DIE HÖLLE HÄLT EINZUG

1

Tim führte den blutigen Jungen, der offenkundig noch benommen war, aber allein gehen konnte, durch das Büro von Craig Jackson. Der Besitzer der Lagerhäuser wohnte in der nahen Stadt Dunning, war jedoch seit fünf Jahren geschieden, weshalb das geräumige, klimatisierte Zimmer hinter dem Büro ihm als zusätzliche Unterkunft diente. Momentan war Jackson nicht vor Ort, was Tim nicht überraschte. An Tagen, an denen der 9956 hier hielt, anstatt durchzufahren, neigte Craig dazu, sich rar zu machen.

Hinter der kleinen Küchenzeile, die mit einer Mikrowelle, einer Kochplatte und einem winzigen Spülbecken ausgestattet war, kam der Wohnbereich, der aus einem Sessel vor einem HD-Fernseher bestand. Dahinter blickten alte Doppelseiten aus Playboy und Penthouse auf ein ordentlich gemachtes Feldbett hinab. Tim hatte vor, den Jungen bis zur Ankunft von Doc Roper darauf zu legen, aber der schüttelte den Kopf.

»Sessel.«

»Bist du dir sicher?«

»Ja.«

Der Junge setzte sich hin, wobei das Polster einen kurzen Seufzer von sich gab. Tim ließ sich vor ihm auf ein Knie nieder. »Sagst du mir jetzt endlich deinen Namen?«

Der Junge betrachtete ihn skeptisch. Er blutete nicht mehr, doch seine Wange war mit getrocknetem Blut bedeckt, und sein rechtes Ohr sah fürchterlich aus. »Haben Sie auf mich gewartet?«

»Nein, auf den Zug. Ich arbeite morgens hier. Wenn der 9956 hält, bin ich länger da. Also, wie heißt du?«

»Wer war der andere Typ?«

»Keine weiteren Fragen, bis du mir deinen Namen nennst.«

Wieder überlegte der Junge, dann fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich bin Nick. Nick Wilholm.«

»Okay, Nick.« Tim machte das Peace-Zeichen. »Wie viele Finger siehst du?«

»Zwei.«

»Und jetzt?«

»Drei. Der andere Typ, hat der gesagt, er wär mein Onkel?«

Tim runzelte die Stirn. »Das war Norbert Hollister. Dem gehört das Motel hier. Wenn er der Onkel von irgendjemand wäre, dann wüsste ich das.« Tim hob den Zeigefinger. »Folg dem mit dem Blick. Ich will sehen, wie deine Augen sich bewegen.«

Die Augen des Jungen folgten dem Finger von links nach rechts, dann hoch und runter.

»Offenbar hat es dich nicht besonders schlimm erwischt«, sagte Tim. »Jedenfalls können wir das hoffen. Vor wem läufst du eigentlich davon, Nick?«

Mit erschrockenem Blick versuchte der Junge aufzustehen. »Wer hat Ihnen das erzählt?«

Tim drückte ihn sanft wieder in den Sessel. »Niemand. Aber immer, wenn ich einen Jungen mit dreckigen, zerrissenen Klamotten und einem verstümmelten Ohr von einem Zug springen sehe, drängt sich mir der merkwürdige Verdacht auf, dass ich es mit einem Ausreißer zu tun habe. Also, vor wem…«

»Was war denn das für ein Geschrei vorhin? Ich hab gehört… Gott im Himmel, was ist nur mit dem Jungen da passiert?«

Als Tim sich umdrehte, sah er Orphan Annie Ledoux dastehen. Offenbar hatte sie in ihrem Zelt hinter dem Bahnhof gelegen, wo sie oft mitten am Tag ein Nickerchen machte. Obwohl das Thermometer vor dem Gebäude schon um zehn Uhr morgens knapp dreißig Grad angezeigt hatte, trug Annie das, was Tim insgeheim als ihr mexikanisches Kostüm bezeichnete: Poncho, Sombrero, billige Armbänder und aus dem Abfall gerettete Cowboystiefel, die an den Nähten aufgeplatzt waren.

»Das ist Nick Wilholm«, sagte Tim. »Er ist von Gott weiß woher gekommen, um unser schönes Dorf zu besuchen. Ist vom Sechsundfünfziger gesprungen und mit vollem Karacho gegen einen Signalpfosten geknallt. Nick, das ist Annie Ledoux.«

»Freut mich sehr, Sie kennenzulernen«, sagte Luke.

»Danke, mein Junge, ganz meinerseits. War das etwa der Signalpfosten, der ihm das halbe Ohr abgerissen hat, Tim?«

»Das glaube ich kaum«, sagte Tim. »Ich hatte gerade gehofft, mehr darüber zu erfahren.«

»Haben Sie darauf gewartet, dass der Zug ankommt?«, fragte der Junge, an Annie gewandt. Offenbar war er darauf fixiert. Vielleicht, weil er sich brutal den Schädel angehauen hatte, vielleicht aus einem anderen Grund.

»Ich warte auf nichts als auf die Wiederkehr unseres Herrn Jesus Christus«, sagte Annie. Sie blickte sich um. »Da hat Mr. Jackson aber pikante Fotos an der Wand. Könnt nich behaupten, dass mich das überrascht.« Ihr ländlicher Akzent war unüberhörbar.

In diesem Moment kam ein Mann mit olivfarbener Haut herein. Er trug eine Latzhose über einem weißen Hemd mit einer dunklen Krawatte, auf seinem Kopf saß eine gestreifte Eisenbahnermütze. »Hallo, Hector«, sagte Tim.

»Selber hallo«, sagte Hector. Ohne großes Interesse betrachtete er den blutigen Jungen, der auf Craig Jacksons Sessel saß, dann wandte er die Aufmerksamkeit wieder Tim zu. »Mein Kollege sagt, dass ich zwei Generatoren für euch hab, ein paar Rasentraktoren und dergleichen, dazu etwa eine Tonne Dosenfutter und eine weitere Tonne Frischwaren. Ich bin jetzt schon spät dran, Timmy, mein Alter, und wenn du nicht schleunigst auslädst, kannst du die Lasterflotte, die unsere Stadt nicht hat, nach Brunswick schicken, um das Zeug dort abzuholen.«

Tim erhob sich. »Annie, können Sie dem jungen Mann Gesellschaft leisten, bis der Doktor kommt? Ich muss mich eine Weile auf den Gabelstapler setzen.«

»Das schaff ich schon. Wenn er ’nen Krampfanfall kriegt, stecke ich ihm was in den Mund.«

»Ich kriege keinen Krampfanfall«, sagte der Junge.

»Das behaupten alle«, erwiderte Annie etwas kryptisch.

»Junge«, sagte Hector. »Hast du dich etwa in meinem Zug versteckt?«

»Ja, Sir. Bitte entschuldigen Sie.«

»Tja, da du jetzt nicht mehr drin bist, ist mir das schnuppe. Wahrscheinlich werden die Cops sich mit dir beschäftigen. Tim, mir ist schon klar, dass ihr hier ein Problem habt, aber die Waren warten nicht, also mach dich an die Arbeit. Wo ist eigentlich dein verdammtes Team? Ich hab bloß einen einzigen Typen gesehen, und der hängt im Büro am Telefon!«

»Das ist Hollister vom Motel, und bis der ’nen Finger krumm macht, kannst du lange warten. Außer er will sich in der Nase bohren.«

»Garstig«, sagte Orphan Annie, womit sie allerdings eventuell die Fotos an der Wand meinte, die sie immer noch betrachtete.

»Eigentlich sollten die Beeman-Brüder da sein, aber die beiden Nichtsnutze sind offenbar spät dran. Genau wie du.«

»Ach du Schande.« Hector nahm seine Mütze ab und fuhr sich mit der Hand durch das dichte, schwarze Haar. »Ich hasse solche Fahrten. In Wilmington hat das Entladen sich auch verzögert. Auf einem von den Autotransportern ist ein verdammter Lexus stecken geblieben. Na gut, schauen wir mal, dass wir zurande kommen.«

Tim folgte Hector zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte. »Du heißt gar nicht Nick, stimmt’s?«

Der Junge dachte nach, dann sagte er: »Vorläufig schon.«

»Passen Sie auf, dass er nicht abhaut«, sagte Tim zu Annie. »Rufen Sie mich, falls er’s probieren sollte.« Er sah den blutigen Jungen an, der sehr klein und mitgenommen wirkte. »Wir reden darüber, wenn ich wiederkomme. Ist das für dich okay?«

Wieder überlegte der Junge, dann nickte er müde. »Muss es wohl.«

2

Als die beiden Männer fort waren, fand Orphan Annie in einem Korb unter dem Spülbecken zwei saubere Putztücher. Nachdem sie die in kaltes Wasser getaucht hatte, wrang sie eines fest und das andere weniger fest aus. Sie reichte Luke das erstere. »Drück dir das ans Ohr.«

Das tat Luke. Es brannte. Mit dem anderen Tuch tupfte sie ihm das Blut vom Gesicht, so sanft, dass er an seine Mutter denken musste. Annie hielt inne und fragte ihn – mit derselben Sanftheit–, weshalb er weine.

»Ich vermisse meine Mama.«

»Tja, also, die vermisst dich bestimmt auch.«

»Nur, falls das Bewusstsein nach dem Tod irgendwie weiterbesteht. Das möchte ich zwar gern glauben, aber die empirischen Belege sprechen dagegen.«

»Ob das Bewusstsein weiterbesteht? Aber natürlich tut es das.« Annie ging zur Spüle und machte sich daran, das Blut aus dem von ihr verwendeten Tuch zu spülen. »Manche sagen zwar, dass verstorbene Seelen kein Interesse an der irdischen Sphäre haben, genauso wie uns egal ist, was die Ameisen in ’nem Ameisenhaufen treiben, aber zu denen gehör ich nich. Ich glaub, dass sie sich sehr wohl um uns kümmern. Tut mir leid, dass sie verstorben ist, Junge.«

»Meinen Sie, dass die Liebe von denen auch weiterbesteht?« Die Vorstellung war töricht, das wusste er, aber sie war auf gute Weise töricht.

»Klar. Die Liebe stirbt doch nich mit dem irdischen Körper, Junge. Das ist ’ne völlig lächerliche Idee. Wie lange ist es her, dass deine Mama davongegangen is?«

»Vielleicht einen Monat, vielleicht auch sechs Wochen. Ich hab mehr oder weniger den Überblick darüber verloren, wie viel Zeit vergangen ist. Meine Eltern wurden ermordet, und mich hat man gekidnappt. Ich weiß, dass das schwer zu glauben ist…«

Annie machte sich daran, das restliche Blut abzutupfen. »Nich so schwer, wenn man Bescheid weiß.« Sie tippte sich unter dem Rand ihres Sombreros an die Stirn. »Sind sie mit schwarzen Autos gekommen?«

»Keine Ahnung«, sagte Luke. »Aber wundern würde es mich nicht.«

»Und sie ham Experimente an dir gemacht, stimmt’s?«

Luke klappte die Kinnlade herunter. »Woher wissen Sie das?«

»Von George Allman«, sagte sie. »Der is von Mitternacht bis vier Uhr morgens auf WMDK. In seiner Sendung geht’s um Walk-ins und Ufos und paranormale Kräfte.«

»Um paranormale Kräfte? Echt?«

»Ja, und um die Verschwörung. Weißt du von der Verschwörung, Junge?«

»Mehr oder weniger«, sagte Luke.

»Die Sendung von George Allman heißt: Die Outsider. Man kann anrufen, aber hauptsächlich redet bloß er. Er sagt nich, dass es Außerirdische sind oder die Regierung oder dass beide zusammenarbeiten; er ist vorsichtig, weil er nich verschwinden oder erschossen werden will wie Jack und Bobby Kennedy, aber er redet die ganze Zeit von den schwarzen Autos und den Experimenten. Sachen, bei denen’s dir kalt über den Rücken läuft. Wusstest du, dass Son of Sam ein Walk-in war? Nein? Tja, er war einer. Dann ist der Teufel, der in ihm drin war, wieder aus ihm rausgegangen, dass bloß noch ’ne Hülle übrig war. Heb mal den Kopf an, Junge, du hast am ganzen Hals Blut, und wenn das trocknet, bevor ich’s abwische, muss ich reiben.«

3

Die Beeman-Brüder, zwei große, massige Teenager aus dem Trailer-Park im Süden der Stadt, tauchten um Viertel nach zwölf auf, also um eine Zeit, wo Tim normalerweise schon längst fertig war. Inzwischen stand das meiste Zeug für Maschinenhandlung Fromie auf der rissigen Betonfläche am Bahnhof. Wenn es nach Tim gegangen wäre, hätte er die beiden sofort gefeuert, aber sie waren auf eine komplizierte Weise, die man nur als Südstaatler begriff, mit Mr. Jackson verwandt, weshalb die Möglichkeit nicht bestand. Abgesehen davon brauchte er die beiden.

Um halb eins fuhr Del Beeman den großen Pick-up mit den Lattenwänden rückwärts an die Tür des Güterwagens heran, und dann fingen sie an, die Kisten mit Salat, Tomaten, Gurken und Sommerkürbissen umzuladen. Hector und sein Zugbegleiter waren zwar nicht an frischem Gemüse interessiert, aber daran, endlich aus South Carolina wegzukommen, weshalb sie mithalfen. Norbert Hollister stand im Schatten des Bahnhofsvordachs und beobachtete alles aufmerksam, tat jedoch nichts anderes. Dass er immer noch herumhing, fand Tim etwas merkwürdig – bisher hatte Norbert keinerlei Interesse an der Ankunft und Abfahrt von Zügen gezeigt–, war jedoch zu beschäftigt, darüber nachzudenken.

Um zehn vor eins bog ein alter Ford-Kombi auf den kleinen Bahnhofsparkplatz ein, gerade als Tim die letzten Kisten mit Gemüse auf den Pick-up lud, der sie zum örtlichen Supermarkt bringen sollte… vorausgesetzt, dass Phil Beeman es bis dorthin schaffte. Es war zwar weniger als eine Meile, aber heute redete Phil ziemlich langsam, und seine Augen waren so rot wie die von einem Tierchen, das versuchte, sich vor einem Buschbrand zu retten. Man musste nicht Sherlock Holmes heißen, um daraus zu schließen, dass er Pot geraucht hatte. Sein Bruder ebenfalls.

Doc Roper stieg aus seinem Kombi. Tim hob grüßend die Hand und deutete auf das Lagerhaus, in dem Mr. Jackson sein Büro samt Apartment hatte. Roper erwiderte den Gruß und machte sich auf den Weg in die angezeigte Richtung. Er war vom alten Schlag, beinahe eine Karikatur, einer von jenen Ärzten, die sich noch in zahllosen bitterarmen ländlichen Gebieten hielten, wo das nächste Krankenhaus vierzig bis fünfzig Meilen weit entfernt war, Obamacare für eine linksradikale Blasphemie gehalten wurde und ein Ausflug zu Walmart als Ereignis galt. Roper war übergewichtig, Mitte sechzig und ein eingefleischter Baptist, der in seiner schwarzen Tasche, die über drei Generationen von Vater zu Sohn weitergereicht worden war, nicht nur ein Stethoskop, sondern auch eine Bibel stecken hatte.

»Was ist das eigentlich für ’ne Geschichte mit diesem Jungen?«, erkundigte sich der Güterzugbegleiter, während er sich mit seinem Halstuch die Stirn abwischte.

»Das weiß ich nicht«, sagte Tim. »Aber ich hab vor, es rauszukriegen. Jetzt aber los, Leute, ihr könnt starten. Falls ihr mir nicht eine von den Lexus-Limousinen dalassen wollt. Bin gern bereit, sie selbst runterzufahren.«

»Chupa mi polla«, sagte Hector. Dann schüttelte er Tim die Hand und marschierte zu seiner Lokomotive, um auf der Fahrt von DuPray nach Brunswick hoffentlich ein bisschen Zeit gutzumachen.

4

Eigentlich hatte Stackhouse vorgehabt, die beiden Extraktionsteams auf dem Flug mit der Challenger zu begleiten, aber Mrs. Sigsby entschied, das selbst zu erledigen. Das stand ihr zu, weil sie die Chefin war. Dennoch war der entsetzte Gesichtsausdruck, mit dem Stackhouse auf diese Idee reagierte, geradezu beleidigend.

»Sparen Sie sich den skeptischen Blick«, sagte sie. »Was meinen Sie wohl, wessen Kopf rollt, wenn das in die Hose geht?«

»Der Kopf von uns beiden und noch ein paar mehr.«

»Ja, aber wessen Kopf wird zuerst drankommen und am weitesten rollen?«

»Julia, das Ganze ist ein Außeneinsatz, und an so was haben Sie noch nie teilgenommen.«

»Ich habe Team Ruby Red und Team Opal dabei, also vier gute Männer und drei toughe Frauen. Außerdem haben wir Tony Fizzale, der früher bei den Marines war, Dr. Evans und Winona Briggs. Die war bei der Army und kennt sich mit der Planung solcher Sachen aus. Sobald der eigentliche Einsatz beginnt, wird Denny Williams die Leitung übernehmen, aber ich habe vor, dabei zu sein und will meinen Bericht aus erster Hand schreiben.« Sie machte eine Pause. »Falls ein Bericht notwendig ist, und ich habe allmählich den Eindruck, dass wir den nicht vermeiden können.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Halb eins. »Keine weiteren Diskussionen. Wir müssen jetzt in Aktion treten. Sie sehen hier nach dem Rechten, und wenn alles gut läuft, bin ich heute Nacht um zwei wieder da.«

Er begleitete sie zur Tür und dann den ungepflasterten, mit einem Tor gesicherten Weg entlang, der zu der zweispurigen Asphaltstraße drei Meilen weiter östlich führte. Es war ein heißer Tag. In dem dichten Wald, durch den sich der verfluchte Junge irgendwie hindurchgekämpft hatte, zirpten die Grillen. Vor dem Tor wartete mit laufendem Motor ein Van vom Typ Ford Windstar mit Robin Lecks am Steuer. Hinter ihr saß Michelle Robertson. Beide Frauen trugen Jeans und ein schwarzes T-Shirt.

»Von hier nach Presque Isle sind es neunzig Minuten«, sagte Mrs. Sigsby. »Von Presque Isle nach Erie in Pennsylvania weitere siebzig Minuten. Dort holen wir Team Opal ab. Von Erie nach Alcolu in South Carolina sind es in etwa zwei Stunden. Wenn alles gut geht, sind wir heute Abend um sieben in DuPray.«

»Bitte melden Sie sich regelmäßig, und denken Sie dran, dass Williams die Führung übernimmt, sobald es richtig losgeht. Nicht Sie.«

»Tue ich.«

»Julia, ich halte das wirklich für einen Fehler. Ich sollte dabei sein, nicht Sie.«

Mrs. Sigsby sah ihm in die Augen. »Wenn Sie das noch einmal sagen, knalle ich Ihnen eine.« Sie ging zum Wagen, wo Denny Williams ihr die Seitentür öffnete. Bevor sie einstieg, drehte sie sich noch einmal zu Stackhouse um. »Und sorgen Sie dafür, dass man Avery Dixon anständig untertunkt und in den Hinterbau schafft, bevor ich wiederkomme.«

»Donkey Kong gefällt die Idee gar nicht.«

Sie bedachte ihn mit einem Furcht einflößenden Lächeln. »Erwecke ich den Eindruck, dass ich mich groß darum scheren würde?«

5

Tim sah zu, wie der Zug davonfuhr, dann kehrte er in den Schatten des Vordachs zurück. Sein T-Shirt war schweißgetränkt. Zu seinem Erstaunen stand Norbert Hollister immer noch da. Wie üblich trug er seine Weste mit Paisleymuster und eine schmutzige Khakihose, die heute knapp unter seinem Brustbein von einem geflochtenen Gürtel zusammengehalten wurde. Tim fragte sich nicht zum ersten Mal, wie man eine Hose derart hoch tragen konnte, ohne sich brutal die Eier zu quetschen.

»Was machen Sie denn noch hier, Norbert?«

Hollister zuckte die Achseln und grinste, wobei er Zähne entblößte, die Tim vor dem Mittagessen lieber nicht in Augenschein genommen hätte. »Ach, ich vertreib mir bloß die Zeit. Am Nachmittag ist in meiner Bude nicht besonders viel los.«

Als ob das am Morgen oder Abend anders wäre, dachte Tim. »Tja, wie wär’s denn, wenn Sie sich allmählich mal vom Acker machen?«

Norbert zog einen Beutel Red Man aus der Gesäßtasche und stopfte sich ein Stück von dem Kautabak in den Mund. Kein Wunder, dass seine Zähne eine solche Farbe hatten. »Seit wann sind Sie hier denn der große Zampano?«

»Das hat sich wohl wie eine Bitte angehört«, sagte Tim. »War aber keine. Abmarsch!«

»Schon gut, schon gut, so ’nen Wink mit dem Zaunpfahl kapier ich schon. ’nen schönen Tag noch, Mr. Nachtklopfer.«

Norbert watschelte davon. Tim sah ihm stirnrunzelnd hinterher. Er begegnete ihm manchmal in Bev’s Eatery oder bei Zoney’s, wo Hollister sich geröstete Erdnüsse oder auch mal ein hart gekochtes Ei aus dem Glas auf der Theke besorgte, aber sonst verließ der Mann nur selten das Büro in seinem Motel, wo er sich Sport und Pornos reinzog. Der Fernseher dort war mit einer Satellitenschüssel gekoppelt, weshalb er im Gegensatz zu denen in den Gästezimmern funktionierte.

Orphan Annie wartete im Büro von Mr. Jackson auf Tim. Sie saß am Schreibtisch und blätterte in den Papieren im Eingangs- und im Ausgangskorb.

»Das geht Sie nichts an, Annie«, sagte Tim milde. »Und wenn Sie das Zeug durcheinanderbringen, kriege ich eins aufs Dach.«

»Is sowieso nix Interessantes drin«, sagte sie. »Bloß Rechnungen und Listen und so Sachen. Allerdings hat er ’ne Punktekarte für den Topless-Schuppen drüben in Hardeeville. Noch zwei Punkte, dann darf er mittags kostenlos ans Büfett. Aber wenn ich mir vorstelle, ich müsste beim Essen auf die sabbernden Mösen von irgendwelchen Frauen starren… bäh.«

Das hatte Tim sich noch nie konkret vorgestellt, und nachdem er es jetzt getan hatte, hätte er lieber darauf verzichtet. »Ist der Doc noch bei dem Jungen?«

»Jep. Ich hab das Bluten zum Stillstand gebracht, aber von jetzt an muss er die Haare lang wachsen lassen, weil sein Ohr nie wieder aussehn wird wie früher. Jetzt hörn Sie mir mal zu. Die Eltern von dem Jungen sind ermordet worden, und ihn hat man gekidnappt.«

»Im Rahmen der Verschwörung?« Über die Verschwörung hatte er sich bei seinen Rundgängen als Nachtklopfer oft mit Annie unterhalten.

»Genau. Die sind mit diesen schwarzen Autos gekommen, da können Sie sich drauf verlassen, und wenn sie rauskriegen, dass er hier ist, kommen sie ihn holen.«

»Alles klar«, sagte Tim. »Ich werde es mit Sheriff John besprechen. Danke, dass Sie seine Wunden gereinigt und auf ihn aufgepasst haben, aber ich glaube, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen.«

Sie stand auf und schüttelte ihren Poncho aus. »Genau, reden Sie mit Sheriff John. Ihr müsst alle auf der Hut sein, denn wenn sie kommen, sind sie bis an die Zähne bewaffnet. In Maine gibt’s einen Ort, der heißt Jerusalem’s Lot, und die Leute, die wo da gewohnt haben, könnte man nach den schwarzen Autos fragen. Wenn man da noch irgendwelche Leute finden tät. Die sind nämlich alle vor vierzig Jahren verschwunden. Über den Ort redet George Allman die ganze Zeit.«

»Schon kapiert.«

Mit rauschendem Poncho ging sie zur Tür, wo sie sich umdrehte. »Sie glauben mir nich, und das wundert mich überhaupt nich. Wieso auch? Ich war schon, Jahre bevor Sie hergekommen sind, der komische Vogel hier in der Stadt, und wenn der Herr mich nich vorher zu sich ruft, werd ich die Rolle noch spielen, wenn Sie längst wieder weg sind.«

»Annie, ich hab absolut nicht…«

»Pst!« Sie warf ihm unter ihrem Sombrero einen strengen Blick zu. »Is schon in Ordnung. Aber jetzt passen Sie mal auf. Ich hab es Ihnen erzählt… aber wissen tu ich’s von ihm. Von dem Jungen, meine ich. Das heißt, wir sind zu zweit, okay? Und denken Sie dran, was ich gesagt hab. Die kommen in schwarzen Autos.«

6

Doc Roper legte die paar Geräte, die er zur Untersuchung verwendet hatte, in seine Tasche zurück. Der Junge saß immer noch auf dem Sessel von Mr. Jackson. Sein Gesicht war vom Blut gereinigt worden, und sein Ohr war bandagiert. Rechts hatte er von seiner Auseinandersetzung mit dem Signalpfosten einen anständigen Bluterguss, aber seine Augen waren klar und wach. In dem kleinen Kühlschrank hatte der Doc eine Flasche Ginger Ale gefunden, die der Junge gerade gierig leerte.

»Sitzen bleiben, junger Mann«, sagte Roper. Er klappte seine Tasche zu und gesellte sich zu Tim, der in der Tür zum Büro stehen geblieben war.

»Wie geht es ihm?«, fragte Tim mit leiser Stimme.

»Er ist dehydriert, und er ist hungrig, weil er ’ne ganze Weile nichts gegessen hat, aber sonst ist er in gutem Zustand, denke ich. Kinder in seinem Alter erholen sich normalerweise schnell. Er sagt, er ist zwölf, er sagt, dass er Nick Wilholm heißt, und er sagt, er ist da in den Zug gestiegen, wo der losgefahren ist, hoch oben im Norden von Maine. Als ich ihn gefragt hab, was er da zu suchen hatte, hat er gemeint, das könnte er mir nicht sagen. An die Adresse, wo er wohnt, kann er sich angeblich nicht erinnern. Das ist plausibel, ein harter Schlag an den Kopf kann eine vorübergehende Desorientiertheit hervorrufen und das Gedächtnis stören, aber ich bin nicht von gestern und kann Amnesie von Verschlossenheit unterscheiden, vor allem bei einem Kind. Er verbirgt etwas. Vielleicht sogar eine ganze Menge.«

»Okay.«

»Wollen Sie meinen Rat hören? Versprechen Sie ihm ’ne anständige Mahlzeit bei Bev’s, dann erzählt er Ihnen die ganze Geschichte.«

»Danke, Doc. Die Rechnung können Sie an mich schicken.«

Roper wedelte mit der Hand. »Wenn Sie mich zu ’ner anständigen Mahlzeit irgendwo einladen, wo es ein bisschen nobler zugeht als bei Bev’s, sind wir quitt. Und wenn Sie seine Geschichte erfahren haben, will ich sie hören.«

Als er fort war, zog Tim die Tür zu, damit sie ungestört waren, und holte sein Handy aus der Tasche. Er rief Bill Wicklow an, den Deputy, der ihn nach Weihnachten als Nachtklopfer ablösen sollte. Der Junge beobachtete ihn aufmerksam, während er die Flasche kaltes Ginger Ale leerte.

»Bill? Hier spricht Tim. Ja, alles in Ordnung. Hab bloß überlegt, ob du heute Nacht mal ausprobieren könntest, was dich in meinem Job erwartet. Normalerweise ist jetzt nämlich meine Schlafenszeit, aber am Bahnhof gibt es ein Problem.« Er lauschte. »Super. Dann schulde ich dir was. Ich leg dir die Kontrolluhr ins Büro. Denk dran, dass du sie aufziehen musst. Und danke!«

Er legte auf und betrachtete den Jungen. Der Bluterguss im Gesicht würde erst aufblühen und dann in ein oder zwei Wochen verschwinden. Von dem Ausdruck in seinen Augen war das so früh wohl eher nicht zu erwarten. »Fühlst du dich besser? Gehen die Kopfschmerzen allmählich weg?«

»Ja, Sir.«

»Vergiss das mit dem Sir, du kannst Tim zu mir sagen. Und was sag ich zu dir? Wie ist dein richtiger Name?«

Und nach kurzem Zögern verriet Luke ihm den.

7

In dem schwach beleuchteten Tunnel zwischen Vorder- und Hinterbau war es kalt, weshalb Avery sofort zu zittern anfing. Er trug noch die Sachen, die er getragen hatte, als Zeke und Carlos seinen kleinen Körper bewusstlos aus dem Wassertank gezogen hatten, und er war klatschnass. Seine Zähne klapperten. Trotzdem klammerte er sich an das, was er erfahren hatte. Es war wichtig. Jetzt war alles wichtig.

»Hör auf, mit den Zähnen zu klappern«, sagte Gladys. »Das hört sich abscheulich an.« Sie schob ihn in einem Rollstuhl vor sich her, und von ihrem üblichen Lächeln sah man keine Spur. Was der kleine Scheißkerl getan hatte, war inzwischen allgemein bekannt, und wie alle Angestellten des Instituts war Gladys in Panik und würde in Panik bleiben, bis man Luke Ellis zurückgeschafft hatte und alle erleichtert aufatmen konnten.

»I-i-ich k-k-kann n-n-nichts dagegen tun«, sagte Avery. »M-m-mir ist so k-k-kalt.«

»Meinst du, das interessiert mich auch nur die Bohne?« Ihre laute Stimme hallte von den gefliesten Wänden wider. »Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was du getan hast? Hast du irgendeine Vorstellung?«

Die hatte Avery durchaus. Genauer gesagt hatte er viele Vorstellungen, die teilweise von Gladys stammten (ihre Furcht war wie eine Ratte, die mitten in ihrem Kopf auf einem Rad im Kreis rannte) und teilweise ihm ganz allein gehörten.

Sobald sie die Tür mit der Aufschrift ZUTRITT NUR FÜR BEFUGTE hinter sich hatten, war es ein bisschen wärmer. Noch wärmer war es in dem schäbigen Aufenthaltsraum, wo Dr. James auf sie wartete. Der weiße Laborkittel der Ärztin war falsch zugeknöpft, ihre Haare waren zerzaust, und sie hatte ein breites, albernes Grinsen auf dem Gesicht.

Averys Zittern verlangsamte sich und hörte dann ganz auf, aber dafür kamen die farbigen Stass-Lichter wieder. Das war kein Problem, weil er sie jederzeit verschwinden lassen konnte. Zeke hatte ihn im Wassertank um ein Haar umgebracht; kurz bevor Avery bewusstlos geworden war, hatte er sogar gedacht, er wäre wirklich tot, aber außerdem hatte der Tank etwas mit ihm gemacht. Er wusste, dass das schon mit ein paar anderen Kindern geschehen war, aber bei ihm war es offenbar stärker. Dass er jetzt zugleich TK- und TP-Fähigkeiten hatte, war noch das wenigste. Gladys hatte wegen Luke Angst vor dem, was passieren konnte, aber Avery hatte so eine Ahnung, dass er dafür sorgen konnte, dass sie vor ihm, Avery, Angst hatte, wenn er wollte.

Jetzt war allerdings nicht der richtige Zeitpunkt.

»Hallo, junger Mann!«, rief Dr. James. Sie hörte sich wie eine Politikerin in einem Wahlwerbespot an, und ihre Gedanken flogen durch die Gegend wie Papierfetzen im Sturm.

Mit der ist wirklich etwas nicht in Ordnung, dachte Avery. Wie bei einer Strahlenvergiftung, nur dass die in ihrem Gehirn anstatt in den Knochen sitzt.

»Hallo«, sagte er.

Dr. Jackson, allgemein Jeckle genannt, warf den Kopf zurück und lachte, als ob das Hallo die Pointe des lustigsten Witzes wäre, den sie je gehört hatte. »Wir haben dich nicht so bald erwartet, aber willkommen, willkommen! Einige von deinen Freunden sind schon hier!«

Das weiß ich, dachte Avery, und ich kann’s nicht erwarten, sie zu sehen. Und die werden sich freuen, mich wiederzusehen.

»Zuerst müssen wir dir aber mal die nassen Sachen ausziehen.« Jeckle warf Gladys einen vorwurfsvollen Blick zu, aber die war damit beschäftigt, sich die Arme zu kratzen, um das Kribbeln loszuwerden, das ihr über die Haut lief (oder knapp darunter). Viel Glück dabei, dachte Avery. »Ich lasse dich von Henry zu deinem Zimmer bringen. Wir haben nette, rot gekleidete Pfleger hier. Kannst du alleine gehen?«

»Ja.«

Jeckle lachte wieder mit zurückgelegtem Kopf und zuckender Kehle. Avery erhob sich aus dem Rollstuhl und warf Gladys einen langen, abschätzenden Blick zu. Sie hörte auf, sich zu kratzen, und jetzt war sie es, die zitterte. Nicht weil sie durchnässt war. Auch nicht weil ihr kalt war. Es war wegen ihm. Sie spürte ihn, und das mochte sie gar nicht.

Aber Avery mochte es. Es war irgendwie großartig.

8

Weil im Privatzimmer von Mr. Jackson kein zweiter Stuhl stand, schaffte Tim einen vom Büro herein. Er überlegte, ob er sich direkt vor den Jungen setzen sollte, aber das erinnerte ihn zu sehr an die Anordnung in einem polizeilichen Verhörraum. Deshalb schob er den Stuhl neben den Sessel, um neben dem Jungen zu sitzen wie neben einem Freund, mit dem man gerade die gemeinsame Lieblingssendung anschaute. Nur dass der Fernseher von Mr. Jackson ausgeschaltet war.

»Also, Luke«, sagte Tim. »Laut Annie wurdest du gekidnappt, aber Annie ist nicht immer… ganz im Bilde, sagen wir mal.«

»In der Hinsicht ist sie durchaus im Bilde«, sagte Luke.

»Na gut. Wo wurdest du gekidnappt?«

»In Minneapolis. Sie haben mich betäubt. Und sie haben meine Eltern umgebracht.« Er wischte sich mit der Hand über die Augen.

»Dann haben die Kidnapper dich von Minneapolis nach Maine geschafft. Wie haben sie das getan?«

»Das weiß ich nicht, ich war bewusstlos. Wahrscheinlich mit einem Flugzeug. Ich bin wirklich aus Minneapolis. Das können Sie überprüfen, Sie müssen bloß bei meiner Schule anrufen. Das ist die Broderick-Schule für außergewöhnliche Kinder.«

»Das heißt, du bist ein ziemlich heller Junge.«

»Ja, klar«, sagte Luke ohne Stolz in der Stimme. »Ich bin ein heller Junge, aber momentan bin ich auch ein sehr hungriger Junge. Seit anderthalb Tagen hab ich außer ’nem Hamburger und einer Apfeltasche nichts zu essen gekriegt. Jedenfalls glaub ich, es sind anderthalb Tage. Ich hab jedes Zeitgefühl verloren. Die Sachen hat mir ein Mann gegeben, der Mattie heißt.«

»Sonst nichts?«

»Ein Stück Donut«, sagte Luke. »Aber das war nicht besonders groß.«

»Menschenskind, dann wollen wir dir aber schnell was zu essen besorgen.«

»Ja«, sagte Luke, um dann hinzuzufügen: »Bitte.«

Tim zog sein Handy aus der Tasche. »Wendy? Hier ist Tim. Ich frag mich, ob du mir wohl einen Gefallen tun könntest.«

9

Averys Zimmer im Hinterbau war völlig kahl und das Bett praktisch eine Pritsche. An den Wänden hingen keine Nickelodeon-Poster, und auf der Kommode standen keine Actionfiguren, mit denen er spielen konnte. Das machte Avery nichts aus. Er war erst zehn, aber jetzt musste er erwachsen sein, und Erwachsene beschäftigten sich nicht mit Spielzeugsoldaten.

Aber allein schaffe ich es nicht, dachte er.

