Während der Zug mit der Nummer 4297 den Güterbahnhof von Portsmouth, New Hampshire, in Richtung Sturbridge verließ, studierte Mrs. Sigsby gerade die Akten und den darin dokumentierten BDNF-Spiegel von zwei Kindern, die in Kürze im Institut wohnen würden. Eines war männlich, eines weiblich. Team Ruby Red würde sie noch am Abend herbringen. Der Junge, zehn Jahre alt und aus Sault Ste. Marie, hatte lediglich einen BDNF-Spiegel von 80. Das Mädchen, vierzehn und aus Chicago, lag bei 86. Laut den Unterlagen war sie Autistin. Daher würde der Umgang mit ihr schwierig sein, sowohl für das Personal als auch für die anderen Gäste. Hätte ihr BDNF-Spiegel unter 80 gelegen, so hätte man womöglich auf sie verzichtet. Aber 86 war ein überragender Wert.
BDNF war die internationale Abkürzung für Brain-Derived Neurotrophic Factor (vom Gehirn stammender neurotropher Faktor). Von den chemischen Aspekten verstand Mrs. Sigsby nur sehr wenig, das war die Domäne von Dr. Hendricks, aber über die Grundlagen wusste sie Bescheid. Wie der BMR – Basal Metabolic Rate (basale Stoffwechselrate, auch Grundumsatz genannt) – war der BDNF eine Art Größenordnung. Sie bemaß die Wachstums- und Überlebensrate der Neuronen im gesamten Körper und vor allem im Gehirn.
Die wenigen Personen, die einen hohen BDNF-Spiegel hatten, was auf nicht einmal ein halbes Prozent der Bevölkerung zutraf, waren die glücklichsten Menschen auf der Welt. Laut Hendricks waren sie das, was Gott im Sinn hatte, als er den Menschen schuf. Sie litten nur selten unter Gedächtnisverlust, Depression und Neuralgien. Auch zu Adipositas und extremen Essstörungen wie Anorexie und Bulimie neigten sie kaum. Sie kamen gut mit anderen Menschen aus (das angekündigte Mädchen war eine seltene Ausnahme), sie schlichteten Konflikte eher, als dass sie welche vom Zaun brachen (in der Hinsicht war Nick Wilholm eine seltene Ausnahme), sie waren nur wenig empfänglich für psychische Probleme wie Zwangsstörungen, und sie verfügten über eine hohe sprachliche Ausdrucksfähigkeit. Außerdem bekamen sie weniger Kopfschmerzen und litten praktisch nie an Migräne. Egal was sie aßen, blieb ihr Cholesterinspiegel niedrig. Ihr Schlafzyklus war unterdurchschnittlich oder schlecht, aber sie kompensierten das nicht durch Medikamente, sondern indem sie tagsüber ab und zu ein Schläfchen machten.
Obgleich der BDNF nicht grundsätzlich empfindlich war, konnte er geschädigt werden, manchmal sogar katastrophal. Die häufigste Ursache war etwas, was Hendricks als Chronisch-traumatische Enzephalopathie, kurz CTE, bezeichnete. Soweit Mrs. Sigsby begriff, wurde diese durch häufige Schläge an den Schädel hervorgerufen. Durchschnittlich betrug der BDNF-Spiegel 60 Zellen pro Millimeter; bei professionellen Footballspielern, die zehn Jahre aktiv waren und normalerweise mit Mitte dreißig darauf untersucht wurden, lag er manchmal nur in den Zwanzigern. Durch den normalen Alterungsprozess nahm der Faktor langsam ab, bei Alzheimerpatienten wesentlich schneller. Für Mrs. Sigsby hatte das alles keinerlei Bedeutung, da sie lediglich den Auftrag hatte, Resultate zu erzielen, und in ihren Jahren am Institut waren die Resultate gut gewesen.
Von Bedeutung für Mrs. Sigsby, für das Institut und für die Leute, die es finanzierten, war hingegen etwas, was man seit 1955 streng geheim hielt. Kinder mit einem hohen BDNF-Spiegel verfügten über gewisse paranormale Fähigkeiten: TK, TP und (in seltenen Fällen) eine Kombination davon. Von diesen Fähigkeiten wussten die Kinder selbst manchmal gar nichts, weil diese Talente normalerweise nur latent vorhanden waren. Jene, die Bescheid wussten – meist hochfunktionale TPs wie Avery Dixon – waren manchmal in der Lage, ihr Talent einzusetzen, wenn es ihnen nützlich erschien; die übrige Zeit ignorierten sie es.
Praktisch alle Neugeborenen wurden automatisch auf ihren BDNF-Spiegel getestet. Kinder wie jene, deren Akten Mrs. Sigsby gerade studierte, wurden vom Institut registriert, beobachtet und irgendwann gekidnappt. Dort wurden ihre noch wenig entwickelten paranormalen Fähigkeiten verfeinert und verstärkt. Laut Dr. Hendricks konnten diese Talente auch erweitert werden, TP mit TK und umgekehrt. Dieser Vorgang hatte jedoch keinerlei Bedeutung für die Mission des Instituts und damit dessen Daseinszweck. Der gelegentliche Erfolg, den Hendricks mit den Pinks hatte, die man ihm als Versuchskaninchen überließ, würde nie irgendwo dokumentiert werden. Darüber war Donkey Kong sicher traurig, obwohl ihm klar sein musste, dass er bei einer Veröffentlichung in einer medizinischen Fachzeitschrift nicht den Nobelpreis ergattern, sondern in einem Hochsicherheitsgefängnis landen würde.
Jemand klopfte der Form halber an die Tür, dann steckte Rosalind den Kopf herein. »Tut mir leid, dass ich Sie störe, Ma’am«, sagte sie mit bedauernder Miene. »Fred Clark möchte mit Ihnen sprechen. Er macht…«
»Helfen Sie mir auf die Sprünge. Wer ist Fred Clark?« Mrs. Sigsby nahm ihre Lesebrille ab und rieb sich die Seiten ihrer Nase.
»Einer von den Hausmeistern.«
»Stellen Sie fest, was er will, und erzählen Sie’s mir später. Falls wieder Mäuse an den Stromleitungen knabbern, kann das warten. Ich bin beschäftigt.«
»Er sagt, es ist wichtig, und er macht einen richtig bestürzten Eindruck.«
Mrs. Sigsby seufzte, klappte den Aktendeckel zu und legte ihn in eine Schublade. »Na gut, schicken Sie ihn herein. Aber gnade ihm, wenn er keinen guten Grund hat.«
Der Grund war gut, ganz im Gegensatz zu dem, was passiert war. Das war ausgesprochen schlecht.
Mrs. Sigsby erkannte Clark gleich wieder; sie war ihm oft auf den Fluren begegnet, mit einem Besen oder einem Mopp in den Händen. So jedoch hatte sie ihn noch nie gesehen. Er war totenbleich, sein graues Haar war so verworren, als ob er daran gezerrt hätte, und sein Mund zuckte leicht.
»Was ist denn los, Clark? Sie sehen aus, als wären Sie einem Gespenst begegnet.«
»Sie müssen mitkommen, Mrs. Sigsby. Sich das ansehen.«
»Was denn?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie müssen mitkommen«, wiederholte er.
Während sie mit ihm über den Weg zwischen dem Verwaltungsgebäude und dem Westflügel des Wohnheims ging, fragte sie ihn zweimal, worin das Problem denn genau bestehe, aber er schüttelte nur den Kopf und sagte jedes Mal, das müsse sie sich selbst ansehen. Ihr Ärger darüber, dass sie gestört worden war, wich einem Gefühl des Unbehagens. Ging es um eines von den Kindern? War ein Test danebengegangen wie bei diesem Harry Cross? Bestimmt nicht. Wenn es um ein Kind gegangen wäre, hätte jemand von den Pflegern, den MTAs oder den Ärzten es eher entdeckt als ein Hausmeister.
In der Mitte des weitgehend menschenleeren Flurs im Westflügel beäugte ein Junge, dem der Bauch aus dem schlampig in die Hose gesteckten T-Shirt hing, einen Zettel am Knauf einer geschlossenen Zimmertür. Als er Mrs. Sigsby kommen sah, blickte er erschrocken drein. Also genau so, wie er nach ihrer Auffassung dreinblicken sollte.
»Whipple, nicht wahr?«
»Jep.«
»Was hast du da gerade zu mir gesagt?«
Während er über die Frage nachdachte, kaute Stevie an seiner Unterlippe. »Ja, Mrs. Sigsby.«
»Besser. Mach jetzt, dass du fortkommst. Falls du nicht zu irgendeinem Test musst, such dir eine Beschäftigung.«
»Okay. Ich meine: Jawohl, Mrs. Sigsby.«
Stevie schlurfte davon, wenn auch nicht, ohne einen Blick über die Schulter zu werfen. Das sah Mrs. Sigsby nicht. Sie betrachtete den Zettel, den man an den Türknauf gehängt hatte. NICHT EINTRETEN war darauf geschrieben, wahrscheinlich mit dem Kugelschreiber, der in einer von Clarks Brusttaschen steckte.
»Ich hätte abgeschlossen, wenn ich den Schlüssel gehabt hätte«, sagte Fred Clark.
Die Hausmeister hatten Schlüssel für die verschiedenen Abstellkammern auf Ebene A und für die Verkaufsautomaten, damit sie die auffüllen konnten, aber keine Schlüssel zu den Untersuchungsräumen und den Zimmern der Insassen. Letztere waren ohnehin nur selten abgeschlossen, außer wenn irgendein Nichtsnutz Unsinn angestellt hatte und zur Strafe einen Tag lang eingesperrt werden musste. Karten zum Betrieb der Aufzüge hatten die Hausmeister ebenfalls nicht. Wenn sie etwas auf einer unteren Ebene zu erledigen hatten, mussten sie sich einen Pfleger oder MTA suchen, der mit ihnen hinunterfuhr.
»Wenn der Dicke da reingegangen wäre«, sagte Clark, »hätte er den größten Schock seines jungen Lebens gekriegt.«
Ohne etwas zu erwidern, öffnete Mrs. Sigsby die Tür und sah ein leeres Zimmer – keine Bilder oder Poster an den Wänden, nichts auf dem Bett als eine nackte Matratze. Kein Unterschied zu vielen Wohnheimzimmern in den letzten zwölf oder dreizehn Jahren, seit der einst so starke Zustrom von Kindern mit hohem BDNF zu einem Rinnsal geworden war. Dr. Hendricks hatte die Theorie entwickelt, dass der hohe BDNF-Spiegel allmählich aus dem menschlichen Erbgut verschwand wie bestimmte andere Eigenschaften, zum Beispiel ein gutes Seh- und Hörvermögen. Oder, wie er so gern sagte, die Fähigkeit, mit den Ohren zu wackeln. Was vielleicht ein Witz war, aber nicht unbedingt. Bei Donkey Kong konnte man sich da nie ganz sicher sein.
Sie drehte sich zu Fred Clark um.
»Es ist im Badezimmer«, sagte er. »Ich hab zur Sicherheit die Tür zugemacht.«
Als Mrs. Sigsby die besagte Tür aufgezogen hatte, stand sie mehrere Sekunden lang stocksteif da. In ihrer Zeit als Chefin des Instituts hatte sie schon eine Menge erlebt, unter anderem den Suizid eines Insassen und Suizidversuche von zwei weiteren, aber bei jemand vom Personal hatte sie so etwas noch nie gesehen.
Die Haushälterin (erkennbar an ihrer braunen Uniform) hatte sich am Duschkopf erhängt, der unter dem Gewicht von jemand Schwererem – wie dem dicken Whipple, den Mrs. Sigsby gerade weggescheucht hatte – sicher abgebrochen wäre. Das tote Gesicht, das aus der Dusche starrte, war schwarz und angeschwollen. Zwischen den Lippen ragte die Zunge heraus, als wollte sie Mrs. Sigsby verhöhnen. Auf den Fliesen stand in krakeligen Buchstaben eine Abschiedsbotschaft.
»Das ist Maureen«, sagte Fred Clark mit leiser Stimme. Er zog ein zusammengeknülltes Taschentuch aus der Gesäßtasche seiner Arbeitshose und wischte sich damit die Lippen ab. »Maureen Alvorson. Sie…«
Mrs. Sigsby überwand ihre Schockstarre und sah sich nach hinten um. Die Tür zum Flur stand offen. »Zumachen.«
»Sie…«
»Machen Sie die Tür da zu!«
Der Hausmeister gehorchte. Mrs. Sigsby griff in die rechte Tasche ihrer Kostümjacke, aber die war leer. Scheiße, dachte sie. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Was für ein Leichtsinn, das Funkgerät nicht einzustecken, aber wer hätte wissen können, dass sie so etwas erwartete?
»Gehen Sie in mein Büro zurück. Sagen Sie Rosalind, sie soll Ihnen mein Walkie-Talkie geben. Bringen Sie es her.«
»Aber…«
»Klappe.« Sie wandte sich ihm zu. Ihr Mund war zu einem dünnen Schlitz geworden, und als Fred sah, wie ihre Augen in dem hageren Gesicht hervortraten, wich er einen Schritt zurück. Sie sah aus, als wäre sie verrückt geworden. »Ab mit Ihnen, und zwar zackig. Und kein Wort zu irgendjemand über das hier!«
»Ja, natürlich.«
Er ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Mrs. Sigsby setzte sich auf die nackte Matratze und betrachtete die Frau, die am Duschkopf hing. Und die Botschaft, die mit dem Lippenstift geschrieben worden war, den Mrs. Sigsby jetzt vor der Toilettenschüssel liegen sah.
Stackhouse befand sich in der Personalsiedlung des Instituts, und als er sich meldete, hörte er sich angeschlagen an. Wahrscheinlich hatte er sich abends im Outlaw Country volllaufen lassen, aber anstatt ihm das unter die Nase zu reiben, beorderte sie ihn lediglich in den Westflügel. Vor dem betreffenden Zimmer werde ein Hausmeister Wache halten.
Hendricks und Evans waren auf Ebene C, um Tests durchzuführen. Mrs. Sigsby forderte sie auf, alles stehen und liegen zu lassen und die Testpersonen in ihre Zimmer zu schicken. Sie würden beide im Westflügel gebraucht. Hendricks, der selbst in seinen besten Momenten extrem nervig sein konnte, wollte wissen, weshalb. Mrs. Sigsby machte ihm klar, dass er den Mund halten und herkommen sollte.
Stackhouse traf als Erster ein. Die beiden Ärzte waren direkt hinter ihm.
»Jim«, sagte Stackhouse zu Evans, nachdem er die Lage in Augenschein genommen hatte. »Heben Sie sie ein Stück an, damit das Seil nicht mehr so straff ist.«
Evans schlang die Arme um die Taille der Toten – einen Moment sah es fast so aus, als würde er mit ihr tanzen – und reckte sie ein Stück in die Höhe. Stackhouse machte sich daran, den Knoten am Hals zu lösen.
»Beeilung«, sagte Evans. »Sie hat in die Hose gekackt.«
»Bestimmt haben Sie schon Schlimmeres gerochen«, sagte Stackhouse. »Aber ich hab’s gleich… Moment… Okay, das war’s.«
Er hob die Schlinge über den Kopf der Toten und stieß einen leisen Fluch aus, weil einer ihrer Arme ihm dabei vertraulich an den Nacken baumelte. Dann trug er sie zum Bett. Der Strick hatte ein schwarz-rotes Brandmal an ihrem Hals hinterlassen. Schweigend betrachteten die vier die Leiche. Mit seinen ein Meter neunzig war Trevor Stackhouse groß gewachsen, aber Hendricks überragte ihn um mindestens zehn Zentimeter. Dadurch wirkte Mrs. Sigsby, die zwischen den beiden stand, geradezu zwergenhaft.
Stackhouse sah sie mit gehobenen Augenbrauen an. Sie erwiderte den Blick, ohne etwas zu sagen.
Auf dem Nachttisch neben dem Bett stand ein braunes Pillenglas. Dr. Hendricks nahm es in die Hand und schüttelte es. »Oxycodon. Vierzig Milligramm. Nicht die höchste Dosierung, aber trotzdem ziemlich hoch. Das Rezept ist für neunzig Tabletten, und es sind nur noch drei übrig. Ich nehme an, dass wir keine Autopsie vornehmen werden…«
Da hast du völlig recht, dachte Stackhouse.
»… aber wenn doch eine stattfinden würde, würden wir meiner Meinung nach feststellen, dass sie den Großteil des Inhalts eingenommen hat, bevor sie sich den Strick um den Hals legte.«
»Was an sich schon ausgereicht hätte, sie umzubringen«, sagte Evans. »Die Frau kann kaum mehr als fünfundvierzig Kilo gewogen haben. Offensichtlich war Ischias nicht ihr Hauptproblem, was auch immer sie behauptet hat. In jedem Fall wäre sie ihren Aufgaben nicht mehr lange gewachsen gewesen, weshalb sie einfach…«
»… beschlossen hat, Schluss zu machen«, beendete Hendricks den Satz.
Stackhouse inspizierte die Botschaft, die im Bad an der Wand stand. »Auf euch wartet die Hölle«, sinnierte er. »Wenn man bedenkt, was wir hier tun, könnten manche Leute das als begründete Annahme betrachten.«
»Bullshit«, sagte Mrs. Sigsby, obwohl sie im Allgemeinen nicht zu vulgären Ausdrücken neigte.
Stackhouse zuckte die Achseln. Unter der Deckenlampe glänzte seine Glatze, als hätte man sie mit Autopolitur behandelt. »Mit manchen Leuten meinte ich natürlich Außenstehende, die keine Ahnung haben, worum es hier geht. Ist auch egal. Was wir da vor uns haben, ist ziemlich simpel. Eine Frau mit einer tödlichen Krankheit hat beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.« Er deutete auf die Wand des Badezimmers. »Nachdem sie ihre Schuld verkündet hat. Und unsere.«
Das klang einleuchtend, aber Mrs. Sigsby gefiel es trotzdem nicht. Auch wenn Alvorsons letzte Mitteilung an die Welt Schuldgefühle ausdrückte, schwang ein triumphaler Ton mit.
»Vor kurzem hatte sie eine Woche frei«, wagte Fred der Hausmeister zu äußern, wodurch Mrs. Sigsby klar wurde, dass er sich noch im Raum befand. Jemand hätte ihn wegschicken sollen. Genauer gesagt, hätte sie ihn wegschicken sollen. »Sie ist heim nach Vermont gefahren. Wahrscheinlich hat sie sich da die Pillen besorgt.«
»Danke«, sagte Stackhouse. »Sherlock Holmes wäre stolz auf Sie. Aber müssen Sie nicht irgendwo den Boden wischen?«
»Und machen Sie endlich die Kameragehäuse sauber«, blaffte Mrs. Sigsby. »Darum hab ich schon letzte Woche gebeten. Noch mal tue ich das nicht.«
»Jawohl, Ma’am.«
»Kein Wort über das hier, Mr. Clark.«
»Klar, Ma’am. Natürlich nicht.«
»Einäscherung?«, fragte Stackhouse, als der Hausmeister verschwunden war.
»Ja. Wir lassen sie von zwei Pflegern zum Aufzug schaffen, während die Insassen beim Mittagessen sind. Das ist in…« Mrs. Sigsby warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »… in weniger als einer Stunde.«
»Gibt es ein Problem?«, fragte Stackhouse. »Abgesehen davon, die Sache hier vor den Insassen geheim zu halten, meine ich? Ich frage, weil Sie den Eindruck machen, als gäb’s eins.«
Mrs. Sigsbys Blick wanderte von den auf die Badezimmerfliesen gekrakelten Worten zu dem schwarzen Gesicht der Toten, aus dem die Zunge heraushing. Dann wandte sie sich an die zwei Ärzte. »Gehen Sie bitte beide einen Moment hinaus. Ich möchte mit Mr. Stackhouse unter vier Augen sprechen.«
Hendricks und Evans tauschten einen Blick und gingen hinaus.
