabei pfiff er durch die Zähne und wedelte die ihn umschwärmenden Stechmücken weg.

Luke dachte an die kalten Augen von Mrs. Sigsby und an ihre strikte Weigerung, ihm zu sagen, wie ein solcher Ort überhaupt existieren könne ohne irgendeine Form von… Wie konnte man das sagen? Ohne Mitwirkung der Behörden vielleicht. Es war, als würde sie ihn dazu herausfordern, selbst die logischen Schlüsse zu ziehen.

Wenn du tust, was man dir sagt, wirst du irgendwann in den Sonnenschein hinaustreten. Glaub mir.

Er war erst zwölf und wusste, dass seine Lebenserfahrung beschränkt war, aber eines war ihm vollständig klar: Wenn jemand glaub mir sagte, dann log er normalerweise nach Strich und Faden.

»Fühlst du dich besser? Können wir weitergehen, mein Sohn?«

»Ja.« Luke richtete sich auf. »Aber ich bin nicht Ihr Sohn.«

Hadad grinste, wobei sein Goldzahn aufblitzte. »Vorläufig schon. Du bist ein Sohn des Instituts, Luke. Lass einfach locker und gewöhn dich daran.«

12

Sobald sie das Gebäude betreten hatten, rief Hadad den Aufzug, sagte: »See you later, alligator« und trat hinein. Luke wollte sich schon auf den Weg zu seinem Zimmer machen, als er Nicky Wilholm gegenüber dem Eiswürfelspender auf dem Boden sitzen und ein Schokotörtchen futtern sah. Über ihm hing ein Poster mit zwei im Comicstil gezeichneten Streifenhörnchen, aus deren grinsenden Mäulern Sprechblasen kamen. Das linke Hörnchen sagte: »Lebe das Leben, das du liebst!« Das andere sagte: »Liebe das Leben, das du lebst!« Verwirrt starrte Luke darauf.

»Was meinst du, wie man so ein Poster an einem solchen Ort nennt, kluger Junge?«, fragte Nicky. »Ironisch, sarkastisch oder schlicht Bullshit?«

»Passt alles«, sagte Luke und setzte sich neben ihn.

Nicky hielt ihm die Packung hin. »Willst du das andere?«

Luke wollte. Er bedankte sich, schälte das knittrige Papier ab und verschlang das Törtchen mit drei schnellen Bissen.

Nicky betrachtete ihn belustigt. »Du hast deine erste Spritze gekriegt, was? Danach ist man brutal scharf auf Zucker. Beim Abendessen wirst du nicht viel runterkriegen, aber den Nachtisch schon. Garantiert. Hast du schon irgendwelche Blitze gesehen?«

»Nein.« Dann fiel ihm ein, wie er sich draußen auf die Knie gestützt und gewartet hatte, bis der Schwindel vorüberging. »Vielleicht. Wie sehen die denn aus?«

»Die MTAs nennen sie Stass-Lichter. Sie gehören zur Vorbereitung. Mir hat man nur ein paar Spritzen und fast keine gruseligen Tests verpasst, weil ich TK-pos bin. Genau wie George, und Sha ist TP-pos. Wenn man normal ist, kriegt man mehr.« Er dachte nach. »Na ja, normal ist keiner von uns, sonst wären wir nicht hier, aber du weißt schon, was ich meine.«

»Versuchen sie damit, unsere Fähigkeiten zu verstärken?«

Nicky zuckte die Achseln.

»Und worauf bereiten sie uns vor?«

»Auf das, was im Hinterbau abgeht. Wie lief’s eigentlich bei der Oberzicke? Hat die davon geschwafelt, dass du deinem Land dienst?«

»Sie hat gesagt, ich wäre eingezogen worden. Ich komme mir eher geschanghait vor. Wenn die Kapitäne früher, im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, Matrosen für ihre Schiffe brauchten…«

»Ich weiß, was schanghaien bedeutet, Lukey, schließlich bin auch ich zur Schule gegangen. Abgesehen davon hast du nicht unrecht.« Er stand auf. »Komm, gehen wir raus auf den Spielplatz. Dann kannst du mir noch eine Schachlektion erteilen.«

»Ich glaube, ich will mich bloß hinlegen«, sagte Luke.

»Du siehst ziemlich bleich aus, das stimmt. Aber der Zucker hat geholfen, oder? Gib’s zu!«

»Hat er«, sagte Luke. »Was hast du getan, um eine Münze zu bekommen?«

»Gar nichts. Maureen hat mir eine zugesteckt, bevor sie mit der Arbeit fertig war. Was sie angeht, hat Kalisha recht.« Das sagte Nicky beinahe widerwillig. »Wenn es einen guten Menschen in diesem beschissenen Kasten gibt, dann ist sie es.«

Sie waren an Lukes Tür angekommen. Nicky hob die Faust, und Luke schlug mit seiner dagegen.

»Bis nachher, wenn das Dingdong schallt, kluger Junge. Halt bis dahin deinen Piephahn steif.«

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