Er erinnerte sich an Weihnachten, letztes Jahr. Es tat weh, daran zu denken, aber er tat es trotzdem. Er hatte die Lego-Burg bekommen, die er sich gewünscht hatte, aber als alle Teile ausgebreitet vor ihm lagen, wusste er nicht, wie er aus dem Durcheinander den wunderbaren Bau auf der Schachtel zustande bringen sollte mit den Türmchen und Toren und der Zugbrücke, die man hoch- und runterklappen konnte. Da war er in Tränen ausgebrochen. Worauf sich sein Vater (der jetzt tot war, da war er sich sicher) neben ihn gekniet und gesagt hatte: Wir schauen uns die Bauanleitung an und machen es gemeinsam. Einen Schritt nach dem anderen. Was sie getan hatten. Bewacht von seinen Actionfiguren, hatte die Burg auf der Kommode in seinem Zimmer gestanden, und als er im Vorderbau aufgewacht war, war sie das Einzige gewesen, was sie nicht hatten kopieren können.

Jetzt lag er mit trockenen Anziehsachen auf der Pritsche in diesem öden Zimmer und dachte daran, wie toll die Burg ausgesehen hatte, als sie fertig war. Außerdem spürte er das Summen. Hier im Hinterbau war es dauernd da. In den Zimmern war es laut, auf den Fluren lauter und am allerlautesten hinter der Cafeteria und dem Pausenraum der Pfleger, wo eine doppelt verschlossene Tür in den hinteren Teil des Hinterbaus führte. Diesen Teil bezeichneten die Pfleger oft als Rübenacker, weil die Kinder, die dort lebten (falls man das als Leben bezeichnen konnte) nur noch wie Rüben dahinvegetierten. Aber offenbar waren sie nützlich. So wie die Hülle eines Schokoriegels nützlich war, bis man sie sauber abgeleckt hatte. Dann konnte man sie wegwerfen.

Die Türen hier waren mit Schlössern versehen. Avery konzentrierte sich und versuchte, sein Schloss zu öffnen. Nicht dass er irgendwo anders hätte hingehen können als auf den Flur mit seinem blauen Teppichboden, aber es war ein interessantes Experiment. Er spürte, wie der Schließzylinder versuchte, sich zu drehen, aber ganz schaffte Avery es nicht. Ob George Iles wohl dazu in der Lage wäre, weil George schon von Anfang an stark TK-pos gewesen war? Wahrscheinlich ja, wenn man ihm ein bisschen dabei half. Wieder dachte er daran, was sein Vater gesagt hatte: Wir machen es gemeinsam. Einen Schritt nach dem anderen.

Um fünf Uhr abends ging die Tür auf, und ein rot gekleideter Pfleger streckte sein finsteres Gesicht herein. Hier trugen die Pfleger keine Namensschildchen, doch so etwas brauchte Avery gar nicht. Das hier war Jacob, bei seinen Kollegen als Jake the Snake oder kurz Schlange bekannt. Er war früher bei der Navy gewesen. Du hast versucht, zu den SEALs zu kommen, dachte Avery, aber das hast du nicht geschafft. Sie haben dich rausgeschmissen. Schätzungsweise hat es dir zu viel Spaß gemacht, anderen Leuten wehzutun.

»Abendessen«, sagte Jake the Snake. »Wenn du was willst, komm mit. Wenn nicht, sperre ich dich bis zu den Filmen wieder ein.«

»Ich will was.«

»In Ordnung. Magst du Filme, Kleiner?«

»Ja«, sagte Avery und dachte: Aber die werde ich nicht mögen. Mit diesen Filmen werden Menschen getötet.

»Dann werden sie dir gefallen«, sagte die Schlange. »Am Anfang gibt’s immer einen Zeichentrickfilm. Die Cafeteria ist da hinten links. Und hör auf rumzutrödeln.« Jake gab ihm einen saftigen Klaps auf den Hintern, um ihn anzutreiben.

In der Cafeteria – einem öden Raum, der im selben fahlen Grün getüncht war wie der Flur im Vorderbau – saßen etwa ein Dutzend Kinder und aßen etwas, was nach Rindfleischeintopf aus der Dose roch. Averys Mutter hatte das mindestens zweimal pro Woche aufgetischt, weil seine kleine Schwester es mochte. Die war wahrscheinlich auch tot. Die meisten Kinder sahen wie Zombies aus, und es gab eine Menge Geschlabber. Ein Mädchen rauchte beim Essen eine Zigarette. Avery sah, wie sie die Asche in ihren Teller klopfte, sich mit leerem Blick umsah und dann wieder daraus aß.

Avery hatte Kalisha schon unten im Tunnel gespürt, und jetzt sah er sie an einem Tisch ganz hinten sitzen. Er musste sich bezähmen, dass er nicht zu ihr lief und ihr die Arme um den Hals warf. Das hätte Aufmerksamkeit erregt, was Avery nicht wollte. Ganz im Gegenteil. Neben Sha saß Helen Simms, deren Hände schlaff links und rechts neben ihrem Teller lagen. Sie hatte den Blick an die Decke gerichtet. Ihre Haare, schrill gefärbt, als sie im Vorderbau aufgetaucht war, hingen ihr jetzt matt, verklebt und wesentlich dünner ums Gesicht. Kalisha fütterte sie oder versuchte es wenigstens.

»Komm schon, Helen, komm schon, Knuffel, auf geht’s!« Es gelang Sha, Helen einen Löffel Eintopf in den Mund zu befördern. Als ein brauner Brocken undefinierbares Fleisch die Flucht über die Unterlippe zu ergreifen versuchte, schob sie ihn mit dem Löffel zurück. Diesmal schluckte Helen, und Sha lächelte. »Brav, so ist’s gut!«

Sha, dachte Avery. He, Kalisha!

Sie blickte sich verblüfft um, sah ihn und strahlte über das ganze Gesicht.

Avester!

Ein brauner Soßenfaden rann Helen am Kinn herab. Nicky, der auf ihrer anderen Seite saß, griff nach einer Papierserviette, um ihn abzuwischen. Dann sah auch er Avery, grinste und hob den Daumen. George, der Nicky direkt gegenübersaß, drehte sich um.

»He, checkt das aus, da ist der Avester«, sagte George. »Sha dachte schon, du kommst bestimmt bald. Willkommen in unserem glücklichen Zuhause, kleiner Held!«

»Wenn du was essen willst, hol dir ’nen Teller«, sagte eine Frau mit versteinertem Gesicht, die eine rote Uniform trug. Wie Avery wusste, hieß sie Corinne und verteilte gern Ohrfeigen. Das verschaffte ihr ein gutes Gefühl. »Ich muss früh Schluss machen, weil heute Filmabend ist.«

Avery nahm sich einen Teller und löffelte sich etwas Eintopf darauf. Ja, es war tatsächlich welcher aus der Dose. Er legte eine Scheibe schwammiges Weißbrot darauf, dann trug er seine Mahlzeit zu seinen Freunden und setzte sich. Sha strahlte ihn an. Sie hatte heute schlimmes Kopfweh, aber sie strahlte trotzdem, weshalb er am liebsten zugleich gelacht und geweint hätte.

»Iss alles auf, Alter«, sagte Nicky, ohne den eigenen Rat zu befolgen; sein Teller war mehr als halb voll. Er hatte blutunterlaufene Augen und rieb sich ständig die linke Schläfe. »Ich weiß, es sieht wie Kotze aus, aber du solltest die Filme nicht mit leerem Magen sehen.«

Haben sie Luke geschnappt, fragte Sha in Gedanken.

Nein. Die haben alle brutal Angst.

Gut. Sehr gut!

Kriegen wir vor dem Film Spritzen, die wehtun?

Heute Abend nicht, glaube ich, das ist ein ziemlich neuer, wir haben ihn erst einmal gesehen.

George betrachtete die beiden mit wissendem Blick. Er hatte alles mitgehört. Früher im Vorderbau war er nur TK gewesen, aber jetzt war er mehr. Das waren sie alle. Durch den Aufenthalt im Hinterbau wurde das, was man war, verstärkt, aber mit Avery war durch den Wassertank wesentlich mehr geschehen. Er wusste über allerhand Bescheid. Über die Tests im Vorderbau zum Beispiel. Viele waren Nebenprojekte von Dr. Hendricks, aber die Injektionen hatten einen bestimmten Zweck. Manche wirkten drosselnd, aber die hatten sie Avery nicht verabreicht. Sie hatten ihn direkt in den Wassertank gesteckt, wo er ans Tor des Todes gelangt war, wenn er es nicht gar durchschritten hatte, und deshalb konnte er die Stass-Lichter beinahe jederzeit erzeugen, wenn er wollte. Dazu brauchte er weder die Filme, noch musste er ein Teil des Gruppendenkens sein. Dieses Gruppendenken zu erzeugen war die Hauptfunktion des Hinterbaus.

Aber trotzdem war er erst zehn Jahre alt. Was ein Problem darstellte.

Während er zu essen begann, tastete er nach Helen und freute sich, dass er sie noch erreichte. Er mochte Helen. Die war nicht wie Frieda, dieses Miststück. Auch ohne Friedas Gedanken zu lesen, wusste er, dass sie ihn hinterhältig dazu gebracht hatte, ihr alles zu verraten, um ihn dann zu verpfeifen – wer sonst hätte das wohl getan haben können?

Helen?

Nein. Sprich nicht mit mir, Avery. Ich muss mich…

Der Rest ging verloren, aber Avery glaubte, verstanden zu haben. Sie musste sich verstecken. In ihrem Kopf war ein mit Schmerzen gefüllter Schwamm, und sie versteckte sich davor, so gut sie konnte. Eigentlich war es vernünftig, sich vor Schmerzen zu verstecken. Das Problem war nur, dass der Schwamm immer weiter anschwoll. Und zwar so weit, bis sie sich nirgendwo mehr verstecken konnte, und dann würde er sie an ihre Schädelknochen quetschen wie eine Fliege an die Wand. Worauf sie erledigt sein würde. Als Helen zumindest.

Avery griff in ihre Gedanken hinein. Das war leichter, als das Schloss seiner Zimmertür zu öffnen, denn während er immer schon stark TP gewesen war, war TK neu für ihn. Er war noch unbeholfen und musste vorsichtig sein. Heilen konnte er Helen nicht, aber er glaubte, es ihr erleichtern und sie ein bisschen abschirmen zu können. Das würde nicht nur gut für Helen sein, sondern für sie alle… weil sie jede Hilfe brauchten, die sie bekommen konnten.

Tief im Kopf von Helen fand er den Kopfwehschwamm und sagte ihm, er solle aufhören, sich auszubreiten. Er solle verschwinden. Das wollte der Schwamm nicht. Avery drückte dagegen. Vor ihm tauchten die farbigen Lichter auf, wirbelten langsam umher wie Sahne, die in einer Tasse Kaffee verrührt wurde. Avery drückte stärker. Der Schwamm war formbar, aber trotzdem fest.

Kalisha. Hilf mir.

Wobei? Was tust du gerade?

Er teilte es ihr mit, worauf sie sich zu ihm gesellte, zuerst noch zaghaft. Dann drückten sie gemeinsam. Der Kopfwehschwamm gab ein bisschen nach.

George, sendete Avery. Nicky. Helft uns!

Nicky war dazu in der Lage, wenn auch nur ein bisschen. George reagierte zuerst verwirrt und machte dann mit, zog sich jedoch gleich wieder heraus. »Ich kann nicht«, flüsterte er. »Es ist zu dunkel.«

Mach dir nichts aus der Dunkelheit! Das war Sha. Ich glaube, wir können Helen helfen!

George machte wieder mit. Zwar zögernd, und er war auch keine große Hilfe, aber immerhin war er dabei.

Es ist bloß ein Schwamm, erklärte Avery den anderen. Seinen Teller mit Eintopf sah er nicht mehr, nur noch die im Takt seines Herzschlags wirbelnden Stass-Lichter. Er kann euch nicht wehtun. Drückt dagegen! Alle zusammen!

Sie versuchten es, und tatsächlich geschah etwas. Helen wandte den Blick von der Decke ab und richtete ihn auf Avery.

»Ach, seht mal, wer da gekommen ist«, sagte sie mit rostiger Stimme. »Meine Kopfschmerzen sind auch weniger geworden. Gott sei Dank.« Sie fing an, selbst zu essen.

»Heilige Scheiße«, sagte George. »Das waren tatsächlich wir!«

Nicky grinste und hob die Hand. »Klatsch ab, Avery!«

Das tat Avery, aber sein gutes Gefühl verschwand zusammen mit den Lichtern. Helens Kopfweh würde zurückkehren, und jedes Mal wenn sie einen Film sah, würde es schlimmer werden. Das von Sha ebenso und das von Nicky. Sein eigenes auch. Irgendwann würden sie alle sich dem Summen anschließen, das vom Rübenacker kam.

Aber vielleicht… wenn sie sich alle zusammentaten in ihrem eigenen Gruppendenken… und wenn es eine Möglichkeit gab, einen Schild zu erzeugen…

Sha.

Sie sah ihn an. Sie lauschte. Das taten auch Nicky und George, zumindest so gut sie konnten. Bei beiden war es so, als wären sie teilweise taub. Aber Sha hörte alles. Sie schob sich einen Bissen Eintopf in den Mund, legte den Löffel weg und schüttelte den Kopf.

Wir können nicht fliehen, Avery. Wenn du darauf hoffst, vergiss es lieber.

Ich weiß, dass wir das nicht können. Aber irgendwas müssen wir trotzdem tun. Wir müssen Luke helfen, und wir müssen uns selbst helfen. Ich sehe die Einzelteile, aber ich weiß nicht, wie man sie zusammenfügt. Ich weiß nicht…

»Du weißt nicht, wie man die Burg baut«, sagte Nicky mit leiser, nachdenklicher Stimme. Helen hatte aufgehört zu essen und blickte wieder an die Decke. Auch der Kopfwehschwamm wuchs bereits wieder; er schwoll an und verzehrte dabei weiter ihr Gehirn. Nicky steckte ihr einen weiteren Bissen in den Mund.

»Zigaretten!«, rief ein Pfleger und hielt eine Packung in die Höhe. Hier im Hinterbau konnte man offenbar umsonst rauchen. Es wurde sogar gefördert. »Wer will vor der Vorführung eine Zigarette?«

Wir können nicht fliehen, dachte Avery, ihr müsst mir also helfen, eine Burg zu bauen. Eine Mauer. Einen Schild. Unsere Burg. Unsere Mauer. Unseren Schild.

Sein Blick wanderte von Sha über Nicky zu George und wieder zurück zu Sha, die er anflehte, ihn zu verstehen. Ihr Blick hellte sich auf.

Sie kapiert es, dachte Avery. Gott sei Dank, sie kapiert es.

Sha wollte etwas sagen, machte jedoch den Mund wieder zu, weil der Pfleger – er hieß Clint – direkt an ihnen vorbeikam. »Zigaretten!«, blökte er. »Wer will vor der Vorführung eine?«

Als er fort war, sagte sie: »Wenn wir nicht fliehen können, müssen wir eben hier die Kontrolle übernehmen.«

10

Die anfänglich frostige Haltung von Deputy Wendy Gullickson gegenüber Tim hatte sich seit ihrem ersten Date in dem mexikanischen Restaurant in Hardeeville ins Gegenteil verwandelt. Inzwischen waren die beiden offiziell ein Paar, und als Wendy mit einer großen Papiertüte im Hinterzimmer von Mr. Jackson erschien, gab sie Tim zuerst einen Kuss auf die Wange und dann gleich einen zweiten auf den Mund.

»Das ist Deputy Gullickson«, sagte Tim. »Aber du kannst Wendy zu ihr sagen, wenn ihr das recht ist.«

»Ist es«, sagte Wendy. »Und wie heißt du?«

Luke sah Tim an, der ihm zunickte.

»Luke Ellis.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Luke. Da hast du dir ja einen anständigen blauen Fleck geholt.«

»Ja, Ma’am. Hatte einen Zusammenstoß.«

»Ja, Wendy. Außerdem kannst du uns gerne duzen. Was ist mit dem Verband an deinem Ohr? Hast du dich irgendwie geschnitten?«

Das brachte ihn zum Lächeln, weil es die reine Wahrheit war. »So in der Richtung.«

»Tim hat gesagt, dass du hungrig bist, daher hab ich dir was aus dem Lokal an der Hauptstraße geholt. Ich hab Coca-Cola, Hähnchenteile, Hamburger und Pommes. Was willst du haben?«

»Alles«, sagte Luke, was wiederum Wendy und Tim zum Lachen brachte.

Sie sahen zu, wie er zwei Hähnchenkeulen verschlang, dann einen Hamburger, den Großteil der Fritten und schließlich einen anständigen Becher Reispudding. Tim, der sein Mittagessen versäumt hatte, verzehrte die restlichen Hähnchenteile und trank eine Cola.

»Geht’s dir jetzt besser?«, fragte Tim, als alles aufgegessen war.

Anstatt etwas zu erwidern, brach Luke in Tränen aus.

Wendy nahm ihn in die Arme und strich ihm über die Haare, wobei sie einige von den Knäueln mit den Fingern auflöste. Als er schließlich nur noch schluchzte, hockte Tim sich neben ihn.

»Tut mir leid«, sagte Luke. »Tut mir echt total leid.«

»Ist schon okay. Das darfst du.«

»Es ist, weil ich mich wieder lebendig fühle. Ich weiß zwar nicht, wieso mich das zum Heulen bringt, aber es ist so.«

»Ich glaube, das nennt man Erleichterung«, sagte Wendy.

»Luke behauptet, dass seine Eltern ermordet wurden und dass man ihn gekidnappt hat«, sagte Tim.

Wendy riss die Augen auf.

»Das ist keine Behauptung!« Luke setzte sich in Mr. Jacksons Sessel auf. »Das ist die Wahrheit!«

»Vielleicht hab ich mich blöd ausgedrückt. Erzähl uns deine Geschichte, Luke.«

Darüber dachte Luke nach. »Könntet ihr erst einmal etwas für mich tun?«, fragte er dann.

»Wenn es machbar ist«, sagte Tim.

»Schaut ihr bitte mal raus, ob der andere Typ noch da ist?«

»Norbert Hollister?« Tim grinste. »Dem hab ich gesagt, er soll verschwinden. Inzwischen ist er wahrscheinlich drüben bei Zoney’s, um sich Lotterielose zu kaufen. Er ist überzeugt, dass er der nächste Millionär von South Carolina wird.«

»Schau trotzdem nach.«

Tim sah Wendy an, die mit den Achseln zuckte. »Ich mach’s schon«, sagte sie.

Eine Minute später kam sie stirnrunzelnd wieder. »Der sitzt tatsächlich auf dem Schaukelstuhl drüben vor dem Bahnhof. Mit einer Zeitschrift in den Händen.«

»Ich glaube, er ist ein Onkel«, sagte Luke mit leiser Stimme. »Solche Onkel hatte ich schon in Richmond und Wilmington. In Sturbridge vielleicht auch. Ich hatte keine Ahnung, dass ich so viele Onkel hab.« Er lachte. Es war ein blechernes Geräusch.

Tim stand auf und trat gerade rechtzeitig vor die Tür, dass er sehen konnte, wie Norbert Hollister sich erhob und in Richtung seines klapprigen Motels davonwatschelte. Dabei blickte er sich nicht um. Tim kehrte zu Luke und Wendy zurück.

»Jetzt ist er weg, Junge.«

»Vielleicht, um die anzurufen«, sagte Luke. Er stieß mit dem Finger nach seiner leeren Coladose. »Ich lass mich von denen nicht zurückbringen. Ich hab gedacht, ich muss dort sterben.«

»Wo?«, fragte Tim.

»Im Institut.«

»Fang mal am Anfang an, und erzähl uns alles«, sagte Wendy.

Das tat Luke.

11

Als er fertig war – es dauerte beinahe eine halbe Stunde, und beim Erzählen leerte Luke eine zweite Cola–, blieb es einen Moment still. Dann sagte Tim ganz leise: »Das ist nicht möglich. Allein schon, weil so viele Entführungen Verdacht erregen würden.«

Darüber schüttelte Wendy den Kopf. »Du warst doch selbst bei der Polizei, da solltest du es besser wissen. Vor ein paar Jahren kam eine Studie raus, dass in den Vereinigten Staaten jedes Jahr fast eine halbe Million Kinder verschwinden. Eine ziemlich erstaunliche Zahl, meinst du nicht?«

»Ich weiß, dass die Zahlen hoch sind, in meinem letzten Dienstjahr unten in Sarasota County sind dort knapp fünfhundert Kinder als vermisst gemeldet worden, aber die Mehrzahl – die große Mehrzahl – taucht von selbst wieder auf.« Tim dachte an Robert und Roland Bilson, die Zwillinge, die er in den frühen Morgenstunden auf dem Weg zum Rummelplatz in Dunning erwischt hatte.

»Damit bleiben immer noch Tausende«, sagte Wendy. »Zehntausende.«

»Zugegeben, aber wie viele von denen, die verschwinden, hinterlassen ermordete Eltern?«

»Keine Ahnung. Ich bezweifle, dass da jemand eine Studie gemacht hat.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Luke zu, der das Gespräch wie ein Tennisspiel mit den Augen verfolgt hatte. Seine Hand steckte in der Hosentasche, wo er den USB-Stick betastete, als wäre der eine glückbringende Hasenpfote.

»Manchmal lassen die es wahrscheinlich nach einem Unfall aussehen«, sagte er.

Tim malte sich unwillkürlich aus, dass der Junge da mit Orphan Annie in ihrem Zelt wohnte. Dann würden die zwei gemeinsam nachts diesem Spinner im Radio zuhören. Wie er über die Verschwörung faselte. Und über diejenigen, die dafür angeblich verantwortlich waren.

»Du sagst, du hast dir das Ohrläppchen abgeschnitten, weil da ein Ortungschip drin war«, sagte Wendy. »Ist das wirklich wahr, Luke?«

»Ja.«

Wendy schien nicht zu wissen, wie sie weitermachen sollte. In der Miene, mit der sie Tim anblickte, stand geschrieben: Übernimm jetzt du.

Tim griff nach Lukes leerer Coladose und warf sie in die Papiertüte von Bev’s, die jetzt nur noch Einwickelpapier und Hähnchenknochen enthielt. »Du sprichst von einer geheimen Einrichtung, die mitten in unserem Land ein geheimes Programm betreibt, und das seit weiß Gott wie vielen Jahren. Früher wäre so etwas eventuell möglich gewesen, nehme ich an – theoretisch–, aber doch nicht im Computerzeitalter. Heute werden im Internet selbst die größten Staatsgeheimnisse von dieser skrupellosen Website namens…«

»Wikileaks, die kenne ich schon.« Luke klang ungeduldig. »Ich weiß, wie schwer es ist, Geheimnisse zu bewahren, und ich weiß, wie verrückt sich das alles anhört. Allerdings hatten die Deutschen im Zweiten Weltkrieg Konzentrationslager, in denen sie es geschafft haben, Millionen von Juden umzubringen. Außerdem Zigeuner und Schwule.«

»Aber die Leute, die in der Nähe von den Lagern wohnten, wussten, was da vor sich ging«, sagte Wendy. Sie versuchte, seine Hand zu ergreifen.

Luke entzog sich ihr. »Und ich wette eine Million Dollar, dass die Leute in Dennison River Bend, das ist der nächste Ort von dort aus, durchaus wissen, dass da irgendwas vor sich geht. Etwas Schlimmes. Bloß nicht, was genau, weil sie das nicht wissen wollen. Wieso sollten sie auch? Das Institut hält den Ort am Laufen, und außerdem: Wer würde schon glauben, dass so was möglich ist? Schließlich gibt es noch heute Leute, die nicht glauben, dass die Deutschen diese ganzen Juden umgebracht haben. Das nennt man Leugnen.«

Tja, dachte Tim, der Junge ist ganz schön intelligent. Die Geschichte, die er zum Verschleiern von dem, was ihm wirklich zugestoßen ist, erfunden hat, ist zwar durchgeknallt, aber er hat Köpfchen.

»Wollen wir mal sehen, ob ich alles richtig verstanden habe«, sagte Wendy in sanftem Ton, genau wie Tim. Luke begriff, was das zu bedeuten hatte. Dass man so mit jemand sprach, der psychisch labil war – das zu kapieren, musste man kein verdammtes Wunderkind sein. Er war enttäuscht, wenn auch nicht überrascht. Was hätte er sonst erwarten sollen? »Diese Leute spüren irgendwie Kinder auf, die Telepathie beherrschen und etwas, was du als Teleki-Dingsbums bezeichnest…«

»Telekinese. Normalerweise ist so ein Talent ziemlich schwach, selbst Kinder, die TK-pos sind, haben nicht viel davon. Aber die Ärzte im Institut verstärken es. Spritze für Blitze, so nennen sie es, wir alle nennen es so, bloß das die Blitze eigentlich die Stass-Lichter sind, von denen ich euch erzählt habe. Die Spritzen, von denen die Lichter ausgelöst werden, sollen das, was wir haben, stärker machen. Ich glaube, manche von den anderen Spritzen sind dazu da, damit wir länger durchhalten. Oder…« Das war etwas, was ihm gerade erst eingefallen war. »Oder sie sollen verhindern, dass wir zu viel davon kriegen. Wodurch wir gefährlich für die Leute da werden würden.«

»Wie Impfungen?«, fragte Tim.

»Könnte man so sagen, ja.«

»Schon bevor man dich gekidnappt hat, konntest du mit deinen Gedanken Gegenstände bewegen«, sagte Tim in seinem sanften Ich-spreche-mit-einem-Irren-Ton.

»Kleine Gegenstände.«

»Und seit der Nahtoderfahrung im Wassertank kannst du außerdem Gedanken lesen.«

»Schon vorher. Der Tank… hat das verstärkt. Aber ich bin trotzdem nicht…« Er massierte sich den Nacken. Es war schwer zu erklären, und die Stimmen der beiden da, so leise und so ruhig, gingen ihm allmählich auf die Nerven, und die waren ohnehin schon angespannt. Wenn das so weiterging, würde er bald so durchgeknallt sein, wie die beiden es vermuteten. Dennoch musste er es weiter versuchen. »Aber ich bin trotzdem nicht besonders stark darin. Das ist niemand von uns, außer vielleicht Avery. Der ist unglaublich stark.«

»Also, noch mal von vorne«, sagte Tim. »Diese Leute kidnappen Kinder, die schwache paranormale Kräfte haben, spritzen ihnen mentale Anabolika und benutzen sie dann dazu, bestimmte Personen umzubringen. Wie diesen Politiker, der Präsidentschaftskandidat war. Mark Berkowitz.«

»Genau.«

»Wieso dann nicht Bin Laden?«, sagte Wendy. »Ich könnte mir denken, dass der ein logisches Ziel für so ein… so ein mentales Attentat gewesen wäre.«

»Das weiß ich nicht«, sagte Luke. Er klang erschöpft. Der Bluterguss an seiner Wange schien mit jeder Minute farbiger zu werden. »Ich hab keine Ahnung, wie sie ihre Ziele auswählen. Einmal hab ich mit meiner Freundin Kalisha darüber gesprochen. Die hatte auch keine Ahnung.«

»Wieso heuert diese mysteriöse Organisation nicht einfach Killer an? Wäre das nicht einfacher?«

»Das sieht bloß in Filmen einfach aus«, sagte Luke. »Im echten Leben scheitert so ein Killer meistens, oder er wird erwischt. Die Typen, die Bin Laden getötet haben, sind auch fast erwischt worden.«

»Demonstrier es uns doch mal«, sagte Tim. »Ich denke gerade an eine Zahl. Sag mir, an welche.«

Luke versuchte es. Er konzentrierte sich und wartete darauf, dass die farbigen Punkte erschienen, doch das taten sie nicht. »Ich schaffe es nicht.«

»Dann verschieb doch was. Ist das nicht dein eigentliches Talent, also das, weshalb man dich gekidnappt hat?«

Wendy schüttelte den Kopf. Tim war kein Telepath, wusste jedoch, was sie dachte: Hör auf, ihm zuzusetzen; er ist verwirrt, desorientiert und auf der Flucht. Aber wenn sie es schafften, die aberwitzige Geschichte des Jungen zu widerlegen, bekamen sie vielleicht etwas Wahres zu hören und hatten damit einen Ansatzpunkt.

»Wie wär’s mit der Papiertüte da? Jetzt ist kein Essen mehr drin, also ist sie leicht, da müsstest du sie doch verschieben können.«

Luke richtete den Blick auf die Tüte, während sich die Falten in seiner Stirn vertieften. Einen Moment glaubte Tim etwas zu spüren – ein Flüstern, das über seine Haut strich wie ein leichter Windhauch–, aber dann war es wieder weg, und die Papiertüte bewegte sich nicht. Natürlich nicht.

»Okay«, sagte Wendy. »Ich glaube, das reicht vor…«

»Ich weiß, dass ihr beide ein Paar seid«, sagte Luke. »Das weiß ich immerhin.«

Tim grinste. »Nicht besonders eindrucksvoll, Kleiner. Du hast ja gesehen, wie sie mich geküsst hat, als sie hereingekommen ist.«

Luke sah Wendy an. »Und du willst bald wegfahren. Um deine Schwester zu besuchen, stimmt’s?«

Sie riss die Augen auf. »Wie…«

»Fall nicht drauf rein«, sagte Tim… wenn auch sanft. »Das ist ein alter Trick von Wahrsagern – die begründete Vermutung. Wobei ich zugeben muss, dass der Junge den gut beherrscht.«

»Worauf könnte ich wohl eine Vermutung über Wendys Schwester gründen?«, fragte Luke, allerdings ohne große Hoffnung. Er hatte seine Karten nacheinander ausgespielt, und jetzt hatte er nur noch eine einzige in der Tasche. Außerdem war er unglaublich müde. Das bisschen Schlaf im Zug war unruhig gewesen und durchsetzt von schlimmen Träumen. Hauptsächlich von welchen über den Wassertank.

»Können wir dich mal einen Moment allein lassen?«, fragte Tim. Ohne auf eine Antwort zu warten, zog er Wendy durch die Tür ins Büro. Dort sprach er kurz mit ihr. Sie nickte und ging nach draußen, wobei sie ihr Handy aus der Tasche zog. Tim kam zurück. »Ich glaube, wir bringen dich am besten erst mal zur Station.«

Zuerst dachte Luke, es wäre von der Bahnstation die Rede. Dass Tim ihn in einen neuen Güterzug setzen wollte, damit er und seine Freundin sich nicht mit dem ausgerissenen Jungen und seiner irren Geschichte beschäftigen mussten. Dann wurde ihm klar, dass Tim etwas anderes meinte.

Na und, dachte Luke. Mir war schon immer klar, dass ich irgendwo in einer Polizeistation landen werde. Und vielleicht ist eine kleine besser als eine große, wo sie massenhaft Leute – Kriminelle – an der Backe haben.

Allerdings hielten die beiden ihn für paranoid, was diesen Hollister anging, und das war nicht gut. Vorläufig musste er hoffen, dass sie recht hatten und Hollister einfach irgendein Typ war. Sie hatten sogar wahrscheinlich recht. Schließlich konnte das Institut unmöglich überall Leute postiert haben, oder?

»Okay, aber zuerst muss ich euch was erzählen und euch was zeigen.«

»Nur zu«, sagte Tim. Er beugte sich vor und blickte Luke aufmerksam ins Gesicht. Vielleicht will er mich bloß aufmuntern, weil ich so neben der Spur bin, dachte Luke, aber wenigstens hört er zu, und das ist wohl das Beste, was ich im Moment erwarten kann.

»Wenn die rauskriegen, dass ich hier bin, kommen sie mich holen. Wahrscheinlich bewaffnet. Weil sie fürchterliche Angst haben, dass jemand mir glauben könnte.«

»Zur Kenntnis genommen«, sagte Tim. »Aber wir haben eine ganz anständige kleine Polizeitruppe hier, Luke. Ich glaube, da bist du in Sicherheit.«

Du hast ja keine Ahnung, mit wem du es zu tun kriegen könntest, dachte Luke, aber er konnte jetzt nicht lange rumtun, um Tim zu überzeugen. Dazu war er einfach zu erschöpft. Wendy kam wieder und nickte Tim zu. Auch darum kümmerte sich Luke nicht, weil er zu erschöpft war.

»Die Frau, die mir bei der Flucht aus dem Institut geholfen hat, hat mir zwei Sachen gegeben«, sagte er. »Das eine war das Messer, mit dem ich mir das Ohrläppchen mit dem Chip abgeschnitten habe. Das andere ist das hier.« Er zog den USB-Stick aus der Hosentasche. »Ich weiß nicht, was drauf ist, aber ich glaube, ihr solltet es euch ansehen, bevor ihr irgendetwas anderes unternehmt.«

Er reichte Tim den Stick.

12

Die Insassen des Hinterbaus – genauer gesagt von dessen vorderem Teil, denn die achtzehn, die sich derzeit auf dem Rübenacker aufhielten, blieben hinter ihrer verschlossenen Tür und summten vor sich hin – hatten zwanzig Minuten Freizeit, bevor der Film anfing. Jimmy Cullum trottete wie ein Zombie mit seinem schmerzenden Kopf in sein Zimmer; Hal, Donna und Len blieben in der Cafeteria sitzen. Die beiden Jungen starrten auf ihren halb gegessenen Nachtisch (heute Abend Schokoladenpudding), Donna betrachtete die glimmende Zigarette in ihrer Hand, als hätte sie vergessen, wie man rauchte.

Kalisha, Nicky, George, Avery und Helen gingen in den Aufenthaltsraum mit seinen hässlichen Discountmöbeln und dem alten Flachbildfernseher, auf dem nur prähistorische Sitcoms wie Verliebt in eine Hexe und Happy Days liefen. Katie Givens saß schon da. Anstatt sich nach den anderen umzublicken, starrte sie auf den derzeit erloschenen Bildschirm. Zu ihrer Überraschung entdeckte Kalisha auch Iris, die besser aussah als an den letzten Tagen. Heiterer.

Kalisha dachte angestrengt nach, was sie tun konnte, weil sie sich ebenfalls besser fühlte als seit Tagen. Was sie gegen Helens Kopfschmerzen unternommen hatten – hauptsächlich war es Avery gewesen, aber sie hatten alle mitgeholfen–, hatte auch etwas gegen ihr eigenes Schädeldröhnen bewirkt. Auch gegen das von Nicky und George, das konnte sie sehen.

Die Kontrolle übernehmen.

Eine ebenso kühne wie beglückende Vorstellung, aber dabei ergaben sich sofort allerhand Fragen. Am offensichtlichsten war die Frage, wie sie das anstellen sollten, wenn mindestens zwölf Pfleger im Dienst waren – an Filmtagen waren es immer mehr. Die zweite Frage lautete, weshalb sie bisher nie daran gedacht hatten.

Ich hab durchaus daran gedacht, teilte Nicky ihr mit. War seine mentale Stimme stärker geworden? Es sah ganz so aus, und auch dabei konnte Avery eine Rolle gespielt haben. Weil der jetzt selbst stärker war. Ich hab schon daran gedacht, als sie mich hierhergebracht haben.

Mehr konnte Nicky nicht rein gedanklich übertragen, weshalb er den Rest direkt in ihr Ohr flüsterte. »Schließlich war ich derjenige, der sich immer schon gewehrt hat, weißt du noch?«

Das stimmte. Nicky, der ständig ein blaues Auge gehabt hatte. Nicky mit seinem malträtierten Mund.

»Wir sind nicht stark genug«, murmelte er. »Selbst hier, selbst nach den Lichtern, haben wir keine besonders großen Kräfte.«

Avery hingegen sah Kalisha mit einem Ausdruck verzweifelter Hoffnung an. Er sandte ihr etwas in ihren Kopf, was jedoch kaum nötig war. Seine Augen sagten bereits alles. Das sind die Einzelteile, Sha. Ich bin mir ziemlich sicher, dass alle vorhanden sind. Hilf mir, sie zusammenzusetzen. Hilf mir, eine Burg zu bauen, in der wir geschützt sind, zumindest eine Weile.

Sie dachte an den alten, verblassten Sticker für Hillary Clinton, der auf der hinteren Stoßstange vom Subaru ihrer Mutter klebte. GEMEINSAM STÄRKER stand darauf, und so lief es natürlich auch hier im Hinterbau. Deshalb mussten sie sich gemeinsam Filme anschauen. Deshalb konnten sie die Leute, die in diesen Filmen gezeigt wurden, über eine Entfernung von mehreren Tausend Meilen erreichen, ja manchmal sogar auf der anderen Seite der Erde. Wenn sie zu fünft (oder zu sechst, falls sie die Kopfschmerzen von Iris auf dieselbe Weise lindern konnten wie die von Helen) in der Lage waren, eine solche vereinte mentale Kraft zu erschaffen, eine Gedankenverschmelzung wie die der Vulkanier in Star Trek, würde das nicht womöglich dazu ausreichen, zu meutern und den Hinterbau unter Kontrolle zu bringen?