»Sie hat für Sie gespitzelt. Ist das Ihr Problem?«
»Gespitzelt hat sie für uns beide, Trevor, aber ja, das ist das Problem. Beziehungsweise könnte es eines sein.«
Ein Jahr zuvor – nein, eher vor etwa sechzehn Monaten, draußen hatte noch Schnee gelegen – hatte Maureen Alvorson um ein Gespräch mit Mrs. Sigsby gebeten. Sie wollte sich gern etwas dazuverdienen. Mrs. Sigsby, die seit beinahe einem Jahr ein Lieblingsprojekt im Sinn gehabt hatte, aber keine klare Idee, wie es sich umsetzen ließe, fragte Alvorson, ob sie es sich zutraue, den Kindern abgelauschte Informationen zu melden. Das hatte Alvorson bejaht und sogar eine gewisse Durchtriebenheit demonstriert, indem sie bald darauf das Märchen über verschiedene tote Winkel lanciert hatte, wo die Mikrofone angeblich schlecht oder überhaupt nicht funktionierten.
Stackhouse zuckte die Achseln. »Was sie uns gemeldet hat, war selten mehr als Klatsch und Tratsch. Welcher Junge die Nacht mit welchem Mädchen verbracht hat, wer auf einen Esstisch Tony = Arschloch geschrieben hat, solches Zeug.« Er machte eine Pause. »Wobei ihre Schnüffelei zu ihren Schuldgefühlen beigetragen haben könnte.«
»Sie war verheiratet«, sagte Mrs. Sigsby. »Aber wie man sieht, trägt sie keinen Ehering mehr. Was wissen wir eigentlich über ihr Leben in Vermont?«
»Aus dem Stegreif erinnere ich mich nicht, aber es steht bestimmt in ihrer Akte, und da werde ich gerne nachschauen.«
Als Mrs. Sigsby darüber nachdachte, wurde ihr klar, wie wenig sie über Maureen Alvorson wusste. Klar, sie hatte gewusst, dass sie verheiratet war, weil sie den Ring gesehen hatte. Dass die Frau früher beim Militär gewesen war wie viele vom Institutspersonal, wusste sie ebenfalls. Und sie wusste, dass Alvorson aus Vermont stammte. Aber sonst wusste sie kaum etwas, was bei jemand, den sie beauftragt hatte, die Insassen zu bespitzeln, eigentlich unglaublich war. Jetzt spielte das eventuell keine Rolle mehr, schließlich war Alvorson tot, aber es erinnerte Mrs. Sigsby daran, dass sie vorher ihr Walkie-Talkie nicht mitgenommen hatte, in dem Irrglauben, dieser Hausmeister wäre völlig grundlos in Panik geraten. Außerdem erinnerte es sie an die verstaubten Kameragehäuse, die langsamen Computer und das kleine, ineffiziente Team, das dafür zuständig war, den häufigen Lebensmittelverderb in der Küche, die von Mäusen angenagten Kabel und an die schlampigen Überwachungsberichte, besonders während der Nachtschicht, die von 23 bis 7 Uhr dauerte, wenn die Insassen normalerweise schliefen.
Das kam ihr alles ausgesprochen nachlässig vor.
»Julia? Ich sagte, dass…«
»Hab ich gehört. Ich bin nicht taub. Wer ist momentan im Überwachungsraum?«
Stackhouse blickte auf seine Uhr. »Wahrscheinlich niemand. Es ist mitten am Tag. Da sind die Kinder entweder in ihren Zimmern oder mit dem beschäftigt, was Kinder so tun.«
Reine Spekulation, dachte sie, und was ist die Mutter der Nachlässigkeit, wenn nicht Spekulation? Seit mehr als sechzig Jahren war das Institut nun schon in Betrieb, und es war nie etwas nach außen gedrungen. Es hatte nie einen Grund gegeben (in ihrer Amtszeit jedenfalls), das spezielle Telefon, das sie als Nullfon bezeichneten, für etwas anderes zu verwenden als für Routinemeldungen. Also für nichts, was sie nicht selbst hätten handhaben können.
Natürlich kursierten in Dennison River Bend Gerüchte. Am häufigsten meinten die Leute dort, dass es sich bei der Anlage draußen im Wald um einen Stützpunkt für Atomraketen handelte. Oder dass man sich dort mit biologischer oder chemischer Kriegführung beschäftigte. Oder, was der Wahrheit näher kam, dass es eine Versuchsanstalt der Regierung war. Gerüchte stellten kein Problem dar, waren sie doch nichts anderes als selbst erzeugte Desinformation.
Eigentlich gab es überhaupt kein Problem, sagte sie sich. Alles war in bester Ordnung. Der Suizid einer todkranken Haushälterin war nur eine Hürde, die überwunden werden musste, und eine kleine noch dazu. Trotzdem war er ein Hinweis auf umfassendere… tja, nicht Probleme, es so zu nennen wäre übertrieben, eher auf übergeordnete Angelegenheiten. Zum Teil war sie selbst schuld daran. Zu Beginn ihrer Amtszeit wären die Kameragehäuse nie verstaubt gewesen, und sie hätte ihr Büro nie ohne ihr Funkgerät verlassen. Und damals hätte sie wesentlich mehr über eine Frau gewusst, die sie dafür bezahlte, die Insassen zu bespitzeln.
Sie dachte darüber nach, was Entropie bedeutete. Nämlich die Neigung, die Zügel locker zu lassen, wenn es gut lief.
Und sich auf Spekulationen zu verlassen.
»Mrs. Sigsby? Julia? Haben Sie einen Auftrag für mich?«
Sie kam ins Hier und Jetzt zurück. »Ja. Ich will alles über die Frau da wissen, und falls tatsächlich gerade niemand im Überwachungsraum ist, will ich dort so schnell wie möglich jemand haben. Jerry, würde ich sagen.« Jerry Symonds war einer der beiden Computerspezialisten und konnte am besten mit dem veralteten System umgehen.
»Jerry ist in Urlaub«, sagte Stackhouse. »Der geht auf den Bahamas fischen.«
»Dann Andy.«
Stackhouse schüttelte den Kopf. »Fellowes ist momentan im Dorf. Ich hab ihn vorhin aus dem Laden kommen sehen.«
»Verdammt noch mal, der sollte eigentlich hier sein! Dann eben Zeke. Der hat doch schon mal im Überwachungsraum gearbeitet, oder?«
»Ich glaube, ja«, sagte Stackhouse, und da war es wieder. Unklarheit. Spekulation. Annahmen.
Verstaubte Kameragehäuse. Abgescheuerte Fußleisten. Sorgloses Geschwätz auf Ebene B. Der unbemannte Überwachungsraum.
Mrs. Sigsby beschloss spontan, dass ein paar große Änderungen anstanden, und zwar bevor das Laub sich verfärbte und von den Bäumen fiel. So zwecklos der Suizid von Maureen Alvorson auch war, er war ein Weckruf. Sie hatte zwar keine große Lust, mit dem Mann am anderen Ende des Nullfons zu sprechen – ihr lief es schon bei seinem gelispelten Gruß kalt über den Rücken (nie Sigsby, sondern Thigby)–, aber es war unvermeidbar. Ein schriftlicher Bericht würde nicht ausreichen. Das Institut verfügte über Zuträger im ganzen Land. Ein Privatjet stand auf Abruf bereit. Das Personal wurde gut bezahlt und bekam alle Sozialleistungen. Dennoch ähnelte diese Einrichtung immer mehr einem Ramschladen in einer kurz vor der Schließung stehenden Einkaufspassage. Das war schlicht irrsinnig. Die Dinge mussten sich ändern. Und sie würden sich ändern.
»Sagen Sie Zeke, er soll sämtliche Ortungschips überprüfen. Vergewissern wir uns, dass alle Insassen anwesend und lokalisierbar sind. Besonders interessieren mich Luke Ellis und Avery Dixon. Mit denen hat Alvorson sich bekanntlich häufig unterhalten.«
»Wir wissen doch, worüber da gesprochen wurde, und das war nichts Aufregendes.«
»Tun Sie einfach, was ich gesagt habe.«
»Gern. Sehen Sie doch inzwischen zu, dass Sie mal lockerlassen.« Er deutete auf die Leiche mit dem schwarz gewordenen Gesicht und der unverschämt herausragenden Zunge. »Betrachten Sie die Dinge doch mal nüchtern. Das war eine schwer kranke Frau, die ihr Ende kommen sah und die Notbremse gezogen hat, bevor der Krebs sie richtig in die Mangel nehmen konnte.«
»Überprüfen Sie, wo die Gäste sich befinden, Trevor. Wenn die alle da sind, wo sie hingehören – mit oder ohne gute Laune–, lasse ich locker.«
Was sie keineswegs tun würde. Sie hatte schon viel zu sehr lockergelassen.
Wieder in ihrem Büro sagte sie Rosalind, dass sie nicht gestört werden wolle, außer wenn Stackhouse oder Zeke Ionidis, der momentan auf Ebene D einen Anwesenheitscheck durchführe, sie sprechen wollten. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch und betrachtete den Bildschirmschoner auf ihrem Monitor. Er zeigte einen weißen Sandstrand auf Siesta Key, von dem sie den Leuten erzählte, dass sie dort ihren Ruhestand verbringen wollte. Sich selbst redete sie das nicht mehr ein. Mrs. Sigsby erwartete definitiv, hier in den Wäldern von Maine zu sterben, möglicherweise in ihrem kleinen Haus im Dorf, eher jedoch an ihrem Schreibtisch. Zwei ihrer Lieblingsautoren, Thomas Hardy und Rudyard Kipling, waren an ihrem Schreibtisch gestorben, weshalb sollte sie es ihnen nicht gleichtun? Das Institut war zu ihrem Leben geworden, und das war okay für sie.
Für die meisten Mitglieder des Personals galt dasselbe. Früher waren sie Soldaten, Mitarbeiter bei Hardcore-Sicherheitsunternehmen wie Blackwater und Tomahawk Global oder Beamte einer Strafverfolgungsbehörde gewesen. Denny Williams und Michelle Robertson von Team Ruby Red hatten beim FBI gearbeitet. Falls das Institut nicht schon von Anfang an ihr Leben gewesen war, als sie nach ihrer Rekrutierung eintrafen, so war es dazu geworden. Das lag nicht an der Bezahlung und auch nicht an den Sozialleistungen oder der flexiblen Ruhestandsregelung. Teilweise lag es an der Lebensweise, die solchen Leuten so vertraut war, dass sie sich geradezu schlafwandlerisch einfügten. Das Institut war wie ein kleiner Militärstützpunkt; in der als Dorf bezeichneten Siedlung gab es sogar einen subventionierten Laden, wo sie billig alles Mögliche einkaufen und ihre Pkws und Pick-ups auftanken konnten. Normalbenzin kostete zwanzig Cent pro Liter, Super dreiundzwanzig Cent. Mrs. Sigsby war eine Weile auf der Ramstein Air Base in Deutschland stationiert gewesen, und Dennison River Bend erinnerte sie – natürlich in wesentlich kleinerem Maßstab – an Kaiserslautern, wo sie mit ihren Freunden hingefahren war, um Dampf abzulassen. In Ramstein hatte es zwar alles vor Ort gegeben, sogar ein Multiplex und eine Filiale von Johnny Rockets, aber manchmal wollte man trotzdem einfach mal raus. So war es auch hier.
Aber sie kommen immer zurück, dachte Mrs. Sigsby, während sie den Strand betrachtete, den sie manchmal im Urlaub aufsuchte, wo sie aber niemals leben würde. Sie kommen immer zurück, und egal wie viel Nachlässigkeit hier inzwischen Einzug gehalten hat, sie plaudern nichts aus. In der Hinsicht sind sie nie nachlässig. Denn wenn man herausfände, was wir hier tun, wenn man von den Hunderten Kindern wüsste, die wir zerstört haben, dann würde man uns scharenweise vor Gericht stellen und hinrichten. Uns die Giftspritze verpassen wie Timothy McVeigh.
Das war die Schattenseite des Ganzen. Die Sonnenseite war simpel: Alle Mitglieder des Personals, von dem oft nervigen, aber zweifellos tüchtigen Dr. Dan »Donkey Kong« Hendricks über die Hinterbau-Docs Heckle und Jeckle bis hinunter zu dem bescheidensten Hausmeister, waren sich bewusst, dass nichts weniger als das Schicksal der Welt in ihren Händen lag, so wie es in den Händen derer gelegen hatte, die vor ihnen gekommen waren. Nicht nur das Überleben der Menschheit, sondern das der ganzen Erde. Sie wussten, dass es keine Grenzen für das gab, was sie tun konnten und tun würden, um diesem Zweck zu dienen. Niemand, der das Werk des Instituts voll und ganz verstanden hatte, konnte es für monströs halten.
Das Leben hier war gut – jedenfalls gut genug, besonders für Männer und Frauen, die im Nahen Osten Sand gefressen hatten. Die ihre Kameraden in irgendwelchen beschissenen Dörfern hatten liegen sehen, mit abgerissenen Beinen oder heraushängenden Eingeweiden. Gelegentlich hatten sie Urlaub; dann konnten sie heimfahren und etwas Zeit mit ihrer Familie verbringen, vorausgesetzt, sie hatten eine (was auf viele vom Personal nicht zutraf). Natürlich konnten sie mit der nicht darüber sprechen, was sie hier taten, und nach einer Weile merkten ihre Angehörigen – ihre Frauen, Männer, Kinder–, dass es der Job war, der zählte, nicht sie. Weil dieser Job von einem Besitz ergriff. Das Leben bestand allmählich nur noch aus – in absteigender Reihenfolge – dem Institut, dem Dorf und der Stadt Dennison River Bend mit ihren drei Kneipen, von denen sich eine durch live dargebotene Countrymusic auszeichnete. Sobald sich diese Erkenntnis einstellte, legte man meistens den Ehering ab, wie Alvorson es getan hatte.
Mrs. Sigsby schloss die unterste Schublade ihres Schreibtischs auf und nahm ein Telefon heraus, das so ähnlich aussah wie diejenigen, die von den Extraktionsteams verwendet wurden: groß und klobig, wie ein Flüchtling aus der Zeit, als der Kassettenrekorder vom CD-Player abgelöst wurde und Mobiltelefone gerade erst in den Elektronikgeschäften auftauchten. Man nannte es manchmal das Grüne Telefon wegen seiner Farbe, öfter jedoch das Nullfon, weil es kein Display und keine richtigen Tasten aufwies, nur drei kleine, weiße, runde Tasten.
Ich werde anrufen, dachte sie. Vielleicht lobt man mich, weil ich vorausdenke, und gratuliert mir zu meiner Initiative. Vielleicht ist man aber auch der Meinung, dass ich Gespenster sehe und es Zeit wird, über meine Ablösung nachzudenken. Anrufen muss ich so oder so. Die Pflicht ruft, und das hätte ich schon längst tun sollen.
»Aber nicht heute«, murmelte sie.
Nein, noch nicht heute, nicht solange sich noch jemand um Alvorson kümmern (beziehungsweise sie entsorgen) musste. Vielleicht nicht einmal morgen oder in dieser Woche. Was sie im Sinn hatte, war keine Kleinigkeit. Sie musste sich erst einmal Notizen machen, damit sie sich dann, wenn sie schließlich anrief, so präzise wie möglich ausdrücken konnte. Wenn sie das Nullfon wirklich zum Einsatz bringen wollte, war es unerlässlich, kurz und klar zu antworten, sobald sie den Mann am anderen Ende sagen hörte: Hallo, Mithith Thigby, wie kann ich behilflich thein?
Damit schiebe ich die Sache schließlich nicht auf die lange Bank, sagte sie sich. Absolut nicht. Außerdem will ich zwar nicht, dass jemand Probleme bekommt, aber…
Die Gegensprechanlage gab ein leises Summen von sich. »Zeke will mit Ihnen sprechen, Mrs. Sigsby. Leitung drei.«
Mrs. Sigsby hob den Telefonhörer ab. »Na, was haben Sie für mich, Ionidis?«
»Alle sind vollzählig«, sagte er. »Achtundzwanzig Ortungssignale im Hinterbau. Im Vorderbau sind zwei Kids im Aufenthaltsraum, sechs auf dem Spielplatz, fünf in ihren Zimmern.«
»Sehr gut. Vielen Dank.«
»Gern geschehen, Ma’am.«
Mrs. Sigsby stand auf. Sie fühlte sich jetzt ein bisschen besser, obwohl sie nicht ganz genau wusste, weshalb. Natürlich waren alle Insassen an Ort und Stelle. Was hatte sie da eigentlich erwartet – dass sich ein paar von denen nach Disney World verkrümelt hatten?
Na dann, auf zum nächsten Punkt.
Sobald alle Insassen beim Mittagessen saßen, schob Fred der Hausmeister einen aus der Küche geborgten Transportwagen zu der Tür des Zimmers, in dem Maureen Alvorson ihr Leben beendet hatte. Gemeinsam mit Stackhouse wickelte er sie in eine grüne Plane und rollte sie im Laufschritt den Flur entlang. Von weiter weg drang der Lärm der Tierfütterung zu ihnen, aber hier war absolut niemand. Nur einen Teddybären hatte jemand vor der Aufzugnische auf dem Boden liegen lassen. Der starrte mit seinen glasigen Knopfaugen an die Decke. Fred kickte ihn ärgerlich weg.
Stackhouse sah ihn vorwurfsvoll an. »Na hören Sie mal! Das ist das Kuscheltier von einem Kind.«
»Ist mir schnuppe«, sagte Fred. »Die lassen immer ihren ganzen Scheiß liegen, und wir müssen ihn aufheben.«
Als die Aufzugtür aufging, wollte Fred den Wagen hineinschieben. Stackhouse stieß ihn zurück, und zwar nicht gerade sanft. »Ab hier sind Ihre Dienste nicht mehr erforderlich. Heben Sie den Teddy auf, und setzen Sie ihn irgendwo da in den Aufenthaltsraum, wo sein Besitzer ihn sehen kann, wenn er herauskommt. Und dann fangen Sie endlich damit an, die verfluchten Kuppeln abzustauben.« Er deutete auf eines der Kameragehäuse an der Decke, schob den Wagen selbst hinein und hielt seine Karte an den Scanner.
Fred Clark wartete, bis die Tür sich geschlossen hatte, bevor er ihm den Finger zeigte. Aber Befehl war Befehl, und er würde die Gehäuse reinigen. Irgendwann.
Mrs. Sigsby erwartete Stackhouse auf Ebene F. Es war kalt hier unten, deshalb trug sie einen Pullover über ihrer Kostümjacke. Sie nickte Stackhouse zu, der zurücknickte und den Wagen in den Tunnel zwischen Vorder- und Hinterbau schob. Mit seinem Betonboden, seinen gebogenen, mit Fliesen verkleideten Wänden und den Leuchtstoffröhren an der Decke war der Tunnel der Inbegriff der Zweckmäßigkeit. Einige der Röhren flackerten und verströmten eine Horrorfilmatmosphäre, andere brannten gar nicht mehr. Jemand hatte einen Autosticker mit dem Emblem der New England Patriots an die Wand geklebt.
Noch mehr Nachlässigkeit, dachte Mrs. Sigsby. Noch mehr Kursabweichung.
Die Tür am anderen Ende des Tunnels trug ein Schild mit der Aufschrift: ZUTRITT NUR FÜR BEFUGTE. Mrs. Sigsby hielt ihre Karte an den Scanner und drückte die Tür auf. Dahinter befand sich wieder ein Aufzug. Eine kurze Reise aufwärts führte die beiden in einen Aufenthaltsraum, der kaum weniger nüchtern war als der Tunnel, durch den sie in den Hinterbau gelangt waren. Heckle – eigentlicher Name Dr. Everett Hallas – erwartete sie bereits. Er trug ein breites Grinsen auf dem Gesicht und legte ständig den Zeigefinger an den Mundwinkel. Das erinnerte Mrs. Sigsby daran, wie der kleine Dixon sich zwanghaft an der Nase gezupft hatte, nur dass Dixon ein Kind war, Hallas hingegen Mitte fünfzig. Die Tätigkeit im Hinterbau forderte ihren Tribut, so ähnlich wie das Arbeiten in einer leicht radioaktiv verstrahlten Umgebung.
»Hallo, Mrs. Sigsby! Hallo, Sicherheitsdirektor Stackhouse! Wirklich wunderbar, Sie wiederzusehen! Wir sollten öfter mal zusammenkommen! Wobei ich die Umstände bedaure, die Sie heute hierhergeführt haben!« Er bückte sich und betätschelte die Plane, unter der Maureen Alvorson lag. Dann legte er den Finger an den Mundwinkel, als würde er ein Herpesbläschen betasten, das nur er sehen und spüren konnte. »Aus der Mitte des Lebens gerissen, und so weiter und so fort.«
»Wir sollten uns jetzt beeilen«, sagte Stackhouse. Was, wie Mrs. Sigsby vermutete, wohl heißen sollte, dass sie hier schleunigst wieder verschwinden sollten. Sie war völlig seiner Meinung. Das hier war der Ort, wo die eigentliche Arbeit geleistet wurde, und Dr. Heckle und Dr. Jeckle (eigentlicher Name Joanne James) waren Helden, weil sie dazu bereit waren, aber das machte es keineswegs leichter, hier zu sein. Mrs. Sigsby spürte bereits die Atmosphäre, die hier herrschte. Als befände man sich in einem schwachen elektrischen Feld.
»Ja, natürlich, es gibt immer was zu tun, ein Rädchen greift ins andere, große Flöhe haben kleine Flöhe, die sie beißen, weiß schon, bitte hier entlang!«
Aus dem Aufenthaltsraum mit seinen hässlichen Sesseln, dem gleichermaßen hässlichen Sofa und einem älteren Flachbildfernseher traten sie in einen Flur mit dickem, blauem Teppichboden – im Hinterbau fielen die Kinder manchmal hin und stießen sich den wertvollen kleinen Kopf an. In dem weichen Flor hinterließen die Räder des Wagens Spuren. Sonst sah es hier weitgehend wie in einem Flur auf der Wohnebene im Vorderbau aus, bis auf die Schlösser an den Türen, die alle verriegelt waren. Mrs. Sigsby hörte, wie jemand von innen an eine Tür hämmerte. »Lasst mich raus!«, rief eine gedämpfte Mädchenstimme. »Oder gebt mir wenigstens eine Aspirin, verdammt noch mal!«
»Iris Stanhope«, sagte Heckle. »Die fühlt sich heute leider nicht so wohl. Dafür halten sich mehrere von unseren Neuankömmlingen bemerkenswert gut. Wir zeigen heute Abend einen Film, wissen Sie? Und morgen gibt’s ein Feuerwerk.« Er kicherte und berührte wieder seinen Mundwinkel, womit er Mrs. Sigsby diesmal groteskerweise an Shirley Temple erinnerte.
Sie strich sich über die Haare, um sich zu vergewissern, dass die noch ordentlich saßen. Das taten sie natürlich. Was sie spürte – dieses leichte Summen an den entblößten Hautstellen und das Gefühl, dass ihre Augäpfel in den Höhlen vibrierten–, war keine Elektrizität.
Sie kamen am Vorführraum mit seinen rund ein Dutzend Plüschsesseln vorüber. In der ersten Reihe saßen Kalisha Benson, Nick Wilholm und George Iles. Sie trugen ihre rot-blauen Trikots. Die kleine Benson nuckelte an einer Zuckerzigarette, Wilholm rauchte eine echte. Sein Kopf war von grauen Rauchkringeln umgeben. Iles massierte sich leicht die Schläfen. Als die drei Erwachsenen mit ihrer eingehüllten Last vorbeikamen, drehten Benson und Iles sich zu ihnen um; Wilholm starrte einfach weiter auf die leere Leinwand. Dem hat man seinen Hitzkopf aber ganz schön abgekühlt, dachte Mrs. Sigsby befriedigt.
Hinter dem Vorführraum lag auf der anderen Seite des Flurs der Eingang zur Cafeteria, die wesentlich weniger Platz bot als der Essbereich im Vorderbau. Hier hausten zwar immer mehr Kinder als dort, doch je länger sie im Hinterbau blieben, desto weniger aßen sie. Ein Literaturstudent hätte das wohl als ironisch bezeichnet. Momentan saßen drei Kinder da; zwei löffelten etwas, was nach Haferbrei aussah. Das dritte war ein etwa zwölfjähriges Mädchen, das einfach vor seinem vollen Teller saß. Als es den Transportwagen sah, hellte sich seine Miene auf.
»Hi! Was habt ihr denn da? Ist das eine Tote? Stimmt doch, oder? Hieß sie Morris? Das ist ein komischer Name für ein Mädchen. Vielleicht war es auch Morin. Darf ich sie sehen? Sind ihre Augen offen?«
»Das ist Donna«, sagte Heckle. »Achten Sie nicht auf sie. Heute Abend wird sie sich den Film ansehen, aber ich gehe davon aus, dass sie ziemlich bald weiterziehen wird. Vielleicht gegen Ende der Woche. Auf zu neuen Ufern und so weiter und so fort. Sie wissen ja Bescheid.«
Das tat Mrs. Sigsby. Es gab den Vorderbau, es gab den Hinterbau… und dann gab es noch den hinteren Teil vom Hinterbau. Die Endstation. Sie betastete wieder ihre Haare. Weiterhin an Ort und Stelle, was sonst. Sie dachte an das Dreirad, das sie als kleines Mädchen besessen hatte, an die warme Nässe von Urin in ihrer Hose, wenn sie damit vor der Garage auf und ab fuhr. Sie dachte an zerrissene Schnürsenkel. Sie dachte an ihr erstes Auto, einen…
»Es war ein Valium!«, schrie das Mädchen namens Donna. Sie sprang auf, wobei sie ihren Stuhl umstieß. Die anderen beiden Kinder beäugten sie stumpfsinnig; dem einen tropfte Haferbrei vom Kinn. »Ein Plymouth Valium, das weiß ich! O Gott, ich will nach Hause! O Gott, mach, dass das aufhört in meinem Kopf!«
Zwei Pfleger in roter Uniform erschienen von… Mrs. Sigsby konnte nicht sagen, von woher. Es war ihr auch egal. Die beiden packten das Mädchen an den Armen.
»Genau, bringt sie in ihr Zimmer zurück«, sagte Heckle. »Aber keine Pillen, ja? Wir brauchen sie heute Abend noch.«
Donna Gibson, die einst Mädchengeheimnisse mit Kalisha geteilt hatte, als die beiden noch im Vorderbau waren, wehrte sich schreiend. Als die Pfleger sie wegschleppten, streiften die Spitzen ihrer Sneakers über den Teppichboden. Die fragmentarischen Gedanken im Kopf von Mrs. Sigsby wurden erst schwächer und verblassten dann vollständig. Das Summen auf ihrer Haut blieb jedoch; sie spürte es jetzt sogar in ihren Zahnfüllungen. Hier drüben war das Summen allgegenwärtig wie das Sirren der Leuchtstoffröhren im Flur.
»Alles in Ordnung?«, fragte Stackhouse.
»Ja.« Hauptsache, sie kam bald hier raus.
»Ich spüre es auch. Falls das ein Trost sein sollte.«
War es nicht. »Trevor, können Sie mir eigentlich erklären, wieso Leichen, die ins Krematorium kommen, direkt durch den Wohnbereich der Kinder geschoben werden müssen?«
»Ich hab Bohnen in den Ohren«, erwiderte Stackhouse.
»Wie bitte?«, fragte Mrs. Sigsby. »Was haben Sie da gesagt?«
Stackhouse schüttelte den Kopf, wie um ihn frei zu bekommen. »Tut mir leid. Das ist mir irgendwie in den Kopf gekommen, und…«
»Ja, ja«, sagte Heckle. »Heute liegen allerhand… äh, sagen wir frei schwebende Übertragungen in der Luft.«
»Mir ist schon klar, was das war«, sagte Stackhouse. »Ich musste es bloß aussprechen, das ist alles. Es hat sich angefühlt, als…«
»Als würde man an einem Bissen würgen«, sagte Heckle nüchtern. »Die Antwort auf Ihre Frage von vorhin, Mrs. Sigsby, lautet: Das weiß niemand.« Er kicherte und betastete seinen Mundwinkel.
Wenn ich bloß bald hier rauskomme, dachte sie wieder. »Wo ist eigentlich Dr. James, Dr. Hallas?«
»In ihrer Wohnung. Sie fühlt sich heute leider nicht gut. Aber sie lässt Sie grüßen. Und hofft, dass Sie wohlauf sind, fit wie ein Turnschuh, kerngesund, und so weiter und so fort.« Er lächelte und spielte wieder Shirley Temple – bin ich nicht niedlich?
Im Vorführraum pflückte Kalisha Nicky die Zigarette aus den Fingern, nahm einen letzten Zug aus dem filterlosen Stummel, warf ihn auf den Boden und stellte den Fuß darauf. Dann legte sie Nicky den Arm um die Schultern. »Schlimm?«
»War schon schlimmer.«
»Durch den Film wird’s besser werden.«
»Jep. Aber morgen ist auch noch ein Tag. Jedenfalls weiß ich jetzt, warum mein Dad immer so fies war, wenn er einen Kater hatte. Wie geht es dir, Sha?«
»Ganz gut.« Was stimmte. Bloß ein schwaches Pochen über dem linken Auge. Abends war es bestimmt verschwunden. Aber morgen würde es wieder da sein, und dann nicht mehr schwach. Morgen würde es ein Schmerz sein, im Vergleich zu dem der Kater von Nickys Dad (und gelegentlich auch der ihrer eigenen Eltern) bestimmt ein wahres Vergnügen gewesen war – unaufhörlich pochende Schläge, als wäre ein dämonischer Kobold in ihrem Kopf eingesperrt und würde auf die Schädelknochen einhämmern, um herauszukommen. Freilich würde selbst das nicht so schlimm sein, wie es sein konnte. Die Kopfschmerzen von Nicky waren schlimmer, die von Iris noch schlimmer, und es dauerte immer länger, bis sie verschwanden.
George hatte Glück; trotz seiner starken TK hatte er bisher beinahe keine Schmerzen gespürt. Bloß ein Ziehen in den Schläfen, hatte er erzählt, und hinten am Schädel. Aber auch bei ihm würde es schlimmer werden. Das wurde es immer, zumindest, bis es endlich vorüber war. Und dann? Station A. Das Summen. Der hintere Teil vom Hinterbau. Noch sehnte sich Kalisha nicht danach; die Vorstellung, als Person ausgelöscht zu werden, erfüllte sie mit Entsetzen, aber das würde sich ändern. Bei Iris war es bereits so weit, die sah die meiste Zeit aus wie ein Zombie aus The Walking Dead. Was Kalisha empfand, wenn sie an Station A dachte, hatte Helen Simms einmal ziemlich treffend formuliert: Alles ist besser als die Stass-Lichter und brutale Kopfschmerzen, die nie aufhören.
George beugte sich vor und blickte mit hellen Augen, die noch relativ schmerzfrei waren, an Nicky vorbei zu ihr herüber. »Aber er hat es nach draußen geschafft«, flüsterte er. »Konzentrier dich darauf. Und halt durch.«
»Das werden wir«, sagte Kalisha. »Stimmt doch, Nicky, oder?«
»Wir versuchen es«, sagte Nicky und brachte ein Lächeln zustande. »Dass ausgerechnet ein Typ, der derart mies Basketball spielt wie Luke Ellis, die Kavallerie holt, ist allerdings eine ziemlich abgedrehte Vorstellung.«
»Im Basketball ist er eine Niete, aber er spielt gut Schach«, sagte George. »Unterschätz ihn nicht.«
In der offenen Tür des Vorführraums tauchte einer von den rot gekleideten Pflegern auf. Ihre Kollegen im Vorderbau trugen Namensschildchen, doch das tat hier niemand. Hier waren die Pfleger austauschbar. Es waren auch keine MTAs da, nur die beiden für den Hinterbau zuständigen Ärzte und gelegentlich auch Dr. Hendricks: Heckle, Jeckle und Donkey Kong. Das Tödliche Trio. »Die Freizeit ist beendet«, sagte der Pfleger. »Wenn ihr nichts essen wollt, geht zurück in eure Zimmer.«
Der alte Nicky hätte diesem muskelbepackten Penner eventuell erklärt, dass er sich ins Knie ficken solle. Die neue Version von Nicky stand einfach auf, taumelte und hielt sich an einer Sessellehne fest, um das Gleichgewicht zu halten. Es brach Kalisha das Herz, ihn so zu sehen. Was man Nicky geraubt hatte, war in mancher Hinsicht schlimmer als Mord. In vielerlei Hinsicht.
»Komm«, sagte sie. »Wir gehen zusammen. Machen wir doch, George, oder?«
»Tja«, sagte George. »Eigentlich wollte ich mir heute Nachmittag mal wieder Jersey Boys reinziehen, aber wenn du darauf bestehst…«
Schaut her, dachte Kalisha. Hier kommen die drei abgeschlafften Musketiere.
Draußen auf dem Flur war das Summen wesentlich stärker. Ja, sie wusste, dass Luke draußen war, das hatte Avery ihr übermittelt, und das war gut. Diese selbstgefälligen Arschlöcher hatten noch keine Ahnung von seinem Verschwinden, was noch besser war. Trotzdem ließen die Kopfschmerzen die Hoffnung weniger hoffnungsvoll wirken. Selbst wenn sie nachließen, wartete Kalisha darauf, dass sie wiederkamen, was eine ganz spezielle Höllenqual darstellte. Außerdem erschien einem durch das aus Station A kommende Summen jede Hoffnung irrelevant, was furchtbar war. Kalisha hatte sich noch nie so einsam gefühlt, so in die Enge getrieben.
Trotzdem muss ich durchhalten, so lange es geht, dachte sie. Egal was sie uns mit diesen Lichtern und diesen verdammten Filmen antun, ich muss durchhalten. Alles tun, damit ich nicht den Verstand verliere.
Langsam gingen die drei unter den Augen des Pflegers den Flur entlang, nicht wie Kinder, sondern wie Invaliden. Oder wie alte Leute, die in einem ungemütlichen Hospiz ihre letzten Wochen hinter sich brachten.
Angeführt von Dr. Everett Hallas, kamen Mrs. Sigsby und Stackhouse an der geschlossenen Doppeltür mit der Aufschrift Station A vorüber. Stackhouse schob den Transportwagen. Hinter der Tür hörte man weder Rufe noch Geschrei, aber das Gefühl, sich in einem elektrischen Feld zu befinden, war noch stärker; es huschte über Mrs. Sigsbys Haut wie unsichtbare Mäusefüßchen. Offenbar spürte Stackhouse es auch. Er rieb sich mit der Hand, die nicht die provisorische Bahre von Maureen Alvorson schob, seinen glatt rasierten Schädel.
»Für mich fühlt es sich immer wie Spinnweben an«, sagte er und sah Heckle an. »Spüren Sie es nicht?«
»Ich bin daran gewöhnt«, sagte Heckle und legte den Finger an den Mundwinkel. »Das ist ein Prozess der Assimilation.« Er stutzte. »Nein, das ist nicht der richtige Ausdruck. Akklimation, glaube ich. Oder heißt es Akklimatisation? Könnte beides sein.«
Mrs. Sigsby wurde von einer Neugier ergriffen, die beinahe drollig war. »Dr. Hallas, wann ist Ihr Geburtstag? Wissen Sie das noch?«
»Am neunten September. Und ich weiß auch, was Sie denken.« Er blickte über die Schulter auf die Tür mit der roten Aufschrift Station A, dann sah er Mrs. Sigsby an. »Nichtsdestoweniger geht es mir gut.«
»Am neunten September«, sagte sie. »Dann sind Sie also… Was? Waage?«
»Wassermann«, sagte Heckle und warf ihr einen schalkhaften Blick zu, der zu sagen schien: Mich führen Sie nicht so schnell hinters Licht, gute Frau. »Wenn der Mond im siebten Hause steht und Jupiter auf Mars zugeht. Und so weiter und so fort. Kopf runter, Mr. Stackhouse. Da kommt ein niedriger Balken.«
Sie gingen durch einen kurzen, schummrigen Flur, stiegen eine Treppe hinunter, wobei Stackhouse den Wagen vorn abbremste und Mrs. Sigsby ihn von hinten lenkte, und kamen zu einer weiteren geschlossenen Tür. Nachdem Heckle sie mit seiner Karte geöffnet hatte, traten sie in einen runden Raum, in dem es unangenehm warm war. Möbel gab es keine, aber an der Wand hing ein gerahmtes Schild: BEDENKET, DASS DIES HELDEN WAREN. Die Glasplatte darüber war verschmiert und musste dringend gereinigt werden. An der anderen Seite des Raums war in der Mitte einer rohen Betonwand eine Stahlklappe wie für einen industriellen Kühlraum eingelassen. Links davon befand sich ein kleines Display, das momentan nichts anzeigte. Rechts waren zwei Knöpfe, einer rot und einer grün.
Hier drin verblassten die gebrochenen Gedanken und die Erinnerungsfragmente, die Mrs. Sigsby geplagt hatten, und die leichten Kopfschmerzen, die sich an ihren Schläfen breitgemacht hatten, ließen ein bisschen nach. Das war erfreulich, aber sie konnte es trotzdem kaum erwarten, hier rauszukommen. Sie suchte den Hinterbau nur selten auf, weil ihre Anwesenheit normalerweise unnötig war; schließlich musste auch der Befehlshaber einer Armee sich nicht an die vorderste Front begeben, solange die Schlacht gut lief. Und obwohl sie sich besser fühlte, war es schlicht schauderhaft, sich in diesem kahlen, runden Raum aufzuhalten.
Auch Hallas schien es besser zu gehen; er sah nicht mehr wie Heckle aus, sondern wie der Mann, der fünfundzwanzig Jahre als Militärarzt verbracht hatte und mit einem Bronze Star ausgezeichnet worden war. Er hatte sich aufgerichtet und damit aufgehört, den Finger an den Mundwinkel zu legen. Seine Augen waren klar, seine Fragen präzise.
»Trägt sie irgendwelchen Schmuck?«
»Nein«, sagte Mrs. Sigsby, wobei sie an Alvorsons fehlenden Ehering dachte.
»Darf ich annehmen, dass sie bekleidet ist?«
»Natürlich.« Von dieser Frage fühlte Mrs. Sigsby sich irgendwie beleidigt.
»Haben Sie ihre Taschen durchsucht?«
Sie sah Stackhouse an. Der schüttelte den Kopf.
»Wollen Sie das noch tun? Es ist Ihre letzte Chance.«
Darüber dachte Mrs. Sigsby einen Moment lang nach und entschied sich dann dagegen. Schließlich hatte die Frau ihre Abschiedsbotschaft an der Badezimmerwand hinterlassen, und ihre Handtasche lag sicher in ihrem Schließfach. Die musste untersucht werden, schon aus Routine, aber sie hatte keine Lust, die Leiche der Haushälterin samt dieser unverschämt herausragenden Zunge noch einmal auszuwickeln, nur um einen Labello, eine Rolle Magenpastillen und ein paar zusammengeknüllte Kleenextücher zu finden.
»Ich nicht. Was ist mit Ihnen, Trevor?«
Stackhouse schüttelte nur wieder den Kopf. Er war das ganze Jahr über gebräunt, sah heute aber bleich aus. Der Gang durch den Hinterbau hatte auch ihn geschlaucht. Vielleicht sollten wir das öfter tun, dachte Mrs. Sigsby. Um in Kontakt mit dem gesamten Prozess zu bleiben. Dann fiel ihr ein, dass Dr. Hallas sich als Wassermann bezeichnet und Stackhouse aus heiterem Himmel etwas von Bohnen in den Ohren erzählt hatte, und sie beschloss, dass es gar keine gute Idee war, in Kontakt mit dem Prozess zu bleiben. Und ganz nebenbei – wenn Hallas am neunten September geboren war, war er dann überhaupt Waage? Das kam ihr nicht ganz richtig vor. War er da nicht eher Jungfrau?
»Auf geht’s«, sagte sie.
»Na, dann frisch ans Werk!«, sagte Dr. Hallas und zeigte ein breites Grinsen, das typisch Heckle war. Er legte den Handgriff der Edelstahltür um und zog sie auf. Dahinter gab es Schwärze, den Geruch von gebratenem Fleisch und ein rußiges Förderband, das schräg in die Tiefe führte.