»Das ist eine geile Idee, aber ich glaube, eher nicht«, sagte George. Er nahm Kalishas Hand und drückte sie kurz. »Vielleicht schaffen wir es, denen ein bisschen im Kopf herumzuspuken und ihnen gewaltig Angst zu machen, aber sie haben ja die Schockstöcke, und sobald sie einen oder zwei von uns damit erwischt haben, ist das Spiel vorbei.«

Das wollte Kalisha zwar nicht zugeben, aber sie ließ ihn trotzdem wissen, dass er wahrscheinlich recht hatte.

Avery: Einen Schritt nach dem anderen.

»Ich kann nicht hören, was ihr denkt«, sagte Iris. »Ich weiß, dass ihr irgendwas denkt, aber mein Kopf tut immer noch brutal weh.«

Avery: Schauen wir mal, was wir für sie tun können. Wir alle zusammen.

Kalisha sah Nicky an, der nickte. Dann George, der mit den Achseln zuckte und ebenfalls nickte.

Avery führte die anderen in den Kopf von Iris Stanhope wie ein Forscher, der sein Team in eine Höhle führte. Der Schwamm in ihrem Geist war riesengroß. Avery sah ihn blutfarben, weshalb alle ihn so sahen. Sie platzierten sich um das Ding herum und fingen an zu drücken. Der Schwamm gab minimal nach… noch ein bisschen mehr… aber dann wehrte er sich gegen ihre Bemühungen. Als Erster zog George sich zurück, dann Helen (die ohnehin nicht viel hatte beitragen können), dann Nicky und Kalisha. Der Letzte war Avery, der dem Kopfschmerzschwamm verärgert einen mentalen Tritt versetzte, bevor er sich zurückzog.

»Etwas besser, Iris?«, fragte Kalisha ohne große Hoffnung.

»Was soll besser sein?« Die Frage kam von Katie Givens, die sich zu ihnen gesellt hatte.

»Meine Kopfschmerzen«, sagte Iris. »Ja, tatsächlich. Ein bisschen wenigstens.« Sie lächelte Katie an, und für einen Moment war sie wieder das Mädchen, das einmal den Buchstabierwettbewerb von Abilene gewonnen hatte.

Katie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher zu. »Wo sind eigentlich Richie Cunningham und Fonzie?«, fragte sie und massierte sich die Schläfen. »Wenn bloß mein Kopf auch besser wäre, der tut nämlich beschissen weh!«

Ihr seht das Problem, oder, fragte George die anderen.

Kalisha sah es. Ja, sie waren jetzt stärker, aber noch nicht stark genug. Genau wie Hillary Clinton, als sie vor ein paar Jahren als Präsidentin kandidiert hatte. Weil der Typ, der gegen sie angetreten war, und seine Unterstützer das politische Pendant von Schockstöcken eingesetzt hatten.

»Aber mir hat es geholfen«, sagte Helen. »Meine Kopfschmerzen sind fast weg. Das ist wie ein Wunder.«

»Keine Sorge«, sagte Nicky. Dass er sich dabei so niedergeschlagen anhörte, machte Kalisha Angst. »Es kommt schon wieder.«

Corinne, die Pflegerin, die gern Ohrfeigen verteilte, kam herein. Eine Hand hatte sie auf den im Gürtelholster steckenden Schockstock gelegt, als hätte sie etwas gespürt. Hat sie wahrscheinlich auch, dachte Kalisha, aber sie weiß nicht, was.

»Zeit für die Filme«, sagte sie. »Auf geht’s, Leute, hoch den Arsch!«

13

Vor den beiden offenen Türen des Vorführraums standen Jake und Phil (bekannt als Jake the Snake und Phil the Pill). Jeder hatte ein Körbchen in den Händen. Während die Kinder nacheinander eintraten, legten sie alle Zigaretten und Streichhölzer (Feuerzeuge waren im Hinterbau nicht erlaubt) da hinein. Nach der Vorführung bekamen sie das Zeug wieder… falls sie sich daran erinnerten, es sich zu holen. Hal, Donna und Len saßen bereits in der hintersten Reihe und starrten ausdruckslos auf die leere Leinwand. Katie Givens setzte sich in die mittlere Reihe neben Jimmy Cullum, der sich lustlos in der Nase bohrte.

Kalisha, Nicky, George, Helen, Iris und Avery setzten sich nach ganz vorn.

»Willkommen zu einem weiteren Abend voller Spaß und guter Laune«, sagte Nicky mit lauter Ansagerstimme. »Der heutige Streifen, der einen Oscar in der Kategorie Beschissenster Dokumentarfilm gewonnen…«

Phil the Pill knallte ihm eine an den Hinterkopf. »Klappe, du Arschloch! Und viel Vergnügen bei der Show.«

Phil zog sich zurück. Das Licht erlosch, und Dr. Hendricks erschien auf der Leinwand. Schon als Kalisha die nicht angezündete Wunderkerze in seiner Hand sah, bekam sie einen trockenen Mund.

Da war irgendetwas, was ihr entging. Ein unerlässliches Teil von Averys Burg. Es war allerdings nicht verloren, sie sah es nur einfach nicht.

Gemeinsam sind wir stärker, aber nicht stark genug, dachte sie. Selbst wenn die armen Beinaherüben wie Jimmy, Hal und Donna mitmachen würden, wären wir das nicht. Aber wir könnten es sein. An Abenden, an denen die Wunderkerze angezündet wird, sind wir es. Wenn sie angezündet wird, sind wir Zerstörer – was entgeht mir also?

»Willkommen, Jungs und Mädels«, sagte Dr. Hendricks. »Danke, dass ihr uns unterstützt! Wie wär’s, wenn wir mit etwas Lustigem anfangen? Bis später!« Er wedelte mit der nicht angezündeten Wunderkerze und zwinkerte sogar. Kalisha hätte am liebsten gekotzt.

Wenn wir die andere Seite der Erde erreichen können, warum können wir dann nicht…

Einen Moment lang hatte sie es beinahe, doch dann stieß Katie einen lauten Schrei aus, nicht vor Schmerz oder Kummer, sondern vor Vergnügen. »Der Road Runner! Der ist der allerbeste!« Sie begann in einer halb kreischenden Falsettstimme zu singen, die sich Kalisha ins Hirn bohrte. »Road Runner, Road Runner, der Kojote wetzt sein Messer! Road Runner, Road Runner, lauf, das kannst du besser!«

»Hör auf, Katie«, sagte George nicht unfreundlich, aber während der Road Runner – miep, miep – auf einem verlassenen Highway durch die Wüste flitzte, beobachtet von Wile E. Coyote, der in ihm einen leckeren Imbiss sah, spürte Kalisha, wie ihr das, was sie fast hatte greifen können, entschwebte.

Als der Zeichentrickfilm vorüber und Wile E. Coyote wieder einmal gescheitert war, erschien ein Mann im Anzug auf der Leinwand. In der Hand hatte er ein Mikrofon. Zuerst hielt Kalisha ihn für einen Geschäftsmann, was vielleicht irgendwie auch zutraf, aber das war nicht der Hauptgrund für seine Berühmtheit. In erster Linie war er ein Prediger, denn als die Kamera sich zurückzog, wurde hinter ihm ein großes Kreuz mit rot leuchtenden Neonrändern sichtbar, und nach dem nächsten Kameraschwenk sah man eine riesige, mit mehreren Tausend Menschen gefüllte Halle, wenn nicht gar ein Stadion. Die Leute standen alle auf, manche schwenkten die Hände in der Luft hin und her, andere hielten eine Bibel in die Höhe.

Der Mann begann mit einer normalen Predigt, bei der er Bibelverse rezitierte, doch dann erregte er sich darüber, dass das Land durch die Opioide und die ganze Unzucht vor die Hunde gehe. Anschließend sprach er über Politik, bestimmte Richter und darüber, dass Amerika eine leuchtende Stadt auf einem Hügel sei, die von den Gottlosen mit Dreck beschmiert werde. Anschließend begann er zu erzählen, dass Hexerei das Volk von Samaria betört habe (was das mit Amerika zu tun hatte, erschloss sich Kalisha nicht), doch dann kamen die farbigen Punkte, sie blitzten auf und erloschen wieder. Das Summen schwoll an und ab. Kalisha spürte es sogar in ihrer Nase, wo es die Härchen zum Vibrieren brachte.

Als die Punkte sich auflösten, sah man den Prediger mit einer Frau, mit der er wahrscheinlich verheiratet war, ein Flugzeug besteigen. Die Punkte kamen wieder. Das Summen schwoll an und ab. Im Kopf hörte Kalisha die Stimme von Avery, der etwas sagte, was sich wie die sehen es auch anhörte.

Wer sieht es auch?

Avery antwortete nicht, wahrscheinlich weil er in den Film gesogen wurde. Das war es, was die Stass-Lichter mit einem machten, sie sogen einen total hinein. Der Prediger war wieder in Aktion, und zwar gewaltig; diesmal stand er mit einem Megafon auf der Ladefläche eines Pritschenwagens. Man sah Schilder mit der Aufschrift HOUSTON LIEBT DICH und GOTT HAT NOAH DEN REGENBOGEN GEZEIGT und JOHANNES 3,16. Dann die Punkte. Und das Summen. Mehrere von den leeren Kinosesseln klappten von selbst hoch und runter wie unbefestigte Fensterläden bei einem starken Sturm. Die Türen des Vorführraums flogen auf. Jake the Snake und Phil the Pill drückten sie wieder zu, indem sie sich mit den Schultern dagegenstemmten.

Jetzt stand der Prediger in einer Art Obdachlosenasyl. Er trug eine Kochschürze und rührte in einem riesigen Topf mit Spaghettisoße. Neben ihm stand seine Frau, beide grinsten, und diesmal hörte Kalisha in ihrem Kopf die Stimme von Nick: Schön in die Kamera grinsen! Undeutlich nahm sie wahr, dass ihre Haare wie bei einem elektrischen Experiment vom Kopf abstanden.

Blitze. Summen.

Als Nächstes saß der Prediger mit einigen anderen Leuten in einem Fernsehstudio. Einer von den anderen warf ihm vor, er sei… irgendwas… komplizierte Wörter, die Lukey sicher verstanden hätte… und der Prediger lachte, als wäre das ein unheimlich lustiger Witz. Er hatte ein tolles Lachen, bei dem man am liebsten mitlachen wollte. Falls man nicht gerade wahnsinnig wurde.

Blitze. Summen.

Jedes Mal wenn die Stass-Lichter wiederkehrten, kamen sie Kalisha heller vor, und jedes Mal schienen sie tiefer in ihren Kopf einzudringen. In ihrem momentanen Zustand wirkten sämtliche Videoclips, aus denen der Film bestand, faszinierend. Sie waren mit Hebeln versehen. Wenn es so weit war – wahrscheinlich morgen Abend oder am Abend darauf–, würden die Kinder im Hinterbau diese Hebel betätigen.

»Ich hasse das«, sagte Helen mit leiser, verstörter Stimme. »Wann ist es endlich vorbei?«

Der Prediger stand vor einer noblen Villa, in der offenbar eine Party stattfand. Der Prediger fuhr in einem Autokorso mit. Der Prediger war bei einem großen Grillfest; die Gebäude hinter ihm waren mit roten, weißen und blauen Wimpeln geschmückt. Die Leute aßen Würstchen am Stiel und große Stücke Pizza. Er predigte darüber, dass die von Gott bestimmte natürliche Ordnung der Dinge heute pervertiert werde, doch dann verstummte seine Stimme und wurde durch die von Dr. Hendricks ersetzt.

»Das ist Paul Westin, Kinder. Er wohnt in Deerfield, Indiana. Paul Westin. Deerfield, Indiana. Paul Westin, Deerfield, Indiana. Sagt es gemeinsam mit mir, Jungs und Mädels.«

Teils weil sie keine andere Wahl hatten, teils weil es den bunt blitzenden Punkten und dem an- und abschwellenden Summen gnädig ein Ende bereiten würde, vor allem jedoch weil sie jetzt vollständig darin versunken waren, verfielen die elf Kinder im Vorführraum in einen Sprechchor. Auch Kalisha machte mit. Was die anderen empfanden, wusste sie nicht, doch für sie war das der absolut schlimmste Teil der Filmabende. Es war ihr zuwider, dass es sich gut anfühlte. Sie hasste es zu spüren, wie diese Hebel nur darauf warteten, betätigt zu werden. Wie sie darum bettelten! Sie kam sich vor, als wäre sie eine Bauchrednerpuppe auf dem Knie des verdammten Doktors da.

»Paul Westin, Deerfield, Indiana! Paul Westin, Deerfield, Indiana! PAUL WESTIN, DEERFIELD, INDIANA!«

Dann erschien wieder Dr. Hendricks auf der Leinwand, lächelnd und mit der nicht angezündeten Wunderkerze in der Hand. »Recht so! Paul Westin, Deerfield, Indiana. Vielen Dank, Kinder, ich wünsche euch eine gute Nacht. Bis morgen!«

Ein letztes Mal kehrten die Stass-Lichter wieder, blinkend, kreisend und wirbelnd. Kalisha biss die Zähne zusammen, während sie darauf wartete, dass die Lichter verschwanden. Sie fühlte sich wie eine winzige Raumkapsel, die durch ein Getümmel aus riesigen Asteroiden taumelte. Das Summen war lauter denn je, doch als die Lichter sich auflösten, hörte es so abrupt auf, als hätte man den Stecker eines Verstärkers gezogen.

Die sehen es auch, hatte Avery gesagt. War das das fehlende Element? Und wenn ja, wer waren die?

Im Vorführraum ging das Licht an. Die Türen öffneten sich; an einer stand Jake the Snake, an der anderen Phil the Pill. Die meisten Kinder gingen hinaus, nur Donna, Len, Hal und Jimmy blieben sitzen. Wahrscheinlich hingen sie da auf den bequemen Sesseln rum, bis die Pfleger kamen, um sie in ihre Zimmer zu scheuchen. Einer oder zwei von ihnen, wenn nicht gar alle vier, kamen eventuell bald auf den Rübenacker, aber erst nach der morgigen Vorführung. Nach der großen Show. Bei der sie taten, was dem Prediger angetan werden sollte.

Sie durften noch eine halbe Stunde in den Aufenthaltsraum, bevor man sie für die Nacht in ihren Zimmern einschloss. Kalisha machte sich auf den Weg dorthin, gefolgt von George, Nicky und Avery. Nach einigen Minuten kam auch Helen hereingeschlurft und setzte sich auf den Boden, eine unangezündete Zigarette in der Hand. Die früher so knalligen Haare hingen ihr ins Gesicht. Als Letzte trudelten Iris und Katie ein.

»Meinem Kopf geht’s besser«, verkündete Katie.

Ja, dachte Kalisha, nach den Filmen sind die Kopfschmerzen weniger stark… aber nur für kurze Zeit. Und jedes Mal wird sie ein bisschen kürzer.

»Ein weiterer Abend voller Spaß und guter Laune«, murmelte George.

»Na gut, Leute, was haben wir erfahren?«, sagte Nicky. »Dass jemand nicht besonders gut auf Reverend Paul Westin aus Deerfield, Indiana, zu sprechen ist.«

Kalisha fuhr sich mit dem Daumen über die Lippen und warf einen Blick an die Decke. Mikros, dachte sie in Richtung Nicky. Pass auf.

Nicky richtete die Fingerpistole auf den Kopf und tat so, als würde er sich erschießen. Das brachte die anderen zum Lächeln. Morgen würde das anders sein, dachte Kalisha. Da würde niemand lächeln. Nach dem morgigen Film würde Dr. Hendricks mit der brennenden Wunderkerze auftauchen, worauf das Summen zu einem dröhnenden Rauschen anschwoll. Hebel würden betätigt werden. Dann kam eine Periode von unbekannter Länge, zugleich wohltuend und schrecklich, in der die Kopfschmerzen völlig verschwunden waren. Anstatt dass man sich fünfzehn bis zwanzig Minuten nach der Vorführung besser fühlte, war man herrliche sechs oder gar acht Stunden von allen Schmerzen befreit. Und irgendwo würde danach Paul Westin aus Deerfield, Indiana, etwas tun, was sein Leben entscheidend veränderte – oder gar beendete. Für die Kinder im Hinterbau ging das Leben weiter… wenn man es so bezeichnen wollte. Die Kopfschmerzen würden wiederkommen, und zwar schlimmer. Jedes Mal wurden sie schlimmer. Anstatt das Summen nur zu spüren, würden sie alle schließlich ein Teil davon werden. Dann waren sie alle nur noch eine von den…

Von den Rüben!

Das war Avery. Niemand anderes konnte seine Gedanken mit einer solchen Klarheit projizieren. Es war, als würde er in Kalishas Kopf sitzen. So funktioniert es nämlich, Sha! Weil die…

»Weil die es auch sehen«, flüsterte Kalisha, und da – zack – war es, das fehlende Element. Sie presste die Handballen an die Stirn, nicht weil die Kopfschmerzen wiedergekommen waren, sondern weil es so wunderbar offensichtlich war. Dann fasste sie Avery an die kleine, knochige Schulter.

Die Rüben sehen das, was wir sehen. Weshalb sollte man sie sonst behalten?

Nicky legte den Arm um Kalisha und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Als seine Lippen sie berührten, zitterte sie. »Was redet ihr da? Die haben doch gar nichts mehr im Kopf. Was uns bekanntlich auch bald blühen wird.«

Avery: Das macht sie ja gerade stärker. Alles, was sie hatten, ist fort. Herausgeschält. Sie sind die Batterie. Wir sind nur…

»Der Schalter«, flüsterte Kalisha. »Der Zündschalter.«

Avery nickte. »Wir müssen sie uns zunutze machen.«

Wann? Die mentale Stimme von Helen Simms war die eines kleinen, verängstigten Kindes. Es muss bald sein, denn lange halte ich’s hier nicht mehr aus.

»Keiner von uns hält es aus«, sagte George. »Außerdem ist diese Bitch jetzt…«

Kalisha schüttelte warnend den Kopf, worauf George mental weitersprach. Darin war er nicht besonders gut, zumindest noch nicht, aber sie begriff, worauf er hinauswollte. Das begriffen alle. Momentan war Mrs. Sigsby, diese Bitch, hauptsächlich mit Luke beschäftigt. Stackhouse ebenfalls. Genauer gesagt galt das für das gesamte Personal vom Institut, denn alle wussten, dass Luke geflohen war. Dass die alle aufgeschreckt und abgelenkt waren, war ihre Chance. Eine solche Gelegenheit würden sie nie wieder bekommen.

Nickys Miene hellte sich auf. Jetzt oder nie!

»Aber wie?«, fragte Iris. »Wie stellen wir es an?«

Avery: Ich glaube, das weiß ich, aber wir brauchen auch noch Hal, Donna, Jimmy und Len.

»Bist du dir sicher?«, sagte Kalisha und fügte hinzu: Die sind doch schon fast hinüber.

»Ich hole sie«, sagte Nicky und erhob sich. Er lächelte. Der Avester hat recht. Es kommt auf jedes bisschen Unterstützung an.

Kalisha fiel auf, dass seine mentale Stimme stärker geworden war. Lag das am Sender oder am Empfänger?

An beiden, sagte Avery. Auch er lächelte. Weil wir es jetzt für uns selbst tun.

Ja, dachte Kalisha. Jetzt taten sie es für sich selbst. Sie mussten sich nicht damit begnügen, wie hirnlose Puppen auf dem Knie des Bauchredners zu sitzen. Es war so einfach und doch eine Offenbarung: Was man für sich selbst tat, verlieh einem Kraft.

14

Ungefähr zu der Zeit, als Avery – tropfnass und zitternd – durch den Tunnel zwischen Vorder- und Hinterbau geführt wurde, startete die Challenger des Instituts (am Heck stand 940NF, auf dem Rumpf MAINE PAPER INDUSTRIES) von Erie, Pennsylvania, jetzt mit dem gesamten Einsatzteam an Bord. Als die Maschine ihre Reiseflughöhe erreichte und die kleine Stadt Alcolu ansteuerte, wurde Luke Ellis gerade von Tim Jamieson und Wendy Gullickson in die Dienststelle des Sheriffs von Fairlee County begleitet.

Viele Rädchen, die sich alle in derselben Maschine drehten.

»Das ist Luke Ellis«, sagte Tim. »Luke, das sind die Deputys Faraday und Wicklow.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Luke ohne große Begeisterung.

Bill Wicklow betrachtete Lukes lädiertes Gesicht und sein verbundenes Ohr. »Was hat der denn angestellt?«

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Wendy, bevor Luke etwas erwidern konnte. »Wo ist Sheriff John?«

»In Dunning«, sagte Bill. »Seine Mutter lebt da im Altersheim. Sie hat… Du weißt schon.« Er tippte sich an die Schläfe. »Gegen fünf ist er wieder da, hat er gesagt, außer sie hat einen guten Tag. Dann bleibt er vielleicht zum Abendessen dort.« Wieder beäugte er den erschöpften Jungen in seinen schmutzigen Klamotten, dem man den Ausreißer schon an der Nasenspitze anzusehen glaubte. »Ist das ein Notfall?«

»Eine gute Frage«, sagte Tim. »Sag mal, Taggy, hast du die Erkundigungen eingezogen, um die Wendy dich gebeten hat?«

»Hab ich«, sagte Tag Faraday. »Komm mal mit ins Büro vom Sheriff, dann kann ich dich ins Bild setzen.«

»Das wird nicht nötig sein«, sagte Tim. »Ich glaube nicht, dass du mir irgendwas erzählen wirst, was Luke nicht längst weiß.«

»Bist du dir da sicher?«

Tim warf einen Blick auf Wendy, die nickte, und dann auf Luke, der die Achseln zuckte. »Ja.«

»Okay. Herbert und Eileen Ellis, die Eltern von dem Jungen da, wurden vor sieben Wochen in ihrem Haus ermordet. In ihrem Schlafzimmer erschossen.«

Luke fühlte sich, als stünde er außerhalb seines Körpers. Zwar tauchten keine Blitze auf, aber so fühlte es sich jedes Mal an, wenn sie es taten. Er stakste zu dem zwei Schritte entfernten Drehstuhl am Disponententisch und ließ sich darauf fallen. Der Stuhl rollte rückwärts und wäre umgestürzt, wäre er nicht zuerst an die Wand geprallt.

»Alles in Ordnung, Luke?«, fragte Wendy.

»Nein. Doch, ja. Den Umständen entsprechend. Diese Arschlöcher im Institut – Dr. Hendricks und Mrs. Sigsby und die Pfleger – haben behauptet, dass meinen Eltern nichts passiert wäre, absolut nichts, aber schon bevor ich es auf meinem Computer gesehen hab, wusste ich, dass sie tot sind. Ich hab’s gewusst, aber es ist trotzdem… furchtbar.«

»Hattest du dort etwa einen Computer?«, fragte Wendy.

»Ja. Hauptsächlich, um zu zocken und mir auf Youtube Musikvideos reinzuziehen. Irrelevantes Zeug. Websites mit Nachrichten waren eigentlich blockiert, aber ich hab gewusst, wie man das umgeht. Sie hätten meine Suchanfragen überwachen sollen, dann hätten sie mich erwischt, aber dafür waren sie zu… zu faul. Zu überheblich. Sonst wäre ich auch nie da rausgekommen.«

»Wovon redet der eigentlich?«, fragte Deputy Wicklow.

Tim schüttelte den Kopf. Er hatte den Blick auf Tag Faraday gerichtet. »Von der Polizei in Minneapolis weißt du das nicht, oder?«

»Nein, aber nicht, weil ihr mir gesagt habt, ich soll da nicht anrufen. Sheriff John wird entscheiden, wen er wann kontaktieren will. So läuft das hier bei uns. Auf Google hab ich allerdings mehr als genug gefunden.« Er warf Luke einen argwöhnischen Blick zu. »Der Junge ist in der Datenbank des Nationalen Zentrums für vermisste und missbrauchte Kinder aufgeführt, außerdem haben die Star Tribune in Minneapolis und die Pioneer Press in St. Paul ausführlich über ihn berichtet. Laut deren Websites ist er angeblich hochintelligent. Ein Wunderkind.«

»So hört er sich auch an«, sagte Bill. »Benutzt ’ne Menge hochgestochene Ausdrücke.«

Ich sitze doch vor euch, dachte Luke. Also redet nicht so, als wär ich woanders.

»Als Verdächtigen führt die Polizei ihn nicht«, fuhr Tag fort. »Jedenfalls steht das nicht ausdrücklich in den Zeitungsartikeln, aber man will ihn natürlich befragen.«

Jetzt ergriff Luke doch das Wort. »Garantiert wollen sie das«, sagte er. »Und ihre erste Frage wird wahrscheinlich lauten: Wo hast du die Waffe her, Junge?«

»Hast du sie denn umgebracht?« Die Frage stellte Bill so beiläufig, als würde er sich damit nur die Zeit vertreiben. »Sag die Wahrheit, Junge. Das ist bloß zu deinem Vorteil.«

»Nein. Ich liebe meine Eltern. Die Leute, die sie umgebracht haben, waren Diebe, und ich war das, was sie stehlen wollten. Der Grund dafür war nicht, dass ich bei der Zulassungsprüfung zum College fast die Höchstpunktzahl erzielt hab, ich im Kopf komplizierte Gleichungen lösen kann oder dass ich weiß, dass Hart Crane Suizid begangen hat, indem er im Golf von Mexiko von einem Boot gesprungen ist. Sie haben meine Eltern umgebracht und mich gekidnappt, weil ich manchmal eine Kerze ausblasen konnte, indem ich sie nur angeschaut hab, und weil ich bei Rocket Pizza ein Pizzablech vom Tisch schieben konnte. Ein leeres Blech. Wenn es voll gewesen wäre, hätte es sich nicht einmal bewegt.« Er warf einen Blick auf Tim und Wendy und lachte. »Damit hätte ich nicht mal bei einem miesen kleinen Rummelplatz ’nen Job bekommen.«

»Ich weiß nicht, was da so lustig dran sein soll«, sagte Tag Faraday stirnrunzelnd.

»Ich auch nicht«, sagte Luke. »Aber manchmal lache ich trotzdem. Mit meinen Freunden Kalisha und Nick hab ich trotz allem, was wir durchgemacht haben, auch viel gelacht. Außerdem war es ein langer Sommer.« Diesmal lachte er nicht, aber er lächelte. »Das könnt ihr euch gar nicht vorstellen.«

»Ich hab den Eindruck, dass du ein bisschen Schlaf brauchst«, sagte Tim. »Hör mal, Tag, sitzt gerade jemand in ’ner Zelle?«

»Nee.«

»Okay, dann können wir ja…«

Luke schüttelte heftig den Kopf. »Auf keinen Fall«, sagte er mit verängstigter Miene. »Auf gar keinen Fall.«

Tim hob die Hände. »Natürlich werden wir dich nicht einsperren. Wir lassen die Tür weit offen.«

»Nein. Bitte tut das nicht. Bitte zwingt mich nicht, in einer Zelle zu sitzen!« Nun sah er nicht mehr verängstigt, sondern entsetzt aus, und zum ersten Mal glaubte Tim wenigstens einen Teil von seiner Geschichte. Dieses paranormale Zeug war Blödsinn, aber was er da vor sich sah, war ihm von seiner Zeit bei der Polizei her vertraut – der Blick und das Verhalten eines Kindes, das missbraucht worden war.

»Tja, wie wär’s dann mit dem Sofa da im Wartebereich?« Wendy deutete darauf. »Das ist zwar durchgesessen, aber nicht zu schlimm. Ich hab mich selbst schon ein paarmal draufgelegt.«

Falls das stimmte, hatte Tim es nie gesehen, aber der Junge war eindeutig erleichtert. »Okay, dann nehme ich das. Mr. Jamieson… Tim… den USB-Stick hast du doch noch, oder?«

Tim zog den Stick aus der Brusttasche und hielt ihn in die Höhe. »Da ist er.«

»Gut.« Luke schlurfte zum Sofa. »Es wäre toll, wenn ihr diesen Mr. Hollister unter die Lupe nehmen würdet. Ich glaube wirklich, dass der ein Onkel sein könnte.«

Die beiden Deputys sahen Tim mit demselben verblüfften Ausdruck an. Er schüttelte den Kopf.

»Einer von den Typen, die nach mir Ausschau halten«, sagte Luke. »Sie behaupten, dass sie mein Onkel sind. Oder vielleicht auch ein Cousin oder ein Freund der Familie.« Als er sah, dass die Deputys sich augenrollend anschauten, lächelte er wieder. Es war ein zugleich erschöpftes und charmantes Lächeln. »Ja, mir ist schon klar, wie sich das anhört.«

»Wendy, wie wär’s, wenn du dich mit deinen Kollegen ins Büro von Sheriff John setzt und ihnen erzählst, was wir von Luke erfahren haben? Ich bleibe inzwischen hier.«

»Das ist auch richtig so«, sagte Tag Faraday. »Denn bis Sheriff John dir eine Dienstmarke überreicht, bist du nur der städtische Nachtklopfer.«

»Zur Kenntnis genommen«, sagte Tim.

»Was ist denn auf dem USB-Stick da?«, fragte Bill.

»Keine Ahnung. Wenn der Sheriff kommt, können wir es uns alle gemeinsam anschauen.«

Wendy ging mit den beiden Deputys ins Büro von Sheriff Ashworth und zog die Tür zu. Tim hörte murmelnde Stimmen. Normalerweise hätte er um diese Zeit geschlafen, fühlte sich jedoch wacher als seit langer Zeit. Vielleicht seit er aus der Polizei von Sarasota ausgeschieden war. Er wollte erfahren, wer der Junge hinter dieser hirnrissigen Geschichte wirklich war und was man ihm angetan hatte, und wo.

Tim ging zur Kaffeemaschine in der Ecke, um sich einen Becher Kaffee zu holen. Der war stark, aber nicht ungenießbar, was er um zehn Uhr abends sein würde, wenn Tim normalerweise auf seiner Nachtklopferrunde hereinschaute. Damit setzte er sich an den Disponententisch. Inzwischen war der Junge eingeschlafen oder schaffte es verdammt gut, so zu tun als ob. Ohne weiter darüber nachzudenken, griff Tim nach dem Schnellhefter, in dem alle Geschäfte und Betriebe von DuPray aufgeführt waren, und rief im Motel an. Niemand hob ab. Offenbar war Hollister doch nicht in sein Rattenloch zurückgekehrt. Was natürlich nichts zu bedeuten hatte.

Er legte auf, zog den USB-Stick wieder aus der Brusttasche und betrachtete ihn. Der hatte höchstwahrscheinlich auch nichts zu bedeuten, aber mit derartigen Dingen musste sich, wie Tag Faraday deutlich gemacht hatte, Sheriff Ashworth beschäftigen. Das konnte warten.

Vorläufig sollte der Junge sich erst einmal ausschlafen. Falls er wirklich in einem Güterwaggon aus Maine gekommen war, hatte er das dringend nötig.

15

Gegen siebzehn Uhr fünfzehn landete die Challenger mit ihren elf Passagieren – Mrs. Sigsby, Tony Fizzale, Winona Briggs, Dr. Evans und den beiden Teams Ruby Red und Opal – in Alcolu. Zur leichteren Verständigung mit Stackhouse bezeichnete man dieses knappe Dutzend nun als Team Gold. Als Erstes verließ Mrs. Sigsby die Maschine. Denny Williams von Ruby Red und Louis Grant von Opal blieben vorerst an Bord, um sich um das ziemlich spezielle Gepäck des Teams zu kümmern. Auf dem Rollfeld blieb Mrs. Sigsby trotz der brütenden Hitze stehen und nahm ihr Handy heraus, um das Festnetztelefon in ihrem Büro anzurufen. Rosalind nahm ab und stellte sie sogleich zu Stackhouse durch.

»Haben Sie…«, fing sie an, pausierte dann jedoch, um den Piloten und den Kopiloten vorübergehen zu lassen, was die beiden wortlos taten. Der eine war früher bei der Air Force gewesen, der andere bei der Air National Guard, und beide waren wie die Nazi-Wachen in der alten Sitcom Ein Käfig voller Helden; sie sahen und sie hörten nichts. Ihre Aufgabe beschränkte sich strikt darauf, ihre Passagiere zu transportieren.

Sobald sie fort waren, erkundigte sich Mrs. Sigsby bei Stackhouse, ob er irgendetwas von dem Zuträger in DuPray gehört habe.

»Das habe ich tatsächlich. Ellis hat sich ein Wehwehchen zugezogen, als er vom Zug gesprungen ist. Ist mit dem Kopf gegen einen Signalpfosten geknallt. Ein sofortiger Tod durch eine Hirnblutung hätte unsere Probleme weitgehend gelöst, aber dieser Hollister sagt, der Kleine war nicht mal bewusstlos. Ein Gabelstaplerfahrer hat ihn gesehen, in ein Lagerhaus beim Bahnhof gebracht und den örtlichen Quacksalber gerufen. Der ist gekommen. Etwas später ist eine Polizistin aufgetaucht, die unseren Jungen gemeinsam mit dem Gabelstaplertypen zum Büro vom Sheriff geschafft hat. Das Ohr, in dem der Chip gesteckt hat, war bandagiert.«

In der Tür des Flugzeugs erschienen Denny und Louis, zwischen sich eine lange Metallkiste. Die bugsierten sie die Gangway hinunter und schleppten sie in den Terminal.

Mrs. Sigsby seufzte. »Tja, das hätten wir erwarten können. Wir haben es sogar erwartet. Es geht doch um eine kleine Stadt, oder? Mit einer entsprechend kleinen Polizeibehörde?«

»Außerdem mitten in der Pampa«, ergänzte Stackhouse. »Was eine gute Sache ist. Aber das ist noch nicht alles. Unser Mann sagt, der Sheriff fährt einen großen alten Pick-up, Modell Titan, silberfarben, und der steht weder vor der Polizeistation noch auf dem Parkplatz für die städtischen Angestellten dahinter. Deshalb hat Hollister einen Spaziergang zu dem kleinen Supermarkt gemacht. Er sagt, die beiden Kameltreiber, die dort arbeiten – sein Ausdruck, nicht meiner–, wüssten über alles und jeden Bescheid. Derjenige, der gerade im Dienst war, hat ihm erzählt, der Sheriff hätte sich eine Packung Zigarillos besorgt und gemeint, er würde jetzt zu seiner Mutter fahren, die in einem Altersheim oder einem Hospiz in der nächsten Stadt lebt. Und die nächste Stadt ist etwa dreißig Meilen weit entfernt.«

»Und wieso soll das gut für uns sein?« Mrs. Sigsby fächelte sich mit dem Kragen ihrer Bluse Luft zu.

»Es ist zwar nicht gesagt, dass die Cops in einem Kaff wie DuPray sich um die Vorschriften scheren, aber wenn sie’s tun, halten sie den Jungen einfach fest, bis ihr Chef wiederkommt. Damit der entscheiden kann, was unternommen werden soll. Wie lange brauchen Sie noch bis dorthin?«

»Zwei Stunden. Wir könnten es schneller schaffen, aber wir haben gewisse Hilfsmittel dabei, und da wäre es unklug, das Tempolimit zu überschreiten.«

»Das wäre es in der Tat«, sagte Stackhouse. »Hören Sie, Julia. Die Hillbillys in DuPray können jederzeit Kontakt mit der Polizei von Minneapolis aufnehmen. Vielleicht haben sie das sogar schon getan. Aber ob so oder so, es ist völlig ohne Belang. Das ist Ihnen doch klar, oder?«

»Natürlich.«

»Über alle anderen Schlamassel, die eventuell beseitigt werden müssen, machen wir uns später Gedanken. Kümmern Sie sich vorläufig nur um unseren Ausreißer.«

Damit meinte er, sie sollten ihn töten, was wohl wirklich nötig sein würde. Ellis und alle, die versuchten, ihnen in die Quere zu kommen. Falls es dazu kam, musste sie später zum Nullfon greifen, aber wenn sie der sanften, lispelnden Stimme am anderen Ende versichern konnte, dass das Hauptproblem gelöst worden sei, kam sie vielleicht mit dem Leben davon. Vielleicht behielt sie sogar ihren Job, aber sie würde sich jedenfalls mit ihrem Leben zufriedengeben.