Das Schild an der Wand muss abgewischt werden, dachte Mrs. Sigsby. Und das Förderband da muss abgeschrubbt werden, bevor es so schmutzig ist, dass es blockiert. Weitere Nachlässigkeit.
»Hoffentlich brauchen Sie keine Hilfe dabei, sie reinzuheben«, sagte Heckle, der immer noch wie ein Gameshow-Moderator grinste. »Heute fühle ich mich nämlich leider ziemlich schwach. Hab mein Morgenmüsli nicht gegessen.«
Stackhouse hob den eingewickelten Körper hoch und legte ihn auf das Förderband. Dabei öffnete sich der untere Teil der Plane, und ein Schuh kam zum Vorschein. Mrs. Sigsby spürte den Drang, den Blick von der abgewetzten Sohle abzuwenden, unterdrückte ihn jedoch.
»Irgendwelche letzten Worte?«, sagte Dr. Hallas. »Adieu und Lebewohl? In unseren Herzen lebst du weiter?«
»Lassen Sie den Blödsinn«, sagte Mrs. Sigsby.
Dr. Hallas schloss die Klappe und drückte den grünen Knopf. Mrs. Sigsby vernahm das Rumpeln und Quietschen, mit dem das verdreckte Förderband sich in Bewegung setzte. Dann hörten die Geräusche auf, und Hallas drückte den roten Knopf. Die Anzeige auf dem Display leuchtete auf und sprang rasch von 100 auf 200 auf 400 auf 800 und schließlich auf 1800 Grad Celsius.
»Wesentlich heißer als ein herkömmliches Krematorium«, sagte Hallas. »Außerdem wesentlich schneller, aber es dauert trotzdem ein Weilchen. Sie können gerne dableiben, dann kann ich später einen ausführlichen Rundgang mit Ihnen machen.« Er grinste immer noch über beide Ohren.
»Heute nicht«, sagte Mrs. Sigsby. »Zu viel zu tun.«
»Das habe ich mir schon gedacht. Na, vielleicht ein andermal. Wir bekommen Sie so selten zu Gesicht, und wir haben immer geöffnet.«
Während Maureen Alvorson ihre letzte Rutschpartie antrat, verzehrte Stevie Whipple an einem Esstisch im Vorderbau eine Portion Käse-Makkaroni. Avery Dixon packte ihn an seinem fleischigen, mit Sommersprossen überzogenen Arm. »Komm mal mit mir auf den Spielplatz raus.«
»Bin aber noch nich mit Essen fertig, Avery.«
»Ist mir egal.« Avery senkte die Stimme. »Es ist wichtig.«
Stevie schaufelte sich eine letzte gewaltige Portion in den Mund, wischte ihn sich mit dem Handrücken ab und folgte Avery. Auf dem Spielplatz hielt sich nur Frieda Brown auf, die auf dem Asphalt unter dem Basketballkorb hockte und mit Kreide Comicfiguren zeichnete. Ziemlich gute, und alle grinsten sie. Als die zwei Jungen an ihr vorübergingen, blickte sie nicht auf.
Am Maschendrahtzaun angekommen, deutete Avery auf eine Kuhle im Kies. Stevie starrte sie mit großen Augen an. »Wer hat denn das gemacht? Ein Murmeltier oder so was?« Er sah sich um, als würde er erwarten, dass sich ein Waldmurmeltier – möglicherweise tollwütig – unter dem Trampolin oder dem Picknicktisch versteckt hatte.
»Nein, kein Murmeltier«, sagte Avery.
»Da könntest du dich bestimmt leicht durchschlängeln, Avester. Um zu dessertieren.«
Denk bloß nicht, dass ich auf die Idee nicht schon selbst gekommen bin, dachte Avery, aber ich würde mich im Wald verirren. Und selbst wenn nicht, ist das Boot nicht mehr da. »Vergiss es. Du musst mir helfen, das Loch da aufzufüllen.«
»Warum?«
»Einfach so. Und es heißt nicht dessertieren, das hört sich dämlich an. Nur ein s, Stevie. Desertieren.« Was sein Freund Luke getan hatte, Gott schütze ihn. Wo der jetzt wohl gerade war? Avery hatte keine Ahnung. Er hatte den Kontakt zu ihm verloren.
»Desertieren«, wiederholte Stevie. »Hab’s kapiert.«
»Super. Hilf mir jetzt.«
Die Jungen knieten sich hin und fingen an, die Kuhle unter dem Zaun aufzufüllen. Während sie mit den Händen Kies schaufelten, stieg eine Staubwolke in die Luft. Es war anstrengend, und bald schwitzten beide. Stevies Gesicht war puterrot.
»Sagt mal, was macht ihr da eigentlich?«
Sie blickten sich um. Es war Gladys, deren strahlendes Lächeln momentan nirgendwo in Sicht war.
»Nichts Besonderes«, sagte Avery.
»Ja, nichts Besonderes«, stimmte Stevie zu. »Wir spielen bloß im Dreck. Im dreckigen Dreck, wissen Sie?«
»Lasst mich mal sehen. Zur Seite!« Weil keiner der beiden sich rührte, trat sie Avery in die Rippen.
»Au!«, schrie er und krümmte sich. »Au, das hat wehgetan!«
»Was ist denn los mit Ihnen?«, sagte Stevie. »Haben Sie etwa Ihre Tage?« Womit er sich ebenfalls einen Fußtritt einfing, oben an der Schulter.
Gladys betrachtete die erst teilweise aufgefüllte Kuhle, dann sah sie Frieda an, die immer noch in ihre künstlerischen Bemühungen versunken war. »Hast du das da gemacht?«
Ohne aufzublicken, schüttelte Frieda den Kopf.
Gladys zog ihr Funkgerät aus der Hosentasche und drückte auf eine Taste. »Mr. Stackhouse? Hier spricht Gladys. Mr. Stackhouse, bitte melden.«
Es gab eine Pause, dann: »Hier spricht Stackhouse, was gibt’s?«
»Ich glaube, Sie sollten so bald wie möglich auf den Spielplatz rauskommen. Da ist was, was Sie sich ansehen müssen. Vielleicht hat es nichts zu bedeuten, aber es gefällt mir nicht.«
Nachdem Gladys den Sicherheitschef informiert hatte, rief sie Winona herbei, damit sie die beiden Jungen auf ihre Zimmer brachte. Dort sollten sie sich bis auf Weiteres aufhalten.
»Ich hab keine Ahnung, was das für ein Loch ist«, sagte Stevie knatschig. »Hab gedacht, das hat bestimmt ein Murmeltier gegraben.«
Winona befahl ihm, die Klappe zu halten, und scheuchte die Jungen hinein.
Stackhouse brachte Mrs. Sigsby mit. Sie bückte sich, während er in die Hocke ging, um zuerst die Kuhle unter dem Zaun und dann den Zaun zu inspizieren.
»Da könnte bestimmt niemand drunter durchkriechen«, sagte Mrs. Sigsby. »Na gut, vielleicht Dixon, der ist nicht viel größer, als es die Wilcox-Zwillinge waren, aber sonst niemand.«
Stackhouse schaufelte die lose Mischung aus Kies und Erde weg, die von den beiden Jungen wieder aufgefüllt worden war. Die Kuhle wurde dadurch deutlich tiefer. »Sind Sie sich da sicher?«
Mrs. Sigsby merkte, dass sie sich auf die Unterlippe biss, und ließ es bleiben. Schon die Vorstellung ist lächerlich, dachte sie. Wir haben Kameras, wir haben Mikrofone, wir haben die Pfleger, die Hausmeister und die Haushälterinnen, wir haben Sicherheitsleute. Und das alles, obwohl wir es nur mit einem Haufen Kinder zu tun haben, die so verängstigt sind, dass sie sich kaum trauen, den Mund aufzumachen.
Freilich war da Wilholm, der sich durchaus getraut hatte, den Mund aufzumachen, und im Lauf der Jahre hatte es noch einige andere wie ihn gegeben. Trotzdem…
»Julia.« Sehr leise.
»Was denn?«
»Knien Sie sich mal neben mich.«
Das wollte sie gerade tun, als sie sah, dass die kleine Brown herüberstarrte. »Rein mit dir!«, blaffte sie. »Und zwar sofort!«
Frieda stand hastig auf, klopfte sich die mit Kreide beschmierten Hände ab und ließ ihre grinsenden Comicfiguren im Stich. Während sie im Aufenthaltsraum verschwand, sah Mrs. Sigsby eine kleine Schar Kinder herausgaffen. Wo waren eigentlich die Pfleger, wenn man sie brauchte? Etwa im Pausenraum, um mit einem von den Extraktionsteams Geschichten auszutauschen? Oder um versaute Witze zu…
»Julia!«
Sie ließ sich auf ein Knie nieder und zog dabei eine Grimasse, weil sich ein scharfkantiges Kiesbröckchen in ihre Haut bohrte.
»Da ist Blut am Zaun. Sehen Sie das?«
Sie wollte es nicht sehen, aber sie sah es. Ja, da war Blut. Zu einer rostbraunen Schicht getrocknet, aber eindeutig Blut.
»Und jetzt schauen Sie mal da drüben hin.«
Er steckte den Finger durch eine Raute des Zauns und deutete auf einen halb entwurzelten Strauch. Auf dem war ebenfalls Blut. Als Mrs. Sigsby die Flecke dort betrachtete, Flecke, die sich da draußen befanden, wurde ihr flau im Magen, und einen erschreckenden Moment lang dachte sie, sie würde sich in die Hose pinkeln wie damals vor langer Zeit auf ihrem Dreirad. Sie dachte an das Nullfon und sah ihr Leben als Chefin des Instituts – denn darum handelte es sich, nicht um einen Job, sondern um ihr Leben – darin verschwinden. Was würde der lispelnde Mann am anderen Ende der Leitung wohl sagen, wenn sie ihn anrufen und ihm gestehen musste, dass aus der vermeintlich geheimsten und sichersten Einrichtung im ganzen Land – die außerdem die wichtigste Einrichtung im Land war – ein Kind entkommen war – einfach unter dem Zaun durchgeschlüpft?
Er würde natürlich sagen, dass sie erledigt war. Ein für alle Mal.
»Die Insassen sind doch alle da«, flüsterte sie heiser. Sie packte Stackhouse so fest am Handgelenk, dass ihre Fingernägel sich in seine Haut bohrten. Das schien ihm gar nicht aufzufallen, denn er starrte immer noch wie hypnotisiert auf den halb entwurzelten Strauch. Für ihn war es genauso schlimm wie für sie. Nicht schlimmer, es konnte gar nicht schlimmer sein, aber genauso schlimm. »Trevor, die sind alle da. Das habe ich nachprüfen lassen.«
»Ich glaube, das sollten Sie noch mal tun. Meinen Sie nicht?«
Diesmal hatte sie ihr Funkgerät dabei (wie war das mit dem Deckel auf dem Brunnen, nachdem das Kind hineingefallen war?) und drückte auf eine Taste. »Zeke, hier spricht Mrs. Sigsby. Zeke, bitte kommen.« Wehe, du bist nicht auf deinem Posten, Ionidis. Wehe dir.
Er war auf seinem Posten. »Hier spricht Zeke, Mrs. Sigsby. Ich hab Recherchen über Alvorson angestellt. Mr. Stackhouse hat mich damit beauftragt, weil Jerry Urlaub hat und Andy gerade nicht hier ist. Ich hab Alvorsons Nachbarin in Vermont er…«
»Ist jetzt nicht so wichtig. Schauen Sie sich noch mal die Position der Ortungschips an.«
»Okay.« Mit einem Mal hörte er sich beklommen an. Bestimmt hat er die Anspannung in meiner Stimme gehört, dachte sie. »Einen Augenblick, heute Morgen läuft das Zeug hier ziemlich langsam… nur noch ein paar Sekunden…«
Sie hätte am liebsten losgeschrien. Stackhouse spähte immer noch durch den Zaun, als würde er erwarten, dass dort wie durch Zauberhand ein Hobbit auftauchte und alles erklärte.
»Alles in Ordnung«, sagte Zeke. »Einundvierzig Insassen, weiterhin vollständig anwesend.«
Erleichterung kühlte ihr Gesicht wie eine Brise. »In Ordnung, das ist gut. Das ist sehr…«
Stackhouse nahm ihr das Funkgerät aus der Hand. »Wo halten die sich momentan auf?«
»Äh… immer noch achtundzwanzig im Hinterbau, jetzt sind es vier im Aufenthaltsraum vom Ostflügel… drei in der Cafeteria… zwei in ihrem Zimmer… drei im Flur…«
Das müssen Dixon, Whipple und die verhinderte Comiczeichnerin sein, dachte Mrs. Sigsby.
»Plus einer auf dem Spielplatz«, endete Zeke. »Einundvierzig. Wie ich gesagt habe.«
»Moment mal, Zeke.« Stackhouse wandte sich an Mrs. Sigsby. »Sehen Sie hier auf dem Spielplatz etwa ein Kind?«
Sie gab ihm keine Antwort. Das war nicht nötig.
Stackhouse hob wieder das Funkgerät. »Zeke?«
»Nur zu, Mr. Stackhouse. Ich höre.«
»Können Sie den exakten Standort des Kindes auf dem Spielplatz feststellen?«
»Äh… muss erst zoomen… dafür gibt’s irgendwo eine Taste…«
»Machen Sie sich keine Mühe«, sagte Mrs. Sigsby. Sie hatte etwas in der frühen Nachmittagssonne glitzern sehen. Sie ging zum Basketballplatz, blieb an der Linie stehen und hob den Gegenstand auf. Dann kehrte sie zu ihrem Sicherheitschef zurück und streckte ihm die offene Hand hin. Darin lag der größere Teil eines Ohrläppchens, in dem der Ortungschip noch eingebettet war.
Die Insassen des Vorderbaus wurden angewiesen, sich auf ihre Zimmer zu begeben und dort zu bleiben. Sollte jemand auf dem Flur erwischt werden, werde er streng bestraft. Die Security-Mannschaft des Instituts bestand aus gerade mal vier Personen, Stackhouse eingerechnet. Zwei davon waren im Dorf und kamen schleunigst angegondelt – auf dem für Golfmobile angelegten Weg, zu dem Maureen Luke hatte dirigieren wollen und den er um weniger als dreißig Meter verfehlt hatte. Das dritte Mitglied des Teams weilte in Dennison River Bend, und Stackhouse hatte nicht die Absicht, auf dessen Ankunft zu warten. Schließlich waren Denny Williams und Robin Lecks von Team Ruby Red vor Ort, weil sie auf ihren nächsten Auftrag warteten, und die waren gern bereit, sich rekrutieren zu lassen. Ihnen schlossen sich zwei Pfleger an, Joe Brinks und Chad Greenlee.
»Es geht um den Jungen aus Minnesota, ja?«, sagte Denny, sobald die provisorische Suchmannschaft zusammengestellt und informiert worden war. »Den wir letzten Monat hergebracht haben.«
»Stimmt«, sagte Stackhouse. »Es ist der Junge aus Minnesota.«
»Und Sie sagen, er hat sich das Ohrläppchen mit dem Chip drin einfach abgerissen?«, fragte Robin.
»Dafür ist der Rand zu glatt. Ich glaube, er hat ein Messer zu Hilfe genommen.«
»Muss man Eier für haben, so oder so«, sagte Denny.
»Also, ich reiß dem die Eier ab, sobald wir ihn geschnappt haben«, sagte Joe. »Er schlägt zwar nicht um sich, wie Wilholm es getan hat, aber er hat so einen Leck-mich-Ausdruck in den Augen.«
»Bestimmt hat er sich im Wald verirrt und ist so verzweifelt, dass er uns um den Hals fällt, wenn wir ihn finden«, sagte Chad. Er machte eine Pause. »Falls wir ihn finden. Da draußen stehen massenhaft Bäume.«
»Er hat am Ohr geblutet und wahrscheinlich auch aus Kratzwunden am Rücken«, sagte Stackhouse. »An die Hände muss das Blut auch gekommen sein. Wir folgen der Spur so weit, wie es geht.«
»Wäre gut, wenn wir einen Hund hätten«, sagte Denny Williams. »Einen Bluthund oder einen guten alten Bluetick.«
»Wäre gut, wenn er erst gar nicht rausgekommen wäre«, sagte Robin. »Unter dem Zaun ist er durch, hm?« Beinahe hätte sie gelacht, sah dann jedoch die angespannte Miene und den wütenden Blick von Stackhouse und überlegte es sich anders.
In diesem Augenblick trafen Rafe Pullman und John Walsh ein, die beiden Sicherheitsleute, die sich im Dorf aufgehalten hatten.
»Damit das klar ist: Töten werden wir ihn nicht«, sagte Stackhouse. »Aber wir werden dem kleinen Scheißkerl ein paar anständige Elektroschocks verpassen, wenn wir ihn finden.«
»Falls wir ihn finden«, wiederholte Chad der Pfleger.
»Wir finden ihn schon«, sagte Stackhouse. Denn wenn nicht, dachte er, bin ich geliefert. Womöglich samt dem ganzen Laden hier.
»Ich gehe wieder in mein Büro«, sagte Mrs. Sigsby.
Stackhouse fasste sie am Ellbogen. »Um was zu tun?«
»Um nachzudenken.«
»Das ist gut. Denken Sie nach, so viel Sie wollen, aber keine Anrufe. Sind wir uns da einig?«
Mrs. Sigsby sah ihn voller Verachtung an, aber die Art und Weise, wie sie sich auf die Lippen biss, wies darauf hin, dass sie wahrscheinlich Angst hatte. Falls er damit richtig lag, waren sie in der Hinsicht zu zweit. »Selbstverständlich«, sagte sie.
Aber als sie in ihr Büro kam – in dessen herrliche, klimatisierte Stille–, stellte sie fest, dass es ihr schwerfiel nachzudenken. Ihr Blick wanderte ständig zu der verschlossenen Schublade in ihrem Schreibtisch. Als ob da kein Telefon drin gewesen wäre, sondern eine Handgranate.
Drei Uhr nachmittags.
Keine Neuigkeiten von den Leuten, die im Wald nach Luke Ellis suchten. Massenhaft Mitteilungen, das ja, aber keine Neuigkeiten. Das gesamte Institutspersonal war über die Flucht informiert worden, alle waren im Einsatz. Einige hatten sich dem Suchtrupp angeschlossen, andere durchkämmten das »Dorf«. Sie suchten in allen leeren Häusern nach dem Jungen oder wenigstens nach Anzeichen dafür, dass er sich dort aufgehalten hatte. Kein einziges Privatfahrzeug fehlte. Die Golfmobile, mit denen das Personal kurze Distanzen überwand, standen alle da, wo sie hingehörten. Die Zuträger in Dennison River Bend, darunter zwei Beamte der kleinen städtischen Polizeitruppe, waren alarmiert worden und hatten die Personenbeschreibung von Ellis erhalten, aber den hatte niemand gesehen.
Was Alvorson anging, gab es hingegen Neuigkeiten.
Ionidis hatte die Initiative ergriffen und zwar mit einem listigen Geschick, zu dem Jerry Symonds und Andy Fellowes, die beiden IT-Spezialisten, nie fähig gewesen wären. Mithilfe von Google Earth und einem Telefonnummernsuchprogramm hatte er die Nummer von Alvorsons Nachbarin in dem kleinen Ort in Vermont herausgefunden, wo die verstorbene Haushälterin ein Haus besaß. Gegenüber dieser Nachbarin hatte er sich als Beamter des Finanzamts ausgegeben, was sie ihm ohne jede Nachfrage abgekauft hatte. Ganz ohne jene Zurückhaltung, für die die Bewohner von Neuengland angeblich bekannt waren, hatte sie ihm erzählt, Maureen habe sie bei ihrem letzten Aufenthalt gebeten, als Zeugin bei der Unterzeichnung mehrerer Schriftstücke mitzuwirken. Zugegen gewesen sei ferner eine Rechtsanwältin. Die Empfänger dieser Schriftstücke waren nach Angaben der Nachbarin verschiedene Inkassobüros. Die Anwältin habe von Abmahnungen gesprochen, außerdem von einer geforderten Unterlassungserklärung.