»Ich weiß, was zu tun ist, Trevor. Lassen Sie mich jetzt meine Arbeit machen.«

Damit legte sie auf und betrat den Terminal. Die klimatisierte Luft in dem kleinen Wartesaal traf ihre verschwitzte Haut wie ein Schlag mit der flachen Hand. Denny Williams wartete auf sie.

»Sind wir bereit?«, fragte sie.

»Ja, Ma’am. Klar zum Gefecht. Sobald Sie es mir sagen, übernehme ich die Führung.«

Auf dem Flug von Erie nach Alcolu hatte Mrs. Sigsby sich mit ihrem I-Pad beschäftigt. »An Ausfahrt 181 machen wir kurz halt. Dann werde ich Ihnen das Kommando über die Operation übergeben. Sind Sie damit einverstanden?«

»Selbstverständlich.«

Die anderen warteten bereits draußen. Allerdings standen dort keine schwarzen SUVs mit getönten Scheiben, nur wieder drei Familienkutschen in unauffälligen Farben: Blau, Grün und Grau. Orphan Annie wäre enttäuscht gewesen.

16

Als die Karawane mit Team Gold an der Ausfahrt 181 die Autobahn verließ, befand sie sich mitten im Nirgendwo. Es gab eine Tankstelle und ein Waffle House, aber das war auch alles. Latta, der nächste Ort, war zwölf Meilen entfernt. Fünf Minuten nach dem Waffle House wies Mrs. Sigsby, die vorn im ersten Van saß, Denny an, hinter ein Restaurant zu fahren, das anscheinend etwa um die Zeit dichtgemacht hatte, als Obama Präsident geworden war. Selbst das Schild mit der Aufschrift WIRD NACH DEN BEDÜRFNISSEN DES PÄCHTERS RENOVIERT sah trostlos aus.

Die Metallkiste, die Denny und Louis aus der Challenger geschleppt hatten, wurde geöffnet, und Team Gold bewaffnete sich. Die meisten Mitglieder von Ruby Red und Opal wählten die Glock 37, weil das die Waffe war, die sie bei ihren Extraktionsmissionen trugen. Tony Fizzale bekam ebenfalls eine, und Denny sah mit Freude, dass er sofort den Schlitten zurückzog, um sich zu vergewissern, dass die Kammer leer war.

»Wäre nett, ein Holster zu haben«, sagte Tony. »Ich will mir das Ding eigentlich nicht hinten in den Gürtel stecken wie jemand von ’ner Straßengang.«

»Verstau es vorläufig einfach unter deinem Sitz«, sagte Denny.

Mrs. Sigsby und Michelle Robertson bekamen je eine SIG Sauer P238, die klein genug war, in ihre jeweilige Handtasche zu passen. Als Denny auch Dr. Evans eine anbot, hob der Arzt die Hände und wich einen Schritt zurück. Tom Jones von Team Opal beugte sich zu dem tragbaren Waffenarsenal hinunter und holte eines von zwei Sturmgewehren, Modell HK33, heraus. »Wie wär’s dann damit, Doc? Mit einem Magazin mit dreißig Schuss und stark genug, ’ne Kuh durch die Scheunenwand zu blasen. Ein paar Blendgranaten sind auch dabei.«

Evans schüttelte den Kopf. »Ich bin nur unter Protest dabei. Wenn Sie den Jungen töten wollen, weiß ich nicht recht, wieso ich überhaupt dabei bin.«

»Ihren Protest können Sie sich sonst wohin stecken«, sagte Alice Green, ebenfalls von Team Opal. Das wurde mit der Sorte Gelächter aufgenommen – spröde, nervös, ein bisschen irre–, das man nur hörte, wenn bei einer Operation Schusswaffengebrauch angesagt war.

»Das reicht«, sagte Mrs. Sigsby. »Doktor Evans, es ist durchaus möglich, dass wir den Jungen lebendig aufgreifen können. Denny, haben Sie einen Stadtplan von DuPray auf Ihrem Tablet?«

»Ja, Ma’am.«

»Dann leiten Sie jetzt ab sofort diese Operation.«

»Ausgezeichnet. Kommt mal näher, Leute. Sie auch, Doc, nicht so schüchtern!«

In der brütenden Nachmittagshitze versammelten sich alle um Denny Williams. Mrs. Sigsby warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Viertel nach sechs. Noch eine Stunde bis zum Ziel, vielleicht auch etwas mehr. Sie waren leicht im Verzug, was angesichts des Tempos, mit dem man alles organisiert hatte, akzeptabel war.

»Da ist das Stadtzentrum von DuPray, soweit man von so was sprechen kann«, sagte Denny Williams. »Besteht eigentlich nur aus der Hauptstraße. Auf halber Höhe ist das Büro des Sheriffs, direkt zwischen dem Rathaus und dem DuPray Mercantile.«

»Was soll denn das sein?«, fragte Josh Gottfried von Team Opal.

»So was wie ein Kaufhaus«, sagte Robin Lecks.

»Eher ein Ramschladen, wie es sie früher gab.« Die Bemerkung kam von Tony Fizzale. »Ich hab zehn Jahre in Alabama verbracht, hauptsächlich bei der Militärpolizei, und ich kann euch sagen, dass man sich in diesen kleinen Orten im Süden vorkommt, als wäre man in ’ner Zeitmaschine fünfzig Jahre zurückgereist. Bis auf Walmart. Den gibt es praktisch überall.«

»Schluss mit dem Geschwätz«, sagte Mrs. Sigsby und forderte Denny mit einem Nicken auf weiterzumachen.

»Es ist nicht besonders kompliziert«, sagte Denny. »Wir parken hier hinter dem Kino, das schon lange geschlossen ist. Dann lassen wir uns von unserem Kontaktmann bestätigten, dass die Zielperson sich immer noch in der Polizeistation befindet. Michelle und ich spielen ein Ehepaar auf einer Urlaubsreise, die uns durch die wenig besuchten Orte im amerikanischen Süden führt…«

»Anders gesagt, ihr habt nicht alle Tassen im Schrank«, sagte Tony, was wieder mit dem speziellen nervösen Gelächter quittiert wurde.

»Wir schlendern die Straße entlang, um die Umgebung zu erkunden…«

»Wobei wir Händchen halten, weil wir echte Turteltäubchen sind«, sagte Michelle Robertson, nahm Denny bei der Hand und schenkte ihm ein schüchternes, aber bewunderndes Lächeln.

»Soll nicht lieber unser Mann vor Ort die Lage checken?«, sagte Louis Grant. »Wäre das nicht sicherer?«

»Den kennen wir nicht persönlich, also können wir ihm nicht vertrauen«, sagte Denny. »Außerdem ist er Zivilist.«

Er warf einen Blick auf Mrs. Sigsby, die ihm zunickte.

»Vielleicht gehen wir in die Polizeistation, um uns nach dem Weg zu erkundigen. Vielleicht auch nicht. Das werden wir spontan entscheiden. Auf jeden Fall wollen wir herausfinden, wie viele Beamte vor Ort sind und wo sie sich genau aufhalten. Dann…« Er zuckte die Achseln. »Wir liquidieren sie. Falls es zu einem Schusswechsel kommen sollte, was ich nicht erwarte, liquidieren wir auch den Jungen. Falls nicht, nehmen wir ihn mit. Es gibt anschließend weniger Scherereien, wenn es nach einer Entführung aussieht.«

Mrs. Sigsby überließ es Denny, die anderen zu informieren, wo die Challenger sie wieder erwarten würde, und rief Stackhouse an, um sich auf den neuesten Stand bringen zu lassen.

»Hab gerade mit unserem Freund Hollister telefoniert«, sagte er. »Vor ungefähr fünf Minuten ist der Sheriff eingetroffen. Inzwischen stellt man ihn sicher gerade unserem entlaufenen Schützling vor. Das heißt, Sie sollten sich beeilen.«

»Ja.« Sie spürte, wie sich in Unterbauch und Leistengegend eine nicht unangenehme Spannung aufbaute. »Ich rufe an, sobald es vorüber ist.«

»Na, dann los, Julia. Befreien Sie uns aus diesem Schlamassel.«

Sie legte auf.

17

Sheriff John Ashworth kehrte gegen achtzehn Uhr zwanzig nach DuPray zurück. Vierzehnhundert Meilen weiter nördlich deponierte eine kleine Schar von benommenen Kindern Zigaretten und Streichholzschachteln in Körben und betrat im Gänsemarsch einen Vorführraum. Der Star des an diesem Abend gezeigten Films würde ein Megakirchenpastor aus Indiana mit vielen mächtigen politischen Freunden sein.

Der Sheriff blieb in der Tür stehen und betrachtete das große Dienstzimmer der Polizeistation mit den Händen auf den gut gepolsterten Hüften. Wie er feststellte, war sein gesamtes Personal anwesend, mit Ausnahme von Ronnie Gibson, die derzeit in der Ferienwohnung ihrer Mutter in St. Petersburg Urlaub machte. Tim Jamieson war ebenfalls da.

»’n Abend alle miteinander«, sagte er. »Um eine Überraschungsparty kann sich’s wohl nicht handeln, schließlich hab ich heute nicht Geburtstag. Und wer ist das da?« Er deutete auf den Jungen, der auf dem kleinen Sofa im Wartebereich lag. Luke hatte sich so weit zusammengerollt, wie es ging. Der Sheriff wandte sich an Tag Faraday, den ihn vertretenden Deputy. »Und außerdem, nur so ganz nebenbei, wer von euch hat ihn verprügelt?«

Anstatt zu antworten, wandte Faraday sich an Tim und machte eine Handbewegung, die nach dir heißen sollte.

»Sein Name ist Luke Ellis, und niemand hier hat ihn verprügelt«, sagte Tim. »Er ist von einem Güterzug gesprungen und gegen einen Signalpfosten geknallt. Daher der Bluterguss. Was den Verband angeht, behauptet er, man hätte ihn gekidnappt und ihm einen Ortungsclip ins Ohr eingepflanzt. Er sagt, er hat sich das Ohrläppchen abgeschnitten, um den loszuwerden.«

»Mit einem Schälmesser«, ergänzte Wendy.

»Seine Eltern sind tot«, sagte Tag Faraday. »Ermordet. So weit stimmt seine Geschichte. Ich hab es überprüft. Gewohnt haben die weit weg in Minnesota.«

»Aber er sagt, der Ort, von dem er abgehauen ist, wäre in Maine«, sagte Bill Wicklow.

Der Sheriff schwieg einen Moment. Die Hände weiterhin in die Hüften gestützt, ließ er den Blick über seine Deputys und seinen Nachtklopfer zu dem Jungen wandern, der auf dem Sofa lag. Die Unterhaltung hatte sichtlich keine Wirkung auf Luke, der schlief wie ein Toter. Schließlich richtete Sheriff John den Blick wieder auf seine versammelte Mannschaft. »Mir wär’s allmählich lieber, ich wär zum Essen bei meiner Mutter geblieben.«

»Ach, der ging’s heute wohl nicht gut?«, fragte Bill.

Das ignorierte Sheriff John. »Könntet ihr mir jetzt mal zusammenhängend Bericht erstatten… Vorausgesetzt, ihr habt euch nicht alle einen Joint reingezogen.«

»Setzen Sie sich«, sagte Tim. »Ich erkläre Ihnen, was Sache ist, und dann sollten wir uns wohl das da anschauen.« Er legte den USB-Stick auf den Disponententisch. »Anschließend können Sie entscheiden, wie es weitergeht.«

»Vielleicht sollten Sie bei der Polizei in Minneapolis oder der State Police drüben in Charleston anrufen«, sagte Deputy Burkett. »Oder bei beiden.« Er deutete mit dem Kinn auf Luke. »Um denen die Entscheidung zu überlassen, was mit ihm geschieht.«

Der Sheriff setzte sich hin. »Wenn ich’s mir recht überlege, bin ich doch froh, dass ich früher zurückgekommen bin. Die Sache ist irgendwie interessant, meint ihr nicht auch?«

»Sehr interessant sogar«, sagte Wendy.

»Was gar nicht schlecht ist. Normalerweise passiert hier bekanntlich nicht viel, da können wir ein bisschen Abwechslung gebrauchen. Glauben die Kollegen in Minneapolis denn, dass er seine Eltern umgebracht hat?«

»So hört es sich nach den Zeitungsberichten an«, sagte Tag Faraday. »Obwohl die ziemlich zurückhaltend sind, schließlich ist er minderjährig.«

»Er ist furchtbar intelligent«, sagte Wendy. »Aber sonst scheint er ein nettes Kind zu sein.«

»Mhm, mhm, ob er nett ist oder nicht, wird jemand anderes entscheiden müssen, aber vorläufig bin ich einfach neugierig. Bill, hören Sie auf, an der Kontrolluhr rumzufummeln, sonst geht die noch kaputt, und holen Sie mir ’ne Dose Cola aus meinem Büro.«

18

Während Tim die Geschichte, die Luke ihm und Wendy erzählt hatte, an Sheriff Ashworth weitergab und Team Gold sich auf der I-95 der Ausfahrt Hardeeville näherte, von wo es nicht weit zu der kleinen Stadt DuPray war, trieb Nick Wilholm die Kinder, die im Vorführraum geblieben waren, in den kleinen Aufenthaltsraum vom Hinterbau.

Manchmal hielt jemand erstaunlich lange durch; ein Beispiel dafür war George Iles. In anderen Fällen kam es urplötzlich zu einem Zusammenbruch, was offenbar gerade mit Iris Stanhope geschah. Das, was die Kids im Hinterbau als Auszeit bezeichneten – das kurze Nachlassen der Kopfschmerzen nach einem Film–, war bei ihr diesmal nicht eingetreten. Ihre Augen waren leer, ihre Kinnlade hing herunter. Mit gesenktem Kopf und in die Augen fallenden Haaren lehnte sie an der Wand des Aufenthaltsraums. Helen ging zu ihr und legte den Arm um sie, was sie jedoch nicht zu bemerken schien.

»Was sollen wir hier?«, fragte Donna. »Ich will in mein Zimmer. Schlafen gehen. Ich hasse diese Filme.« Ihrer mürrischen Stimme war anzuhören, dass sie den Tränen nahe war, aber immerhin war sie noch wach und zugänglich. Dasselbe galt für Jimmy und Hal. Beide blickten benommen drein, aber nicht regelrecht betäubt wie Iris.

Es wird keine Filme mehr geben, sagte Avery. Nie wieder.

Seine Stimme erscholl in Kalishas Kopf lauter denn je, was sie fast als Beweis empfand – gemeinsam waren sie tatsächlich stärker.

»Eine kühne Prognose«, sagte Nicky. »Vor allem, weil sie von einem kleinen Scheißer wie dir kommt, Avester.«

Darüber grinsten Hal und Jimmy, Katie kicherte sogar. Nur Iris wirkte nach wie vor völlig abwesend. Jetzt kratzte sie sich unverhohlen im Schritt. Len war vom Fernseher abgelenkt, obwohl auf dem gar nichts lief. Vielleicht, dachte Kalisha, betrachtet er ja sein Spiegelbild.

Wir haben nicht viel Zeit, sagte Avery. Bald kommt jemand von denen, um uns in unsere Zimmer zu bringen.

»Wahrscheinlich Corinne«, sagte Kalisha.

»Ja«, sagte Helen. »Die Böse Hexe des Ostens.«

»Also, was machen wir?«, fragte George.

Einen Moment lang schien Avery ratlos zu sein, weshalb Kalisha Angst bekam. Dann streckte der kleine Junge, der noch am selben Tag gedacht hatte, sein Leben würde im Wassertank enden, die Hände aus. »Kommt«, sagte er. Bildet einen Kreis.

Alle außer Iris trotteten vorwärts. Helen Simms nahm Iris bei den Schultern und schob sie in den unregelmäßigen Kreis, den die anderen gebildet hatten. Len blickte sich sehnsuchtsvoll nach dem Fernseher um, dann seufzte er und streckte die Hände aus. »Scheiß drauf. Was soll’s!«

»Genau, scheiß drauf«, sagte Kalisha. »Nichts zu verlieren.« Mit der linken Hand nahm sie Lens rechte, mit der rechten Nickys linke. Iris schloss den Kreis, und sobald sie mit Jimmy Cullum auf der einen und Helen auf der anderen Seite verbunden war, hob sich ihr Kopf.

»Wo bin ich? Was tun wir da? Ist der Film vorüber?«

»Pst!«, machte Kalisha.

»Mein Kopf fühlt sich besser an!«

»Gut. Aber jetzt leise.«

Die anderen stimmten ein: Pst… pst… Iris, pst.

Jedes Pst war lauter. Etwas veränderte sich. Etwas lud sich auf.

Hebel, dachte Kalisha. Da sind Hebel, Avery.

Von der anderen Seite des Kreises her nickte er ihr zu.

Es war keine Kraft, zumindest noch nicht, und sie wusste, dass es ein verhängnisvoller Fehler wäre, etwas anderes anzunehmen, aber das Potenzial von Kraft war deutlich zu spüren. Wie wenn man die Luft einatmete, kurz bevor ein gewaltiges Sommergewitter losbrach.

»Leute?«, sagte Len zaghaft. »Mein Kopf ist ganz klar. Ich kann mich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so klar war.« Er sah Kalisha mit einer Art Panik an. »Lass mich nicht los, Sha!«

Alles in Ordnung, dachte sie in seine Richtung. Du bist in Sicherheit.

Doch das war er nicht. Keiner von ihnen war das.

Kalisha wusste, was nun geschehen würde, was nun geschehen musste, und sie fürchtete sich davor. Natürlich wollte sie es auch. Nur war es mehr, als es zu wollen. Es war eine Gier danach. Sie waren Kinder, die über einen brisanten Sprengstoff verfügten, was vielleicht falsch war, aber es fühlte sich total richtig an.

»Denkt nach«, sagte Avery mit leiser, klarer Stimme. »Denkt mit mir nach, Leute.«

Als er anfing, waren der Gedanke und das ihn begleitende Bild stark und klar. Nicky schloss sich ihm an. Katie, George und Helen ebenfalls. Kalisha kam dazu, dann auch die übrigen. So wie sie am Ende der Filme einen Sprechchor bildeten, taten sie es auch jetzt.

Denkt an die Wunderkerze. Denkt an die Wunderkerze. Denkt an die Wunderkerze.

Da waren die farbigen Punkte, heller, als sie es je gewesen waren. Da kam das Summen, lauter, als es je gewesen war. Da war die Wunderkerze, sprühend hell.

Und plötzlich waren sie nicht mehr nur elf. Plötzlich waren sie achtundzwanzig.

Das ist die Zündung, dachte Kalisha. Sie fürchtete sich; sie jubelte; sie fühlte sich heilig.

O MEIN GOTT!

19

Als Tim die Geschichte von Luke zu Ende erzählt hatte, saß Sheriff John mehrere Sekunden schweigend auf dem Disponentenstuhl, die Hände über seinem ansehnlichen Bauch verschränkt. Dann griff er nach dem USB-Stick, studierte ihn, als ob er so etwas noch nie gesehen hätte, und legte ihn wieder weg. »Er hat euch gesagt, dass er nicht weiß, was da drauf ist, hab ich das richtig verstanden? Hat das Ding einfach von dieser Haushälterin bekommen, zusammen mit einem Messer, mit dem er sich das Ohrläppchen amputiert hat.«

»So hat er es erzählt«, bestätigte Tim.

»Er ist unter ’nem Zaun durchgekrochen, durch den Wald getigert, auf einem Boot flussabwärts gegondelt wie einst Huck und Jim und dann in einem Güterwagen fast die ganze Ostküste runtergefahren.«

»Laut seiner Aussage, ja«, sagte Wendy.

»Tja, das ist ’ne tolle Geschichte. Besonders gefällt mir das mit der Telepathie und dem Rumschieben von irgendwelchen Sachen. Wie die Geschichten, die alte Omas sich erzählen, wenn sie sich zum Stricken oder Marmeladekochen treffen. Da geht’s dann um so was wie Blutregen und Warzenbesprechen. Wendy, wecken Sie den Jungen doch mal auf. Behutsam, ich sehe, dass er ’ne Menge durchgemacht hat, egal was seine wahre Geschichte ist. Aber wenn wir uns ansehen, was auf dem Ding da ist, soll er dabei sein.«

Wendy durchquerte den Raum und rüttelte Luke an der Schulter. Zuerst sanft, dann ein bisschen stärker. Er murmelte etwas, stöhnte und versuchte, sich ihr zu entziehen. Sie ergriff seinen Arm. »Komm schon, Luke, mach die Augen auf und…«

Luke setzte sich so plötzlich auf, dass Wendy rückwärts stolperte. Seine Augen waren offen, ohne etwas zu sehen, die Haare standen ihm wirr vom Kopf ab. »Die tun gerade was! Ich hab die Wunderkerze gesehen!«

»Wovon redet er da?«, fragte George Burkett.

»Luke!«, sagte Tim. »Alles okay, du hast nur ge…«

»Tötet sie!«, brüllte Luke, während in dem kleinen Verwahrungstrakt der Polizeistation alle vier Zellentüren zukrachten. »Vernichtet diese Dreckskerle!«

Vom Disponententisch erhoben sich Papiere wie ein Schwarm aufgeschreckter Vögel. Tim spürte einen Windstoß, der ihm das Haar zerzauste. Wendy stieß einen leisen Schrei aus. Sheriff John war aufgesprungen.

Tim trat zu dem Jungen und schüttelte ihn fest. »Wach auf, Luke, wach auf!«

Die durch den Raum flatternden Papiere sanken zu Boden, während die versammelten Polizisten, Sheriff John eingeschlossen, Luke mit offenem Mund anstarrten.

Luke griff mit den Händen in die Luft. »Weg da«, murmelte er. »Weg von mir!«

»Schon gut«, sagte Tim und ließ Lukes Schulter los.

»Nicht du, die Blitze. Die Stass-Li…« Er stieß die Luft aus und fuhr sich mit der Hand durch die schmutzigen Haare. »Okay. Sie sind weg.«

»Warst du das?«, fragte Wendy und zeigte auf die herabgefallenen Papiere. »Warst du das wirklich?«

»Irgendwas war es auf jeden Fall«, sagte Bill Wicklow. Er starrte auf die Kontrolluhr für den Nachtklopfer. »Die Zeiger auf dem Ding da haben sich gedreht… und zwar wie irre… aber jetzt stehen sie still.«

»Die tun gerade etwas«, sagte Luke. »Meine Freunde tun irgendwas. Das hab ich gespürt, obwohl ich so weit weg von ihnen bin. Wie konnte das passieren? O Gott, mein Kopf!«

Der Sheriff trat zu Luke und streckte ihm die Hand hin. Tim sah, dass er die andere auf den Griff seiner im Holster steckenden Waffe gelegt hatte. »Ich bin Sheriff Ashworth, mein Junge. Na, wie wär’s?«

Luke schüttelte ihm die Hand.

»Gut. Ein guter Anfang. Jetzt will ich die Wahrheit wissen. Warst du das gerade eben?«

»Ich weiß nicht, ob ich das war oder die anderen«, sagte Luke. »Eigentlich können sie es gar nicht gewesen sein, sie sind ja so weit weg, aber mir ist auch nicht klar, wie ich das gewesen sein könnte. So was hab ich in meinem ganzen Leben noch nie zustande gebracht.«

»Deine Spezialität sind eigentlich Pizzableche«, sagte Wendy. »Aber bloß welche, die leer sind.«

Luke lächelte schwach. »Stimmt. Die Blitze habt ihr nicht gesehen? Irgendeiner von euch? So einen Haufen farbiger Punkte?«

»Also, ich hab nichts als fliegende Blätter gesehen«, sagte Sheriff John. »Und ich hab gehört, wie die ganzen Zellentüren zugekracht sind. Frank, George, hebt das Zeug doch bitte mal auf, ja? Wendy, geben Sie dem Jungen da eine Aspirin. Und dann sehen wir mal, was auf dem kleinen Computerdingsbums da ist.«

»Heute Nachmittag hat Ihre Mutter ständig von ihren Haarspangen geredet«, sagte Luke. »Sie hat gesagt, jemand hätte ihr die gestohlen.«

Sheriff John fiel die Kinnlade herunter. »Woher weißt du das?«

Luke schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich versuche nicht mal, es zu wissen. O Gott, wenn ich bloß wüsste, was die gerade machen. Und wenn ich bloß bei ihnen wäre!«

»Ich glaube an der Geschichte von dem Jungen da ist vielleicht doch was dran«, sagte Tag Faraday.

»Und ich will mir ansehen, was auf dem USB-Stick da ist«, sagte Sheriff John. »Jetzt sofort.«

20

Was sie zuerst sahen, war ein leerer, altmodischer Ohrensessel. Er stand vor einer Wand, an der ein gerahmter Druck von Currier and Ives hing, mit einem Segelschiff darauf. Dann schob sich das Gesicht einer Frau ins Bild. Sie starrte in die Kamera.

»Das ist sie«, sagte Luke. »Das ist Maureen, die Frau, die mir geholfen hat zu fliehen.«

»Sieht man mich?«, fragte Maureen. »Die kleine Lampe ist an, also müsste es klappen. Das hoffe ich jedenfalls, denn ich hab wahrscheinlich nicht die Kraft, es zu wiederholen.« Ihr Gesicht verschwand vom Bildschirm des Laptops, auf den alle blickten. Für Tim war das eine Erleichterung. Die extreme Nahaufnahme hatte so gewirkt, als würde der Kopf in einem Goldfischglas stecken.

Die Stimme wurde etwas leiser, war jedoch weiterhin hörbar. »Aber wenn es sein muss, schaffe ich es schon.« Maureen setzte sich auf den Sessel und zog sich den Saum ihres geblümten Rocks über die Knie. Außerdem trug sie eine rote Bluse. Luke, der sie nie ohne ihre Uniform gesehen hatte, fand das eine hübsche Kombination, aber die fröhlichen Farben konnten nicht verbergen, wie hager und ausgezehrt ihr Gesicht war.

»Dreh mal die Lautstärke auf«, sagte Frank Potter. »Sie hätte sich ein Mikro anstecken sollen.«

Inzwischen hatte sie zu sprechen angefangen. Tag Faraday setzte das Video auf Anfang, stellte den Ton lauter und klickte auf Play. Wieder setzte sich Maureen in den Ohrensessel, wieder zog sie ihren Rocksaum zurecht. Dann blickte sie direkt in die Kamera.

»Luke?«

Er war so verblüfft, seinen Namen zu hören, dass er beinahe geantwortet hätte, aber bevor er das tun konnte, sprach sie weiter, und bei dem, was sie sagte, wurde ihm eiskalt ums Herz. Obwohl er es bereits gewusst hatte, oder? Genau wie er die Star Tribune nicht gebraucht hatte, um zu wissen, was mit seinen Eltern geschehen war.

»Wenn du das hier siehst, bist du draußen, und ich bin tot.«

Der Deputy namens Potter sagte etwas zu dem namens Faraday, aber Luke achtete nicht darauf. Er konzentrierte sich ausschließlich auf die Frau, die seine einzige Freundin unter den Erwachsenen im Institut gewesen war.

»Meine Lebensgeschichte werde ich dir nicht erzählen«, sagte die Tote in dem Ohrensessel. »Dafür ist keine Zeit, und darüber bin ich froh, weil ich mich für vieles schäme. Nicht für meinen Jungen allerdings. Ich bin stolz darauf, wie der sich gemacht hat. Bald geht er aufs College. Er wird nie erfahren, dass ich es bin, die ihm das Geld dafür gegeben hat, aber das ist in Ordnung. Das ist sogar gut so, denn so sollte es sein, weil ich ihn weggegeben habe. Und, Luke, ohne deine Hilfe hätte ich dieses Geld vielleicht verloren und damit die Chance, doch noch das Richtige für meinen Jungen zu tun. Ich hoffe bloß, dass ich das Richtige für dich getan habe.«

Sie machte eine Pause, wohl um sich zu sammeln.

»Einen Teil von meiner Geschichte will ich dir allerdings erzählen, weil der wichtig ist. Im Zweiten Golfkrieg war ich im Irak, in Afghanistan war ich auch, und dabei war ich an etwas beteiligt, was man als erweiterte Verhörmethoden bezeichnet hat.«

Für Luke war ihr ruhiger Redefluss – kein äh, kein weißt du, kein irgendwie oder sozusagen – eine Offenbarung. Er empfand dabei Verlegenheit, aber auch Kummer. Sie wirkte wesentlich intelligenter als bei den geflüsterten Gesprächen am Eiswürfelspender. Weil sie sich da dumm gestellt hatte? Eventuell, aber vielleicht – wahrscheinlich sogar – hatte er eine Frau in einer braunen Haushälterinnenuniform gesehen und einfach angenommen, dass sie nicht viel im Kopf hatte.

Im Gegensatz zu mir, dachte Luke und merkte, dass Verlegenheit nicht der richtige Ausdruck für das war, was er empfand. Der richtige Ausdruck dafür war Scham.

»Ich war beim Waterboarding dabei, und ich habe gesehen, wie Männer – und auch ein paar Frauen – in einem Wasserbecken standen, mit Elektroden an den Fingern oder im Rektum. Ich habe gesehen, wie Zehennägel mit der Kneifzange herausgezogen wurden. Ich habe gesehen, wie man einem Mann in die Kniescheibe schoss, weil er dem Vernehmer ins Gesicht gespuckt hatte. Zuerst hat mich das empört, aber nach einer Weile nicht mehr. Manchmal, wenn es Leute waren, die unsere Jungs mit Sprengfallen getötet oder Selbstmordattentäter auf überfüllte Märkte geschickt hatten, hat es mich sogar gefreut. Vor allem aber wurde ich allmählich… wie sagt man noch…«

»Desensibilisiert«, sagte Tim.

»Desensibilisiert«, sagte Maureen.

»Mannomann, als ob sie dich gehört hätte«, sagte Deputy Burkett.

»Still!«, sagte Wendy, und etwas daran brachte Luke zum Zittern. Als ob jemand anderes es direkt vor ihr gesagt hätte. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Video zu.

»… nach den ersten zwei oder drei Malen habe ich nicht mehr an so was teilgenommen, weil sie mir eine andere Aufgabe gegeben haben. Wenn jemand nicht reden wollte, war ich die nette Soldatin, die hereinkam, um ihm was zu trinken zu geben oder was aus meiner Tasche zuzustecken, einen Müsliriegel oder ein paar Oreos. Dabei habe ich ihm erzählt, die Vernehmer hätten jetzt Pause oder wären essen gegangen, und die Mikrofone wären ausgeschaltet. Er würde mir leidtun, habe ich gesagt, und dass ich ihm helfen wolle. Wenn er nicht reden würde, dann würde man ihn töten, obwohl das gegen die Vorschriften wäre. Von der Genfer Konvention habe ich nie gesprochen, weil die meisten gar nicht wussten, was das war. Wenn sie nicht reden würden, dann würde man sogar ihre Familie umbringen, und das würde ich wirklich nicht wollen. Normalerweise hat das nichts gebracht, weil sie Verdacht geschöpft haben, aber manchmal haben die Gefangenen den Vernehmern später gesagt, was die hören wollten, entweder weil sie mir geglaubt haben oder mir glauben wollten. Manchmal haben sie auch mir etwas erzählt, weil sie verwirrt waren… desorientiert… und weil sie mir vertraut haben. Echt und ehrlich, ich hatte ein sehr vertrauenswürdiges Gesicht.«

Ich weiß, wieso sie mir das erzählt, dachte Luke.

»Wie ich im Institut gelandet bin… tja, die Geschichte ist zu lang, als dass eine erschöpfte, kranke Frau sie wiedergeben könnte. Jemand hat mich aufgesucht, beschränken wir es darauf. Nicht Mrs. Sigsby, Luke, und auch nicht Mr. Stackhouse. Von der Regierung war er ebenfalls nicht. Er war alt und hat gesagt, er würde Leute rekrutieren. Ob ich einen Job will, wenn mein Militärdienst vorüber ist. Leichte Arbeit, hat er gesagt, aber nur für jemand, der schweigen kann. Ich hatte überlegt, mich noch mal zu verpflichten, aber das hat sich besser angehört. Weil der Mann gesagt hat, ich würde meinem Land wesentlich mehr helfen, als ich das im Irak oder in Afghanistan jemals könnte. Deshalb hab ich das Angebot angenommen, und als sie mich zur Haushälterin gemacht haben, hat mich das nicht gestört. Natürlich wusste ich, was sie taten, aber zuerst hat mich auch das nicht gestört, weil ich wusste, warum es geschah. Das war gut für mich, weil es im Institut so läuft wie in der Mafia – wenn man mal drin ist, kommt man nicht mehr raus. Als ich nicht mehr genug Geld hatte, um die Schulden von meinem Mann zu bezahlen, und als ich Angst bekam, dass die Geier mir das Geld wegnehmen würden, das ich für meinen Jungen gespart hatte, habe ich vorgeschlagen, was zusätzlich zu machen, und das haben Mrs. Sigsby und Mr. Stackhouse genehmigt.«

»Spitzeln«, murmelte Luke.

»Es war so leicht, wie ein paar ausgelatschte Schuhe anzuziehen. Zwölf Jahre war ich im Institut, aber gespitzelt habe ich bloß die letzten sechzehn Monate, und am Ende hat mir das, was ich da tat, ein schlechtes Gewissen gemacht. Damit meine ich nicht bloß das Spitzeln. In den Geheimgefängnissen bin ich desensibilisiert worden, und entsprechend war ich auch im Institut anfangs unempfänglich, aber mit der Zeit hat sich das abgenutzt, so wie sich das Wachs auf einem Auto abnutzt, wenn man es nicht ab und zu erneuert. Es waren ja Kinder, weißt du, und Kinder wollen Erwachsenen, die freundlich und mitfühlend sind, gern vertrauen. Außerdem war es ja nicht so, als ob sie jemand etwas angetan hätten wie die Bombenleger früher. Im Gegenteil: Man hat ihnen was angetan, ihnen und ihrer Familie. Trotzdem hätte ich vielleicht weitergemacht. Wenn ich ehrlich bin – und es ist zu spät für irgendetwas anderes–, wäre es wahrscheinlich sogar so gelaufen. Aber dann bin ich krank geworden, und ich bin dir begegnet, Luke. Du hast mir geholfen, aber das ist nicht der Grund, weshalb ich dir geholfen habe. Jedenfalls nicht der einzige und auch nicht der Hauptgrund. Ich habe gemerkt, wie klug du warst, viel klüger als alle anderen Kinder und als die Leute, die dich entführt haben. Ich wusste, dass denen das völlig egal war, genauso wie ihnen dein Humor egal war und deine Bereitschaft, einer alten kranken Schachtel wie mir zu helfen, obwohl du wusstest, dass du dadurch Probleme kriegen kannst. Für die warst du bloß ein weiteres Rädchen in der Maschine, das man benutzen konnte, bis es verschlissen war. Am Ende wäre aus dir dasselbe geworden wie aus allen anderen. Aus Hunderten. Vielleicht sogar aus Tausenden, wenn man bedenkt, wie lange es das Institut schon gibt.«

»Ist sie wahnsinnig?«, fragte George Burkett.

»Klappe!«, sagte der Sheriff. Über seinen Bauch gebeugt, hatte er den Blick unverwandt auf den Bildschirm gerichtet.

Maureen hatte innegehalten, um einen Schluck Wasser zu trinken und sich dann die Augen zu reiben, die tief in ihren Höhlen versunken waren. Es waren kranke Augen. Traurige Augen. Sterbende Augen, dachte Luke, die der Ewigkeit direkt ins Gesicht blickten.

»Trotzdem war es eine schwere Entscheidung, und zwar nicht nur wegen dem, was sie mir oder dir hätten antun können, Luke. Es war deshalb schwer, weil wenn du es wirklich schaffst zu entkommen, wenn sie dich nicht im Wald oder in Dennison River Bend schnappen, und wenn du jemand findest, der dir glaubt… wenn du das alles schaffst, kannst du das, was sich hier seit fünfzig oder sechzig Jahren abspielt, an die Öffentlichkeit zerren. Es über den Köpfen von denen hier zusammenstürzen lassen.«

Wie Samson im Tempel, dachte Luke.

Sie beugte sich vor und blickte wieder direkt in die Kamera. Direkt in seine Augen.

»Und das könnte das Ende der Welt bedeuten.«

21

Die untergehende Sonne verwandelte die neben der State Route 92 verlaufenden Eisenbahngleise in rötliche Linien aus Feuer und ließ das Schild am Straßenrand erstrahlen wie im Scheinwerferlicht:

WILLKOMMEN IN DUPRAY, S.C.
VERWALTUNGSSITZ VON FAIRLEE COUNTY
1.369 EINWOHNER
EIN SCHÖNER ORT FÜR EINEN BESUCH NOCH SCHÖNER IST ES, HIER ZU LEBEN!

Denny Williams lenkte den an der Spitze der kleinen Kolonne fahrenden Van auf das unbefestigte Bankett. Die anderen reihten sich hinter ihm ein. Er instruierte erst die Insassen seines eigenen Fahrzeugs – Mrs. Sigsby, Dr. Evans, Michelle Robertson – und stieg dann aus, um dasselbe bei den anderen beiden zu tun. »Funkgeräte aus, Ohrhörer rausnehmen. Wir wissen nicht, welche Frequenz die örtliche Polizei und die State Police verwenden. Handys ausschalten. Von jetzt an ist die Operation völlig abgeschottet und wird es bleiben, bis wir wieder am Flugplatz sind.«

Er kehrte zu seinem Fahrzeug zurück, setzte sich hinters Lenkrad und wandte sich an Mrs. Sigsby. »Alles in Ordnung, Ma’am?«

»Alles in Ordnung.«

»Ich bin nur unter Protest hier«, sagte Dr. Evans wieder.

»Klappe«, sagte Mrs. Sigsby. »Denny? Los geht’s.«

Sie rollten durch Fairlee County. Auf der einen Straßenseite sah man Scheunen, Felder und Kiefernwäldchen, auf der anderen Bahngleise und noch mehr Bäume. Die Stadt war nun nur noch zwei Meilen entfernt.

22

Corinne Rawson stand vor dem Vorführraum und quatschte mit Jake »the Snake« Howland und Phil »the Pill« Chaffitz. Da sie als Kind von ihrem Vater und von zwei ihrer vier älteren Brüder missbraucht worden war, hatte sie nie ein Problem mit ihrer Tätigkeit im Hinterbau gehabt. Sie wusste, welchen Ruf sie bei den Kindern genoss, aber das störte sie nicht. In dem Trailer-Park in Reno, wo sie aufgewachsen war, hatte sie mehr als genug Ohrfeigen eingesteckt, und aus ihrer Sicht war das jetzt ein guter Ausgleich. Außerdem geschah es für eine gute Sache. Womit es sich um eine typische Win-win-Situation handelte.

Natürlich gab es Nachteile, wenn man im Hinterbau arbeitete. Zum Beispiel wurde einem der Kopf mit zu vielen Informationen zugekleistert. So wusste sie unter anderem, dass Phil sie vögeln wollte, Jake hingegen nicht, weil Jake nur auf Frauen mit Riesentitten und einem breiten Hintern stand. Und sie wusste, dass sie mit keinem von den beiden etwas zu tun haben wollte, jedenfalls nicht in der Hinsicht. Seit sie siebzehn war, war sie schlicht anders gepolt.

In Büchern und Filmen wurde Telepathie immer als tolle Sache dargestellt, aber im echten Leben war sie ausgesprochen nervig. Sie war mit dem Summen verbunden, was beschissen war, und sie steigerte sich, was doppelt beschissen war. Die Haushälterinnen und Hausmeister arbeiteten abwechselnd im Vorder- und im Hinterbau, was nützlich war, aber die in Rot gekleideten Pfleger arbeiteten hier und nirgendwo anders. Verteilt waren sie auf zwei Teams, Alpha und Beta. Jedes arbeitete vier Monate am Stück und hatte die nächsten vier Monate frei. Corinne stand kurz vor dem Ende ihrer aktuellen Viermonatsschicht. Anschließend würde sie eine oder zwei Wochen im nahen »Dorf« des Instituts entspannen, um ihr eigentliches Selbst wiederzugewinnen, und dann zu ihrem kleinen Haus in New Jersey fahren, wo sie mit Andrea zusammenlebte, die glaubte, dass ihre Partnerin in einem streng geheimen militärischen Projekt tätig war. Streng geheim war das Institut tatsächlich, militärisch war es nicht.

Während ihrer Zeit im Dorf würden ihre schwachen telepathischen Fähigkeiten allmählich nachlassen und bei der Rückkehr zu Andrea nicht mehr vorhanden sein. Einige Tage nach Beginn der nächsten Schicht würden sie sich dann wieder in sie hineinschleichen. Wäre Corinne zu so was wie Mitgefühl fähig gewesen (eine Empfindung, die man ihr schon im Alter von dreizehn Jahren weitgehend aus dem Leib geprügelt hatte), so hätte sie es Dr. Hallas und Dr. James entgegengebracht. Die waren praktisch immer hier, was bedeutete, dass sie dem Summen beinahe ständig ausgesetzt waren, und man sah, was das aus ihnen machte. Wie sie wusste, gab Dr. Hendricks, der leitende Mediziner des Instituts, den beiden Ärzten Injektionen, die den konstanten Verfall bremsen sollten, aber Bremsen war bei weitem nicht dasselbe wie Aufhalten.

Horace Keller, ein Pfleger im Hinterbau, mit dem sie befreundet war, bezeichnete Heckle und Jeckle als hochfunktionale Irre. Irgendwann, meinte er, würde einer von ihnen völlig ausrasten, vielleicht auch beide, und dann müssten die Bosse neue medizinische Talente finden. Corinne war das völlig egal. Ihre Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass die Kids zum Essen gingen, wenn das angesagt war, in ihren Zimmern verschwanden, wenn sie das tun sollten (was die dort machten, ging Corinne nichts an), und an den Filmabenden im Vorführraum saßen und sich an die Regeln hielten. Wenn sie das nicht taten, klatschte Corinne ihnen eine.

»Heute Abend sind die Rüben ziemlich unruhig«, sagte Jake the Snake. »Man hört sie da drin rumoren. Haltet die Taser bereit, wenn wir sie um acht füttern, ja?«

»Abends ist es immer schlimmer«, sagte Phil. »Ich glaube… Scheiße, was ist das denn?«

Auch Corinne spürte es. An das Summen waren sie gewöhnt, so wie man sich an das Geräusch eines brummenden Kühlschranks oder einer rasselnden Klimaanlage gewöhnte. Jetzt allerdings schwoll es plötzlich zu einem Pegel an, wie sie ihn an den speziellen Filmabenden aushalten mussten, an denen die Wunderkerze zum Einsatz kam. Nur dass es an solchen Abenden hauptsächlich aus Richtung der geschlossenen und verriegelten Tür von Station A kam, auch bekannt als Rübenacker. Das war auch jetzt der Fall, aber Corinne spürte es zusätzlich aus einer anderen Richtung wie einen starken Luftzug. Es kam aus dem Aufenthaltsraum, wohin die Kids sich nach dem Film verzogen hatten. Zuerst waren die von ihnen dorthin getrottet, die noch hochfunktional waren, dann waren ihnen die restlichen gefolgt, die bald auf dem Acker landen würden.

»Was zum Teufel veranstalten die denn da!«, rief Phil und presste sich die Hände an die Schläfen.

Während Corinne zum Aufenthaltsraum rannte, zog sie ihren Schockstock aus dem Holster. Jake war direkt hinter ihr. Phil, der entweder sensibler auf das Summen reagierte oder schlicht Angst hatte, blieb, wo er war, und presste sich weiterhin die Hände an die Schläfen, damit ihm nicht der Kopf platzte.

Als Corinne die Tür erreichte, sah sie ein knappes Dutzend Kinder vor sich. Selbst Iris Stanhope, die nach dem morgigen Film definitiv auf dem Rübenacker landen würde, war dabei. Die Kids hatten einen Kreis gebildet und hielten sich an den Händen. Hier war das Summen so stark, dass Corinne die Augen tränten. Sogar ihre Zahnfüllungen schienen zu vibrieren.

Ich muss mir den Neuen schnappen, dachte sie. Den Pimpf da drüben, denn der steckt offenbar dahinter. Wenn ich dem einen Stromstoß verpasse, bricht die Verbindung hoffentlich in Stücke.

Doch noch während sie das dachte, öffneten sich ihre Finger, und der Schockstock fiel auf den Teppichboden. Hinter sich, fast überdeckt vom Summen, hörte sie, wie Jake die Kids anbrüllte, sie sollten aufhören und in ihren Zimmern verschwinden. Das schwarze Mädchen sah Corinne mit einem unverschämten Grinsen auf den Lippen an.

Das wische ich dir auf der Stelle vom Gesicht, du kleines Aas, dachte Corinne, und als sie die Hand hob, nickte das schwarze Mädchen.

Genau, schlag nur zu.

Eine weitere Stimme gesellte sich zu der von Kalisha: Schlag zu!

Dann alle andern: Schlag zu! Schlag zu! Schlag zu!

Corinne Rawson fing an, sich selbst zu ohrfeigen, erst mit der rechten Hand, dann mit der linken, hin und her, immer heftiger. Sie nahm zwar wahr, dass ihre Wangen sich zuerst heiß anfühlten und dann brannten, aber die Wahrnehmung war schwach und weit weg, denn jetzt war das Summen kein Summen mehr, sondern ein gewaltiges WAAAAAH wie eine innere Rückkopplung.

Sie fiel auf die Knie, während Jake sich an ihr vorbeischob. »Hört sofort auf damit, ihr verfluchten kleinen…«

Seine Hand hob sich, und es knisterte, als er sich einen Stromstoß zwischen die Augen verpasste. Er zuckte zurück. Zuerst spreizten seine Beine sich, um sich dann mit einer flotten Tanzbewegung zu schließen. Seine Augen quollen hervor, sein Mund klappte auf, und er steckte sich den Lauf seines Schockstocks hinein. Jetzt war das elektrische Knistern gedämpft, aber die Wirkung war umso sichtbarer. Jakes Kehle schwoll an wie eine Seifenblase beim Pusten, in seinen Nasenlöchern erstrahlte kurz ein blaues Licht. Dann stürzte er vorwärts aufs Gesicht, wobei er sich den schlanken Lauf des Schockstocks bis zum Griff in den Mund steckte. Sein Zeigefinger krampfte sich immer noch um den Auslöser.

Von Kalisha angeführt, marschierten die Kinder händchenhaltend in den Flur wie Erstklässler beim Schulausflug. Als Phil the Pill sie sah, schreckte er zurück, den Schockstock in einer Hand. Mit der anderen klammerte er sich an den Türrahmen des Vorführraums. Ein Stück weiter hinten, zwischen der Cafeteria auf der einen und der Tür von Station A auf der anderen Seite, stand mit weit aufgerissenem Mund Dr. Everett Hallas.

Jetzt hämmerten Fäuste an die verschlossene Doppeltür zum Rübenacker. Phil ließ seinen Schockstock fallen und hob die Hand, um den auf ihn zukommenden Kindern zu zeigen, dass sie leer war.

»Ich mach euch keine Probleme«, sagte er. »Egal was ihr vorhabt, ich mach euch keine…«

Die Tür des Vorführraums fiel krachend zu, wobei sie seine Stimme und drei von seinen Fingern abschnitt.

Dr. Hallas drehte sich um und floh.

Zwei Pfleger stürzten aus dem Personalraum hinter der Treppe zum Krematorium. Mit gezogenem Schockstock rannten sie auf Kalisha und ihren zusammengewürfelten Trupp zu, hielten jedoch vor der Tür zu Station A inne, versetzten sich gegenseitig einen Stromstoß und sanken auf die Knie. Dann tauschten sie weiter elektrische Stöße, bis beide reglos auf dem Boden zusammenbrachen. Weitere Pfleger tauchten auf, sahen oder spürten, was vor sich ging, und zogen sich zurück, einige die Treppe zum Krematorium hinunter (wo es in mehrfacher Hinsicht nicht weiterging), andere in den Personalraum oder in den Aufenthaltsraum der Ärzte dahinter.

Los, komm, Sha. Avery blickte den Flur entlang, an Phil – der heulend auf seine blutenden Fingerstummel starrte – und den beiden reglos daliegenden Pflegern vorbei.

Hauen wir nicht ab?

Doch. Aber zuerst lassen wir die anderen raus.

Die kleine Kolonne marschierte durch den Flur auf Station A zu, direkt ins Zentrum des Summens.

23

»Ich weiß nicht, wie sie die Zielpersonen auswählen«, sagte Maureen. »Darüber habe ich oft nachgedacht, aber offenbar funktioniert es, denn es hat ja seit mehr als fünfundsiebzig Jahren niemand mehr eine Atombombe abgeworfen oder einen Weltkrieg angefangen. Überleg mal, was für eine fantastische Leistung das ist. Ja, manche Leute sagen, dass Gott uns behütet, und manche sagen, das läge an den diplomatischen Bemühungen oder an dem, was man als Gleichgewicht des Schreckens bezeichnet, aber das glaube ich alles nicht. Es liegt am Institut.«

Sie nahm wieder einen Schluck Wasser, bevor sie weitersprach.

»Welche Kinder sie entführen müssen, wissen sie wegen einem Test, der meistens gleich nach der Geburt gemacht wird. Eigentlich soll ich nicht wissen, was für ein Test das ist, schließlich bin ich bloß eine bescheidene Haushälterin, aber ich bespitzle nicht nur Kinder, ich sperre auch sonst die Ohren auf. Und ich schnüffle herum. Bei dem Test geht es um BDNF, das ist ein Wachstumsfaktor. Kinder mit einem hohen BDNF-Spiegel werden ausgeforscht und beobachtet, um später gekidnappt und ins Institut gebracht zu werden. Manchmal geschieht das, wenn sie schon sechzehn sind, aber die meisten sind jünger. Die mit einem richtig hohen BDNF-Spiegel schnappen sie sich so früh wie möglich. Wir hatten schon Kinder hier, die gerade mal acht Jahre alt waren.«

Das erklärt, weshalb Avery da war, dachte Luke. Und die Wilcox-Zwillinge.

»Im Vorderbau werden die Kinder vorbereitet. Das geschieht teilweise mit Injektionen und teilweise, indem man sie etwas aussetzt, was Dr. Hendricks als Stass-Lichter bezeichnet. Manche von den Kindern, die hier ankommen, haben telepathische Fähigkeiten; sie können Gedanken lesen. Die anderen sind Telekinetiker, das heißt, sie können mental Gegenstände bewegen. Durch die Injektionen und die Stass-Lichter passiert bei einigen Kindern nichts, aber bei den meisten werden die Fähigkeiten, die sie haben, wenigstens ein bisschen stärker. Einige wenige, die Hendricks als Pinks bezeichnet, werden mit zusätzlichen Tests und Spritzen traktiert und entwickeln manchmal beide Fähigkeiten. Ich hab Dr. Hendricks einmal sagen hören, dass es noch weitere Fähigkeiten geben könnte, und wenn man sie entdecken würde, könnte das die Welt zu einem besseren Ort machen.«

»TP und TK zugleich«, murmelte Luke. »Das ist bei mir passiert, aber ich hab’s verborgen gehalten. Wenigstens hab ich das versucht.«

»Wenn die Kinder bereit sind… äh… eingesetzt zu werden, kommen sie vom Vorder- in den Hinterbau. Dort zeigt man ihnen Filme, auf denen immer wieder dieselbe Person zu sehen ist, zu Hause, bei der Arbeit, in der Freizeit, bei Familientreffen. Am Ende bekommen sie ein Triggerbild zu sehen, durch das die Stass-Lichter erzeugt werden. Außerdem stellt es eine Verbindung zwischen ihnen her. Es ist nämlich so… solange sie allein sind, sind ihre Fähigkeiten trotz der Verstärkung relativ klein, aber wenn sie zusammen sind, nimmt ihre Kraft auf bestimmte Weise zu… dafür gibt’s einen mathematischen Begriff, aber…«

»Exponentiell«, sagte Luke.

»Den weiß ich nicht. Ich bin müde. Wichtig ist sowieso nur, dass die Kinder eingesetzt werden, um bestimmte Leute zu eliminieren. Manchmal sieht das nach einem Unfall aus, manchmal nach Selbstmord, manchmal nach Mord. Aber es sind immer die Kinder. Dieser Politiker, Mark Berkowitz? Das waren die Kinder. Und Jangi Gafoor, der sich vor zwei Jahren angeblich versehentlich in seiner Bombenwerkstatt in Kundus in die Luft gesprengt hat? Das waren auch die Kinder. Allein in meiner Zeit im Institut gab es mehrere Hundert solche Todesfälle. Man würde meinen, dass das ohne Sinn und Verstand geschieht – zum Beispiel hat sich vor sechs Jahren ein argentinischer Dichter mit Natronlauge umgebracht–, und ich kann keinen Zusammenhang sehen, aber es muss einen geben, denn die Welt existiert ja noch. Einmal habe ich Mrs. Sigsby, die große Chefin, sagen hören, dass wir wie Leute sind, die ständig ein Boot retten, das sonst sinken würde, und ich glaube ihr.«

Maureen rieb sich die Augen, dann beugte sie sich vor und blickte konzentriert in die Kamera.

»Sie brauchen ständig Nachschub an Kindern mit einem hohen BDNF-Spiegel, weil die im Hinterbau verbraucht werden. Sie kriegen Kopfschmerzen, die immer schlimmer werden, und jedes Mal wenn sie die Stass-Lichter oder Dr. Hendricks mit seiner Wunderkerze sehen, verlieren sie mehr von sich selbst. Wenn man sie am Ende auf den Rübenacker schafft – so wird Station A vom Personal genannt–, ist es so, als würden sie an fortgeschrittenem Alzheimer oder einer anderen Form von Demenz leiden. Ihr Zustand verschlimmert sich immer weiter, bis sie sterben, normalerweise an Lungenentzündung, weil es auf dem Rübenacker absichtlich kalt ist. Manchmal ist es so…« Sie hob die Schultern. »Ach Gott, es ist so, als würden sie vergessen, wie man den nächsten Atemzug tut. Um die Leichen loszuwerden, hat das Institut ein hochmodernes Krematorium.«

»Nein«, sagte Sheriff John leise. »O nein.«

»Das Personal im Hinterbau arbeitet in langen Schichten, das heißt, es ist ein paar Monate im Dienst und hat dann ein paar Monate frei. Das muss so sein, weil die Atmosphäre dort toxisch ist. Aber weil keiner vom Personal einen hohen BDNF-Spiegel hat, läuft der Prozess langsamer ab. Bei manchen scheint fast überhaupt nichts zu passieren.«

Wieder trank sie etwas Wasser.

»Die zwei Ärzte dort sind allerdings praktisch die ganze Zeit im Einsatz, weshalb beide allmählich den Verstand verlieren. Das weiß ich, weil ich es gesehen habe. Die Haushälterinnen und Hausmeister sind abwechselnd im Vorder- und im Hinterbau, aber viel kürzer. Die Leute in der Cafeteria auch. Ich weiß, das sind eine Menge Informationen, und es gibt noch mehr zu sagen, aber mehr schaffe ich jetzt nicht. Deshalb muss ich aufhören, aber ich will dir noch etwas zeigen, Luke. Dir und allen, die jetzt mit dir zusammen sind. Es ist schwer, so etwas anzuschauen, aber ich hoffe, du schaffst es, weil ich mein Leben riskiert habe, um es aufzunehmen.«

Sie holte zitternd Luft und versuchte zu lächeln. Luke fing zu weinen an, zuerst lautlos.

»Luke, dir bei der Flucht zu helfen war die schwerste Entscheidung meines Lebens, obwohl mir der Tod ins Auge blickt und obwohl mich auf der anderen Seite die Hölle erwartet, daran habe ich keinen Zweifel. Es war schwer, weil das Boot, von dem ich gesprochen habe, jetzt womöglich sinkt, und daran werde ich schuld sein. Deshalb musste ich mich zwischen deinem Leben und dem von den Milliarden Menschen auf der Erde entscheiden, deren Leben vom Werk des Instituts abhängt, ohne dass sie es wissen. Ich habe mich für dich entschieden, was Gott mir vergeben möge.«

Der Bildschirm wurde blau. Tag Faraday griff nach der Tastatur des Laptops, aber Tim hielt seine Hand fest. »Moment.«

Man sah ein statisches Flimmern, es rauschte, und dann begann ein neues Video. Die Kamera bewegte sich einen Flur mit dickem, blauem Teppichboden entlang. Periodisch hörte man ein kratzendes Geräusch, ab und zu wurde das Bild dunkel, als würde eine Jalousie herunterfahren.

Das filmt sie durch eine kleine Öffnung, die sie in die Brusttasche ihrer Uniform gemacht hat, dachte Luke. Durch ein Loch oder einen Riss. Das Kratzen kommt vom Stoff, der über das Mikrofon reibt.

Er bezweifelte, dass man im tiefen Wald von Maine Mobilfunkempfang hatte, aber Handys waren im Institut wahrscheinlich trotzdem streng verboten, weil die Kameras ja funktionieren würden. Wenn man Maureen erwischt hätte, hätte man ihr garantiert nicht nur den Lohn gekürzt oder ihr gekündigt. Sie hatte also tatsächlich ihr Leben riskiert. Das ließ die Tränen schneller fließen. Luke spürte, wie Officer Gullickson – Wendy – den Arm um ihn legte. Dankbar lehnte er sich an sie, richtete den Blick jedoch unverwandt auf den Bildschirm. Jetzt sah er endlich den Hinterbau, den Ort, dem er entkommen war. Den Ort, an dem sich Avery inzwischen zweifellos aufhielt, falls er überhaupt noch am Leben war.

Die Kamera kam an zwei geöffneten Türen rechts vorüber. Maureen drehte sich kurz zur Seite, um den Betrachtern einen Vorführraum mit etwa zwei Dutzend Plüschsesseln zu zeigen. Eine kleine Schar Kinder saß darin.

»Raucht das Mädchen da etwa?«, fragte Wendy.

»Ja«, sagte Luke. »Offenbar kriegt man auch im Hinterbau Zigaretten. Das Mädchen gehört zu meinen Freunden, sie heißt Iris Stanhope. Man hat sie weggebracht, bevor ich geflohen bin. Ob sie wohl noch am Leben ist? Und wenn sie’s ist, ob sie dann wohl noch denken kann?«

Die Kamera schwenkte auf den Flur zurück. Einige weitere Kinder begegneten Maureen und blickten ohne wahrnehmbares Interesse zu ihr auf, bevor sie aus dem Bild verschwanden. Ein Pfleger in einem roten Kittel tauchte auf. Seine Stimme klang gedämpft, weil das Telefon in der Brusttasche steckte, aber die Worte waren verständlich: Er fragte Maureen, ob sie sich freue, wieder da zu sein. Maureen entgegnete, ob er sie für verrückt halte, worauf er lachte. Dann sagte er etwas über Kaffee, aber der Stoff der Tasche raschelte so laut, dass Luke nichts mehr verstand.

»Trägt er da am Gürtel eine Pistole?«, fragte Sheriff John.

»Das ist ein Schockstock«, sagte Luke. »So eine Art Taser. Die Dinger haben einen Regler, mit dem man die Stromstärke einstellen kann.«

»Verdammte Scheiße«, sagte Frank Potter.

Die Kamera kam an zwei weiteren offenen Türen vorüber, diesmal auf der linken Seite, dann blieb Maureen nach gut zwei Dutzend Schritten vor einer Tür stehen, die geschlossen war. STATION A stand in roten Lettern darauf. Mit leiser Stimme sagte Maureen: »Das ist der Rübenacker.«

Ihre von einem blauen Latexhandschuh geschützte Hand kam ins Bild. Sie hielt eine Schlüsselkarte. Bis auf die Farbe – Hellorange – sah die Karte aus wie diejenige, die Luke geklaut hatte, aber er ahnte, dass die im Hinterbau arbeitenden Leute damit nicht so sorglos umgingen. Maureen hielt sie vor den Scanner über dem Knauf, es summte, und sie zog die Tür auf.

Dahinter lag die Hölle.

24

Orphan Annie war Baseballfan und verbrachte warme Sommerabende normalerweise in ihrem Zelt, um sich Liveübertragungen von Spielen der Fireflies anzuhören, eines Minor-League-Teams aus Columbia. Wenn ein Spieler der Mannschaft an die Rumble Ponies weitergereicht wurde, ein höherklassiges Partnerteam in Binghamton, freute sie sich einerseits für ihn und war andererseits traurig, ihn zu verlieren. Nach Spielende machte sie ein Nickerchen, und wenn sie aufwachte, schaltete sie die Sendung von George Allman ein, um zu hören, was in der Wunderbaren Welt des Wunderlichen vor sich ging, wie George es nannte.

Heute Abend jedoch war sie neugierig auf den Jungen, der von einem Güterzug gesprungen war. Deshalb beschloss sie, einen Ausflug zur Polizeistation zu machen und Nachforschungen anzustellen. Reinlassen würde man sie wahrscheinlich nicht, aber manchmal kamen Frankie Potter oder Bill Wicklow in die Durchfahrt mit Annies Luftmatratze heraus, um eine Zigarette zu rauchen. Wenn sie nett fragte, verrieten die ihr vielleicht, was es mit dem Jungen auf sich hatte. Schließlich hatte sie sich um ihn gekümmert und ihn ein bisschen getröstet, weshalb sie ein legitimes Interesse an ihm hatte.

Von ihrem Zelt in der Nähe der Lagerhäuser führte ein Fußpfad durch den Wald im Westen der Stadt. Wenn sie die Durchfahrt aufsuchte, um die Nacht dort auf ihrer Luftmatratze zu verbringen (oder in der Polizeistation, wenn es kalt war; das erlaubte man ihr, weil sie Tim bei seiner Anti-Raser-Kampagne geholfen hatte), dann folgte sie diesem Pfad bis zur Rückseite vom Gem, dem städtischen Kino, wo sie als jüngere (und geistig etwas gesündere) Frau viele interessante Filme gesehen hatte. Nun hatte das alte Gemmie schon vor mindestens fünfzehn Jahren dichtgemacht, und der Parkplatz dahinter war eine Wildnis aus Unkraut und Goldrute. Meist überquerte sie ihn und ging an der baufälligen Backsteinmauer des Kinos entlang zum Gehsteig. Gleich auf der anderen Seite der Hauptstraße waren die Polizeistation und der DuPray Mercantile, zwischen denen die Durchfahrt verlief, die sie als ihr Revier betrachtete.

Als sie an diesem Abend gerade vom Pfad auf den Parkplatz treten wollte, sah sie ein Fahrzeug die Pine Street entlangkommen. Ihm folgte ein weiteres… und noch eins. Drei Vans, dicht hintereinander. Und obwohl es schon dämmerte, hatten die nicht mal das Standlicht eingeschaltet. Annie stand zwischen den Bäumen und beobachtete, wie die Wagen auf den Parkplatz einbogen, wo sie synchron umdrehten und nebeneinander aufgereiht stehen blieben, die Schnauze zur Pine Street gerichtet. Fast so, als wollten sie später schnell die Flucht ergreifen.

Die Türen gingen auf, und mehrere Männer und Frauen stiegen aus. Einer der Männer trug ein Sportsakko und feine Hosen mit Bügelfalte. Eine der Frauen, die älter war als die anderen, trug einen dunkelroten Hosenanzug. Eine andere Frau hatte ein mit Blumen bedrucktes Kleid an. Die hatte eine Handtasche dabei, die restlichen vier Frauen nicht. Die meisten trugen Jeans und ein dunkles T-Shirt.

Bis auf den Mann im Sakko, der stehen blieb und zuschaute, bewegten alle sich flink und konzentriert, ganz so, als ob sie einen Auftrag hätten. Sie kamen Annie irgendwie militärisch vor, was sich bald bestätigte. Zwei Männer und eine von den jüngeren Frauen öffneten die Heckklappen der Wagen. Aus einem hievten die Männer eine lange Metallkiste. Aus einem anderen holte die Frau Gürtel mit Holster, die sie an alle verteilte, allerdings nicht an den Mann mit dem Sakko, einen anderen Mann mit kurzen blonden Haaren und die Frau in dem Kleid mit Blumenmuster. Die Metallkiste wurde aufgeklappt, und man entnahm ihr zwei Waffen mit langem Lauf, bei denen es sich nicht um Jagdgewehre handelte. Solche Dinger bezeichnete Annie Ledoux für sich als Schul-Attentäter-Flinten.

Die Frau in dem Blumenmusterkleid steckte eine kleine Pistole in ihre Handtasche. Der Mann neben ihr steckte sich eine größere hinten am Rücken in den Gürtel und zog sein T-Shirt darüber. Die anderen steckten sich ihre Waffen ins Holster. Alles in allem sahen sie wie ein Stoßtrupp aus. Verdammt, sie waren ein Stoßtrupp. Was anderes konnten sie eigentlich nicht sein.

Eine sogenannte normale Person, die ihre Abendnachrichten nicht von George Allman bezog, hätte womöglich nur verwirrt und erschrocken auf die Szene gestarrt und sich gefragt, was ein Haufen von bewaffneten Männern und Frauen wohl in einem verschlafenen Städtchen in South Carolina zu suchen hatte, wo es nur eine einzige Bank gab, die nachts zudem geschlossen hatte. Deshalb hätte so jemand sein Handy aus der Tasche gezogen und den Notruf gewählt. Annie hingegen war keine sogenannte normale Person und wusste daher genau, was diese bewaffneten Männer und Frauen, mindestens zehn an der Zahl, vielleicht auch mehr, im Schilde führten. Sie waren zwar nicht wie erwartet mit schwarzen SUVs gekommen, aber sie waren wegen dem Jungen da. Natürlich waren sie das.

Den Notruf zu wählen, um die Leute in der hiesigen Polizeistation zu alarmieren, war ohnehin keine Option für Annie, die selbst dann kein Handy dabeigehabt hätte, wenn sie sich eines hätte leisten können. Mobiltelefone verseuchten den Kopf mit Strahlung, das wusste jeder Trottel, und außerdem konnten sie dich dann lokalisieren. Deshalb folgte Annie weiter dem Fußpfad, jetzt im Laufschritt, bis sie die Rückseite des Friseurladens zwei Häuser weiter erreicht hatte. Eine klapprige Außentreppe führte zur Wohnung über dem Geschäft nach oben. Annie erklomm sie, so schnell sie konnte, wobei sie ihren Poncho und den langen Rock darunter anhob, damit sie nicht darauf trat und hinfiel. Oben angelangt, hämmerte sie an die Tür, bis sie hinter dem zerfetzten Vorhang sah, dass Corbett Denton seine voluminöse Wampe auf sie zuschob. Als er den Vorhang beiseitezog und hinausspähte, glänzte seine Glatze im Licht der mit Fliegendreck übersäten Küchenlampe.

»Annie? Was willst du denn hier? Du kriegst von mir nichts zu essen, falls…«

»Da sind Männer«, sagte sie keuchend. Sie hätte hinzufügen können, dass auch Frauen dabei waren, aber einfach nur Männer zu sagen klang in ihren Ohren furchterregender. »Die haben hinter dem Kino geparkt!«

»Mach, dass du fortkommst, Annie. Ich hab keine Lust, mir deine bekloppten…«

»Es geht um einen Jungen! Ich glaube, die Männer wollen in die Polizeistation und ihn entführen! Es gibt bestimmt gleich eine Schießerei!«

»Sag mal, was zum Teufel…«

»Bitte, Drummer, bitte! Die haben Maschinengewehre, glaube ich, und das ist wirklich ein ganz lieber Junge!«

Er öffnete die Tür. »Lass mich mal deinen Atem riechen.«

Sie packte ihn an der Brust seines Trägerunterhemds. »Ich hab schon seit zehn Jahren nichts mehr getrunken! Bitte, Drummer, die wollen den Jungen holen!«

Er schnüffelte und runzelte die Stirn. »Kein Alkohol. Hast du etwa Halluzinationen?«

»Nein!«

»Du hast von Maschinengewehren gesprochen. Meinst du vielleicht ein Sturmgewehr wie das AR-15?« Allmählich machte Drummer Denton einen interessierten Eindruck.

»Ja! Nein! Keine Ahnung! Aber du hast Waffen im Haus, das weiß ich! Die musst du mitbringen!«

»Du hast wohl den Verstand verloren«, sagte er, worauf Annie in Tränen ausbrach. Drummer kannte sie schon fast sein ganzes Leben – als beide viel jünger gewesen waren, war er sogar ein paarmal mit ihr ausgegangen–, aber er hatte sie noch nie weinen sehen. Offenbar glaubte sie wirklich, dass etwas Schlimmes vor sich ging, und Drummer beschloss, dass es nicht drauf ankam. Ohnehin war er nur mit dem beschäftigt gewesen, womit er jeden Abend beschäftigt war – über die Sinnlosigkeit des Lebens nachzudenken.

»Na gut, werfen wir mal ’nen Blick drauf.«

»Und deine Waffen? Du nimmst doch deine Waffen mit?«

»Nein, zum Teufel. Ich hab gesagt, dass wir ’nen Blick drauf werfen.«

»Drummer, bitte!«

»Ein Blick!«, sagte er. »Das ist alles, wozu ich bereit bin. Ja oder nein?«

Da Orphan Annie keine andere Wahl hatte, entschied sie sich für ja.

25

»Du lieber Gott, was ist denn das?«

Wendys Worte klangen gedämpft, weil sie die Hand vor den Mund geschlagen hatte. Niemand erwiderte etwas, alle starrten auf den Bildschirm. Luke war genauso vor Staunen und Entsetzen ergriffen wie alle übrigen.

Der hintere Teil vom Hinterbau – Station A, der Rübenacker – war ein langer, hoher Raum, der wie diese verlassenen Fabrikhallen aussah, in denen am Ende von Actionfilmen immer das letzte große Feuergefecht stattfand. Solche Filme hatte Luke sich mit Rolf vor tausend Jahren gern angeschaut, damals, als er noch ein echtes Kind gewesen war. Erhellt wurde der Raum von Leuchtstoffröhren, die eine gespenstische Unterwasserstimmung erzeugten. Das sie schützende Drahtgitter warf Schatten auf den Boden; die langen, schmalen Fenster an den Wänden waren mit einem dickeren Drahtgitter verkleidet. Es gab keine Betten, nur nackte Matratzen, die teilweise in den Mittelgang geschoben waren. Einige waren umgedreht, eine lehnte schief an den nackten Betonsteinen der Wand. Die war mit gelbem Zeug befleckt, vermutlich von Erbrochenem.

An einer Wand, auf der in Schablonenschrift das Motto IHR ALLE SEID RETTER! stand, lief eine Rinne entlang, durch die Wasser floss. Darüber hockte ein Mädchen, nackt bis auf ein Paar schmutzige Socken. Den Rücken an die Wand gelehnt und die Hände auf die Knie gestützt, entleerte sie den Darm. Es raschelte wieder, weil sich das Telefon am Stoff der Brusttasche rieb, in der es wohl mit Klebeband befestigt war. Vorübergehend wurde der Bildschirm dunkel. Als der Schlitz, durch den die Kamera spähte, sich wieder öffnete, sah man das Mädchen wie betrunken davonwanken, während ihr Kot die Rinne entlanggespült wurde.

Eine Frau in einer braunen Haushälterinnenuniform war damit beschäftigt, mit einem Dampfreiniger weitere Kotze, weiteren Kot, irgendwelches verschüttete Essen und weiß Gott was zu beseitigen. Als sie Maureen sah, winkte sie und sagte etwas, was nicht zu verstehen war, nicht nur weil der Dampfreiniger dröhnte, sondern auch weil der Rübenacker ein Tollhaus aus Stimmen und Schreien war. Ein Mädchen bewegte sich Rad schlagend durch den Mittelgang. Ein Junge in schmutziger Unterhose mit Pickeln im Gesicht und einer verschmierten Brille tief auf der Nase trottete vorüber. Er rief unablässig: »Ja-ja-ja-ja-ja-ja!«, und schlug sich bei jeder betonten Silbe oben auf den Kopf. Luke fiel ein, dass Kalisha von einem Jungen mit Pickeln und Brille erzählt hatte. Das war an seinem ersten Tag im Institut gewesen. Kommt mir so vor, als wär Petey schon ewig weg, dabei war er noch letzte Woche hier, hatte sie gesagt, und das da war offensichtlich Petey. Beziehungsweise das, was von ihm übrig war.

»Littlejohn«, murmelte Luke. »Das war sein Nachname, glaube ich. Pete Littlejohn.«

Niemand hörte ihn. Alle starrten wie hypnotisiert auf den Monitor.