»Bei den Briefen ging es um die Kreditkarten von Maureens Mann«, hatte die Nachbarin zu Ionidis gesagt. »Mo hat mir zwar nichts weiter erklärt, aber das war gar nicht nötig, schließlich bin ich nicht von gestern. Sie hat nämlich die ganzen Schulden von dem Penner abgezahlt. Wenn das Finanzamt deshalb was gegen sie unternehmen will, sollte es sich beeilen. Sie sah nämlich todkrank aus.«
Alles in allem hatte die Nachbarin wohl alles wahrheitsgemäß dargestellt. Die Frage war, weshalb Alvorson das alles getan hatte, denn es wäre absolut unnötig gewesen. Alle Mitarbeiter des Instituts wussten, dass sie bei irgendwelchen finanziellen Schwierigkeiten (meistens handelte es sich um Spielschulden) Darlehen erhalten konnten, die praktisch zinslos waren. Dieser Teil der Lohnzusatzleistungen wurde allen neuen Mitarbeitern gleich bei der Einweisung erläutert. Er war weniger ein Bonus für die Arbeitnehmer als ein Schutz für das Institut, denn wenn jemand Schulden hatte, war er unter Umständen versucht, Geheimnisse zu verkaufen.
Die naheliegende Erklärung für Alvorsons Verhalten war Stolz, eventuell verbunden mit Scham darüber, von ihrem verschwundenen Ehemann ausgenutzt worden zu sein. Trotzdem war Mrs. Sigsby unwohl bei der Sache, schließlich hatte die Frau sich dem Ende ihres Lebens genähert und das bestimmt schon eine ganze Weile gewusst. Deshalb hatte sie wohl beschlossen, reinen Tisch zu machen, und Geld von der Organisation anzunehmen, mit der sie sich die Hände schmutzig gemacht hatte, wäre ein Widerspruch gewesen. Das kam Mrs. Sigsby plausibel vor, jedenfalls mehr oder weniger. Es passte dazu, dass Alvorson auf die Hölle verwiesen hatte.
Dieses Miststück hat ihm bei der Flucht geholfen, dachte Mrs. Sigsby. Natürlich hat sie das getan, es war ihre Vorstellung von Sühne. Außerdem hat sie dafür gesorgt, dass ich sie deshalb nicht mehr in die Zange nehmen kann. Kein Wunder, sie kannte unsere Methoden. Aber was mache ich jetzt? Was soll ich tun, wenn dieser neunmalkluge Bengel nicht wieder da ist, bevor es dunkel wird?
Sie kannte die Antwort, und das galt garantiert auch für Trevor. Sie würde das Nullfon aus seiner verschlossenen Schublade nehmen und gleichzeitig die drei weißen Tasten drücken müssen. Daraufhin würde der Mann mit dem Lispeln sich melden. Was würde er wohl sagen, wenn sie ihm meldete, dass zum ersten Mal in der Geschichte des Instituts ein Insasse entkommen war, und das, indem er sich mitten in der Nacht unter dem Zaun durchgewühlt hatte? Ach, dath tut mir aber leid? Tho ein Pech! Machen Thie thich deshalb keine Thorgen?
Von wegen!
Denk nach, befahl sie sich. Denk nach, denk nach, denk nach! Wem hat diese verdammte Haushälterin sich womöglich anvertraut? Beziehungsweise – wem hat Ellis sich…
»Scheiße. Scheiße!«
Es war sonnenklar, und zwar schon seit sie das Loch unter dem Zaun gesehen hatte. Mit weit aufgerissenen Augen saß sie kerzengerade auf ihrem Sessel. Zum ersten Mal, seit Stackhouse gemeldet hatte, dass die Blutspur nur etwa fünfzig Meter weit in den Wald hineinreichte, dachte sie nicht an das Nullfon.
Sie fuhr ihren Computer hoch und fand die Datei, die sie haben wollte. Ein Klick, und das Video lief ab. Das, auf dem Alvorson sich mit Ellis und Dixon unterhielt.
Hier können wir miteinander sprechen. Da oben ist zwar ein Mikrofon, aber das funktioniert schon jahrelang nicht mehr.
Hauptsächlich sprach Luke Ellis. Er äußerte Sorgen um die Zwillinge und um Harry Cross. Alvorson beruhigte ihn. Dixon stand dabei und sagte kaum etwas, er kratzte sich nur an den Armen und zog an seiner Nase.
Du lieber Himmel, Kleiner, hatte Stackhouse kommentiert, wenn du dir in der Nase bohren willst, dann tu es endlich! Aber jetzt, wo Mrs. Sigsby das Video mit neuen Augen sah, wurde ihr klar, was da wirklich gelaufen war.
Sie klappte ihren Laptop zu und drückte auf die Sprechanlage. »Rosalind, ich will mit dem kleinen Dixon sprechen. Sagen Sie Tony und Winona, sie sollen ihn herschaffen. Und zwar sofort.«
Gekleidet in ein Batman-T-Shirt und schmutzige Shorts, die seine verschorften Knie noch besser zur Geltung brachten, stand Avery Dixon vor dem Schreibtisch von Mrs. Sigsby und sah sie mit ängstlichem Blick an. Ohnehin schon klein, wirkte er zwischen Winona und Tony nicht wie ein Zehnjähriger, sondern kaum wie ein Erstklässler.
Mrs. Sigsby bedachte ihn mit einem schmallippigen Lächeln. »Ich hätte viel früher auf dich kommen sollen, Mr. Dixon. Offenbar werde ich allmählich nachlässig.«
»Ja, Ma’am«, flüsterte Avery.
»Du stimmst mir also zu? Du meinst, dass ich nachlässig werde?«
»Nein, Ma’am!« Averys Zunge zuckte aus dem Mund und befeuchtete seine Lippen. An der Nase zog er sich heute jedoch nicht.
Mrs. Sigsby verschränkte die Hände und beugte sich vor. »Falls doch, ist es damit jetzt vorbei. Es wird Veränderungen geben. Aber zuerst ist es wichtig… genauer gesagt unerlässlich… dass wir Luke wieder nach Hause holen.«
»Ja, Ma’am.«
Sie nickte. »Wir sind derselben Meinung, das ist erfreulich. Ein guter Anfang. Also, wo ist er hin?«
»Das weiß ich nicht, Ma’am.«
»Ich glaube aber doch. Schließlich hast du zusammen mit Steven Whipple das Loch zugescharrt, durch das er geflohen ist. Was ziemlich dumm war. Du hättest es lieber so lassen sollen, wie es war.«
»Wir dachten, das hat ein Murmeltier gebuddelt, Ma’am.«
»Unsinn. Du weißt genau, wer es gebuddelt hat. Dein Freund Luke. Also.« Sie legte die gespreizten Hände auf den Tisch und lächelte ihn wieder an. »Er ist ein kluger Junge, und kluge Jungen verschwinden nicht einfach so im Wald. Sich unter dem Zaun durchzuwühlen war eventuell seine eigene Idee, aber ohne Alvorson hätte er nicht gewusst, wie er dahinter weitergehen sollte. Sie hat dir die Anweisungen Stück für Stück übermittelt, und zwar jedes Mal wenn du dir an der Nase gezogen hast. Das hat sie dir alles direkt in dein talentiertes Köpfchen gebeamt, nicht wahr? Später hast du es dann an Ellis weitergegeben. Leugnen ist zwecklos, Mr. Dixon, ich habe die Videoaufnahmen des Gesprächs gesehen. In dieser Beziehung muss ich mir – wenn du einer albernen alten Dame einen kleinen Scherz erlaubst – selbst an die Nase fassen. Ich hätte es nämlich schon früher merken sollen.«
Das gilt auch für Trevor, dachte sie. Er hat sich das Video ja auch angesehen und hätte merken sollen, was da läuft. Falls wir ausführlich Bericht erstatten müssen, wenn die Sache erledigt ist, werden wir ziemlich dumm ausschauen.
»Sag mir jetzt, wo er hin ist.«
»Das weiß ich wirklich nicht.«
»Du verdrehst die Augen, Mr. Dixon. Nur Lügner tun so etwas. Schau mir mal direkt ins Gesicht. Sonst verdreht Tony dir den Arm hinter dem Rücken, und das wird wehtun.«
Sie nickte Tony zu, der Avery an einem von seinen dünnen Handgelenken packte.
Avery sah sie an. Das war schwer für ihn, weil ihr hageres Gesicht ihm Angst einjagte – es war das Gesicht einer fiesen Lehrerin mit kompromisslosen Verhörmethoden–, aber er schaffte es. In seine Augen traten Tränen und kullerten an den Wangen herab. Er war eben nah am Wasser gebaut, seine zwei älteren Schwestern hatten ihn immer als kleine Heulsuse bezeichnet, und auf dem Schulhof war er in der Pause für alle der Prügelknabe gewesen. Hier auf dem Spielplatz war es besser. Er vermisste seine Mutter und seinen Vater, er vermisste die beiden sehr, aber wenigstens hatte er hier Freunde. Selbst Harry hatte ihn zwar erst zu Boden gestoßen, war dann jedoch sein Freund geworden. Zumindest bis er gestorben war. Bis sie ihn mit einem von ihren bescheuerten Tests umgebracht hatten. Sha und Helen waren fort, aber das neue Mädchen – Frieda – war nett zu ihm und hatte ihn sogar beim Basketball gewinnen lassen. Bloß einmal, aber immerhin. Ganz zu schweigen von Luke. Der war der Beste von allen. Der beste Freund, den Avery je gehabt hatte.
»Wo sollte er hin? Was für einen Plan hat Alvorson für ihn ausgeheckt?«
»Das weiß ich nicht!«
Mrs. Sigsby nickte Tony zu, der Avery den Arm hinter dem Rücken verdrehte und das Handgelenk dabei fast bis zum Schulterblatt hochzog. Das tat unglaublich weh. Avery schrie auf.
»Wo ist er hin? Was war der Plan?«
»Das weiß ich nicht!«
»Lassen Sie ihn los, Tony.«
Tony gehorchte, worauf Avery schluchzend auf die Knie sank. »Das hat echt wehgetan, bitte tun Sie mir nicht mehr weh, bitte!« Eigentlich hätte er noch das ist nicht fair hinzufügen wollen, aber was scherte es diese Leute schon, was fair war. Einen Dreck scherte sie das.
»Das will ich auch nicht«, sagte Mrs. Sigsby, was die halbe Wahrheit war. Die ganze lief darauf hinaus, dass all die Jahre, die sie inzwischen in diesem Büro verbracht hatte, sie gegen die Schmerzen von Kindern unempfindlich gemacht hatten. Das Schild im Krematorium stimmte zwar – die Kinder waren Helden, egal wie viel Widerwillen sie zuvor gegen ihr Heldentum an den Tag gelegt hatten–, aber manche stellten die Geduld auf eine besonders harte Probe. Manchmal, bis einem der Geduldsfaden riss.
»Ich weiß nicht, wo er hin ist. Ehrlich!«
»Wenn jemand extra sagen muss, er ist ehrlich, bedeutet es stets, dass er es eben nicht ist. Ich hab schon allerhand erlebt, und daher weiß ich Bescheid. Also sag’s mir endlich: Wo ist er hin, und was war der Plan?«
»Das weiß ich nicht!«
»Tony, heben Sie sein T-Shirt an. Winona, Ihren Taser. Mittlere Stärke.«
»Nein!«, schrie Avery und versuchte, sich aus Tonys Griff zu winden. »Nicht der Schockstock! Bitte nicht der Schockstock!«
Tony packte ihn an beiden Armen und hob sein T-Shirt an. Winona richtete ihren Schockstock direkt auf Averys Bauchnabel und löste aus. Avery kreischte auf. Seine Beine zuckten, und auf dem Teppichboden erblühte ein Pissefleck.
»Wo ist er hin, Mr. Dixon?« Das Gesicht des Jungen war fleckig und mit Rotz verschmiert, unter seinen Augen prangten dunkle Ringe, und er hatte sich in die Hose gemacht – trotzdem hielt dieser Wicht weiterhin stand. Mrs. Sigsby konnte es kaum glauben. »Wo ist er hin, und was war der Plan!«
»Das weiß ich nicht!«
»Winona? Noch einmal mittlere Stärke.«
»Ma’am, sind Sie sicher, dass…«
»Diesmal ein bisschen höher, bitte. Direkt unterhalb vom Solarplexus.«
Averys Arme waren schlüpfrig vor Schweiß, weshalb es ihm gelang, sich aus Tonys Griff zu winden. Das machte die beschissene Situation fast noch schlimmer – womöglich wäre er wie ein in einer Garage gefangener Vogel im Büro umhergeflattert und von den Wänden abgeprallt–, aber Winona stellte ihm ein Bein und zerrte ihn an den Armen wieder hoch. Deshalb war es Tony, der den Taser ansetzte. Avery schrie auf und erschlaffte.
»Ist er bewusstlos?«, fragte Mrs. Sigsby. »Falls ja, holen Sie Dr. Evans, damit er ihm eine Spritze gibt. Wir brauchen schnell Antworten.«
Tony zwickte Avery in die Wange (bei seiner Anlieferung war es eine ziemlich mollige Wange gewesen, wovon jetzt nicht mehr die Rede sein konnte) und verdrehte sie. Averys Augen klappten auf. »Nee, bewusstlos ist der nicht.«
»Mr. Dixon, diese Schmerzen sind völlig unnötig«, sagte Mrs. Sigsby. »Sag mir, was ich wissen will, dann ist Schluss damit. Wo ist er hin? Was war der Plan?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte Avery. »Ich weiß es wirklich wirklich wirklich…«
»Winona? Bitte ziehen Sie Mr. Dixon die Hosen aus, und richten Sie Ihren Taser auf seine Hoden. Volle Stärke.«
Obwohl Winona jederzeit bereit war, Ohrfeigen zu verteilen, wenn jemand frech wurde, war sie eindeutig unglücklich über die Anordnung. Dennoch griff sie nach seinem Hosenbund. Da knickte Avery ein.
»Okay! Okay! Ich sag’s! Hauptsache, Sie tun mir nicht mehr weh!«
»Das ist für uns beide eine Erleichterung.«
»Maureen hat ihm gesagt, er soll durch den Wald gehen. Er würde vielleicht einen Weg für Golfmobile finden, aber auf jeden Fall sollte er geradeaus gehen. Irgendwann würde er Lichter sehen, vor allem eins, das hell und gelb ist. Bei den Häusern sollte er am Zaun lang, bis er ein Halstuch findet, das an einen Strauch oder einen Baum gebunden ist, das weiß ich nicht mehr genau. Sie hat gesagt, dahinter wär ein Weg… oder eine Straße… das weiß ich auch nicht mehr. Jedenfalls würde er da zum Fluss kommen, und da wär dann ein Boot.«
Er hielt inne. Mrs. Sigsby nickte ihm zu und schenkte ihm ein gütiges Lächeln, aber in ihrer Brust schlug ihr Herz wie wild. Das war zugleich eine gute und eine schlechte Nachricht. Der von Stackhouse angeführte Suchtrupp konnte damit aufhören, durch den Wald zu stapfen, aber was war das mit diesem Boot? Ellis war bis zum Fluss gelangt? Und er hatte mehrere Stunden Vorsprung!
»Und was dann, Mr. Dixon? Wo sollte er an Land gehen? In der nächsten Stadt, stimmt’s? In Dennison River Bend?«
Avery schüttelte den Kopf und zwang sich, ihr ins Gesicht zu blicken, mit erschrockenen, weit aufgerissenen Augen und voller Aufrichtigkeit. »Nein, sie hat gesagt, das wär nicht weit genug, er soll bis Presque Isle auf dem Fluss bleiben.«
»Sehr gut, Mr. Dixon, du kannst jetzt wieder in dein Zimmer gehen. Aber wenn ich herausbekommen sollte, dass du gelogen hast…«
»Dann kriege ich Probleme«, sagte Avery, während er sich mit zitternden Händen die Tränen von den Wangen wischte.
Als sie das hörte, lachte Mrs. Sigsby doch tatsächlich. »Da hast du wohl meine Gedanken gelesen«, sagte sie.
Fünf Uhr abends.
Ellis war jetzt mindestens achtzehn Stunden über alle Berge, vielleicht sogar länger. Die Kameras auf dem Spielplatz zeichneten nichts auf, weshalb es unmöglich war, Genaueres zu wissen. Mrs. Sigsby saß mit Stackhouse in ihrem Büro, um die Entwicklung zu verfolgen und auf Berichte von irgendwelchen Zuträgern zu warten. Solche gab es im ganzen Land. Hauptsächlich leisteten die Zuträger des Instituts nur die Vorarbeit, indem sie Kinder mit hohem BDNF-Spiegel im Blick behielten und Informationen über deren Freunde, Familie, Wohnviertel und Schule zusammentrugen. Und natürlich über ihre Wohnsituation. Alles darüber, vor allem über die Alarmanlage. Wenn es so weit war, waren solche Hintergrundinformationen von großem Nutzen für die Extraktionsteams. Außerdem hielten die Zuträger auch Ausschau nach speziellen Kindern, die das Institut noch nicht auf dem Radar hatte. So etwas gab es von Zeit zu Zeit. Bei allen in einem amerikanischen Krankenhaus geborenen Kindern wurde – neben dem Apgar-Score und dem Screening auf PKU – auch der BDNF-Spiegel bestimmt, aber natürlich wurden nicht alle Babys im Krankenhaus geboren, und viele Eltern, vor allem die immer renitenter werdenden Impfgegner, verweigerten solche Tests.
Die Zuträger hatten keine Ahnung, für wen und für welchen Zweck sie arbeiteten; viele nahmen (fälschlicherweise) an, es handle sich um eine geheime Behörde der US-Regierung. Die meisten steckten einfach die zusätzlichen fünfhundert Dollar pro Monat ein, verfassten ihre Berichte, wenn sie dazu aufgefordert wurden, und stellten keine Fragen. Freilich stellte ab und zu doch jemand Fragen, aber dieser Jemand stellte bald fest, dass Neugier nicht nur der Katze Tod war, sondern auch der seines monatlichen Zusatzeinkommens.
Am stärksten konzentriert waren die Zuträger in dem Gebiet rund um das Institut. Hier gab es knapp fünfzig, die nicht in erster Linie damit befasst waren, talentierte Kinder zu beobachten. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, auf Leute zu achten, die die falschen Fragen stellten. Sie fungierten gewissermaßen als Stolperdrähte, als eine Art Frühwarnsystem.
Zur Sicherheit alarmierte Stackhouse ein halbes Dutzend dieser Leute in Dennison River Bend, falls der kleine Dixon sich geirrt oder gelogen hatte (»Der hat nicht gelogen, das hätte ich gemerkt«, behauptete Mrs. Sigsby steif und fest), aber die meisten schickte er nach Presque Isle. Einer erhielt den Auftrag, Kontakt mit der dortigen Polizei aufzunehmen und zu erzählen, er sei sich ziemlich sicher, einem Jungen begegnet zu sein, über den CNN groß berichtet habe. Laut der Reportage solle der Junge zum Mord an seinen Eltern vernommen werden. Sein Name sei Luke Ellis. Ganz sicher sei er sich nicht, ob es wirklich der Junge aus der Reportage gewesen sei, aber der habe genauso ausgesehen und auf bedrohliche, wirre Weise Geld gefordert. Sowohl Mrs. Sigsby als auch Stackhouse wussten, dass es nicht die ideale Lösung war, den entlaufenen Jungen von der Polizei aufgreifen zu lassen, aber mit der Polizei konnte man umgehen. Außerdem würde alles, was Ellis erzählte, als wirres Gerede eines verstörten Kindes abgetan werden.