Gegenüber der für Ausscheidungszwecke dienenden Rinne befand sich ein langer Trog auf Stahlstützen. Davor standen zwei Mädchen und ein Junge. Die Mädchen schaufelten sich mit den Händen irgendeinen braunen Glibber in den Mund. Tim, der das ungläubig und angeekelt beobachtete, fühlte sich an Maypo erinnert, einen Haferbrei, den er in seiner Kindheit gegessen hatte. Der Junge beugte sich vornüber und tauchte sein Gesicht mitten in das Zeug. Dabei hatte er die Hände seitlich ausgestreckt und schnippte mit den Fingern. Einige andere Kinder lagen auf den Matratzen und starrten an die Decke. Ihre Gesichter waren von den Schatten des Drahtgitters tätowiert.

Während Maureen auf die Frau mit dem Dampfreiniger zuging, wohl um deren Aufgabe zu übernehmen, verschwand das Bild, und der Bildschirm wurde wieder blau. Alle warteten darauf, dass Maureen auf ihrem Ohrensessel auftauchte, um weitere Erklärungen zu liefern, aber es kam nichts.

»Mein Gott, was war das denn?«, sagte Frank Potter.

»Der hintere Teil vom Hinterbau«, sagte Luke. Er war totenbleich.

»Was für Leute sind das bloß, die Kinder in ein solches…«

»Monster«, sagte Luke. Er stand auf, griff sich mit der Hand an die Stirn und taumelte.

Tim hielt ihn fest. »Meinst du, du kippst gleich um?«

»Nein. Weiß nicht. Ich muss mal raus. Brauch ein bisschen frische Luft. Ich hab Platzangst.«

Tim sah zu Sheriff John hinüber, der nickte. »Gehen Sie mit ihm nach hinten in die Durchfahrt raus. Vielleicht erholt er sich da wieder.«

»Ich komme mit«, sagte Wendy. »Muss sowieso die Tür aufschließen.«

Auf der Tür hinter den Zellen stand in großen weißen Buchstaben: ALARMGESICHERT – NUR IM NOTFALL ÖFFNEN. Wendy nahm ihren Schlüsselbund zur Hand, um den Alarm auszuschalten. Tim drückte die Tür mit einer Hand auf und führte Luke, der jetzt zwar nicht mehr taumelte, aber noch furchtbar bleich war, ins Freie. Was eine posttraumatische Belastungsstörung war, wusste Tim zwar, kannte so etwas bisher aber nur aus dem Fernsehen. Jetzt sah er es an einem Jungen, dem noch kein einziges Barthaar wuchs.

»Tritt bloß nicht auf irgendwelches Zeug, das Annie hier gelagert hat«, sagte Wendy. »Vor allem nicht auf ihre Luftmatratze. Das kann sie gar nicht leiden.«

Luke fragte nicht, was eine Luftmatratze, zwei Rucksäcke, eine dreirädriger Einkaufswagen und ein zusammengerollter Schlafsack in der Durchfahrt zu suchen hatten. Tief ein- und ausatmend ging er langsam auf die Straße zu. Nach ein paar Schritten blieb er stehen, beugte sich vor und stützte sich auf die Knie.

»Geht’s besser?«, fragte Tim.

»Meine Freunde werden sie rauslassen«, sagte Luke, der immer noch vornübergebeugt dastand.

»Wen denn?«, fragte Wendy. »Diese…« Sie wusste nicht, wie sie den Satz beenden sollte. Es war auch egal, weil Luke ihre Worte anscheinend gar nicht hörte.

»Ich kann sie zwar nicht sehen, aber ich weiß es trotzdem. Wie das möglich ist, ist mir nicht klar, aber es ist so. Ich glaube, es liegt am Avester. An Avery, meine ich. Kalisha ist bei ihm. Nicky auch. Und George. Mein Gott, sie sind so stark! Zusammen sind sie so stark!«

Luke richtete sich auf und ging weiter. Gerade als er am Ende der Einfahrt stehen blieb, flammten die sechs Straßenlaternen an der Hauptstraße auf. Erstaunt blickte er sich nach Tim und Wendy um. »War ich das?«

»Nein, mein Lieber«, sagte Wendy und lachte auf. »Um die Zeit gehen sie immer an. Komm jetzt lieber wieder rein. Dann hol ich dir eine von den Coladosen, die Sheriff John gebunkert hat.«

Sie berührte ihn an der Schulter. Luke schüttelte sie ab. »Moment!«

Ein Paar überquerte Händchen haltend die sonst menschenleere Straße. Der Mann hatte kurzes blondes Haar. Die Frau trug ein Kleid mit Blumen darauf.

26

Als Nicky die Hände von Kalisha und George losließ, nahm die von den Kindern erzeugte Kraft ab, aber nur ein bisschen. Weil die anderen sich jetzt hinter der Tür von Station A versammelt hatten und der größte Teil der Kraft von ihnen kam.

Das ist wie eine Wippe, dachte Nicky. Während die Denkfähigkeit sinkt, gehen TP und TK in die Höhe. Und die Kids hinter der Tür da können praktisch gar nicht mehr denken.

Das stimmt, sagte Avery. So funktioniert es. Die sind die Batterie.

Nicky spürte, dass sein Kopf klar und völlig schmerzfrei war. Als er einen Blick in die Runde warf, sah er, dass es den anderen ebenso ging. Ob die Kopfschmerzen wiederkehren würden – und falls ja, wann–, war unmöglich vorherzusagen. Vorläufig war er einfach nur dankbar.

Die Wunderkerze war jetzt nicht mehr nötig; darüber waren die Kids hinweg. Sie waren ganz im Einklang mit dem Summen.

Nicky beugte sich über die Pfleger, die sich mit ihren Tasern gegenseitig schachmatt gesetzt hatten, und durchsuchte ihre Taschen. Als er gefunden hatte, was er suchte, gab er es Kalisha, die es an Avery weiterreichte. »Mach du es«, sagte sie.

Avery Dixon – der zu dieser Zeit eigentlich mit seinen Eltern beim Abendessen hätte sitzen sollen, nachdem er einen weiteren harten Tag als kleinster Junge in der fünften Klasse verbracht hatte – nahm die orangefarbene Schlüsselkarte entgegen und hielt sie an den Sensor. Mit einem Klicken ging die Tür auf. Dahinter standen die Insassen des Rübenackers wie Schafe, die sich bei einem Unwetter zusammendrängten. Sie waren schmutzig, hauptsächlich unbekleidet und wie in Trance. Mehrere von ihnen sabberten. Petey Littlejohn rief: »Ja-ja-ja-ja-ja-ja!«, während er sich auf den Kopf klopfte.

Die erholen sich nicht wieder, dachte Avery. Ihr Kopf ist zu stark ausgehöhlt. Bei Iris ist das vielleicht auch so.

George: Aber wir anderen haben vielleicht eine Chance.

Ja.

Kalisha, die wusste, wie kalt das klang, aber auch, wie nötig es war: In der Zwischenzeit können wir sie benutzen.

»Was jetzt?«, fragte Katie. »Was jetzt, was jetzt?«

Zunächst gab niemand eine Antwort, weil niemand eine wusste. Dann meldete sich Avery.

Auf in den Vorderbau. Da holen wir die restlichen Kids, und dann nichts wie raus hier!

Helen: Und wo sollen wir dann hin?

Ein Alarm ging los und heulte an- und abschwellend vor sich hin. Niemand achtete darauf.

»Darüber machen wir uns später Gedanken«, sagte Nicky. Er ergriff wieder die Hände von Kalisha und George. »Zuerst zahlen wir es denen heim. Machen ordentlich Zoff! Hat jemand was dagegen?«

Das hatte niemand. Die elf, von denen die Revolte ausgegangen war, fassten sich an den Händen und gingen den Flur zurück zum Aufenthaltsraum, hinter dem sich der Aufzug befand. Schlurfend wie Zombies folgten ihnen die Insassen von Station A, angezogen von der magnetischen Ausstrahlung von Kindern, die noch denken konnten. Das Summen war leiser geworden, aber noch vorhanden.

Avery Dixon streckte die Fühler aus und suchte nach Luke. Obwohl der so weit weg war, dass er ihnen nicht helfen konnte, hoffte er, ihn zu finden. Das würde bedeuten, dass wenigstens eines der vom Institut versklavten Kinder frei war. Es war nicht unwahrscheinlich, dass die anderen sterben würden. Das Personal in diesem Höllenloch würde alles tun, sie an der Flucht zu hindern.

Alles.

27

In seinem Büro, das sich im selben Flur wie das von Mrs. Sigsby befand, schritt Trevor Stackhouse auf und ab, weil er zu nervös war, sich hinzusetzen. Daran würde sich nichts ändern, bis er etwas von Julia hörte. Was die dann berichtete, konnte gut oder schlecht sein, aber alles war besser als diese Warterei.

Ein Telefon läutete, aber es war weder das traditionelle Klingeln des Festnetzgeräts noch das Brrt-brrt seines kastenförmigen Spezialhandys, sondern das gebieterische doppelte Tröten des roten Notfalltelefons. Das letzte Mal hatte es sich gemeldet, als in der Cafeteria diese beschissene Show mit den Zwillingen und Harry Cross abgelaufen war. Stackhouse hob ab, doch bevor er ein Wort sagen konnte, plapperte Dr. Hallas ihm ins Ohr.

»Die sind ausgebrochen, jedenfalls die, denen wir Filme zeigen, und ich glaube, die Rüben auch; sie haben mindestens drei von den Pflegern ausgeschaltet, nein, vier, Corinne meint, dass Phil Chaffitz tot ist, durch einen Elektro…«

»KLAPPE!«, brüllte Stackhouse ins Telefon. Und als er sich sicher war, dass Heckle ihm zuhörte (nein, sicher war er sich nicht, er hoffte es bloß), sagte er: »Nehmen Sie sich erst mal zusammen, und berichten Sie dann der Reihe nach, was passiert ist.«

Durch das Gebrüll so erschreckt, dass er annähernd seine frühere Vernunft wiedererlangte, erzählte Hallas, was er gesehen hatte. Während er sich dem Ende seiner Geschichte näherte, ging der allgemeine Alarm des Instituts los.

»Menschenskind, haben Sie den etwa ausgelöst, Everett?«

»Nein, nein, ich doch nicht, das muss Joanne gewesen sein. Dr. James. Die war im Krematorium. Da geht sie zum Meditieren hin.«

Stackhouse kam ein bizarres Bild in den Sinn: Jeckle, die mit gekreuzten Beinen vor der Ofentür saß und um Gelassenheit betete. Beinahe hätte ihn das abgelenkt, doch dann zwang er sich, sich auf die Situation zu konzentrieren. Offenbar hatten die Kinder im Hinterbau irgendeine dilettantische Revolte vom Zaun gebrochen. Wie hatte das geschehen können? Bisher war so etwas nie vorgekommen. Und wieso gerade jetzt?

Heckle redete immer noch, aber Stackhouse hatte genug gehört. »Jetzt hören Sie mal zu, Everett. Suchen Sie alle orangen Karten, die Sie finden können, und verbrennen Sie die, okay? Verbrennen Sie die.«

»Wie… wie soll ich sie denn…«

»Auf Ebene E habt ihr doch einen verdammten Verbrennungsofen!«, donnerte Stackhouse. »Verwenden Sie das Ding einfach mal für was anderes als für Kinder!«

Er legte auf und griff zum Festnetztelefon, um Fellowes im Überwachungsraum anzurufen. Andy wollte wissen, was der Alarm zu bedeuten habe. Er hörte sich verängstigt an.

»Wir haben im Hinterbau ein Problem, aber damit werde ich schon fertig«, sagte Stackhouse. »Speisen Sie die Kameras von dort in meinen Computer ein. Stellen Sie keine Fragen, tun Sie’s einfach.«

Er schaltete seinen Desktop ein – war das altersschwache Ding jemals so langsam hochgefahren? – und klickte auf ÜBERWACHUNGSKAMERAS. Worauf er den weitgehend leeren Aufenthaltsraum im Vorderbau sah… einige Kinder auf dem Spielplatz…

»Andy!«, brüllte er. »Nicht den Vorderbau, den Hinterbau! Hören Sie auf, Scheiß zu…«

Das Bild schaltete um, und jetzt sah er durch den Staubfilm auf dem Objektiv hindurch Heckle, der in seinem Büro kauerte. Gerade kam Jeckle herein, vermutlich von ihrer unterbrochenen Meditationssitzung. Sie warf einen Blick über die Schulter.

»Okay, das ist besser. Ab jetzt übernehme ich selbst.«

Er schaltete um und sah den Personalraum, in den sich mehrere Pfleger zurückgezogen hatten. Die Tür zum Flur war geschlossen und wahrscheinlich verriegelt. Von diesen Typen war keine Unterstützung zu erwarten.

Klick, da war der mit blauem Teppichboden belegte Hauptflur, in dem mindestens drei Pfleger lagen. Nein, es waren vier. Jake Howland saß vor dem Vorführraum auf dem Boden und presste sich die Hand an seinen blutgetränkten Kasack.

Klick, da war die Cafeteria, leer.

Klick, und da war der Aufenthaltsraum. Corinne Rawson kniete neben Phil Chaffitz und plapperte etwas in ihr Funkgerät. Phil sah tatsächlich tot aus.

Klick, da war die Nische mit dem Aufzug, dessen Tür sich gerade zu schließen begann. Die Kabine war so groß wie diejenige, die man in Krankenhäusern zum Patiententransport verwendete, und sie war vollgepackt mit Kindern. Hauptsächlich unbekleidet. Das mussten die Rüben aus Station A sein. Wenn er sie da drin einsperren konnte… sodass sie in der Falle saßen…

Klick, und durch den lästigen Film aus Staub und Fett hindurch sah Stackhouse weitere Kinder auf Ebene E, beinahe ein Dutzend. Sie trieben sich vor der Aufzugtür herum. Offenbar warteten sie darauf, dass die aufging und die übrigen Meuterzwerge herausströmten. Ganz in der Nähe befand sich der Tunnel, der zum Vorderbau führte. Nicht gut.

Stackhouse griff nach dem Hörer des Festnetztelefons und hörte nur Stille. Offenbar hatte Fellowes aufgelegt. Stackhouse verfluchte die vergeudete Zeit, während er erneut dessen Nummer wählte. »Können Sie den Strom für den Aufzug im Hinterbau abstellen? Damit der im Schaft stecken bleibt?«

»Keine Ahnung«, sagte Fellowes. »Eventuell. Vielleicht steht es im Handbuch für Notfallmaßnahmen. Moment, ich sehe mal…«

Aber es war schon zu spät. Auf Ebene E öffnete sich die Aufzugtür, die Flüchtlinge vom Rübenacker tappten heraus und blickten sich in dem gefliesten Flur um, als gäbe es etwas zu sehen. Das war schlimm, aber Stackhouse sah etwas noch Schlimmeres. Selbst wenn Heckle und Jeckle noch so viele Schlüsselkarten einsammelten und verbrannten, würde das nichts nützen, denn eines von den Kindern – es war der Pimpf, der Ellis gemeinsam mit der Haushälterin zur Flucht verholfen hatte – hielt eine solche Karte in der Hand. Damit konnte er nicht nur die Tür zum Tunnel öffnen, sondern auch die zu Ebene F im Vorderbau. Und wenn die Meute in den Vorderbau gelangte, konnte wer weiß was passieren.

Einen schier endlosen Moment lang saß Stackhouse völlig reglos da. Fellowes quäkte ihm etwas ins Ohr, aber das kam aus weiter Ferne. Denn jetzt hielt der kleine Scheißkerl die Karte tatsächlich an den Sensor und führte seine fröhliche Schar in den Tunnel. Noch knapp zweihundert Meter, dann hatten sie den Vorderbau erreicht. Hinter dem letzten schloss sich die Tür, und der Flur war leer. Als Stackhouse auf eine andere Kamera umschaltete, sah er, wie die Kinder durch den gefliesten Tunnel tappten.

Dr. Hendricks kam hereingestürmt, der gute, alte Donkey Kong mit flatterndem Hemdzipfel, halb offenem Hosenschlitz und rot geränderten, hervorquellenden Augen. »Was ist da los? Was…«

Zu allem Überfluss fing auch noch das Spezialtelefon mit seinem Brrt-brrt-brrt an. Stackhouse hob die Hand, um Hendricks zum Schweigen zu bringen. Das Telefon schnarrte unablässig weiter.

»Andy, die sind jetzt im Tunnel. Sie kommen hierher, und sie haben eine Schlüsselkarte. Wir müssen sie aufhalten. Haben Sie irgendeine Idee?«

Er erwartete nichts als weitere Panik, aber Fellowes überraschte ihn. »Ich glaube, ich könnte die Schlösser abschalten.«

»Was?«

»Die Karten deaktivieren kann ich nicht, aber ich kann die Schlösser blockieren. Die Codes sind computergeneriert, deshalb…«

»Wollen Sie damit sagen, dass man die Bälger einsperren kann?«

»Tja, sozusagen.«

»Dann tun Sie’s! Und zwar sofort!«

»Was ist denn passiert?«, fragte Hendricks. »Meine Güte, ich wollte gerade für heute Schluss machen, da hat der Alarm…«

»Klappe«, sagte Stackhouse. »Aber bleiben Sie hier. Vielleicht brauche ich Sie.«

Das Spezialtelefon plärrte immer noch. Ohne den Blick von dem Tunnel und den hindurchtappenden Strohköpfen abzuwenden, griff er danach. Womit er an jedes Ohr ein Telefon hielt wie jemand in einer alten Slapstickkomödie. »Was ist? Was gibt es?«

»Wir sind vor Ort, und der Junge ist tatsächlich da«, sagte Mrs. Sigsby. Die Verbindung war so gut, als hätte sie im Nebenraum gesessen. »Ich erwarte, dass er sich in Kürze wieder in unseren Händen befindet.« Sie machte eine Pause. »Oder tot ist.«

»Gut für Sie, Julia, aber wir haben hier ein Problem. Es hat eine…«

»Egal was es ist, kümmern Sie sich drum. Hier geht es gleich los. Ich rufe Sie wieder an, sobald wir die Stadt hinter uns gelassen haben.«

Damit legte sie auf. Das war Stackhouse egal, denn wenn Fellowes auf seinem Computer kein Kunststück zustande brachte, gab es vielleicht nichts, wohin Julia zurückkehren konnte.

»Andy! Sind Sie noch dran?«

»Bin ich.«

»Haben Sie es geschafft?«

Stackhouse verspürte die furchtbare Gewissheit, dass Fellowes ihm mitteilen würde, das alte EDV-System habe sich ausgerechnet diesen kritischen Moment ausgesucht, um sich aufzuhängen.

»Ja. Jedenfalls bin ich mir ziemlich sicher. Die Nachricht auf meinem Bildschirm lautet: Orange Schlüsselkarten ungültig, neuen Autorisierungscode eingeben.«

Dass Andy Fellowes sich »ziemlich sicher« war, beruhigte Stackhouse nicht im Mindesten. Er beugte sich auf seinem Stuhl vor und verschränkte die Hände, während er auf den Computermonitor starrte. Hendricks trat hinter ihn und spähte ihm über die Schulter.

»Mein Gott, was tun die denn da unten?«

»Die kommen uns holen, nehme ich an«, sagte Stackhouse. »Wir werden gleich herausfinden, ob sie das schaffen.«

Die Parade aus potenziellen Flüchtlingen verließ das Blickfeld der Kamera. Stackhouse tippte auf die Taste, mit der man das Bild umschaltete, und sah Corinne Rawson, die sich den Kopf von Phil in den Schoß gelegt hatte. Dann hatte er die richtige Kamera gefunden. Sie war auf die Tür zu Ebene F vom Vorderbau gerichtet, die sich am anderen Ende des Tunnels befand. Die Kinder erreichten sie gerade.

»Jetzt geht’s ans Eingemachte«, sagte Stackhouse. Er ballte die Fäuste so fest, dass sich die Fingernägel in die Handflächen bohrten.

Dixon hob die orangefarbene Karte und hielt sie vor den Sensor. Dann griff er nach dem Türknauf, und weil daraufhin nichts geschah, entspannte sich Stackhouse endlich. Neben ihm stieß Hendricks Luft aus, die stark nach Bourbon roch. Im Dienst zu trinken war ebenso verboten wie die Mitnahme eines Mobiltelefons, doch darüber wollte Stackhouse sich jetzt keine Gedanken machen.

Fliegen in einem Marmeladenglas. Mehr seid ihr jetzt nicht mehr, Jungs und Mädels. Und was euch als Nächstes erwartet…

Tja, das ging ihn glücklicherweise nichts mehr an. Was mit denen geschah, sobald das Problem in South Carolina aus der Welt geschafft war, lag in der Verantwortung von Mrs. Sigsby.

»Deshalb bezahlt man dich ja so fürstlich, Julia«, sagte er, lehnte sich zurück und beobachtete, wie einige von den Kids – jetzt von Wilholm angeführt – sich auf den Rückweg machten und an der Tür rüttelten, durch die sie gekommen waren. Ohne Erfolg. Wilholm, diese Nervensäge, warf den Kopf zurück. Sein Mund ging auf. Leider gab es da unten kein Mikrofon, sonst hätte Stackhouse den frustrierten Schrei genießen können.

»Wir haben das Problem eingedämmt«, sagte er zu Hendricks.

»Hm«, machte der.

Stackhouse drehte sich zu ihm um. »Was soll das heißen?«

»Vielleicht nicht ganz.«

28

Tim legte Luke die Hand auf die Schulter. »Wenn du dich wieder in der Lage dazu fühlst, sollten wir jetzt wirklich reingehen und die Sache klären. Erst mal kriegst du eine Cola, und dann…«

»Moment«, sagte Luke wieder, den Blick auf das Händchen haltende Paar gerichtet, das die Straße überquerte. Die beiden hatten die drei an der Mündung der Durchfahrt stehenden Personen offenkundig nicht gesehen, da ihre Aufmerksamkeit auf die Polizeistation gerichtet war.

»Die sind bestimmt von der Autobahn abgefahren und haben sich verirrt«, sagte Wendy. »Jede Wette. Mit so was haben wir jeden Monat ein paarmal zu tun. Kommst du jetzt bitte wieder rein?«

Luke achtete nicht auf sie. Er spürte die anderen Kinder zwar noch – jetzt wirkten sie bestürzt–, aber sie waren so weit hinten in seinen Gedanken, als kämen ihre Stimmen durch einen Lüftungsschlitz aus einem anderen Zimmer. Diese Frau… die mit dem Blumenkleid da drüben…

Etwas fällt um und weckt mich auf. Das muss der Pokal sein, den wir im Baseball gewonnen haben, der ist nämlich ziemlich groß und macht allerhand Lärm. Jemand beugt sich über mich. Ich sage: »Mama?«, obwohl ich weiß, dass es jemand anderes ist, aber es ist eine Frau, und Mama ist das erste Wort, das mir in mein schläfriges Hirn kommt. Und die Frau sagt…

»Klar«, sagte Luke. »Alles, was du verlangst.«

»Super!«, sagte Wendy. »Dann wollen wir mal…«

»Nein, das hat die da gesagt.« Er zeigte auf das Paar, das den Gehsteig vor der Polizeistation erreicht hatte. Jetzt hielten die beiden sich nicht mehr an der Hand. Luke wandte sich an Tim, in seinen weit aufgerissenen Augen lag Panik. »Das ist eine von denen, die mich gekidnappt haben! Im Institut hab ich sie wiedergesehen! Im Pausenraum! Sie sind hier! Ich hab dir ja gesagt, dass sie kommen, und jetzt sind sie hier!«

Luke wirbelte herum und rannte auf die Tür zu, die von außen nicht verriegelt war, damit Annie nachts hereinkommen konnte, wenn sie wollte.

»Was…«, fing Wendy an, aber Tim wartete nicht. Er rannte hinter dem Jungen aus dem Güterwagen her. Vielleicht hatte der doch recht gehabt, was Norbert Hollister anging.

29

»Na?«, flüsterte Orphan Annie so laut, dass man es kaum mehr als Flüstern bezeichnen konnte. »Glaubst du mir jetzt, Mr. Corbett Denton?«

Drummer erwiderte nichts, weil er zu verarbeiten versuchte, was er da vor sich sah: drei nebeneinander stehende Vans und dahinter eine Gruppe von Männern und Frauen. Die waren zu neunt. Damit hätte man ein verdammtes Baseballteam aufstellen können. Und Annie hatte recht, sie waren bewaffnet. Es dämmerte zwar, doch im Spätsommer war es ziemlich lange hell, und außerdem waren die Straßenlaternen angegangen. Drummer sah in Gürtelholstern steckende Pistolen und zwei lange Flinten, die nach Sturmgewehren aussahen. Mordwerkzeuge. Das Baseballteam hatte sich nahe dem Gehsteig an der Seite des alten Kinos versammelt, geschützt von dessen Ziegelmauer. Offensichtlich warteten diese Typen auf irgendetwas.

»Die haben Kundschafter ausgesandt!«, zischte Annie. »Siehst du, wie die gerade die Straße überqueren? Die wollen bestimmt rauskriegen, wie viele Leute beim Sheriff drin sind! Holst du jetzt endlich deine verdammten Waffen, oder muss ich das selbst tun?«

Drummer drehte sich um und rannte zum ersten Mal in zwanzig, wenn nicht gar dreißig Jahren richtig los. Nachdem er die Treppe zu seiner Wohnung über dem Friseurladen erklommen hatte, blieb er stehen, um ein paarmal tief Luft zu holen. Dabei fragte er sich, ob sein Herz die Anstrengung aushalten oder einfach platzen würde.

Sein Gewehr Kaliber .30-06, mit dem er sich in einer dieser im Süden so schönen Nächte erschießen wollte (vielleicht hätte er das schon getan, hätte er nicht gelegentlich ein interessantes Gespräch mit dem neuen städtischen Nachtklopfer geführt), stand im Kleiderschrank und war geladen. Das waren auch die automatische Pistole Kaliber .45 und der Revolver .38 auf dem obersten Regalbrett.

Er griff sich alle drei Waffen und rannte die Treppe wieder hinunter, keuchend, schwitzend und wahrscheinlich stinkend wie ein Schwein im Dampfbad – aber dafür fühlte er sich zum ersten Mal seit Jahren wieder lebendig. Unten angelangt, lauschte er auf das Geräusch von Schüssen, aber bisher war nichts zu hören.

Vielleicht sind es Cops, dachte er, aber das kam ihm eher unwahrscheinlich vor. Cops wären einfach reinmarschiert, hätten ihre Ausweise vorgezeigt und erklärt, weshalb sie gekommen seien. Außerdem wären sie mit schwarzen SUVs – Modell Suburban oder Escalade – angereist.

Wenigstens taten sie das im Fernsehen.

30

Nick Wilholm führte die zusammengewürfelte Truppe aus entführten Jungen und Mädchen zu der abgesperrten Tür des Vorderbaus zurück. Manche der Insassen von Station A waren dabei, andere tappten nur durch die Gegend. Pete Littlejohn fing wieder an, sich auf den Kopf zu klopfen und dabei ja-ja-ja-ja-ja-ja zu rufen. Im Tunnel entstand ein Echo, das seinen rhythmischen Singsang nicht nur nervig, sondern unerträglich machte.

»Fasst euch an den Händen«, sagte Nicky. »Alle.« Er hob das Kinn, deutete auf die umhertappenden Rüben und fügte hinzu: Ich glaube, ich kann sie anlocken.

Wie Mücken mit einer Insektenlampe, dachte Kalisha. Was zwar nicht besonders nett war, aber das war die Wahrheit selten.

Sie kamen tatsächlich. Während sie sich nacheinander dem Kreis anschlossen, wurde das Summen lauter. Durch die Wände des Tunnels war der Kreis eher kapselförmig, aber das machte nichts. Die Kraft war da.

Kalisha begriff, was Nicky dachte, nicht nur weil sie es auffing, sondern auch weil es die einzige Strategie war, die ihnen blieb.

Gemeinsam stärker, dachte sie, bevor sie laut zu Avery sagte: »Knack das Schloss da, Avester!«

Das Summen schwoll wieder zu dem rückgekoppelten Kreischen an. Hätte irgendjemand noch Kopfschmerzen gehabt, so hätte der entsetzt die Flucht ergriffen. Wieder empfand Kalisha ein Gefühl erhabener Kraft. Ein ähnliches Gefühl hatte sie verspürt, wenn die Wunderkerze gebrannt hatte, aber da war es ein schmutziges Gefühl gewesen. Jetzt war es makellos rein, weil sie es selbst erzeugten. Die Kinder von Station A schwiegen, aber sie lächelten. Auch sie spürten es, und es gefiel ihnen. Wahrscheinlich, dachte Kalisha, kommen sie damit dem Denken so nahe, wie es für sie überhaupt noch möglich ist.

Die Tür gab ein leises Ächzen von sich, und sie sahen, wie sie sich in ihrem Rahmen bewegte, aber das war alles. Avery hatte sich auf die Zehenspitzen erhoben und sein kleines Gesicht konzentriert angespannt. Jetzt sank er in sich zusammen und stieß den Atem aus.

George: Nein?

Avery: Nein. Wenn die Tür bloß abgeschlossen wäre, könnten wir es schaffen, glaube ich, aber es ist so, als wäre gar kein Schloss da.

»Tot«, sagte Iris. »Tot, tot, mausetot, ich hab es ja gesagt, das Schloss ist tot.«

»Die haben die Schlösser irgendwie eingefroren«, sagte Nicky. Und einfach durchbrechen können wir nicht, oder?

Avery: Nein, das ist massiver Stahl.

»Wo ist Superman, wenn man ihn braucht?«, sagte George. Er schob sich mit den Fingern die Wangen hoch, was ein humorloses Grinsen zum Vorschein brachte.

Helen setzte sich auf den Boden, schlug die Hände vors Gesicht und fing zu weinen an. »Wozu sind wir denn gut?« Das wiederholte sie, diesmal als mentales Echo: Wozu sind wir denn gut?

Nicky sah Kalisha an. Irgendwelche Ideen?

Nein.

Er wandte sich an Avery. Was ist mit dir?

Avery schüttelte den Kopf.

31

»Was meinen Sie mit nicht ganz?«, fragte Stackhouse.

Anstatt etwas zu erwidern, hastete Donkey Kong durchs Zimmer zur Sprechanlage, auf deren Gehäuse sich eine dicke Staubschicht abgesetzt hatte. Stackhouse hatte sie noch kein einziges Mal benutzt – es war ja nicht so, als ob er irgendwelche Tanzveranstaltungen oder Quizabende anzukündigen hatte. Dr. Hendricks beugte sich vor, um die primitiven Bedienelemente zu studieren, dann legte er einen Schalter um, worauf ein grünes Lämpchen aufleuchtete.

»Was haben Sie denn…«

Jetzt war Hendricks an der Reihe, Klappe zu sagen, und anstatt wütend zu werden, verspürte Stackhouse eine gewisse Bewunderung. Was immer der gute Doktor vorhatte, er hielt es offenbar für wichtig.

Hendricks griff nach dem Mikrofon, dann hielt er inne. »Kann man dafür sorgen, dass die entflohenen Kinder nicht hören, was ich sage? Wäre nicht gut, wenn sie auf gewisse Ideen kommen.«

»Im Tunnel gibt es keine Lautsprecher«, sagte Stackhouse und hoffte, damit recht zu haben. »Und der Hinterbau hat eine separate Sprechanlage, glaube ich. Was haben Sie denn vor?«

Hendricks sah ihn an, als wäre er geistig beschränkt. »Bloß weil man die körperlich eingesperrt hat, heißt das noch lange nicht, dass sie das auch mental wären.«

Ach du Scheiße, dachte Stackhouse. Ich habe ganz vergessen, wofür die hier sind.

»Wie funktioniert dieses Ding ei… Schon gut, ich hab’s kapiert.« Hendricks drückte die Taste an der Seite des Mikrofons, räusperte sich und begann zu sprechen. »Achtung, bitte. Alle Mitarbeiter, Achtung. Hier spricht Dr. Hendricks.« Er fuhr sich mit der Hand durch seine schütteren Haare, die dadurch noch wirrer wurden, als sie es bereits waren. »Aus dem Hinterbau sind Kinder entkommen, aber es besteht kein Grund zur Sorge. Ich wiederhole, kein Grund zur Sorge. Diese Kinder sind im Tunnel zwischen Vorder- und Hinterbau eingesperrt. Allerdings könnten sie versuchen, manche Mitarbeiter zu beeinflussen, so wie sie…« Er unterbrach sich, um sich mit der Zunge die Lippen zu befeuchten. »So wie sie bestimmte Leute beeinflussen, wenn diese ihre Arbeit verrichten. Zum Beispiel versuchen sie eventuell, jemand dazu zu bringen, sich selbst zu verletzen. Oder… tja… sie wollen zwei Personen dazu bringen, aufeinander loszugehen.«

Du lieber Himmel, dachte Stackhouse, das ist ja eine schöne Vorstellung.

»Hören Sie gut zu«, fuhr Hendricks fort. »Eine solche mentale Unterwanderung kann nur gelingen, wenn die Zielpersonen ahnungslos sind. Falls Sie also etwas spüren sollten… falls Sie Gedanken wahrnehmen, die nicht die Ihren sind… bleiben Sie ruhig und wehren Sie sich dagegen. Schieben Sie diese Gedanken von sich weg. Das wird Ihnen ziemlich leicht gelingen. Es kann nützlich sein, dabei etwas laut auszusprechen. Zu sagen: Ich höre nicht auf dich.«

Er wollte das Mikrofon weglegen, aber Stackhouse nahm es ihm ab. »Hier spricht Stackhouse. Alle Kinder im Vorderbau sind sofort in ihre Zimmer zu befördern. Setzt eure Taser ein, falls jemand sich weigert.«

Er schaltete die Sprechanlage aus und wandte sich an Hendricks. »Vielleicht fällt das den kleinen Scheißern im Tunnel ja gar nicht ein. Sind ja schließlich nur Kinder.«

»O doch, es wird ihnen einfallen«, sagte Hendricks. »Sie sind ja geübt darin.«

32

Tim holte Luke ein, als der gerade die Tür zum Zellentrakt öffnete. »Warte hier, Luke. Wendy, du kommst mit.«

»Du glaubst doch nicht wirklich…«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Lass deine Waffe vorläufig stecken, aber mach den Riemen auf.«

Während Tim und Wendy den kurzen Gang zwischen den vier leeren Zellen entlangeilten, hörten sie eine Männerstimme. Die klang ganz angenehm. Gut gelaunt sogar. »Man hat meiner Frau und mir erzählt, in Beaufort gäb’s ein paar interessante historische Gebäude, und da wollten wir eine Abkürzung nehmen, aber unser Navi hat uns in die Pfanne gehauen.«

»Ich hab ihn gezwungen, hier anzuhalten, um nach dem Weg zu fragen«, sagte die Frau, und als Tim das Büro betrat, sah er, dass sie ihren Mann – falls der blonde Typ das tatsächlich war – mit komischer Verzweiflung anblickte. »Das wollte er nämlich nicht. Männer meinen immer zu wissen, wo’s langgeht, nicht wahr?«

»Hören Sie, wir haben gerade ziemlich viel zu tun«, sagte Sheriff John, »und da hab ich keine Zeit…«

»Das ist sie!«, schrie Luke hinter Tim und Wendy so laut, dass beide zusammenzuckten. Die anderen Beamten sahen sich um. Luke drängte sich so rücksichtslos an Wendy vorbei, dass sie an die Wand taumelte. »Das ist die, die mir was ins Gesicht gesprüht hat, um mich zu betäuben! Du verdammte Bitch, du hast meine Eltern umgebracht!«

Er wollte sich auf die Frau stürzen, aber Tim erwischte ihn am Kragen und riss ihn zurück. Der blonde Mann und die Frau mit dem Blumenmusterkleid blickten überrascht, ja verblüfft drein. Anders gesagt: völlig normal. Nur dass Tim glaubte, für einen Moment noch einen anderen Ausdruck im Gesicht der Frau gesehen zu haben – ein flüchtiges Wiedererkennen.

»Da gibt es offenbar ein Missverständnis«, sagte sie und setzte ein verwirrtes Lächeln auf. »Wer ist dieser Junge? Ist er gaga?«

Obwohl er nur der städtische Nachtklopfer war und das noch fünf Monate bleiben würde, verhielt Tim sich, ohne nachzudenken, wieder wie ein Cop, genau wie in der Nacht, wo zwei junge Typen den kleinen Supermarkt überfallen und Absimil Dobira angeschossen hatten. »Wie wär’s, wenn Sie sich erst mal ausweisen?«, sagte er.

»Aber das ist doch wirklich nicht nötig«, sagte die Frau. »Ich weiß zwar nicht, für wen der Junge da uns hält, aber wir haben uns verirrt, und als ich klein war, hat meine Mutter mir immer gesagt, wenn ich mich verirre, soll ich einen Polizisten nach dem Weg fragen.«

Sheriff John erhob sich. »Mhm, mhm, das könnte stimmen, und wenn dem so ist, haben Sie doch sicher nichts dagegen, uns Ihren Führerschein zu zeigen, oder?«

»Überhaupt nicht«, sagte der Mann. »Der ist in meinem Portemonnaie.« Die Frau griff bereits mit ärgerlicher Miene in ihre Handtasche.

»Achtung!«, brüllte Luke. »Die sind bewaffnet!«

Tag Faraday und George Burkett blickten erstaunt drein, Frank Potter und Bill Wicklow eher verblüfft.

»Moment mal!«, sagte Sheriff John. »Die Hände so, dass ich sie sehen kann!«

Keiner der beiden zögerte. Als die Hand von Michelle Robertson aus ihrer Handtasche kam, hielt sie keinen Führerschein, sondern die SIG Sauer Nightmare Micro, mit der sie ausgestattet worden war. Denny Williams hatte ebenfalls nicht nach seinem Portemonnaie gegriffen, sondern nach seiner Glock. Der Sheriff und Deputy Faraday griffen nach ihren Dienstwaffen, aber sie waren langsam, sehr langsam.

Tim nicht. Er zog Wendy die Pistole aus dem Holster und richtete sie mit beiden Händen auf das Paar. »Waffen runter, runter damit!«

Das taten die beiden nicht. Michelle Robertson zielte auf Luke, worauf Tim einen einzigen Schuss auf sie abgab, der sie mit solcher Wucht rückwärts gegen einen Türflügel des Eingangs warf, dass die Milchglasscheibe einen Sprung bekam.

Denny Williams ließ sich auf ein Knie sinken und zielte auf Tim, der gerade noch Zeit hatte zu denken: Der Typ ist ein Profi, und ich bin geliefert. Doch dann zuckte die auf ihn gerichtete Waffe wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen nach oben, und das für Tim gedachte Geschoss bohrte sich in die Decke. Sheriff John Ashworth hob das Bein und versetzte dem blonden Mann einen Tritt an den Kopf, der ihn zu Boden warf. Bill Wicklow stampfte ihm aufs Handgelenk.

»Gib auf, du Dreckskerl, gib einfach auf!«

In diesem Moment erkannte Mrs. Sigsby, dass etwas schiefgelaufen war, worauf sie Louis Grant und Tom Jones befahl, die Sturmgewehre einzusetzen. Williams und Robertson waren nicht weiter wichtig.

Der Junge schon.

33

Die beiden HK33 erfüllten die bisher friedliche Dämmerung von DuPray mit Donner. Grant und Jones bestrichen die Backsteinfront der Polizeistation mit Feuer. Wölkchen aus rötlichem Staub stiegen auf, Fenster und Türscheiben zerbarsten nach innen. Die beiden standen auf dem Gehsteig, der Rest von Team Gold hatte sich hinter ihnen auf der Straße verteilt. Die einzige Ausnahme war Dr. Evans, der abseits stand und sich die Hände auf die Ohren presste.

»Jaaah!«, rief Winona Briggs. Sie tanzte von einem Bein aufs andere, als müsste sie dringend aufs Klo. »Macht sie kalt!«

»Los jetzt!«, brüllte Mrs. Sigsby. »Rein mit euch! Holt euch den Jungen oder tötet ihn! Holt ihn oder…«

Da erklang hinter ihnen eine Stimme. »Moment, Ma’am, da geht niemand rein. Wenn ihr’s versucht, leg ich euch um, das schwöre ich bei Gott. Ihr zwei da vorne, legt die Flinten auf den Boden, und zwar fix!«

Louis Grant und Tom Jones drehten sich um, allerdings ohne ihre Waffen hinzulegen.

»Wird’s bald?«, sagte Annie. »Sonst seid ihr tot. Das ist kein Scherz, Jungs. Ihr seid hier im Süden.«

Die beiden sahen sich an, dann legten sie ihre Sturmgewehre behutsam auf den Gehsteig.

Unter dem durchhängenden Vordach des Kinos sah Mrs. Sigsby zwei geradezu unglaubliche Gegner stehen: einen fetten Mann mit einem Pyjamaoberteil über der Hose und eine Frau mit wirren Haaren, die so was wie einen mexikanischen Poncho trug. Der Mann hatte ein Gewehr. Die Frau im Poncho hatte in einer Hand eine automatische Pistole und in der anderen einen Revolver.

»Ihr anderen tut jetzt schön dasselbe«, sagte Drummer Denton. »Ich hab euch vor der Flinte.«

Mrs. Sigsby betrachtete die beiden Hillbillys, die vor dem verlassenen Kino standen, und hatte einen zugleich schlichten und erschöpften Gedanken: Hört das denn nie auf?

Ein Schuss im Innern der Polizeistation, eine kurze Pause, dann ein weiterer Schuss. Als die Hillbillys in die betreffende Richtung blickten, bückten Grant und Jones sich schnell, um ihre Waffen aufzuheben.

»Untersteht euch!«, brüllte die Frau im Poncho.

Robin Lecks, die vor nicht allzu langer Zeit den Vater von Luke durch ein Kissen hindurch erschossen hatte, nutzte dieses winzige Zeitfenster, um ihre Pistole zu ziehen. Die anderen Mitglieder von Team Gold warfen sich auf den Boden, damit Grant und Jones ein freies Schussfeld hatten. Diese Reaktion hatte man ihnen antrainiert. Mrs. Sigsby blieb an Ort und Stelle stehen, als könnte ihre Wut auf das unerwartete Problem sie vor jedem Kugelhagel schützen.

34

Als die Konfrontation in South Carolina gerade erst begann, saßen Kalisha und ihre Freunde niedergeschlagen vor der Tür zum Vorderbau. Öffnen konnten sie die nicht, weil Iris recht hatte: Das Schloss war tot.

Nicky: Vielleicht können wir doch was tun. Die Typen im Vorderbau so überrumpeln wie die Pfleger vorhin.

Avery schüttelte den Kopf. Er sah weniger wie ein kleiner Junge aus als wie ein erschöpfter alter Mann. Das hab ich schon versucht. Hab Gladys aufs Korn genommen, weil ich die hasse. Die und ihr falsches Grinsen. Sie hat gesagt, dass sie nicht auf mich hört, und hat mich weggeschoben.

Kalisha betrachtete die Kinder aus Station A, die wieder durch die Gegend wanderten, als könnten sie irgendwo hin. Ein Mädchen schlug Rad; ein Junge mit verdreckten Boardshorts und einem zerrissenen T-Shirt ließ seinen Kopf unablässig, wenn auch nicht besonders hart, gegen die Wand dotzen; Pete Littlejohn plapperte immer noch sein Ja-ja-ja-ja-ja-ja vor sich hin. Aber wenn man sie rief, würden sie kommen, und sie verfügten über eine große Kraft. Kalisha griff nach der Hand von Avery. »Wenn wir alle gemeinsam…«

»Nein«, sagte Avery. Vielleicht schaffen wir es, dass die da oben sich ein bisschen komisch fühlen, dass ihnen schwindlig und übel wird… »Aber mehr nicht.«

Kalisha: Aber warum? Warum denn? Wenn wir diesen Bombenbastler drüben in Afghanistan töten konnten…

Avery: Weil der es vorher nicht gewusst hat. Der Prediger, dieser Westin, hat auch keine Ahnung. Aber wenn man es vorher weiß…

George: Dann kann man uns abwehren.

Avery nickte.

»Was können wir dann tun?«, sagte Helen. »Irgendwas muss es doch geben.«

Wieder schüttelte Avery den Kopf. Mir fällt nichts ein.

»Aber mir«, sagte Kalisha. »Wir stecken hier fest, aber wir kennen jemand, der draußen ist. Allerdings brauchen wir dafür alle.« Sie deutete mit dem Kopf auf die umherwandernden Flüchtlinge aus Station A. »Rufen wir sie!«

»Ich weiß nicht recht, Sha«, sagte Avery. »Bin ziemlich müde.«

»Bloß noch das eine Mal«, redete sie ihm zu.

Avery seufzte und streckte die Hände aus. Kalisha, Nicky, George, Helen und Katie bildeten mit ihm einen Kreis. Nach kurzem Zögern gesellte Iris sich dazu. Wieder kamen die anderen langsam angezuckelt. Sobald der kapselförmige Kreis vollständig war, schwoll das Summen an. Im Vorderbau spürten die Pfleger, MTAs und Hausmeister es und bekamen Angst, aber es war nicht auf sie gerichtet. Vierzehnhundert Meilen weit entfernt hatte Tim gerade eine Kugel direkt zwischen Michelle Robertsons Brüste gefeuert; Grant und Jones hoben ihre Sturmgewehre, um die Front der Polizeistation zu bestreichen; Bill Wicklow hatte Denny Williams den Fuß aufs Handgelenk gesetzt; neben ihm stand Sheriff John.

Die Kinder im Institut riefen Luke.

35

Luke überlegte nicht, ob er seine Gedanken einsetzen sollte, um die Waffe des blonden Mannes hochzucken zu lassen; er tat es einfach. Die Stass-Lichter kamen wieder und überlagerten vorübergehend alles andere. Als sie verblassten, sah er einen von den Cops auf dem Handgelenk des Blonden stehen, damit der seine Waffe losließ. Der Mund des Mannes war vor Schmerz verzerrt, Blut lief ihm am Gesicht hinunter, aber er gab nicht nach. Der Sheriff hob das Bein, um ihm einen weiteren Tritt an den Schädel zu verpassen.

Das alles sah Luke noch, doch dann waren die Stass-Lichter wieder da, greller denn je, und die Stimmen seiner Freunde trafen ihn wie ein Hammerschlag mitten im Kopf. Er taumelte rückwärts in den Durchgang zum Zellentrakt, die Hände wie zur Abwehr eines Boxhiebs gehoben, und stolperte über die eigenen Beine. Gerade als Grant und Jones losfeuerten, landete er auf dem Hintern.

Er sah, wie Tim sich auf Wendy stürzte, sie zu Boden riss und ihren Körper mit seinem schützte. Er sah Geschosse in den Sheriff und den Deputy einschlagen, der auf dem Handgelenk des Blonden stand. Beide stürzten zu Boden. Glassplitter flogen durch die Luft. Jemand schrie, wahrscheinlich Wendy. Draußen hörte Luke eine Frau, deren Stimme ihn merkwürdig an Mrs. Sigsby erinnerte, etwas rufen, was nach los jetzt klang.

Benommen von der doppelten Dosis an Stass-Lichtern und den vereinten Stimmen seiner Freunde, hatte Luke den Eindruck, dass alles um ihn herum sich verlangsamte. Er sah, wie sich einer von den anderen Deputys – er war verwundet, an seinem Arm lief Blut herunter – dem Eingang zuwandte, wahrscheinlich um festzustellen, wer da geschossen hatte. Seine Bewegungen wirkten wie in Zeitlupe. Dasselbe galt für den blonden Mann, der sich auf die Knie erhob. Es war, als würde Luke sich ein Unterwasserballett ansehen. Der Blonde schoss dem Deputy in den Rücken, um sich dann Luke zuzuwenden. Das geschah schneller, offenbar beschleunigte sich alles wieder. Bevor der Blonde abdrücken konnte, beugte sich ein anderer Deputy, er hatte rote Haare, nach unten und schoss ihm in die Schläfe. Der Blonde zuckte zur Seite und landete auf der Frau, die behauptet hatte, mit ihm verheiratet zu sein.

Draußen rief eine Frau, aber nicht die, die wie Mrs. Sigsby klang, sondern eine mit Südstaatenakzent: »Untersteht euch!«

Wieder krachten Schüsse, dann schrie die erste Frau: »Der Junge! Wir müssen den Jungen erwischen!«

Das ist sie tatsächlich, dachte Luke. Ich weiß nicht, wie das sein kann, aber sie ist es. Das da draußen ist Mrs. Sigsby.

36

Robin Lecks war eine gute Schützin, aber die Dämmerung hatte zugenommen, und die Entfernung war für eine Handfeuerwaffe nicht gerade günstig. Ihr Schuss erwischte Drummer Denton oben an der Schulter, anstatt sich in seinen Kopf zu bohren. Er taumelte rückwärts an das mit Brettern vernagelte Fenster der Kinokasse, und die nächsten beiden Schüsse gingen weit daneben. Orphan Annie wich nicht von der Stelle. Dazu war sie in der Wildnis von Georgia von einem Vater erzogen worden, der ihr eingeschärft hatte: »Gib nie klein bei, Mädchen, nicht um alles in der Welt!« Egal ob betrunken oder nüchtern, war Jean Ledoux ein erstklassiger Schütze gewesen und hatte ihr seine Künste beigebracht. Jetzt eröffnete sie mit beiden Waffen das Feuer, wobei sie den stärkeren Rückstoß der Fünfundvierziger kompensierte, ohne auch nur darüber nachzudenken. Sie erlegte einen der Typen mit den Sturmgewehren (es war Tony Fizzale, der nie wieder einen Schockstock einsetzen würde), ohne auf die drei oder vier Geschosse zu achten, die an ihr vorbeipfiffen. Eines flirtete kurz mit dem Saum ihres Ponchos.

Drummer hatte sich wieder aufgerappelt und zielte auf die Frau, die auf ihn geschossen hatte. Die war mitten auf der Straße auf ein Knie gesunken und verfluchte ihre Pistole, die blockiert hatte. Drummer presste den Gewehrkolben in die Beuge seiner unverletzten Schulter und brachte seine Kontrahentin zur Strecke.

»Feuer einstellen!«, kreischte Mrs. Sigsby. »Wir müssen uns den Jungen holen! Der darf uns nicht entkommen! Tom Jones! Alice Green! Louis Grant! Wartet auf mich! Josh Gottfried! Winona Briggs! Her zu mir!«

Drummer und Annie blickten sich an. »Und wir?«, fragte Annie. »Feuern wir jetzt weiter oder nicht?«

»Scheiße, woher soll denn ich das wissen?«, erwiderte Drummer.

Tom Jones und Alice Green hatten sich zu beiden Seiten des arg mitgenommenen Eingangs der Polizeistation postiert. Josh Gottfried und Winona Briggs zogen sich zurück, um Mrs. Sigsby zu flankieren. Dabei hielten sie ihre Waffen auf das Paar gerichtet, das sich hinterrücks angeschlichen hatte. Dr. James Evans, dem man keine Position zugewiesen hatte, übernahm das selbst. Er ging an Mrs. Sigsby vorbei und näherte sich Drummer und Orphan Annie mit erhobenen Händen und einem besänftigenden Lächeln auf dem Gesicht.

»Kommen Sie sofort wieder her, Sie verdammter Trottel!«, blaffte Mrs. Sigsby.

Er achtete nicht auf sie. »Ich habe nichts damit zu tun«, sagte er zu dem dicken Mann in der Pyjamajacke, dem er mehr Vernunft beimaß als seiner Gefährtin. »Und da ich nie etwas damit zu tun haben wollte, werde ich mich jetzt einfach…«

»Hinsetzen!«, sagte Annie und schoss ihm in den Fuß. Das tat sie rücksichtsvoll mit dem Revolver, der weniger Schaden anrichten würde. Zumindest theoretisch.

Damit blieb noch die Frau im roten Hosenanzug, die das Kommando innehatte. Wenn die Schießerei wieder losging, würde sie im Kreuzfeuer wahrscheinlich in Stücke gerissen werden, aber sie ließ keinerlei Furcht erkennen, nur eine Art verschnupfte Konzentration.

»Wir gehen jetzt in die Polizeistation«, sagte sie zu Drummer und Orphan Annie. »Damit dieser Unsinn endlich aufhört. Haltet still, dann passiert euch nichts. Wenn ihr wieder zu schießen anfangt, werden Josh und Winona euch erledigen. Kapiert?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und ging auf ihre verbliebene Truppe zu. Man hörte das Klacken ihrer niedrigen Absätze auf dem Asphalt.

»Drummer?«, sagte Annie. »Was tun wir jetzt?«

»Vielleicht müssen wir gar nichts tun«, sagte er. »Sieh mal nach links, aber beweg nicht den Kopf. Verdreh nur die Augen.«

Als sie das tat, sah sie einen von den Dobira-Brüdern den Gehsteig entlangeilen. In der Hand hatte er eine Pistole. Später würde er der State Police erklären, eigentlich seien er und sein Bruder friedliche Menschen, aber seit dem Überfall hätten sie es für klug gehalten, im Laden eine Waffe zu deponieren.

»Und jetzt nach rechts. Kopf still halten.«

Annie drehte die Augen in die angegebene Richtung und sah die Witwe Goolsby und Mr. Bilson, den Vater der Bilson-Zwillinge. Addie Goolsby trug ihren Bademantel und Schlappen, Richard Bilson karierte Shorts und ein rotes T-Shirt mit dem Emblem der Alabama Crimson Tide. Beide waren mit Jagdflinten ausgerüstet. Der Haufen vor der Polizeistation sah sie nicht, der hatte die Aufmerksamkeit ganz auf das gerichtet, was ihn nach DuPray geführt hatte.

Ihr seid hier im Süden, hatte Annie den bewaffneten Störenfrieden erklärt. Jetzt hatte sie so eine Ahnung, dass die gleich am eigenen Leib erfuhren, was das bedeutete.

»Tom und Alice«, sagte Mrs. Sigsby. »Rein da. Schnappt euch den Jungen.«

Die beiden gehorchten.

37

Tim zog Wendy auf die Beine. Sie sah so verwirrt aus, als wüsste sie nicht recht, wo sie sich befand. In ihren Haaren hatte sich ein Papierfetzen verfangen. Die Schüsse draußen waren verstummt, jedenfalls fürs Erste. Stattdessen hörte man Stimmen, doch da Tim die Ohren dröhnten, verstand er nicht, worum es ging. Es war auch gleichgültig. Wenn man da draußen Frieden schloss, gut. Es würde jedoch klug sein, weiter mit Krieg zu rechnen.

»Geht’s wieder, Wendy?«

»Die… Tim, die haben Sheriff John erschossen! Wen noch? Wie viele andere?«

Er schüttelte sie. »Geht’s wieder?«

Wendy nickte. »J-ja. Ich glaube…«

»Bring den Jungen nach hinten raus.«

Sie griff nach Luke, aber der wich ihr aus und rannte auf den Schreibtisch zu. Tag Faraday versuchte, ihn am Arm zu fassen, aber auch dem entwischte er. Der Laptop war von einem Schuss gestreift und zur Seite gedreht worden. Obwohl der Bildschirm einen Sprung bekommen hatte, leuchtete er noch, und das kleine orangefarbene Licht an dem USB-Stick blinkte rhythmisch. Auch Luke dröhnten die Ohren, nur war er jetzt näher an der Tür und hörte Mrs. Sigsby sagen: »Schnappt euch den Jungen.«

O du verfluchte Bitch, dachte er. Du verfluchte, erbarmungslose Bitch.

Er grapschte nach dem Laptop, sank auf die Knie und drückte sich das Gerät schützend an die Brust, während Alice Green und Tom Jones durch die zersplitterte Tür traten. Tag Faraday hob seine Pistole, wurde jedoch von einer Gewehrsalve getroffen, bevor er abdrücken konnte. Von der Rückseite seines Uniformhemds hingen Fetzen herab. Die Glock flog ihm aus der Hand und schlitterte über den Boden. Der einzige andere Deputy, der noch am Leben war, Frank Potter, versuchte nicht einmal, sich zu verteidigen. Auf seinem Gesicht lag ein verblüffter, ungläubiger Ausdruck. Alice Green verpasste ihm einen Kopfschuss, dann duckte sie sich, weil auf der Straße hinter ihr wieder ein Schuss fiel. Man hörte Gebrüll und einen Schmerzensschrei.

Von dem Schuss und dem Schrei war der Mann mit dem Sturmgewehr kurz abgelenkt. Er drehte sich danach um, worauf Tim zwei Treffer landete, einen in den Nacken, den anderen in den Kopf. Die Frau richtete sich wieder auf, trat mit regloser Miene über die Leiche und kam auf Tim zu, der jetzt eine weitere Frau hinter ihr auftauchen sah. Die war älter, trug einen roten Hosenanzug und hatte ebenfalls eine Pistole in der Hand. Du lieber Himmel, dachte er, wie viele sind das denn? Haben die für einen kleinen Jungen eine ganze Armee ausgesandt?

»Er hockt hinter dem Tisch, Alice«, sagte die ältere Frau. In Anbetracht des Blutbads hörte ihre Stimme sich gespenstisch ruhig an. »Ich sehe die Bandage an seinem Ohr rausragen. Zerren Sie ihn raus und erschießen Sie ihn.«

Die Frau namens Alice kam um den Tisch herum. Tim machte sich gar nicht erst die Mühe, sie zum Stehenbleiben aufzufordern – über so was waren sie schon lange hinweg–, er betätigte einfach den Abzug von Wendys Pistole. Die klickte nur, obwohl im Magazin mindestens eine weitere Patrone hätte sein sollen, wahrscheinlich sogar zwei. Selbst in diesem Moment, in dem es um Leben oder Tod ging, begriff er den Grund: Nachdem Wendy das letzte Mal auf dem Schießstand drüben in Dunning trainiert hatte, hatte sie nicht vollständig nachgeladen. So etwas stand nicht oben auf ihrer Prioritätenliste. Tim hatte sogar Zeit zu denken – wie in seinen ersten Tagen in DuPray–, dass Wendy nicht gerade eine geborene Polizistin war.

Die hätte sich mit dem Disponentendienst begnügen sollen, dachte er, aber jetzt ist es zu spät. Ich glaube, wir werden alle sterben.

Hinter dem Tisch kam Luke zum Vorschein, den Laptop in beiden Händen. Er schwang ihn und traf die jüngere Frau damit mitten im Gesicht, wobei der bereits gesprungene Bildschirm endgültig zersplitterte. An Mund und Nase blutend, taumelte die Angreiferin rückwärts, kollidierte mit der Frau im Hosenanzug und hob wieder ihre Pistole.

»Waffe runter, runter, runter!«, brüllte Wendy. Sie hatte sich die Glock von Tag Faraday gegriffen. Die Frau achtete nicht darauf. Sie zielte auf Luke, der den von Maureen Alvorson stammenden USB-Stick aus dem Laptop zog, anstatt in Deckung zu gehen. Wendy kniff die Augen zusammen und gab drei Schüsse ab, wobei sie jedes Mal, wenn sie den Abzug betätigte, einen schrillen Schrei ausstieß. Das erste Geschoss traf die Frau direkt über der Nase in die Stirn. Das zweite pfiff durch den leeren Rahmen in der Tür, wo sich hundertfünfzig Sekunden zuvor noch eine Milchglasscheibe befunden hatte.

Das dritte bohrte sich ins Bein der Frau mit dem Hosenanzug. Der flog die Pistole aus der Hand, dann sank sie mit einem ungläubigen Staunen im Gesicht zu Boden. »Sie haben auf mich geschossen. Wieso haben Sie das getan?«

»Sind Sie bescheuert?«, sagte Wendy. »Na, was meinen Sie wohl?« Glassplitter knirschten unter ihren Schuhen, während sie auf die Frau zuging, die jetzt an die Wand gelehnt auf dem Boden saß. Die Luft stank nach Schießpulver, und der Raum – ehemals hübsch ordentlich, jetzt ein Schlachtfeld – war von blauen Rauchschwaden erfüllt. »Schließlich haben Sie denen gerade befohlen, den Jungen da zu erschießen!«

Die Frau bedachte sie mit einem überheblichen Lächeln. »Sie verstehen nicht, worum es geht. Wie auch. Der Junge gehört mir. Er ist Eigentum.«

»Jetzt nicht mehr«, sagte Tim.

Luke kniete sich neben die Frau im Hosenanzug. Auf seinen Wangen waren Blutspritzer, in einer Augenbraue hatte sich ein kleiner Glassplitter verfangen. »Wer hat das Sagen im Institut, solange Sie weg sind? Stackhouse? Ist es der?«

Sie sah ihn nur an.

»Ist es Stackhouse?«

Nichts.

Drummer Denton trat herein und sah sich um. Seine Pyjamajacke war auf einer Seite mit Blut getränkt, aber er wirkte trotzdem bemerkenswert munter. Gutaale Dobira spähte ihm mit weit aufgerissenen Augen über die Schulter.

»Heilige Scheiße«, sagte Drummer. »Das ist ein Massaker.«

»Ich musste auf einen Mann schießen«, sagte Gutaale. »Und Mrs. Goolsby hat auf eine Frau geschossen, die versucht hat, sie zu erschießen. Das war ein klarer Fall von Selbstverteidigung.«

»Wie viele sind denn noch da draußen?«, fragte Tim. »Und sind die alle außer Gefecht, oder können uns noch welche gefährlich werden?«

Annie schob Gutaale Dobira beiseite und stellte sich neben Drummer. Mit ihrem Poncho und einer rauchenden Waffe in jeder Hand schien sie einem Italowestern entsprungen zu sein. Tim war nicht überrascht. Den konnte nichts mehr überraschen. »Ich glaube, alle aus den Vans da draußen sind unter Kontrolle«, sagte sie. »Mehrere sind verwundet, einer mit ’ner Kugel im Fuß, ’nem anderen geht’s gar nicht gut. Das ist der, den Dobira erwischt hat. Die übrigen Dreckskerle habt ihr ja offenbar hier drin erledigt.« Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Mein Gott, der Sheriff und seine Leute! Wer ist von denen überhaupt noch übrig?«

Wendy, dachte Tim, ohne es auszusprechen. Die ist jetzt wohl der kommissarische Sheriff. Vielleicht wird das auch Ronnie Gibson, wenn sie aus dem Urlaub wiederkommt. Wahrscheinlich sogar. Wendy will den Job bestimmt nicht haben.

Inzwischen standen Addie Goolsby und Richard Bilson neben Gutaale Dobira, direkt hinter Annie und Drummer. Bilson starrte entsetzt auf die von Einschüssen durchlöcherten Wände, die Glassplitter, die Blutlachen auf dem Boden, die herumliegenden Leichen, und schlug sich die Hand vor den Mund.

Addie Goolsby war aus härterem Holz geschnitzt. »Der Doc ist unterwegs«, sagte sie. »Draußen auf der Straße hat sich die halbe Stadt versammelt, größtenteils bewaffnet. Die Frau, auf die ich geschossen hab, ist wahrscheinlich tot, aber es war so, wie Mr. Dobira sagt, schlicht und einfach Selbstverteidigung. Aber was ist hier drin passiert? Und wer ist das?« Sie deutete auf den hageren Jungen mit dem Verband am Ohr.

Luke nahm sie gar nicht wahr. Er war ganz auf die Frau im Hosenanzug fixiert. »Stackhouse, klar. Wer sonst. Ich muss Kontakt mit ihm aufnehmen. Wie mache ich das?«

Die Frau starrte ihn nur an. Tim kniete sich neben Luke. Was er in den Augen der Frau sah, war Schmerz, Ungläubigkeit und Hass. Welche der Empfindungen dominierte, konnte er nicht sagen, aber wenn er hätte raten müssen, so hätte er sich für Hass entschieden. Der war immer am stärksten, zumindest kurzfristig.

»Luke…«

Luke reagierte nicht. Er blickte der Frau unverwandt ins Gesicht. »Ich muss Kontakt mit ihm aufnehmen, Mrs. Sigsby. Meine Freunde sind seine Gefangenen.«

»Das sind keine Gefangenen, sondern Eigentum!«

Wendy kam hinzu. »Als in der Schule das Thema dran war, wie Lincoln die Sklaven befreit hat, haben Sie offenbar gefehlt, Ma’am.«

»Kommt einfach her und ballert in unserer Stadt rum«, sagte Annie. »Aber wir haben’s euch gezeigt, was?«

»Lass das, Annie«, sagte Wendy.

»Ich muss in Kontakt mit ihm treten, Mrs. Sigsby«, sagte Luke. »Einen Deal mit ihm aushandeln. Sagen Sie mir endlich, wie ich ihn erreiche.«

Weil sie immer noch nicht antwortete, presste Luke den Daumen auf das Einschussloch in ihrer roten Hose. Mrs. Sigsby kreischte auf. »Nicht, tu das nicht, das tut verdammt WEH!«

»So ein Schockstock tut auch weh!«, brüllte Luke sie an. Glasscherben strömten klirrend über den Boden und bildeten kleine Bäche. Annie starrte fasziniert darauf. »Spritzen tun weh! Fast ertränkt zu werden tut weh! Und wie ist es, wenn man dir das Hirn aufreißt?« Wieder presste er den Daumen in die Wunde. Die Tür zum Zellentrakt knallte so laut zu, dass alle zusammenzuckten. »Wie ist es, wenn man dir das Hirn zerstört? Das tut am meisten weh!«

»Helft mir!«, kreischte Mrs. Sigsby. »Sorgt dafür, dass er aufhört!«

Wendy bückte sich, um Luke wegzuziehen. Tim schüttelte den Kopf und hielt sie am Arm fest. »Nein.«

»Das ist die Verschwörung«, flüsterte Annie mit weit aufgerissenen Augen Drummer zu. »Die Frau da arbeitet für die Verschwörung. Das tut der ganze Haufen! Ich hab’s ja schon immer gewusst, ich hab’s gesagt, aber niemand hat mir geglaubt!«

Das Dröhnen in Tims Ohren ließ allmählich nach. Er hörte keine Sirenen, was ihn nicht wunderte. Wahrscheinlich wusste die State Police noch nicht mal, dass es in DuPray eine Schießerei gegeben hatte. Und wenn jemand den Notruf wählte, erreichte er nicht die South Carolina Highway Patrol, sondern den Sheriff von Fairlee County – und damit das Schlachtfeld hier. Er warf einen Blick auf seine Uhr und sah verblüfft, dass nur fünf Minuten vergangen waren, seit die Welt sich auf den Kopf gestellt hatte. Höchstens sechs.

»Mrs. Sigsby, nicht wahr?«, sagte er, während er sich neben Luke kniete.

Sie sagte nichts.

»Sie stecken ganz schön in der Patsche, Mrs. Sigsby. Ich rate Ihnen, Luke zu sagen, was er wissen will.«

»Ich brauche medizinische Versorgung.«

Tim schüttelte den Kopf. »Zuerst mal müssen Sie reden. Dann sehen wir, was sich mit der medizinischen Versorgung machen lässt.«

»Luke hat die Wahrheit gesagt«, sagte Wendy zu niemand Bestimmtem. »In jeder Hinsicht.«

»Hab ich das nicht gerade schon gesagt?«, verkündete Annie triumphierend.

Doc Roper drängte sich durch die Tür. »Jesus, Maria und Josef«, sagte er. »Wer ist überhaupt noch am Leben? Wie schwer ist die Frau da verwundet? War das etwa ein Terroranschlag?«

»Man foltert mich«, sagte Mrs. Sigsby. »Wenn Sie Arzt sind, worauf die große schwarze Tasche in Ihrer Hand hinzuweisen scheint, haben Sie die Verpflichtung, dem Ganzen ein Ende zu bereiten.«

»Doc, der Junge, den Sie vorhin behandelt haben, war auf der Flucht vor dieser Frau und dem Stoßtrupp, den sie mitgebracht hat«, sagte Tim. »Ich weiß nicht, wie viele Leichen da draußen liegen, aber hier haben wir fünf Menschen verloren, darunter den Sheriff, und das ist auf Befehl von der Frau da geschehen.«

»Darüber reden wir später«, sagte Doc Roper. »Jetzt muss ich mich erst mal um sie kümmern. Sie blutet. Außerdem muss jemand einen Rettungswagen rufen, verdammt noch mal.«

Mrs. Sigsby warf Luke einen kurzen Blick zu und entblößte die Zähne zu einem Grinsen, das heißen sollte: Ich hab gewonnen! »Danke, Doktor«, sagte sie zu Roper. »Vielen Dank.«

»Die da ist ziemlich hart im Nehmen«, sagte Annie nicht ohne Bewunderung. »Aber draußen liegt ein Bursche, dem ich in den Fuß geschossen hab, und dem geht’s nicht so gut. Wenn ich Sie wär, würd ich mich jetzt erst mal um den kümmern, Doc. Ich glaub, für einen Schuss Morphin tät der die eigene Oma verkaufen.«

Mrs. Sigsby riss erschrocken die Augen auf. »Lassen Sie ihn in Ruhe. Ich verbiete Ihnen, mit ihm zu sprechen!«

Tim erhob sich. »Sie haben uns gar nichts zu verbieten. Ich weiß zwar nicht, für wen Sie arbeiten, Lady, aber Kinder kidnappen werden Sie bestimmt nicht mehr. Luke, Wendy, kommt doch mal mit.«

38

In allen Häusern der Stadt waren die Lichter angegangen, und auf der Hauptstraße von DuPray wimmelte es von Leuten. Die Leichen wurden mit irgendetwas bedeckt, was gerade bei der Hand war. Jemand hatte den Schlafsack von Orphan Annie aus der Durchfahrt geholt und über Robin Lecks drapiert.

Bei alledem hatte man Dr. Evans völlig vergessen. Vermutlich hätte er zu einem von den parkenden Vans hinken können, um zu fliehen, doch das hatte er gar nicht versucht. Tim, Wendy und Luke fanden ihn vor dem Kino, wo er auf dem Bordstein hockte. Auf seinen Wangen glänzten Tränen. Es war ihm gelungen, seinen Schuh auszuziehen, und jetzt starrte er auf eine blutige Socke, die einen übel entstellten Fuß verhüllte. Ob Knochen zertrümmert waren oder ob es sich bloß um eine Schwellung handelte, die irgendwann verschwinden würde, war nicht zu beurteilen. Es war Tim auch egal.

»Wie ist Ihr Name, Sir?«, fragte er.

»Der ist nicht von Belang. Ich will einen Anwalt. Und einen Arzt. Eine Frau hat auf mich geschossen. Ich will, dass die verhaftet wird.«

»Sein Name ist James Evans«, sagte Luke. »Und er ist selbst Arzt. So wie Josef Mengele einer war.«

Evans schien Luke erst jetzt zu bemerken. Er richtete den zitternden Zeigefinger auf ihn. »Das ist alles deine Schuld!«

Luke wollte sich auf Evans stürzen, doch diesmal hielt Tim ihn zurück und schob ihn sanft, aber entschieden auf Wendy zu, die ihn an den Schultern fasste.

Tim ging in die Hocke, damit er dem bleichen, verängstigten Mann direkt in die Augen blicken konnte. »Hören Sie mir zu, Dr. Evans. Hören Sie mir gut zu. Sie und Ihre Freunde sind großspurig hier einmarschiert, um den Jungen da einzukassieren. Dabei haben Sie fünf Menschen umgebracht. Alles Polizeibeamte. Nun wissen Sie das vielleicht nicht, aber South Carolina hat die Todesstrafe, und wenn Sie meinen, die würde man nicht unverzüglich anwenden, wenn jemand einen Sheriff und vier Deputys auf dem Gewissen hat…«

»Damit hatte ich nichts zu tun!«, quäkte Evans. »Ich bin nur unter Protest mitgekommen! Ich…«

»Klappe!«, sagte Wendy. Sie hatte die Glock des verstorbenen Tag Faraday in der Hand und richtete sie jetzt auf den noch beschuhten Fuß. »Diese Männer waren auch meine Freunde. Falls Sie denken, ich lese Ihnen jetzt Ihre Rechte vor oder so, irren Sie sich gewaltig. Wenn Sie Luke jetzt nicht sofort sagen, was er wissen will, werde ich Ihnen einen Schuss in Ihren anderen…«

»Schon gut! Schon gut! Ich sag’s!« Evans beugte sich vor und hielt schützend die Hände über seinen unverletzten Fuß. Dabei tat er Tim beinahe leid. Aber nur beinahe. »Worum geht es? Was willst du wissen?«

»Ich muss mit Stackhouse sprechen«, sagte Luke. »Wie stelle ich das an?«

»Mit ihrem Telefon«, sagte Evans. »Sie hat ein spezielles Gerät dabei. Damit hat sie ihn angerufen, bevor sie versucht haben, die… du weißt schon… die Extraktion durchzuführen. Ich hab gesehen, wie sie es danach in ihre Jackentasche gesteckt hat.«

»Ich hole es«, sagte Wendy und wandte sich der Polizeistation zu.