Im Institut und in der dazugehörigen Siedlung gab es keinen Mobilfunkempfang, genauer gesagt, in einem Umkreis von zwei Meilen nicht, weshalb der Suchtrupp mit Funkgeräten ausgestattet war. Außerdem gab es Festnetztelefone. Jetzt läutete das auf dem Schreibtisch von Mrs. Sigsby. Stackhouse griff hektisch danach. »Was gibt’s? Wer spricht da?«
Es war Dr. Felicia Richardson, die Zeke im Überwachungsraum abgelöst hatte. Dazu war sie gern bereit gewesen. Auch ihr Job stand auf dem Spiel, daran zweifelte sie nicht im Mindesten. »Ich hab einen von unseren Leuten in der Leitung. Einen Typen namens Jean Levesque. Er sagt, er hat das Boot gefunden, mit dem Ellis abgehauen ist. Soll ich Sie mit ihm verbinden?«
»Auf der Stelle!«
Mrs. Sigsby stand jetzt vor Stackhouse. Sie hatte die Hände gehoben und bildete mit den Lippen die Worte: Was gibt’s?
Stackhouse achtete nicht auf sie. Es klickte, dann war Levesque am Apparat. Er sprach einen so breiten St.-John-Valley-Dialekt, dass man sich darin hätte wälzen können. Gesehen hatte Stackhouse ihn noch nie, aber er stellte sich einen sonnengebräunten alten Kerl vor, in dessen Hutrand zwei, drei bunte Fischköder steckten.
»Ich hab das Boot gefunden.«
»Hat man mir schon gesagt. Wo denn?«
»Das Ding is etwa fünf Meilen stromaufwärts von Presque Isle auf ’ne Sandbank gelaufen. War ’ne Menge Wasser drin, aber der Griff vom Paddel – da war bloß ein einzelnes Paddel drin – lag aufm Sitz. Hab’s liegen lassen, wo es war, und mit niemand sonst telefoniert. Ach ja, an dem Paddel is Blut. Hörn Sie mal, ’n Stück weiter hoch sind ’n paar kleine Stromschnellen. Wenn der Jung, wo Sie nach suchen, nich orntlich mit ’nem Boot umgehen konnte, vor allem mit som kleinen…«
»Dann ist er da womöglich ins Wasser gefallen«, vollendete Stackhouse den Satz. »Bleiben Sie, wo Sie sind, ich schicke ein paar Leute zu Ihnen raus. Und vielen Dank.«
»Dafür krieg ich ja meine Kohle«, sagte Levesque. »Was der Jung angestellt hat, könn Sie mir wohl nich sagen, oder?«
Als Antwort auf diese besonders törichte Frage legte Stackhouse auf, dann informierte er Mrs. Sigsby. »Wenn wir Glück haben, ist der kleine Scheißer ersoffen, und jemand findet heute Nacht oder morgen seine Leiche, aber darauf können wir nicht zählen. Ich werde Rafe und John – mehr Leute hab ich ja nicht zur Verfügung, aber das wird sich in Zukunft garantiert ändern – sofort nach Presque Isle schicken. Wenn Ellis zu Fuß unterwegs ist, wird er da zuerst hinmarschieren. Falls er versucht, ein Auto anzuhalten, wird entweder die State Police oder irgendein Cop aus der Stadt ihn aufgreifen und festhalten. Schließlich ist das der übergeschnappte Junge, der seine Eltern umgebracht und es dann tatsächlich bis nach Maine geschafft hat.«
»Sind Sie so zuversichtlich, wie Sie sich anhören?«, fragte Mrs. Sigsby mit echter Neugier.
»Nein.«
Zum Abendessen durften die Insassen ihr Zimmer verlassen. Nach außen hin war es eine weitgehend schweigende Mahlzeit. Mehrere Pfleger und MTAs umkreisten die Tische wie Haie. Sie waren sichtlich unruhig und allzeit bereit, jedem, der frech wurde, eine Ohrfeige oder einen Stromstoß zu verpassen. Hinter dieser Stille war jedoch insgeheim eine nervöse Euphorie spürbar, so stark, dass sich Frieda Brown wie beschwipst fühlte. Jemand war geflohen. Darüber freuten sich alle Kinder, obgleich niemand es sich anmerken lassen wollte. War Frieda auch froh? Da war sie sich nicht so sicher. Teilweise ja, aber…
Avery, der neben ihr saß, vergrub seine zwei Würstchen erst in seinen Baked Beans und buddelte sie dann wieder aus. Das wiederholte er mehrfach. Frieda war zwar nicht so gescheit wie Luke Ellis, aber gescheit genug und wusste, was eingraben und ausbuddeln zu bedeuten hatte. Dafür wusste sie nicht, was passieren würde, wenn Luke das, was im Institut vor sich ging, gegenüber jemand ausplauderte, der ihm Glauben schenkte. Genauer gesagt, was mit ihnen passieren würde. Würde man sie freilassen? Nach Hause zu ihren Eltern schicken? Bestimmt wollten die anderen Kids das gern glauben, daher die heimliche Freude, aber Frieda hatte ihre Zweifel. Sie war zwar erst vierzehn, aber bereits eine hartgesottene Zynikerin. Die Comicfiguren, die sie zeichnete, lächelten zwar allesamt, sie selbst tat das hingegen äußerst selten. Außerdem wusste sie etwas, was die anderen nicht wussten. Man hatte Avery ins Büro von Mrs. Sigsby geschafft, wo er zweifellos alles verraten hatte.
Was bedeutete, dass man Luke erwischen würde.
»Sag mal, willst du das Zeug jetzt eigentlich essen oder bloß damit spielen?«
Avery schob seinen Teller weg und stand auf. Seit er aus dem Büro von Mrs. Sigsby zurückgekehrt war, sah er aus, als hätte er ein Gespenst gesehen.
»Zum Nachtisch gibt’s Apple Pie mit Eis oder Schokoladenpudding«, sagte Frieda. »Und es ist nicht wie zu Hause – bei mir jedenfalls–, wo man aufessen muss, was auf dem Teller ist, um überhaupt was zu kriegen.«
»Hab keinen Hunger«, sagte Avery und zog ab.
Aber zwei Stunden später, nachdem die Kinder wieder in ihr Zimmer geschickt worden waren (der Aufenthaltsraum samt Cafeteria wurde für den heutigen Abend zur Sperrzone erklärt, und die Tür zum Spielplatz war abgeschlossen), kam er in seinem Pyjama in Friedas Zimmer getappt, verkündete, dass er hungrig sei, und fragte, ob sie ein paar Münzen für ihn habe.
»Soll das ein Witz sein?«, sagte Frieda. »Ich bin doch gerade erst angekommen.« In Wahrheit besaß sie drei Münzen, aber die würde sie Avery nicht geben. Sie mochte ihn zwar, aber dafür nicht genug.
»Ach so. Okay.«
»Geh ins Bett. Solange du schläfst, spürst du bestimmt keinen Hunger, und wenn du aufwachst, gibt es Frühstück.«
»Kann ich bei dir schlafen, Frieda? Weil Luke jetzt nicht mehr da ist?«
»Du musst doch in deinem Zimmer sein. Sonst kriegen wir Ärger.«
»Ich will aber nicht alleine schlafen. Die haben mir wehgetan. Mir Lektroschocks verpasst. Was ist, wenn sie wiederkommen und mir noch mehr wehtun? Das tun sie nämlich vielleicht, wenn sie rauskriegen…«
»Was denn?«
»Nichts.«
Frieda dachte nach. Überhaupt dachte sie ständig über viele Dinge nach. Im Nachdenken war Frieda Brown aus Springfield, Missouri, absolut top. »Na gut. Geh schon mal ins Bett. Ich bleibe noch eine Weile auf. Im Fernsehen läuft ein Film über wilde Tiere, den ich sehen will. Hast du gewusst, dass manche wilden Tiere ihre Babys fressen?«
»Echt?« Avery blickte betroffen drein. »Das ist aber unheimlich traurig.«
Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Meistens tun sie’s ja nicht.«
»Ach so. Das ist gut.«
»Genau. Geh jetzt ins Bett und halt die Klappe. Ich hasse es, wenn jemand quasselt, wenn ich in Ruhe fernsehen will.«
Avery legte sich ins Bett. Frieda sah sich in Ruhe die Sendung über wilde Tiere an. Da kämpfte ein Alligator mit einem Löwen. Vielleicht war es aber auch ein Krokodil. Auf jeden Fall war es interessant. Avery war ebenfalls interessant. Weil Avery ein Geheimnis hatte. Wäre sie so stark TP wie er, wüsste sie bereits, was sein Geheimnis war. So wusste sie nur, dass er etwas verheimlichte.
Als sie sich sicher war, dass er schlief (er schnarchte – leise, wie es sich für einen kleinen Jungen gehörte), schaltete sie das Licht aus, stieg zu ihm ins Bett und schüttelte ihn. »Avery!«
Grunzend machte er Anstalten, sich von ihr wegzudrehen. Was sie nicht zuließ.
»Avery, wo ist Luke hin?«
»Prekile«, murmelte er.
Sie hatte keine Ahnung, was Prekile war, und das interessierte sie auch nicht, weil es sowieso nicht stimmte.
»Komm schon, wo ist er hin? Ich sag’s bestimmt nicht weiter.«
»Die rote Treppe hoch«, sagte Avery, der mehr oder weniger schlief. Wahrscheinlich meinte er zu träumen.
»Was für eine rote Treppe?«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Er antwortete nicht, und als er sich nun wieder von ihr wegdrehen wollte, ließ sie es zu. Weil sie erfahren hatte, was sie brauchte. Anders als Avery (und als Kalisha, zumindest an guten Tagen) konnte sie nicht richtig Gedanken lesen. Vielmehr hatte sie Ahnungen, die wahrscheinlich auf Gedanken basierten, und manchmal, wenn jemand ungewöhnlich offen war (zum Beispiel ein kleiner Junge, der mehr oder weniger schlief), sah sie kurz strahlend helle Bilder.
Sie legte sich auf den Rücken, blickte an die Zimmerdecke und dachte nach.
Zweiundzwanzig Uhr. Es war still im Institut.
Sophie Turner, eine für die Nachtschicht eingeteilte Pflegerin, saß auf dem Spielplatz am Picknicktisch, rauchte unerlaubt eine Zigarette und klopfte die Asche in die Verschlusskappe eines Vitamingetränks. Neben ihr saß Dr. Evans und hatte ihr die Hand auf den Oberschenkel gelegt. Er beugte sich zu ihr und küsste sie am Hals.
»Lass das, Jimmy«, sagte sie. »Nicht heute Abend, wo alle in höchster Alarmbereitschaft sind. Man weiß nie, wer einen gerade beobachtet.«
»Du rauchst als Angestellte des Instituts eine Zigarette, obwohl alle in Alarmbereitschaft sind«, sagte er. »Wenn du schon ein schlimmes Mädchen sein willst, warum nicht gleich ein richtig schlimmes?«
Er schob die Hand höher, und während sie überlegte, ob sie die dort lassen sollte oder nicht, blickte sie sich um und sah ein Mädchen – eine von den Neuen – hinter der Tür zum Aufenthaltsraum stehen. Das Mädchen hatte die Handflächen an die Glasscheibe gelegt und starrte zu ihnen heraus.
»Verdammte Scheiße!«, sagte Sophie. Sie schob die Hand von Evans weg und drückte ihre Zigarette aus. Dann schritt sie zur Tür, entriegelte sie, riss sie auf und packte die kleine Voyeurin am Nacken. »Sag mal, was soll denn das? Heute Abend hast du hier nichts zu suchen, hast du das nicht mitgekriegt? Der Aufenthaltsraum ist für euch gesperrt! Falls ich dir also nicht den Arsch versohlen soll, und zwar anständig, verschwindest du schleunigst wieder in…«
»Ich will mit Mrs. Sigsby sprechen«, sagte das Mädchen. »Jetzt sofort.«
»Hast du nicht alle Tassen im Schrank? Zum letzten Mal, geh in dein Zimmer, oder…«
Dr. Evans drängte sich an Sophie vorbei, ohne sich zu entschuldigen. Heute würde sie den nicht mehr an sich ranlassen, beschloss sie.
»Frieda?«, sagte er. »Du bist Frieda, stimmt’s?«
»Ja.«
»Wie wär’s, wenn du mir erzählst, was du auf dem Herzen hast?«
»Ich kann bloß mit ihr sprechen. Weil sie die Chefin ist.«
»Das stimmt, und die Chefin hat einen harten Tag hinter sich. Erzähl es also mir, dann kann ich entscheiden, ob es wichtig genug ist, es ihr mitzuteilen.«
»Ach komm«, sagte Sophie. »Merkst du eigentlich nicht, wenn eins von den Bälgern dich verarschen will?«
»Ich weiß, wo Luke hin ist«, sagte Frieda. »Ihnen werd ich das nicht sagen, aber Mrs. Sigsby schon.«
»Sie lügt«, sagte Sophie.
Frieda würdigte sie keines Blickes. Sie sah Dr. Evans in die Augen. »Tu ich nicht.«
Die innere Debatte, die Evans mit sich führte, war kurz. Bald war Luke Ellis seit vollen vierundzwanzig Stunden verschwunden, er konnte wer weiß wo sein und wer weiß wem irgendwas erzählen – einem Cop oder – Gott behüte! – einem Journalisten. Es war nicht die Aufgabe von Evans zu entscheiden, ob die Behauptung des Mädchens stimmte, so weit hergeholt sie auch klang. Das war die Aufgabe von Mrs. Sigsby. Seine Aufgabe war es, keinen Fehler zu machen, mit dem er sich in die Scheiße manövrieren konnte. Ohne Rettungsring.
»Hoffentlich sagst du die Wahrheit, Frieda, sonst geht’s dir an den Kragen. Das ist dir doch klar, oder?«
Sie sah ihn nur unverwandt an.
Zwanzig nach zehn.
Der Güterwagen mit der Aufschrift Southway Express, in dem Luke hinter Motorsensen, Rasentraktoren und Kisten mit Außenbordmotoren schlief, überquerte die Grenze zwischen New York und Pennsylvania und kam auf eine Ausbaustrecke, auf der er die folgenden drei Stunden fahren würde. Hier beschleunigte er auf einhundertzwanzig Stundenkilometer – wehe allen, die mit dem Auto auf einem Bahnübergang stehen geblieben waren oder auf den Gleisen pennten.
Im Büro von Mrs. Sigsby stand Frieda Brown vor dem Schreibtisch. Sie trug einen rosa Pyjama mit Füßen, der hübscher war als alle, die sie zu Hause hatte. Die Haare hatte sie wie tagsüber zu Zöpfen gebunden, die Hände am Rücken verschränkt.
Stackhouse lag in der kleinen Privatwohnung neben dem Büro auf dem Sofa und machte ein Nickerchen. Mrs. Sigsby sah keinen Grund, ihn aufzuwecken. Fürs Erste. Sie musterte das Mädchen und sah nichts Bemerkenswertes. Frieda passte bestens zu ihrem Familiennamen: braune Augen, mausbraune Haare, sommerlich milchkaffeebraune Haut. Laut ihrer Akte war auch ihr BDNF-Spiegel nicht bemerkenswert, jedenfalls nicht nach Institutsmaßstäben. Anders gesagt, war er nützlich, aber nicht erstaunlich. In ihren braunen Augen lag jedoch etwas. Irgendetwas. So etwas wie der Blick einer Bridge- oder Whistspielerin, die mehrere Trümpfe auf einmal in der Hand hielt.
»Dr. Evans sagt, dass du zu wissen glaubst, wo sich der vermisste Junge aufhält«, sagte Mrs. Sigsby. »Möchtest du mir vielleicht mitteilen, woher dieser Gedankenblitz gekommen ist?«
»Von Avery«, sagte Frieda. »Der ist in mein Zimmer gekommen. Da schläft er jetzt gerade.«
Mrs. Sigsby lächelte. »Da bist du leider ein bisschen spät dran, meine Liebe. Mr. Dixon hat uns bereits alles gebeichtet, was er weiß.«
»Er hat Sie angelogen.« Frieda hatte die Hände immer noch am Rücken verschränkt und war oberflächlich ruhig, aber Mrs. Sigsby hatte es schon mit vielen, vielen Kindern zu tun gehabt und wusste, dass das Mädchen da Angst hatte. Frieda wusste um das Risiko, das sie einging. Dennoch drückten ihre braunen Augen Gewissheit aus. Es war faszinierend.
Stackhouse kam herein, noch damit beschäftigt, sein Hemd in den Hosenbund zu stecken. »Wer ist das?«
»Frieda Brown, ein kleines Mädchen, das fabuliert«, sagte Mrs. Sigsby. »Du weißt bestimmt nicht, was das bedeutet, meine Liebe.«
»Doch, weiß ich«, sagte Frieda. »Es bedeutet, dass ich lüge, und das tue ich nicht!«
»Avery Dixon hat auch nicht gelogen. Ich habe es schon zu Mr. Stackhouse gesagt, und jetzt sage ich es dir: Ich weiß, wenn ein Kind lügt.«
»Ach, wahrscheinlich hat er hauptsächlich die Wahrheit gesagt, und darum haben Sie ihm geglaubt. Aber das mit Prekile hat nicht gestimmt.«
Mrs. Sigsby runzelte die Stirn. »Was soll…«
»Presque Isle?« Stackhouse trat auf Frieda zu und packte sie am Arm. »Wolltest du das sagen?«
»Das ist das, was Avery gesagt hat. Aber das war gelogen.«
»Wie hast du…«, fing Mrs. Sigsby an, aber Stackhouse hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen.
»Wenn das mit Presque Isle gelogen war, was ist dann die Wahrheit?«
Frieda lächelte ihn verschlagen an. »Was kriege ich, wenn ich es sage?«
»Was du nicht kriegst, ist ein Elektroschock«, sagte Mrs. Sigsby. »Einen, der dich um ein Haar umbringt.«
»Wenn Sie das tun, erzähle ich Ihnen zwar etwas, aber das stimmt vielleicht gar nicht. So wie Avery nicht die Wahrheit gesagt hat, als Sie das bei ihm gemacht haben.«
Mrs. Sigsby schlug mit der flachen Hand fest auf den Tisch. »Versuch das bloß nicht bei mir, du freches Ding! Wenn du was zu sagen hast…«
Stackhouse hob wieder die Hand, dann kniete er sich vor Frieda. Angesichts seiner Körpergröße waren sie immer noch nicht auf gleicher Höhe, aber doch beinahe. »Was willst du denn, Frieda? Wieder nach Hause? Das geht nicht, muss ich dir offen sagen.«
Beinahe hätte Frieda gelacht. Ob sie nach Hause wollte? Zu ihrer beknackten Mutter mit ihren beknackten Lovern, die sich dauernd die Klinke in die Hand gaben? Der letzte hatte sie dazu bringen wollen, ihm ihre Brüste zu zeigen, damit er sehen konnte, wie schnell sie sich entwickelte.
»Das will ich auch nicht.«
»Na gut, was dann?«
»Ich will hierbleiben.«
»Das ist eine ziemlich ungewöhnliche Bitte.«
»Aber ich will keine Spritzen kriegen, und ich will, dass man keine Tests mehr mit mir macht. Außerdem will ich nicht in den Hinterbau. Da will ich nie hin. Ich will hier bleiben, und wenn ich groß bin, will ich eine Pflegerin werden wie Gladys und Winona. Oder MTA wie Tony und Evans. Vielleicht kann ich sogar kochen lernen und in der Küche arbeiten wie Mr. Doug.«
Stackhouse warf einen Blick über die Schulter des Mädchens, um festzustellen, ob Mrs. Sigsby ebenso verblüfft war wie er. Das war sie offenbar.
»Tja, sagen wir mal, dass ein… äh… permanenter Aufenthalt arrangiert werden könnte«, sagte er. »Oder besser, dass er arrangiert werden wird, wenn deine Informationen stimmen und wir den Jungen zu fassen bekommen.«
»Ob Sie ihn zu fassen kriegen oder nicht, kann nicht zum Deal gehören, das wär nicht fair. Es ist Ihr Job, ihn zu fassen. Also geht es bloß darum, ob meine Informationen stimmen. Und das tun sie.«
Wieder blickte Stackhouse über Friedas Schulter zu Mrs. Sigsby hinüber. Die nickte leicht.