»Bring nicht nur das Telefon mit«, sagte Luke. »Bring auch sie mit.«

»Luke… sie hat eine Schusswunde.«

»Vielleicht brauchen wir sie«, sagte Luke. Sein Blick war eisern.

»Wozu?«

Weil es jetzt ein Schachspiel war, und beim Schach verließ man sich nie auf den Zug, den man gerade machen wollte, oder auf den nächsten. Drei Züge im Voraus, so lautete die Regel. Und außerdem drei Alternativen, je nachdem wie der Gegner reagierte.

Wendy sah Tim an, der nickte. »Bring sie mit. Leg ihr Handschellen an, falls nötig. Schließlich bist du bei der Polizei.«

»Mein Gott, was für ein Gedanke«, sagte sie und machte sich auf den Weg.

Jetzt hörte Tim endlich eine Sirene. Vielleicht sogar zwei. Allerdings noch ganz leise.

Luke fasste ihn am Handgelenk. Tim fand, dass der Junge völlig konzentriert und völlig wach, aber auch todmüde aussah. »Ich darf hier nicht festhängen. Man hält meine Freunde gefangen. Die sitzen in der Falle, und niemand kann ihnen helfen außer mir.«

»Gefangen in diesem Institut.«

»Ja. Jetzt glaubst du mir, oder?«

»Nach allem, was auf dem USB-Stick war, und dem, was gerade passiert ist, fällt mir das nicht schwer. Was ist eigentlich mit dem Stick? Hast du den eingesteckt?«

Luke klopfte auf seine Hosentasche.

»Mrs. Sigsby und die Leute, mit denen sie zusammenarbeitet, wollen deinen Freunden etwas antun, bis die so enden wie die Kinder in der Station, die wir gesehen haben?«

»Damit haben sie schon angefangen, aber dann sind meine Freunde ausgebrochen. Vor allem mit Averys Hilfe, und der war nur dort, weil er mir vorher bei der Flucht geholfen hat. Was man wohl als ironisch bezeichnen würde. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie inzwischen wieder festsitzen. Und ich hab Angst, dass Stackhouse sie töten wird, wenn ich ihm keinen Deal anbiete.«

Wendy kam wieder. Sie hatte ein kastenförmiges Gerät dabei, bei dem es sich um ein Telefon handeln konnte. Auf ihrem Handrücken sah man drei blutende Kratzer.

»Sie wollte es nicht hergeben. Und trotz ihrer Verwundung ist sie erstaunlich kräftig.« Wendy reichte Tim das Gerät und warf einen Blick über die Schulter. Orphan Annie und Drummer Denton schleppten Mrs. Sigsby über die Straße. Obwohl sie leichenblass war und sichtlich Schmerzen hatte, wehrte sie sich, so gut sie konnte. Dahinter kamen mindestens drei Dutzend Bürger von DuPray, angeführt von Doc Roper.

»Da ist sie, Timmy«, sagte Orphan Annie. Sie rang nach Atem, und auf ihrer Wange und ihrer Schläfe waren rote Flecke, wo Mrs. Sigsby sie geschlagen hatte, aber trotzdem wirkte sie kein bisschen aufgeregt. »Was sollen wir mit ihr machen? Ich schätze, sie aufzuhängen kommt nich infrage, aber wär das nich ’ne ausgesprochen reizvolle Idee?«

Doc Roper stellte seine schwarze Tasche ab, packte Annie am Poncho, zog sie zur Seite und baute sich vor Tim auf. »Was in Gottes Namen denken Sie sich eigentlich? Man kann die Frau nicht so durch die Gegend schleppen! Sonst bringt man sie noch um!«

»Also, ich hab nicht den Eindruck, dass sie am Tor des Todes steht«, sagte Drummer Denton. »Jedenfalls hat sie mir eben fast die Nase gebrochen.« Er lachte. Tim erinnerte sich nicht, dass er ihn je hatte lachen hören.

Wendy kümmerte sich weder um Drummer noch um den Arzt. »Wenn wir wegwollen, Tim, sollten wir das tun, bevor die State Police eintrifft.«

»Bitte.« Luke sah erst Tim und dann Doc Roper an. »Wenn wir nichts unternehmen, werden meine Freunde sterben, das weiß ich ganz bestimmt. Und es sind noch andere bei ihnen, die Rüben, wie man sie nennt.«

»Ich will ins Krankenhaus«, sagte Mrs. Sigsby. »Hab viel Blut verloren. Außerdem will ich mit einem Anwalt sprechen.«

»Halten Sie bloß die Klappe, sonst kracht’s«, sagte Annie. Sie sah Tim an. »Die is nich so schlimm verwundet, wie sie behauptet. Sie blutet nich mal mehr.«

Tim reagierte nicht sofort. Er dachte an den gar nicht so lange zurückliegenden Tag, an dem er die Westfield Mall von Sarasota aufgesucht hatte, um ein Paar Schuhe zu kaufen, sonst nichts, bis eine Frau auf ihn zugerannt kam, weil er eine Uniform trug. Am Kino würde ein junger Kerl mit einer Waffe herumwedeln, sagte sie, weshalb Tim sich die Sache angeschaut und vor einer Entscheidung gestanden hatte, die sein Leben veränderte. Vor einer Entscheidung, die ihn im Grunde hierhergeführte hatte. Jetzt musste er eine weitere Entscheidung treffen.

»Verbinden Sie die Frau, Doc. Ich glaube, Wendy, Luke und ich werden mit den beiden da eine kleine Spazierfahrt machen und sehen, ob wir die Sache klären können.«

»Geben Sie ihr auch was gegen die Schmerzen«, sagte Wendy.

Tim schüttelte den Kopf. »Nein, geben Sie das lieber mir. Ich entscheide, wann sie es bekommt.«

Doc Roper starrte Tim – und Wendy – an, als ob er sie noch nie im Leben gesehen hätte. »Das ist nicht richtig.«

»Falsch, Doc«, sagte Annie in erstaunlich sanftem Ton. Sie nahm den Arzt bei den Schultern und drehte ihn so herum, dass er die verhüllten Leichen auf der Straße und die Polizeistation mit ihren zertrümmerten Fenstern und Türflügeln sah. »Das ist nich richtig.«

Doc Roper hielt einen Moment inne und betrachtete die Szene, die sich ihm bot. Dann traf auch er eine Entscheidung. »Sehen wir mal, in welchem Zustand sie ist. Wenn sie stark blutet oder wenn der Oberschenkelknochen zertrümmert ist, lasse ich nicht zu, dass ihr sie mitnehmt.«

Doch, das wirst du, dachte Tim. Weil du keine Möglichkeit hast, uns aufzuhalten.

Der Arzt kniete sich hin, klappte seine Tasche auf und entnahm ihr eine medizinische Schere.

»Nein«, sagte Mrs. Sigsby und entwand sich dem Griff von Drummer Denton. Der packte sie zwar sofort wieder, aber vorher stellte Tim interessiert fest, dass sie ihr verwundetes Bein belasten konnte. Doc Roper sah es ebenfalls. Er war nicht mehr der Jüngste, bekam aber immer noch alles mit. »Sie werden mich doch nicht mitten auf der Straße operieren wollen!«

»Das Einzige, was ich operieren werde, ist Ihr Hosenbein«, sagte der Arzt. »Außer wenn Sie weiter so rumzappeln. Dann kann ich nämlich für nichts garantieren.«

»Nein! Ich verbiete Ihnen…«

Annie packte sie am Hals. »Sie ham uns überhaupt nix zu verbieten! Stillhalten, sonst is Ihr Bein das Letzte, worum Sie sich Sorgen machen.«

»Lassen Sie mich los!«

»Nur wenn Sie stillhalten. Sonst dreh ich Ihnen den dürren Hals um.«

»Tun Sie lieber, was Annie sagt«, riet Addie Goolsby. »Wenn die ’nen Rappel kriegt, ist sie nicht aufzuhalten.«

Mrs. Sigsby gab die Gegenwehr auf, vielleicht ebenso aus Erschöpfung wie aus Furcht davor, erwürgt zu werden. Doc Roper schnippelte säuberlich ein Stück über der Wunde rings um das Hosenbein. Als es auf den Knöchel heruntersank, kamen weiße Haut, ein Geflecht aus Krampfadern und etwas zum Vorschein, was eher wie eine Schnitt- als wie eine Schusswunde aussah.

»Na, Gott sei Dank«, sagte Doc Roper erleichtert. »Das ist nichts Schlimmes. Schlimmer als ein Streifschuss, aber nicht sehr. Sie hatten Glück, Ma’am. Das Blut gerinnt schon.«

»Ich bin schwer verwundet!«, schrie Mrs. Sigsby.

»Das werden Sie gleich sein, wenn Sie nicht endlich die Klappe halten«, sagte Drummer.

Der Arzt betupfte die Wunde mit Desinfektionsmittel, dann wickelte er eine Binde darum und befestigte sie mit Verbandklammern. Als er fertig war, hatte es den Anschein, dass sich ganz DuPray – jedenfalls der Teil, der in der Nähe wohnte – zum Gaffen versammelt hatte. Inzwischen beschäftigte Tim sich mit dem Telefon von Mrs. Sigsby. Als er die Taste an der Seite drückte, leuchtete das Display auf, und ein Hinweis erschien: AKKULADUNG 75 %.

Er schaltete das Gerät wieder aus und reichte es Luke. »Behalt das mal vorläufig.«

Während Luke es in die Tasche steckte, in der sich schon der USB-Stick befand, zupfte jemand an seiner Hose. Es war Evans. »Du musst dich in Acht nehmen, junger Luke – jedenfalls wenn du verhindern willst, dass man dich verantwortlich macht.«

»Verantwortlich wofür?«, fragte Wendy.

»Für das Ende der Welt, Miss. Für das Ende der Welt.«

»Halten Sie bloß den Mund, Sie Trottel«, sagte Mrs. Sigsby.

Tim überlegte einen Augenblick, dann wandte er sich an Doc Roper. »Ich weiß zwar nicht genau, womit wir es hier zu tun haben, aber es ist was Außergewöhnliches. Deshalb brauchen wir Zeit, uns mit den beiden zu beschäftigen. Wenn die Leute von der State Police aufkreuzen, sagen Sie denen, dass wir in einer, höchstens zwei Stunden wieder da sind. Dann können wir versuchen, uns wenigstens einigermaßen an die polizeilichen Vorschriften zu halten.«

Das war ein Versprechen, das er wohl nicht würde halten können. Er hatte den Eindruck, dass seine Zeit in DuPray, South Carolina, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorüber war, und das fand er schade.

Er hätte hier durchaus sein restliches Leben verbringen wollen. Vielleicht zusammen mit Wendy.

39

Gladys Hickson stand in entspannter Habtachtstellung vor Stackhouse, die Beine leicht gespreizt und die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Das falsche Lächeln, das jedes Kind im Institut kennenlernte (und hasste), war nicht einmal andeutungsweise zu erkennen.

»Ihnen ist klar, welche Situation eingetreten ist, Gladys?«

»Ja, Sir. Die Insassen vom Hinterbau befinden sich im Verbindungstunnel.«

»Richtig. Da kommen sie zwar nicht raus, aber vorläufig kommen wir auch nicht rein. Soweit mir bekannt ist, haben die da unten versucht, mithilfe ihrer paranormalen Fähigkeiten mehrere Mitarbeiter zu… manipulieren?«

»Ja, Sir. Das funktioniert aber nicht.«

»Aber es ist unangenehm.«

»Ja, Sir, ein bisschen schon. Man spürt so eine Art… Summen. Das wirkt verwirrend. Bis hier ins Verwaltungsgebäude dringt es nicht, wenigstens noch nicht, aber drüben im Vorderbau spüren es alle.«

Was leicht erklärbar ist, dachte Stackhouse, schließlich ist der Vorderbau näher am Tunnel. Sogar direkt darüber, könnte man sagen.

»Außerdem scheint es stärker zu werden, Sir.«

Vielleicht tat es das nur in ihrer Fantasie. Das konnte Stackhouse hoffen, so wie er hoffen konnte, dass Donkey Kongs Meinung zutraf, Dixon und seine Freunde seien selbst dann, wenn die Rüben ihre unleugbaren Kräfte beitrugen, nicht in der Lage, Personen zu beeinflussen, die darauf vorbereitet waren. Aber, wie sein Großvater zu sagen pflegte, allein mit Hoffnung gewann man noch kein Pferderennen.

Wohl weil sein Schweigen sie nervös machte, sprach Gladys weiter. »Aber wir wissen, was die im Schilde führen, und daher ist es kein Problem. Man sagt ja nicht umsonst, Wissen ist Macht.«

»Gut ausgedrückt, Gladys. Jetzt zu dem Grund, weshalb ich Sie herbestellt habe. Soweit ich weiß, haben Sie in Ihrer Jugend an der University of Massachusetts studiert.«

»Das stimmt, Sir, aber nur drei Semester. Es war nicht so mein Ding, deshalb hab ich abgebrochen und bin zu den Marines gegangen.«

Stackhouse nickte. Es war nicht nötig, sie in Verlegenheit zu bringen, indem er auf das hinwies, was in ihrer Akte stand: Nach einem guten ersten Jahr war Gladys im zweiten in erhebliche Schwierigkeiten geraten. In einer Studentenkneipe nicht weit vom Campus hatte sie eine Rivalin im Kampf um die Zuneigung ihres Boyfriends mit einem Bierkrug bewusstlos geschlagen, worauf man sie nicht nur aus besagter Kneipe, sondern auch aus dem College geworfen hatte. Der Vorfall war nicht ihr erster Wutausbruch gewesen. Kein Wunder, dass sie sich gerade bei den Marines beworben hatte.

»Soweit ich weiß, hatten Sie im Hauptfach Chemie.«

»Nein, Sir, nicht so ganz. Ich hatte mich noch für kein Hauptfach entschieden, bevor man… bevor ich beschlossen habe, das Studium abzubrechen.«

»Aber Sie hatten vor, Chemie zu wählen.«

»Äh, ja, Sir, damals schon.«

»Gladys, angenommen, wir bräuchten – um einen zu Unrecht diffamierten Ausdruck zu verwenden – eine Endlösung für die Insassen im Tunnel. Ich sage nicht, dass das der Fall sein wird, das sage ich ganz und gar nicht, aber angenommen, es wäre der Fall.«

»Fragen Sie sich, ob man die irgendwie vergiften könnte, Sir?«

»Gehen wir mal davon aus.«

Jetzt trat Gladys doch ein Lächeln aufs Gesicht, und zwar ein völlig echtes. Vielleicht sogar vor Erleichterung. Wenn die Insassen erledigt waren, würde schließlich das nervige Summen aufhören. »Tja, das wäre kinderleicht, Sir, vorausgesetzt, der Tunnel ist an die HLKK-Anlage angeschlossen, was er bestimmt ist.«

»HLKK?«

»Heizung, Lüftung, Klima- und Kältetechnik, Sir. Man bräuchte ein Bleichmittel und WC-Reiniger. In den Putzschränken ist mehr als genug davon. Wenn man beides mischt, entsteht Chlorgas. Man muss also nur ein paar Eimer von dem Zeug unter das Ansaugrohr stellen, das in den Tunnel führt, ein Plane drüberdecken, damit ordentlich Sog entsteht, und das wär’s schon.« Sie machte eine nachdenkliche Pause. »Natürlich sollte man das Personal im Hinterbau evakuieren, bevor man das tut, weil es vielleicht nur einen Ansaugkanal für diesen Teil unserer Anlage gibt. Da bin ich mir nicht sicher. Ich kann mir die HLKK-Pläne ansehen, wenn Sie das…«

»Das wird nicht nötig sein«, sagte Stackhouse. »Aber vielleicht könnten Sie zusammen mit Fred Clark von der Hausmeisterei die… äh… geeigneten Bestandteile bereitstellen. Nur für den Notfall, Sie verstehen.«

»Jawohl, Sir, gern.« Gladys konnte es sichtlich kaum erwarten zu gehen. »Darf ich fragen, wo Mrs. Sigsby ist? In ihrem Büro ist sie nämlich nicht, und Rosalind hat gesagt, ich soll Sie fragen, wenn ich es wissen will.«

»Was Mrs. Sigsby gerade tut, geht Sie nichts an, Gladys.« Und da sie anscheinend entschlossen war, ihren militärischen Habitus beizubehalten, fügte er hinzu: »Wegtreten!«

Sie ging davon, um Fred den Hausmeister zu suchen und mit ihm die Zutaten zu besorgen, die den Kindern und dem Summen, das inzwischen auch den Vorderbau ergriffen hatte, den Garaus machen würden.

Stackhouse lehnte sich zurück und überlegte, ob ein derart radikales Vorgehen wohl notwendig werden könnte. Das war durchaus möglich. Wenn man bedachte, was man hier seit ungefähr sieben Jahrzehnten trieb, war es eigentlich gar nicht besonders radikal. In diesem Geschäft war der Tod unvermeidlich, und manchmal erforderte eine üble Situation eben einen Neuanfang.

Allerdings hing dieser Neuanfang von Mrs. Sigsby ab. Deren Expedition nach South Carolina war einigermaßen hirnrissig, aber genau solche Pläne funktionierten oft. Dabei fiel Stackhouse ein Spruch von Mike Tyson ein: Sobald die Fäuste fliegen, ist jede Strategie im Eimer. Seine eigene Ausstiegsstrategie stand ohnehin fest. Seit Jahren schon. Er hatte Geld beiseitegelegt und gefälschte Reisepässe (gleich drei), seine Reisepläne waren geschmiedet, das Ziel erwartete ihn. Dennoch würde er hier so lange ausharren, wie er konnte, teilweise aus Loyalität gegenüber Julia, aber hauptsächlich weil er an das glaubte, was sie hier leisteten. Die Welt für die Demokratie zu bewahren war zweitrangig. In erster Linie ging es darum, sie überhaupt zu bewahren.

Es gibt keinen Grund, mich jetzt schon davonzumachen, sagte er sich. Das Kind sitzt am Brunnenrand, ist aber noch nicht reingefallen. Am besten warte ich ab. Sehen wir mal, wer noch steht, wenn der Pulverdampf sich verzogen hat.

Deshalb wartete er darauf, dass das kastenförmige Telefon sein schrilles Brrt-brrt von sich gab. Sobald Julia ihn informierte, wie es da unten gelaufen war, würde er alles Weitere entscheiden. Sollte das Telefon überhaupt nicht läuten, war das ja ebenfalls eine Antwort.

40

An der Kreuzung von US 17 und SR 92 stand ein trauriges, kleines, verlassenes Friseurgeschäft. Tim fuhr auf den Parkplatz und ging zur anderen Seite des Wagens, wo Mrs. Sigsby auf dem Beifahrersitz saß. Er öffnete ihre Tür, dann schob er die Schiebetür hinten auf. Dort saßen Luke und Wendy links und rechts neben Dr. Evans, der trübsinnig auf seinen verunstalteten Fuß starrte. Wendy hatte die Glock von Tag Faraday auf dem Schoß, Luke das unförmige Telefon von Mrs. Sigsby.

»Luke, komm mal her. Wendy, bleib bitte sitzen.«

Als Luke ausgestiegen war, bat Tim ihn um das Telefon. Luke reichte es ihm; er drückte auf die Taste an der Seite und beugte sich zur Beifahrertür. »Wie funktioniert das Ding?«

Anstatt etwas zu erwidern, blickte Mrs. Sigsby geradeaus auf das mit Brettern vernagelte Gebäude, auf dessen verblasstem Schild Hairport 2000 stand. Die Grillen zirpten, und aus Richtung DuPray hörte man Sirenen. Die waren jetzt näher, aber immer noch nicht in der Stadt angelangt. Was sie jedoch bald sein würden.

Tim seufzte. »Machen Sie’s uns nicht so schwer, Ma’am. Luke meint, wir können eventuell einen Deal machen, und er ist ein schlauer Junge.«

»Schlauer, als gut für ihn ist«, sagte sie, dann presste sie die Lippen zusammen. Sie blickte immer noch durch die Windschutzscheibe, die Arme über ihrem dürren Busen verschränkt.

»In Anbetracht der Lage, in der Sie sich befinden, würde ich eher sagen, er ist schlauer, als gut für Sie ist. Und wenn ich sage, Sie sollen es uns nicht so schwer machen, dann meine ich, dass Sie mich nicht zwingen sollen, Ihnen wehzutun. Für jemand, der Kindern Schmerzen zugefügt hat…«

»Schmerzen zugefügt und ermordet«, warf Luke ein. »Und noch andere getötet.«

»Für jemand, der so etwas tut, kommen Sie mir bemerkenswert schmerzempfindlich vor. Also hören Sie auf mit der Schweigenummer, und sagen Sie mir, wie das Ding da funktioniert.«

»Es ist stimmaktiviert«, sagte Luke. »Ist doch so, oder?«

Sie sah ihn erstaunt an. »Du bist doch TK, nicht TP. Und nicht mal besonders stark TK.«

»Das hat sich geändert«, sagte Luke. »Durch die Stass-Lichter. Aktivieren Sie das Telefon, Mrs. Sigsby!«

»Du willst einen Deal aushandeln?«, sagte sie und stieß ein bellendes Lachen aus. »Was für ein Deal könnte mir wohl nützen? Ich bin auf jeden Fall erledigt. Weil ich versagt habe.«

Tim steckte den Kopf durch die Schiebetür. »Wendy, gib mir die Pistole.«

Das tat sie ohne Widerrede.

Tim richtete die Mündung von Deputy Faradays Dienstwaffe auf das Hosenbein, das noch vorhanden war. Gleich unterhalb vom Knie. »Das ist eine Glock, Ma’am. Wenn ich abdrücke, werden Sie nie wieder gehen können.«

»Der Schock zusammen mit dem Blutverlust wird sie umbringen!«, quäkte Dr. Evans.

»In DuPray liegen fünf Tote, und dafür ist diese Frau verantwortlich«, sagte Tim. »Meinen Sie wirklich, dass ich da irgendwelche Skrupel habe? Es reicht, Mrs. Sigsby! Das ist Ihre letzte Chance. Vielleicht werden Sie nach dem Schuss sofort bewusstlos, aber ich möchte wetten, dass das ein Weilchen dauert. Im Vergleich zu den Schmerzen, die Sie bis dahin spüren werden, wird Ihnen der Streifschuss am anderen Bein wie ein Gutenachtkuss vorkommen.«

Mrs. Sigsby schwieg.

»Tu’s nicht, Tim«, sagte Wendy. »Du kannst doch nicht einfach jemand kaltblütig ins Bein schießen.«

»Doch, kann ich.« Tim war sich nicht sicher, ob das stimmte. Sicher war er sich hingegen, dass er es nicht herausfinden wollte. »Helfen Sie uns, Mrs. Sigsby. Helfen Sie sich selbst.«

Nichts. Die Zeit wurde knapp. Annie würde den Leuten von der State Police zwar nicht verraten, in welche Richtung sie gefahren waren, auch Drummer und Addie Goolsby würden das nicht tun. Doc Roper vielleicht schon. Norbert Hollister, der sich während der Schießerei auf der Hauptstraße klugerweise im Hintergrund gehalten hatte, war ein noch wahrscheinlicherer Kandidat.

»Okay. Sie haben zwar allerhand Menschen auf dem Gewissen, aber es tut mir trotzdem leid, dass ich so etwas tun muss. Ach, übrigens, ich zähle nicht auf drei.«

Luke presste die Hände auf die Ohren, um den Knall zu dämpfen, und das überzeugte Mrs. Sigsby endlich. »Stopp!« Sie streckte die Hand aus. »Geben Sie mir das Telefon.«

»Lieber nicht.«

»Dann halten Sie es mir an den Mund.«

Das tat Tim. Mrs. Sigsby murmelte etwas, worauf das Telefon erwiderte: »Aktivierung abgelehnt. Sie haben zwei weitere Versuche.«

»Das können Sie bestimmt besser«, sagte Tim.

Mrs. Sigsby räusperte sich und sagte diesmal in beinahe normalem Ton: »Sigsby eins. Kansas City Chiefs.«

Die Benutzeroberfläche, die auf dem Display auftauchte, sah genauso aus wie die auf Tims I-Phone. Er tippte auf das Telefon-Icon und dann auf ANRUFLISTE. Da stand ganz oben STACKHOUSE.

Tim reichte Luke das Telefon. »Ruf du an. Ich will, dass er deine Stimme hört. Dann übergibst du an mich.«

»Weil du ein Erwachsener bist und er auf dich hören wird.«

»Hoffentlich hast du da recht.«

41

Beinahe eine Stunde nach Julias letztem Anruf – viel zu lange – blinkte das kastenförmige Telefon und begann zu summen. Hektisch griff Stackhouse danach. »Na, Julia, habt ihr ihn geschnappt?«

Die Stimme, die antwortete, verblüffte Stackhouse so sehr, dass er das Gerät fast hätte fallen lassen. »Nein«, sagte Luke Ellis. »Es ist genau andersrum gelaufen.« Im Ton des kleinen Scheißkerls schwang deutliche Befriedigung mit. »Wir haben sie geschnappt.«

»Was… was…« Zuerst fiel ihm nicht ein, was er sonst sagen sollte. Dieses wir gefiel ihm gar nicht. Was ihn hingegen aufrichtete, war der Gedanke an die drei in seinem Bürosafe verwahrten Reisepässe und seine sorgfältig durchdachte Ausstiegsstrategie.

»Ist Ihnen das zu hoch?«, sagte Luke. »Vielleicht muss man Sie mal in den Wassertank tunken. Das wirkt Wunder, was die mentalen Fähigkeiten angeht. Ich bin ein lebender Beweis dafür. Avery bestimmt auch.«

Stackhouse verspürte den starken Drang, sofort aufzulegen, seine Pässe zu holen und sich schnell und leise davonzumachen. Davon hielt ihn nur die Tatsache ab, dass der Junge überhaupt anrief. Das bedeutete, dass er etwas zu sagen – oder anzubieten – hatte.

»Luke, wo ist Mrs. Sigsby?«

»Direkt neben mir«, sagte Luke. »Sie hat ihr Telefon für uns entsperrt. War das nicht nett von ihr?«

Für uns. Ein weiteres ungünstiges Pronomen. Ein Pronomen, das gefährlich war.

»Offenbar gab es ein Missverständnis«, sagte Stackhouse. »Wenn irgendeine Chance besteht, es aufzuklären, sollten wir das unbedingt tun. Es steht nämlich mehr auf dem Spiel, als dir bekannt ist.«

»Tja, vielleicht kriegen wir das ja tatsächlich hin«, sagte Luke. »Das wäre gut.«

»Fantastisch! Kannst du mir dann mal kurz Mrs. Sigsby geben, damit ich weiß, dass es ihr…«

»Wie wär’s, wenn Sie stattdessen mit meinem Freund sprechen? Der heißt Tim.«

Während Stackhouse wartete, rann ihm der Schweiß an den Wangen herab. Er warf einen Blick auf den Computermonitor. Die Kinder im Tunnel, von denen die Revolte ausging – Dixon und seine Freunde – erweckten den Anschein, dass sie schliefen. Im Gegenteil zu den Rüben. Die wanderten ziellos umher, plapperten vor sich hin und kollidierten gelegentlich miteinander wie Autoscooter auf der Kirmes. Einer hatte eine Malkreide oder so und schrieb etwas an die Wand. Stackhouse staunte. Er hätte nicht gedacht, dass einer von denen noch in der Lage war, etwas zu schreiben. Vielleicht war es nur sinnloses Gekrakel. Die verdammte Kamera war nicht so gut, dass man die Buchstaben erkennen konnte. Dieser ganze minderwertige Scheißkram, mit dem man sich hier herumschlagen musste!

»Mr. Stackhouse?«

»Ja. Mit wem spreche ich?«

»Mit Tim. Mehr brauchen Sie vorläufig nicht zu wissen.«

»Ich will mit Mrs. Sigsby sprechen.«

»Sagen Sie etwas, aber fassen Sie sich kurz«, sagte der Mann, der sich Tim nannte.

»Da bin ich, Trevor«, sagte Julia. »Und es tut mir leid. Es hat einfach nicht geklappt.«

»Wie…«

»Das braucht Sie nicht zu kümmern, Mr. Stackhouse«, sagte der Mann, der sich Tim nannte. »Genauso wenig wie die Giftschlange hier. Wir müssen einen Deal zustande kriegen, und zwar unverzüglich. Können Sie also mal die Klappe halten und zuhören?«

»Ja.« Stackhouse zog einen Notizblock heran, auf den Schweißtropfen fielen. Er wischte sich mit dem Ärmel die Stirn, schlug eine neue Seite auf und griff nach einem Kugelschreiber. »Reden Sie.«

»Luke hat aus diesem Institut, in dem man ihn festgehalten hat, einen USB-Stick rausgeschmuggelt. Der stammt von einer Frau namens Maureen Alvorson. Sie erzählt darauf eine fantastische Geschichte, die kaum zu glauben wäre, wenn Alvorson nicht außerdem ein Video von dem gemacht hätte, was Sie als Station A oder Rübenacker bezeichnen. Können Sie mir so weit folgen?«

»Ja.«

»Luke sagt, Sie würden mehrere von seinen Freunden als Geiseln halten, zusammen mit einer Anzahl Kinder aus Station A.«

Bis zu diesem Moment hatte Stackhouse sich die Kinder nicht als Geiseln vorgestellt, aber aus dem Blickwinkel, den Ellis haben musste…

»Gehen wir mal davon aus, Tim.«

»Ja, das tun wir allerdings. Jetzt kommt das Wesentliche. Bisher kennen nur zwei Personen die Geschichte von Luke und das Zeug auf diesem USB-Stick. Eine davon bin ich, die andere ist meine Freundin Wendy, die sich im Moment bei mir und Luke befindet. Gesehen haben es noch andere, alles Polizisten, aber dank dieser Frau da sind die alle tot. Wie übrigens auch die meisten von den Leuten, die sie mitgebracht hat.«

»Das ist unmöglich!«, rief Stackhouse. Die Vorstellung, dass ein Haufen Kleinstadtcops die vereinten Teams Opal und Ruby Red ausgeschaltet hatte, war aberwitzig.

»Die Anführerin war ein bisschen zu ungeduldig, mein Freund, weshalb die Truppe überrumpelt wurde. Aber bleiben wir beim Thema, ja? Ich habe den USB-Stick. Außerdem habe ich Ihre Mrs. Sigsby und einen Dr. James Evans in der Gewalt. Beide sind verwundet, aber wenn sie diese Sache überstehen, werden sie wieder auf den Damm kommen. Sie wiederum haben die Kinder. Können wir tauschen?«

Stackhouse war perplex.

»Stackhouse? Ich brauche eine Antwort.«

»Das hängt davon ab, ob wir die Einrichtung geheim halten können oder nicht«, sagte Stackhouse. »Wenn Sie mir das nicht garantieren, ist jeder Deal sinnlos.«

Eine Pause, dann war Tim wieder dran. »Luke sagt, dass wir das hinbekommen könnten. Aber jetzt muss ich erst mal wissen, wo wir hinsollen, Stackhouse. Wie ist Ihr Stoßtrupp so schnell von Maine hierhergelangt?«

Stackhouse verriet ihm, dass die Challenger in der Nähe von Alcolu warte und wo – er hatte eigentlich keine andere Wahl. »Sobald Sie Beaufort erreichen, kann Mrs. Sigsby Ihnen genau den Weg beschreiben. Aber jetzt muss ich noch einmal mit Mr. Ellis sprechen.«

»Ist das wirklich nötig?«

»Es ist sogar unerlässlich.«

Wieder entstand eine kurze Pause, dann meldete sich der Junge. »Was wollen Sie?«

»Ich nehme an, du warst mit deinen Freunden in Kontakt«, sagte Stackhouse. »Vielleicht vor allem mit einem, nämlich mit Mr. Dixon. Nicht nötig, das zu bestätigen oder zu leugnen, ich weiß, dass die Zeit knapp ist. Falls du nicht genau wissen solltest, wo die sich gerade befinden…«

»Sie sind im Tunnel zwischen Vorder- und Hinterbau.«

Das war beunruhigend. Dennoch ließ Stackhouse sich nicht beirren.

»Das stimmt. Wenn wir zu einer Verständigung gelangen, kommen deine Freunde raus und sehen die Sonne wieder. Andernfalls pumpen wir Chlorgas in den Tunnel, wodurch sie langsam und schmerzhaft sterben werden. Ansehen werde ich mir das nicht; sobald ich die Anordnung gegeben habe, bin ich hier weg. Das sage ich dir, weil ich den Eindruck habe, dass dein neuer Freund Tim dich gerne aus dem Deal, über den wir gerade reden, heraushalten würde. Das kommt aber nicht infrage. Verstehst du das?«

Nach kurzem Zögern sagte Luke: »Ja, das verstehe ich. Ich komme mit ihm.«

»Gut. Sind wir fertig?«

»Nicht ganz. Kann man mit dem Telefon von Mrs. Sigsby auch aus dem Flugzeug anrufen?«

Im Hintergrund hörte Stackhouse, wie Mrs. Sigsby das bestätigte.

»Dann halten Sie Ihr Telefon bereit, Mr. Stackhouse«, sagte Luke. »Wir müssen später wieder mit Ihnen sprechen. Und kommen Sie nicht auf die Idee abzuhauen. Falls doch, werde ich’s erfahren. Wir haben eine Polizeibeamtin dabei, und wenn ich der sage, sie soll das Heimatschutzministerium informieren, wird sie das tun. Worauf in jedem Flughafen im Land ein Foto von Ihnen hängen wird, und dann nützt Ihnen kein gefälschter Ausweis auf der Welt. Dann sind Sie wie ein Hase auf offenem Feld. Haben Sie mich verstanden?«

Zum zweiten Mal war Stackhouse so perplex, dass er nichts erwiderte.

»Ob Sie mich verstanden haben?«

»Ja«, sagte er.

»Gut. Wir melden uns dann, um die Einzelheiten zu besprechen.«

Damit beendete der Junge den Anruf. Stackhouse legte das Telefon behutsam auf den Schreibtisch, wobei ihm auffiel, dass seine Hand leicht zitterte. Teilweise aus Angst, hauptsächlich aber vor Wut. Wir melden uns dann, hatte der Junge gesagt, als wäre er ein Topmanager aus Silicon Valley und Stackhouse ein kleiner Sesselfurzer, der nach seiner Pfeife tanzen musste.

Abwarten, dachte er. Das werden wir ja noch sehen.

42

Luke reichte Tim das Telefon, als wäre er froh, es loszuwerden.

»Woher weißt du denn, dass er einen gefälschten Ausweis hat?«, fragte Wendy. »Hast du das in seinen Gedanken gelesen?«

»Nein«, sagte Luke. »Aber ich möchte wetten, dass er massenhaft so Zeug hat – Reisepässe, Führerscheine, Geburtsurkunden. Bestimmt haben viele von denen so was. Vielleicht nicht die Pfleger, die MTAs und die Leute in der Cafeteria, aber die an der Spitze ganz sicher. Die sind alle wie Eichmann oder Walther Rauff, einer von den Typen, die auf die Idee mit den mobilen Gaskammern gekommen sind.« Luke sah Mrs. Sigsby an. »So jemand wie Rauff hätte gut zu Ihren Leuten gepasst, oder?«

»Selbst wenn Trevor gefälschte Dokumente haben sollte, ich habe keine«, sagte Mrs. Sigsby.

Und obwohl Luke nicht in ihren Kopf eindringen konnte – den hatte sie vor ihm verschlossen–, ging er davon aus, dass sie die Wahrheit sagte. Für Menschen wie sie gab es einen bestimmten Ausdruck, und der lautete fanatisch. Eichmann, Mengele und Rauff waren opportunistische Feiglinge gewesen, die geflohen waren; ihr fanatischer Führer war geblieben und hatte Selbstmord begangen. Luke war sich ziemlich sicher, dass diese Frau das ebenfalls tun würde, wenn sich ihr die Gelegenheit bot. Falls das relativ schmerzfrei möglich war.

Er stieg in den Wagen, wobei er darauf achtete, nicht an den verwundeten Fuß von Dr. Evans zu stoßen. »Mr. Stackhouse meint, er hat mich im Visier, aber das stimmt nicht.«

»Nein?«, sagte Tim.

»Nein. Ich habe ihn im Visier.«

In der zunehmenden Dämmerung flackerten vor Lukes Augen die Stass-Lichter auf. Die Schiebetür des Vans rollte von selbst zu.

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