»Okay«, sagte er. »Abgemacht. Und jetzt raus damit.«
Darauf reagierte sie mit einem verschlagenen Lächeln, das er ihr am liebsten vom Gesicht gewischt hätte. Den Gedanken hatte er nur für einen kurzen Moment, aber durchaus ernsthaft. »Und ich will fünfzig Münzen.«
»Abgelehnt.«
»Dann vierzig.«
»Zwanzig«, sagte Mrs. Sigsby hinter ihr. »Aber nur, wenn deine Informationen stimmen.«
Frieda dachte nach. »Okay. Bloß, wie weiß ich eigentlich, ob Sie Ihre Versprechen halten?«
»Da wirst du uns vertrauen müssen«, sagte Mrs. Sigsby.
Frieda seufzte. »Tja, ist wohl so.«
»Jetzt reicht es mit der Feilscherei«, sagte Stackhouse. »Wenn du was zu sagen hast, dann sag es jetzt.«
»Er ist schon vor Prekile an Land gegangen. Da, wo eine rote Treppe ist.« Sie zögerte, dann verriet sie den Rest. Das, was wirklich wichtig war. »Oben an der Treppe ist ein Bahnhof. Da ist er hin. Zu dem Bahnhof.«
Nachdem man Frieda mit ihren Münzen (und der Drohung, alle Versprechen seien hinfällig, wenn sie auch nur ein einziges Wort über das ausplaudere, was im Büro von Mrs. Sigsby besprochen worden sei) in ihr Zimmer zurückgeschickt hatte, rief Stackhouse im Überwachungsraum an. Inzwischen war Andy Fellowes aus dem Dorf eingetroffen und hatte Felicia Richardson abgelöst. Stackhouse erklärte ihm, was er wollte, und fragte, ob das möglich sei, ohne dass jemand darauf aufmerksam werde. Durchaus, sagte Fellowes, aber dafür brauche er ein paar Minuten.
»Brauchen Sie ein paar Minuten weniger«, sagte Stackhouse. Er legte auf, um anschließend mit Rafe Pullman und John Walsh zu sprechen, seinen beiden Security-Leuten, die auf Abruf bereitstanden.
»Sollten Sie nicht lieber einen von den Cops, die wir bezahlen, beauftragen, sich am Bahnhof umzusehen?«, fragte Mrs. Sigsby, als er aufgelegt hatte. Zwei Beamte der Polizei von Dennison River Bend (und damit zwanzig Prozent) waren Zuträger für das Institut. »Ginge das nicht schneller?«
»Schneller schon, aber es wäre gefährlich. Ich will nicht, dass noch mehr Leute von dem ganzen Scheißdreck erfahren, wenn es nicht absolut notwendig ist.«
»Aber wenn er sich in einen Zug geschlichen hat, kann er wer weiß wo sein!«
»Wir wissen doch nicht mal, ob er überhaupt dort war. Womöglich hat das Mädchen uns angeschwindelt.«
»Das glaube ich nicht.«
»Sie haben auch nicht geglaubt, dass Dixon uns angeschwindelt hat.«
Das stimmte – und war äußerst peinlich–, aber sie ließ sich nicht ablenken. Die Situation war viel zu ernst, als dass sie sich anders verhalten sollten. »Schon kapiert, Trevor. Aber wenn er in einer derart kleinen Stadt geblieben wäre, hätte man ihn schon vor Stunden entdeckt!«
»Nicht unbedingt, schließlich ist er clever. Vielleicht hat er sich irgendwo versteckt.«
»Aber dass er den Zug genommen hat, ist am wahrscheinlichsten, und das wissen Sie auch.«
Das Telefon läutete. Beide stürzten sich darauf; Stackhouse obsiegte.
»Ja, Andy. Haben Sie’s geschafft? Gut, schießen Sie los.« Er griff sich einen Notizblock und begann zu kritzeln. Mrs. Sigsby beugte sich über seine Schulter, um zu lesen, was da stand.
4297 um 10
16 um 14.30
77 um 17
Er umkringelte 4297 um 10, erkundigte sich nach dem Fahrtziel und notierte dann Port, Ports, Stur. »Um wie viel Uhr sollte der Zug in Sturbridge eintreffen?«
Er kritzelte 16-17 auf den Block. Mrs. Sigsby starrte bestürzt darauf. Sie wusste, was Trevor dachte: Der Junge hatte sich bestimmt möglichst weit vom Institut entfernen wollen, bevor er den Zug verließ – falls er sich überhaupt hineingeschlichen hatte. Die Endstation war Sturbridge, und selbst wenn der Zug sich verspätet hatte, war er bereits vor über fünf Stunden angekommen.
»Danke, Andy«, sagte Stackhouse. »Sturbridge liegt im Westen von Massachusetts, richtig?«
Er lauschte und nickte.
»Okay, es liegt also an der Autobahn, ist aber sicher kein besonders großer Ort. Vielleicht ist es ein Knotenpunkt. Können Sie rausfinden, ob der Zug oder ein Teil davon von dort aus weiterfährt? Vielleicht mit einer anderen Lok oder so?«
Er lauschte.
»Nein, bloß eine Vermutung. Wenn er sich tatsächlich in diesen Zug geschlichen hat, hat er sich in Sturbridge vielleicht noch nicht sicher gefühlt und wollte noch ein Stück weiter von hier wegkommen. Jedenfalls würde ich das an seiner Stelle tun. Prüfen Sie das nach, und melden Sie sich so bald wie möglich wieder.«
Er legte auf.
»Andy hat die ganzen Informationen auf der Website vom Bahnhof gefunden«, sagte er. »Völlig problemlos. Ist das nicht erstaunlich? Heutzutage steht wirklich alles im Internet.«
»Wir nicht«, sagte sie.
»Noch nicht«, konterte er.
»Was nun?«
»Wir warten auf den Anruf von Rafe und John.«
Was sie auch taten. Die Geisterstunde kam und ging. Kurz nach halb eins läutete das Telefon auf dem Schreibtisch wieder. Diesmal war Mrs. Sigsby schneller als Stackhouse. Sie bellte ihren Namen und lauschte. Dabei nickte sie unablässig.
»In Ordnung. Alles klar. Gehen Sie jetzt rauf zu diesem Rangierbahnhof, und bringen Sie in Erfahrung, ob da noch jemand im Dienst ist… Ach so. In Ordnung. Danke.«
Sie legte auf und sah Stackhouse an.
»Das war Ihre Sicherheitstruppe.« Was sie in reichlich sarkastischem Ton sagte, weil besagte Truppe in dieser Nacht lediglich aus zwei Männern in den Fünfzigern bestand, die beide nicht in bester körperlicher Verfassung waren. »Die kleine Brown hat recht gehabt. Sie haben die Treppe gefunden, sie haben Schuhabdrücke gefunden, und auf halber Höhe haben sie sogar ein paar blutige Fingerabdrücke gefunden. Rafe meint, Ellis hat sich dort hingesetzt, um sich entweder auszuruhen oder seine Schuhe neu zu binden. Die beiden haben Taschenlampen dabei, sagen aber, sie könnten wahrscheinlich erst weitere Spuren entdecken, wenn es hell ist.« Sie machte eine Pause. »Am Bahnhof haben sie übrigens schon nachgeschaut. Da ist niemand, nicht mal ein Nachtwächter.«
Obwohl der Raum auf angenehme zweiundzwanzig Grad heruntergekühlt war, wischte Stackhouse sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Das ist schlecht, Julia, aber vielleicht können wir den Schaden trotzdem in Grenzen halten, ohne zu dem da zu greifen.« Er deutete auf die unterste Schublade ihres Schreibtischs, wo das Nullfon wartete. »Falls er in Sturbridge zur Polizei gegangen ist, ist unsere Lage natürlich wesentlich heikler. Und er hatte fünf Stunden Zeit, das zu tun.«
»Selbst wenn er da ausgestiegen ist, hat er vielleicht darauf verzichtet«, sagte sie.
»Aber weshalb? Schließlich hat er keine Ahnung, dass er verdächtigt wird, seine Eltern ermordet zu haben. Er weiß ja nicht mal, dass die tot sind.«
»Er weiß es vielleicht nicht, aber mit großer Sicherheit ahnt er es. Er ist ziemlich schlau, vergessen Sie das nicht. Wissen Sie, was ich an seiner Stelle als Erstes täte, wenn ich in Sturbridge, Massachusetts, um…« Sie warf einen Blick auf den Notizblock. »… um vier oder fünf Uhr nachmittags aus einem Güterzug geschlüpft wäre? Ich wäre schleunigst zur Stadtbibliothek marschiert und dort ins Internet gegangen. Um mich zu informieren, was zu Hause passiert ist.«
Diesmal blickten sie beide auf die verschlossene Schublade.
»Okay, wir müssen den Radius erweitern«, sagte Stackhouse. »Das passt mir zwar nicht, aber wir haben eigentlich keine andere Wahl. Schauen wir nach, wen wir in der Gegend von Sturbridge haben. Der soll rauskriegen, ob der Junge dort aufgetaucht ist.«
Mrs. Sigsby setzte sich an ihren Schreibtisch, um genau das zu veranlassen, doch gerade als sie nach ihrem Telefon griff, läutete es. Sie lauschte kurz, dann reichte sie es an Stackhouse weiter.
Es war Andy Fellowes, der fleißig gewesen war. Es gab tatsächlich eine Nachtschicht in Sturbridge, und als Fellowes sich als Logistikmanager von Downeast Freight ausgegeben und erklärt hatte, er stelle Nachforschungen nach einer möglicherweise verloren gegangenen Sendung mit lebenden Hummern an, war der Bahnhofsvorsteher gern bereit, ihm Auskunft zu geben. Nein, in Sturbridge seien keine lebenden Hummer ausgeladen worden. Und ja, die meisten Wagen von Zug Nr. 4297 seien weitergeleitet worden, nur mit einer wesentlich stärkeren Lokomotive. Der betreffende Güterzug habe die Nummer 9956 und fahre in südlicher Richtung über Richmond, Wilmington, DuPray, Brunswick und Tampa nach Miami.
Das notierte Stackhouse alles, dann erkundigte er sich nach den beiden Städten, deren Namen er nicht kannte.
»DuPray liegt in South Carolina«, erklärte ihm Fellowes. »Eigentlich bloß ein kleines Kaff mitten in der Pampa, aber es ist ein Knotenpunkt für aus Westen kommende Züge. Es gibt ein paar Lagerhäuser da, wahrscheinlich existiert die Stadt überhaupt nur deshalb. Brunswick ist in Georgia und ein ganzes Stück größer. Kann mir vorstellen, dass dort allerhand landwirtschaftliche Produkte und Meeresfrüchte verladen werden.«
Stackhouse legte auf und sah Mrs. Sigsby ernst an. »Mal angenommen…«
»Angenommen«, wiederholte Mrs. Sigsby. »Das Wort ist reiner Hohn. Damit ver…«
»Halten Sie die Luft an.«
Niemand sonst hätte Mrs. Sigsby derart schroff (und auch noch so unhöflich) angehen dürfen, aber es durfte sie auch niemand sonst mit dem Vornamen anreden. Stackhouse schritt im Zimmer umher. Sein kahler Schädel glänzte im Licht. Manchmal fragte sie sich, ob er seine Glatze tatsächlich polierte.
»Wen haben wir in der Einrichtung zur Verfügung?«, sagte er. »Ich werde es mal aufzählen. Lediglich etwa vierzig Angestellte im Vorderbau, dazu zwei Dutzend im Hinterbau, Heckle und Jeckle nicht eingerechnet. Weil wir darauf achten, dass nichts nach außen dringt. Das ist notwendig, hilft uns heute aber nicht. In der Schublade da liegt ein Telefon, mit dem wir allerhand effiziente Unterstützung rufen könnten, aber wenn wir zu dieser Maßnahme greifen, hat das Auswirkungen auf unser Leben, und zwar keine positiven.«
»Wenn wir zu diesem Telefon greifen müssen, ist unser Leben eventuell sogar beendet«, sagte Mrs. Sigsby.
Das ignorierte er. »Wir haben Zuträger im ganzen Land, ein gutes Informationsnetzwerk, zu dem untergeordnete Cops und Krankenhausmitarbeiter, Hotelangestellte, Journalisten bei kleinen Lokalzeitungen und Rentner gehören, die viel Zeit zur Verfügung haben, das Internet zu durchforschen. Außerdem haben wir mehrere Extraktionsteams zur Verfügung inklusive Privatflugzeug, das diese Leute praktisch überallhin schaffen kann, und das ziemlich zügig. Und wir haben unseren Verstand, Julia, unseren Verstand! Der Junge ist zwar ein Schachspieler, die Pfleger haben ihn draußen ständig mit Wilholm spielen sehen, aber jetzt spielen wir Schach in der realen Welt, und das hat er noch nie getan. Daher: angenommen.«
»Na gut.«
»Angenommen, wir beauftragen jemand damit, sich bei der Polizei in Sturbridge zu melden. Mit derselben Geschichte, die wir in Presque Isle verbreitet haben – unser Mann behauptet, er hat einen Jungen gesehen, bei dem es sich eventuell um Ellis handelt. Dasselbe sollten wir auch in Portland und Portsmouth machen, obwohl ich mir absolut nicht vorstellen kann, dass er den Zug so früh verlassen hat. Sturbridge ist wesentlich wahrscheinlicher, aber ich glaube, unser Mann dort wird ebenfalls nichts zu hören bekommen.«
»Sind Sie sich sicher, dass das nicht bloß reines Wunschdenken ist?«
»Ach, wünschen tu ich mir so allerhand. Aber wenn er nicht blind durch die Gegend rennt, sondern nachdenkt, ist das durchaus logisch.«
»Als Zug Nummer 4297 zu Nummer 9956 geworden ist, ist er an Bord geblieben. Das ist Ihre Annahme.«
»Genau. Der 9956 hält ungefähr um zwei Uhr morgens in Richmond. Wir brauchen jemand, vorzugsweise mehrere Leute, die ihn dort beobachten. Ebenso in Wilmington, wo der Zug zwischen fünf und sechs hält. Aber wissen Sie was? Ich glaube nicht, dass er in einem von den beiden Orten aussteigt.«
»Sie meinen, er wird bis zur Endstation mitfahren.« Trevor, dachte sie, du steigst auf deiner Leiter aus Annahmen immer höher, und jede Sprosse ist dünner als die vorige.
Aber was sollte man sonst tun, nachdem der Junge verschwunden war? Wenn sie das Nullfon nahm und anrief, würde sie zu hören kriegen, dass sie auf so etwas hätte vorbereitet sein müssen. Das war leichter gesagt als getan, denn wie hätte irgendjemand vorhersehen können, dass ein zwölfjähriges Kind verzweifelt genug wäre, sich das Ohrläppchen abzusäbeln, um den Ortungschip loszuwerden? Oder dass eine Haushälterin zur Fluchthelferin würde? Was das anging, würde sie zu hören kriegen, das Personal sei offenbar faul und bequem geworden… Und was sollte sie darauf entgegnen?
»… mitfahren.«
Sie kam zurück ins Hier und Jetzt und bat ihn, seinen Satz zu wiederholen.
»Ich sagte, er wird nicht unbedingt bis zur Endstation mitfahren. Ein derart cleverer Junge wie er wird wissen, dass wir dort Leute postieren werden, falls wir das mit dem Zug herausbekommen haben. Außerdem glaube ich nicht, dass er in einer dicht besiedelten Region aussteigen will. Besonders nicht in einer ihm völlig fremden Großstadt wie Richmond, und das auch noch mitten in der Nacht. Wilmington kommt eher infrage – das ist kleiner, und wenn der 9956 dort eintrifft, ist es bereits hell–, aber ich neige zu einem von den Käffern. Das wären entweder DuPray in South Carolina oder Brunswick in Georgia. Vorausgesetzt, er befindet sich überhaupt in diesem Zug.«
»Vielleicht weiß er nicht mal, wohin der fährt, nachdem er Sturbridge verlassen hat. In dem Fall bleibt er eventuell doch bis zum Ende drin.«
»Wenn sich in dem Wagen, in dem er hockt, irgendwelche adressierte Fracht befindet, weiß er Bescheid.«
Mrs. Sigsby wurde klar, dass sie seit Jahren nicht mehr so viel Angst gehabt hatte. Vielleicht hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht so viel Angst gehabt. Stellten sie begründete Vermutungen an oder rieten sie nur wild herum? Und falls Letzteres zutraf, wie wahrscheinlich war es dann, dass sie so oft hintereinander das Richtige erraten konnten? Mehr konnten sie allerdings nicht tun, weshalb sie nickte. »Wenn er an einem von den kleineren Bahnhöfen aussteigt, könnten wir ein Extraktionsteam hinschicken, das ihn wieder herbringt. Ach Gott, Trevor, das wäre ideal!«
»Lieber gleich zwei Teams. Opal und Ruby Red. Letzteres hat ihn bekanntlich schon das erste Mal zu uns gebracht. Da würde sich der Kreis hübsch schließen, meinen Sie nicht auch?«
Mrs. Sigsby seufzte. »Wenn wir bloß mit absoluter Sicherheit wüssten, dass er in dem Zug sitzt.«
»Absolut sicher bin ich mir nicht, aber doch ziemlich sicher, und das muss ausreichen.« Stackhouse schenkte ihr ein Lächeln. »Setzen Sie sich ans Telefon, und wecken Sie ein paar Leute auf. Fangen Sie in Richmond an. Landesweit geben wir für diese Jungs und Mädels da draußen jährlich etwa eine Million Dollar aus. Sorgen wir dafür, dass wenigstens einige von denen sich das Geld wirklich verdienen.«
Eine halbe Stunde später legte Mrs. Sigsby den Telefonhörer wieder auf. »Wenn er in Sturbridge ist, dann versteckt er sich in einem Abzugskanal, einem verlassenen Haus oder so – die Polizei hat ihn nicht aufgegriffen, sonst hätte man das im Funk gehört. In Richmond und Wilmington werden unsere Leute den Zug beobachten, wenn er dort hält, und sie haben einen guten Vorwand dafür.«
»Hab ich schon mitbekommen. Gut gemacht, Julia.«
Sie hob müde die Hand, um ihm zu danken. »Wer ihn sieht, bekommt einen stattlichen Bonus, und der wird noch wesentlich stattlicher ausfallen, wenn unsere Leute eine Chance sehen sollten, den Jungen aufzugreifen und ihn an einem sicheren Ort festzuhalten, bis wir ihn holen kommen. In Richmond ist das zwar wenig wahrscheinlich, unsere zwei Leute da sind stinknormale Bürger, aber einer von den Burschen in Wilmington ist bei der Polizei. Beten wir, dass er dort aussteigt.«
»Was ist mit DuPray und Brunswick?«
»In Brunswick werden zwei Personen auf der Lauer liegen, der Pfarrer einer Methodistenkirche aus einem nahe gelegenen Ort und seine Frau. In DuPray haben wir nur einen, aber dafür wohnt er direkt in der Stadt. Er ist der Besitzer des einzigen Motels dort.«
Luke steckte wieder im Wassertank. Zeke hielt ihn unten, während die Stass-Lichter vor seinen Augen wirbelten. Außerdem waren sie auch in seinem Kopf, was zehnmal schlimmer war. Er würde ertrinken, während er sie sah.
Als er wild um sich schlagend aufwachte, dachte er zuerst, das Kreischen, das er hörte, würde von ihm selbst stammen, und er fragte sich, wie er unter Wasser einen derartigen Lärm veranstalten konnte. Dann fiel ihm ein, dass er sich in einem Güterwagen befand, der zu einem fahrenden Zug gehörte, und der wiederum bremste gerade stark ab. Was da kreischte, waren stählerne Räder auf stählernen Schienen.
Die farbigen Punkte blieben einen Moment erhalten, dann verblassten sie. Es war pechschwarz im Wagen. Luke versuchte, seine verkrampften Muskeln zu dehnen, und stellte fest, dass er eingeklemmt war. Drei oder vier von den Pappkartons mit Außenbordmotoren waren von ihrem Stapel gefallen. Vielleicht hatte er sie beim Herumzappeln in seinem Albtraum heruntergestoßen, aber es konnte auch sein, dass das allein durch die Kraft seiner Gedanken geschehen war, als ihn diese verdammten Lichter in der Gewalt gehabt hatten. Früher war seine mentale Kraft darauf beschränkt gewesen, ein Pizzablech vom Tisch zu schieben oder die Seiten eines Buchs flattern zu lassen, aber die Zeiten hatten sich geändert. Er hatte sich geändert. Wie sehr, wusste er allerdings nicht und wollte es auch nicht wissen.
Der Zug wurde noch etwas langsamer und rumpelte über mehrere Weichen. Luke spürte, dass er sich in einem miserablen Zustand befand. Sein Körper meldete zwar noch nicht Alarmstufe Rot, aber bei Gelb war er eindeutig angelangt. Luke war hungrig, was schlimm genug war, aber im Vergleich zu seinem Durst kam ihm sein leerer Magen nebensächlich vor. Er erinnerte sich daran, wie er zu dem am Flussufer liegenden Ruderboot hinuntergerutscht war und sich dann kaltes Wasser in den Mund geschöpft hatte. Für so einen Schluck Flusswasser hätte er jetzt alles gegeben. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, was jedoch nicht viel brachte, da auch die Zunge ziemlich trocken war.
Sobald der Zug zum Halten gekommen war, stapelte Luke die Pappkartons im Finstern wieder auf. Sie waren schwer, aber er schaffte es trotzdem. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand, weil die Tür des Wagens in Sturbridge vollständig geschlossen worden war. Trübselig zog er sich wieder in sein Versteck hinter den Kartons und den Gartengeräten zurück und wartete.
Trotz Hunger, Durst, voller Blase und pochendem Ohr war er wieder eingedöst, als die Tür des Güterwagens rasselnd aufging. Eine Flut Mondlicht fiel herein. Zumindest kam es Luke nach der Finsternis, in der er vorher aufgewacht war, wie eine Flut vor. Ein Lastwagen fuhr rückwärts an die Tür heran, und eine laute Männerstimme war zu hören.
»Weiter… bisschen noch… langsam… noch ein kleines Stück… halt!«
Der Motor des Lastwagens ging aus, dann rasselte dessen Ladetür nach oben, und ein Mann sprang in den Güterwagen. Luke roch Kaffee, worauf sein Magen so laut knurrte, dass der Mann es einfach hören musste. Aber nein – als Luke zwischen einem Rasentraktor und einem normalen Rasenmäher hindurchspähte, sah er, dass der in einen Arbeitsanzug gekleidete Mann Ohrhörer trug.
Ein zweiter Mann kam dazu und stellte eine Handlampe auf den Boden, die glücklicherweise auf die Tür gerichtet war und nicht dorthin, wo Luke kauerte. Dann zogen die beiden eine Metallrampe aus dem Laster und fingen an, Kisten in den Güterwagen zu karren. Auf jeder stand KOHLER, DIESE SEITE OBEN und ACHTUNG, EMPFINDLICHE WARE! Egal was da drin war, hier war noch nicht die Endstation.
Nachdem die beiden Männer bestimmt zwölf Kisten verladen hatten, machten sie Pause und aßen Donuts aus einer Papiertüte. Luke musste alles zu Hilfe rufen, was ihm einfiel – die Erinnerung daran, wie Zeke ihn im Wassertank untergetaucht hatte, die Erinnerung an die Wilcox-Zwillinge, den Gedanken daran, dass das Schicksal von Kalisha und Nicky und so vielen anderen von ihm abhing–, um nicht aus seinem Versteck zu schlüpfen und die Männer da um einen Bissen anzubetteln, nur einen einzigen Bissen. Womöglich hätte er das trotz allem getan, wenn nicht einer der beiden etwas gesagt hätte, was ihn erstarren ließ.
»Sag mal, du hast nicht zufällig einen Jungen durch die Gegend rennen sehen, oder?«
»Hä?« Mit einem Mund voll Donut.
»Ob du einen Jungen gesehen hast. Als du rübergegangen bist, um dem Lokführer seine Thermosflasche zu bringen.«
»Was soll ein Junge denn hier draußen machen? Es ist halb drei Uhr morgens!«
»Ach, als ich die Donuts besorgt hab, hat mich ein Typ angesprochen. Hat gesagt, sein Schwager aus Massachusetts hätte ihn mitten im Schlaf angerufen und gebeten, sich hier am Bahnhof umzuschauen. Weil sein Sohn, also der von dem Typ aus Massachusetts, von zu Hause ausgerissen wär, und der hätte immer davon gefaselt, er wollte auf ’nem Güterzug nach Kalifornien fahren.«
»Das ist doch ganz woanders.«
»Ich weiß das. Du weißt das auch. Aber ob ein Junge das weiß?«
»Wenn der in der Schule nicht gepennt hat, weiß er, dass Richmond nicht gerade in der Nähe von Los Angeles liegt, verdammt noch mal.«
»Klar, aber es ist ein Knotenpunkt. Der Typ hat gesagt, dass der Junge vielleicht in dem Zug hier war und dann ausgestiegen ist, um einen anderen Zug nach Westen zu erwischen.«
»Gut, aber ich hab trotzdem keinen Jungen gesehen.«
»Der Typ hat gesagt, sein Schwager würde ’ne Belohnung zahlen.«
»Selbst wenn der ’ne Million zahlen würde, Billy, tät ich immer noch keinen Jungen sehen, außer da wär einer, den man sehen könnte.«
Wenn mein Magen noch mal knurrt, bin ich erledigt, dachte Luke. Definitiv.
Draußen rief jemand: »Billy! Duane! Noch zwanzig Minuten, Jungs, macht endlich, dass ihr fertig werdet!«
Billy und Duane verluden ein paar weitere Kohler-Kisten in den Güterwagen, dann schoben sie ihre Rampe wieder in den Laster und fuhren davon. Luke hatte gerade noch Zeit, die Silhouette einer Großstadt zu erspähen – welche Stadt das war, wusste er nicht–, dann kam ein Mann mit Overall und Eisenbahnermütze, um die Tür zuzuschieben… aber diesmal wieder nicht vollständig. Wahrscheinlich gab es da irgendein Hindernis, das die Rollen blockierte. Weitere fünf Minuten vergingen, bevor sich der Zug ruckelnd in Bewegung setzte, erst langsam über mehrere Weichen fuhr und dann schneller wurde.
Irgendein Typ, der sich als Schwager von irgendeinem anderen Typen bezeichnet hatte.
Und der was von einem Jungen gefaselt hatte, der auf einem Güterzug durch die Gegend reisen wollte.
Inzwischen wussten sie also, dass er verschwunden war, und selbst wenn sie das Boot stromabwärts von Dennison River Bend gefunden hatten, hatten sie sich nicht täuschen lassen. Bestimmt hatten sie Maureen zum Reden gebracht. Oder Avery. Die Vorstellung, dass man den Avester gefoltert hatte, um ihm Informationen zu entlocken, war zu schrecklich, deshalb schob er sie lieber weg. Wenn man Leute hierhergeschickt hatte, um nach ihm Ausschau zu halten, dann warteten auch beim nächsten Halt Leute auf ihn, und bis dahin war es wahrscheinlich hell. Vielleicht hielten die Leute sich zurück und beschränkten sich darauf, Bericht zu erstatten, aber genauso gut konnten sie auch versuchen, ihn gefangen zu nehmen. Je nachdem, wer in der Nähe war und sie dabei beobachtete. Und ob sie zum Äußersten entschlossen waren oder nicht. Auch davon hing sein Schicksal ab.
Wahrscheinlich habe ich mich selbst ausgetrickst, indem ich diesen Zug genommen habe, dachte Luke. Aber was hätte ich sonst tun sollen? Eigentlich hätten sie es nicht so schnell herausbekommen dürfen.
Immerhin konnte er ein Problem jetzt sofort loswerden. Er hielt sich am Sitz eines Rasentraktors fest, um im Gleichgewicht zu bleiben, schraubte die Tankkappe einer Bodenfräse Marke John Deere ab, öffnete seinen Reißverschluss und pisste gefühlte fünf Liter in den leeren Benzintank. Das war nicht besonders nett, wenn nicht gar ein extrem übler Streich, den er da dem zukünftigen Besitzer der Fräse spielte, aber schließlich hatten ihn außergewöhnliche Umstände dazu genötigt. Er setzte die Kappe wieder auf und schraubte sie fest. Dann ließ er sich auf dem Sitz des Rasentraktors nieder, legte die Hände auf seinen leeren Bauch und schloss die Augen.
Denk an dein Ohr, befahl er sich. Denk an die Kratzer an deinem Rücken. Denk an all deine Schmerzen, dann vergisst du, wie hungrig und durstig du bist.
Für eine Weile funktionierte sein Trick, dann nicht mehr. Was sich in seinen Kopf einschlich, war die lebhafte Vorstellung, wie die Kids im Institut in ein paar Stunden ihre Zimmer verlassen und zum Frühstück in die Cafeteria gehen würden. Es gelang ihm nicht, die Bilder zu verdrängen, die er vor sich sah: Karaffen mit Orangensaft und den mit rotem Fruchtpunsch gefüllten Trinkbrunnen. Wenn er jetzt bloß dort wäre! Dann würde er zuallererst ein Glas von beidem trinken und sich dann ordentlich Rührei und Bacon vom Büfett auf seinen Teller laden.
Aber er konnte sich doch nicht ernsthaft wünschen, dort zu sein! Das wäre doch schlicht verrückt.
Dennoch tat ein Teil von ihm genau das.
Er öffnete die Augen, um die Bilder loszuwerden. Das mit den Orangensaftkaraffen war hartnäckig und wollte nicht verschwinden… aber da sah er etwas in der Lücke zwischen den neuen Kisten und den Gartengeräten. Zuerst dachte er, das durch den Türspalt hereinfallende Mondlicht würde ihn täuschen, wenn er nicht gar eine richtige Halluzination hatte, aber als er zweimal blinzelte und danach das, was er da sah, immer noch vorhanden war, stieg er von dem Traktorsitz herunter und kroch darauf zu. Rechts vom ihm zogen mondbleiche Felder vorüber, aber er hatte den Blick fest auf das gerichtet, was da auf dem Boden lag: Donutkrümel.
Und ein Stück, das größer als ein Krümel war.
Das hob er zuerst auf. Um an die kleineren zu gelangen, befeuchtete er erst einmal seinen Daumen. Und da er Angst hatte, dass die kleinsten Krümel in den Bodenritzen verschwinden könnten, beugte er sich schließlich vor, streckte die Zunge heraus und leckte die Krümel auf.
Momentan war Mrs. Sigsby an der Reihe, sich auf dem Sofa nebenan eine Mütze Schlaf zu holen, und Stackhouse hatte die Tür zugemacht, damit sie von keinem Telefon – ob Festnetz oder sein Spezialgerät – gestört werden konnte. Um zehn vor drei rief Fellowes aus dem Überwachungsraum an.
»Der 9956 hat Richmond verlassen«, sagte er. »Keine Spur von dem Jungen.«
Stackhouse seufzte, rieb sich das Kinn und spürte die Bartstoppeln darauf. »Okay.«
»Schade, dass wir den Zug nicht einfach anhalten und durchsuchen lassen können. Um die Frage, ob der Bursche drin ist oder nicht, ein für alle Mal zu klären.«
»Schade ist bekanntlich auch, dass nicht alle Menschen auf der Welt im Kreis stehen und ›Give Peace a Chance‹ singen. Um wie viel Uhr kommt der Zug in Wilmington an?«
»Normalerweise gegen sechs. Oder etwas früher, falls er ein bisschen Zeit aufholt.«
»Wie viele Leute haben wir dort?«
»Aktuell zwei, ein weiterer Mann ist auf dem Weg von Goldsboro dorthin.«
»Die wissen doch hoffentlich, dass sie keinen Druck machen sollen, oder? Leute, die Druck machen, erregen Verdacht.«
»Ich glaube, das kriegen die schon hin. Schließlich haben sie ’ne gute Story parat. Jugendlicher Ausreißer, besorgte Eltern.«
»Hoffentlich. Halten Sie mich auf dem Laufenden.«
Dr. Hendricks betrat das Büro, ohne zu klopfen. Unter seinen Augen waren Ringe, seine Kleidung war verknittert, und seine stahlgrauen Haare standen zu Berge. »Gibt’s was Neues?«
»Noch nicht.«
»Wo ist Mrs. Sigsby?«
»Die ruht sich gerade aus, was dringend nötig ist.« Stackhouse lehnte sich in ihrem Sessel zurück und dehnte die Arme. »Der kleine Dixon war noch nicht im Wassertank, oder?«
»Natürlich nicht.« Schon wegen der Vorstellung blickte Donkey Kong leicht verschnupft drein. »Schließlich ist er kein Pink, ganz im Gegenteil. Es wäre geradezu irrsinnig, wenn wir das Risiko eingingen, jemand mit einem derart hohen BDNF zu schädigen. Oder wenn wir riskieren würden, seine Fähigkeiten zu erweitern. Was unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich wäre. Da würde Sigsby mich ans Messer liefern.«
»Das wird sie nicht, und er kommt heute rein«, sagte Stackhouse. »Tunken Sie den kleinen Scheißkerl unter, bis er meint, er ist tot, und machen Sie dann weiter.«
»Das meinen Sie doch nicht ernst, oder? Er ist ein wertvolles Eigentum! Und am stärksten TP-positiv von allen Kindern, die wir in den letzten Jahren hatten!«
»Selbst wenn er übers Wasser gehen und Stromstöße furzen könnte, wäre mir das piepegal. Er hat Ellis bei seiner Flucht geholfen. Beauftragen Sie Zeke damit, sobald er zum Dienst erscheint. Der genießt es ja, jemand in den Tank zu stecken. Umbringen soll er den Kleinen allerdings nicht, mir ist schon klar, welchen Wert der hat, aber er soll eine Erfahrung machen, an die er sich erinnert, solange er sich überhaupt noch an irgendwas erinnern kann. Anschließend schaffen Sie ihn in den Hinterbau.«
»Aber Mrs. Sigsby…«
»Mrs. Sigsby ist völlig damit einverstanden.«
Die beiden Männer fuhren herum. Mrs. Sigsby stand in der Tür, die vom Büro in ihre Privatwohnung führte. Zuerst dachte Stackhouse, dass sie aussah, als hätte sie ein Gespenst gesehen, aber das stimmte nicht ganz. Sie sah aus, als ob sie selbst ein Gespenst wäre.
»Machen Sie es genau so, wie er es gerade gesagt hat, Dan. Wenn der BDNF dadurch geschädigt wird, ist es eben so. Er muss für das, was er getan hat, büßen.«
Ruckelnd setzte der Zug sich wieder in Bewegung, und Luke dachte an ein Lied, das seine Mutter früher gesungen hatte. War es das über den Midnight Special gewesen? Er konnte sich nicht genau erinnern. Die Donutkrümel hatten seinen Hunger und seinen Durst lediglich verstärkt. Sein Mund war eine Wüste, die Zunge eine Sanddüne darin. Er döste vor sich hin, konnte jedoch nicht einschlafen. Die Zeit verging, er hatte keine Ahnung, wie spät es war, doch schließlich drang Dämmerlicht in den Güterwagen.
Luke kroch über den schwankenden Boden zu dem Türspalt und spähte hinaus. Er sah Bäume, größtenteils verkümmerte, nachgewachsene Kiefern, kleine Orte, Felder, noch mehr Bäume. Als der Zug über eine Brücke donnerte, blickte Luke sehnsüchtig auf den Fluss hinab. Diesmal kam ihm kein Lied in den Sinn, sondern ein Gedicht von Coleridge. Wasser, Wasser überall, dachte Luke, die Bodenbretter stinken. Wasser, Wasser überall und kein Tropfen zu trinken.
Wahrscheinlich ist der Fluss sowieso verschmutzt, sagte er sich, wusste jedoch, dass er trotzdem daraus trinken würde. Bis sein Bauch sich aufblähte. Das Wasser wieder auszukotzen wäre ein Vergnügen, weil er dann noch mehr trinken könnte.
Kurz bevor die Sonne aufging, rot und heiß, roch er Salz in der Luft. Die vorüberziehenden Gebäude waren jetzt keine Farmen mehr, sondern hauptsächlich Lagerhäuser und alte Fabriken aus Backstein, deren Fenster verrammelt waren. Vor dem heller werdenden Himmel ragten Kräne auf; nicht weit weg starteten Flugzeuge. Eine Weile fuhr der Zug neben einer vierspurigen Straße her. In den Autos sah Luke Leute sitzen, die sich um nichts anderes Sorgen machen mussten als um ihren Arbeitstag. Dann roch er Schlick, tote Fische oder beides.
Ich würde sogar einen toten Fisch essen, wenn der nicht total madig wäre, dachte er. Oder selbst dann. Laut National Geographic waren Maden eine gute Quelle von organischem Protein.
Der Zug wurde langsamer, und Luke zog sich in sein Versteck zurück. Es holperte und polterte, während der Güterwagen über Weichen und Kreuzungen rollte. Schließlich kam der Zug zum Stehen.
Trotz der frühen Stunde war hier allerhand los. Luke hörte Lastwagen. Er hörte Männer, die sich lachend unterhielten. Aus einem Ghettoblaster oder dem Radio eines Lasters dröhnte was von Kanye West; der Bass schwoll wie ein Herzschlag erst an, um dann wieder abzuklingen. Auf einem anderen Gleis fuhr eine Lok vorüber und hinterließ Dieselgestank. Es ruckte mehrfach gewaltig, weil mehrere Wagen an- oder abgekoppelt wurden. Als mehrere Männer etwas auf spanisch brüllten, verstand Luke manche ihrer Flüche: puta mierda, hijo de puta, chupapollas.
Weitere Zeit verging. Es kam Luke wie mindestens eine Stunde vor, vielleicht waren es aber auch nur fünfzehn Minuten. Endlich fuhr ein Laster rückwärts an den Güterwagen heran. Ein Mann im Overall schob die Tür vollständig auf. Dann sprang er herein, und wieder kam eine Rampe zum Einsatz. Diesmal gehörten vier Männer zum Team, zwei Schwarze und zwei Weiße, alle kräftig und tätowiert. Sie lachten und redeten mit einem starken Südstaatenakzent, was Luke an die Countrysänger erinnerte, die er zu Hause in Minneapolis auf BUZ’N 102 gehört hatte.
Einer von den Weißen behauptete, am Vorabend mit der Frau von einem der Schwarzen tanzen gegangen zu sein. Der Schwarze tat so, als würde er ihm einen Faustschlag verpassen, worauf der Weiße so tat, als würde er rückwärts stolpern, wo er sich auf die Kartons mit den Außenbordmotoren setzte, die Luke vor einiger Zeit wieder aufgestapelt hatte.
»Jetzt macht mal voran«, sagte der andere Weiße. »Ich will mein Frühstück.«
Das will ich auch, dachte Luke. O Mann, und wie ich das will!
Als die Männer damit anfingen, die Kohler-Kisten in den Lastwagen zu verladen, war das für Luke wie die Wiederholung eines Films vom letzten Halt, der diesmal rückwärts lief. Dabei musste er an die Filme denken, die man den Kids laut Avery im Hinterbau vorführte und bei denen man farbige Blitze sah, groß und fett. Die Tür des Güterwagens ruckelte in ihrer Schiene, als wollte sie sich von selbst schließen.
»Was ist denn da los?«, fragte der zweite Schwarze. »Wer ist da drin?« Er steckte den Kopf hinein. »Hm. Niemand.«
»Wahrscheinlich ein Gespenst«, sagte der Schwarze, der so getan hatte, als wollte er dem einen Weißen eins auf die Nase geben. »Auf geht’s, auf geht’s, damit wir fertig werden. Der Stationsvorsteher sagt, der Scheißzug hat Verspätung.«
Also bin ich immer noch nicht an der Endstation, dachte Luke. Ich werde zwar nicht hier drin stecken, bis ich verhungere, aber nur deshalb, weil ich vorher verdurste. Er hatte gelesen, dass ein Mensch mindestens drei Tage ohne Wasser überlebte, bevor er in eine zum Tod führende Bewusstlosigkeit fiel, aber das konnte er sich momentan beim besten Willen nicht vorstellen.
Das vierköpfige Team lud sämtliche großen Kisten bis auf zwei in den Laster. Luke wartete darauf, dass sich die Männer an die kleineren Geräte machten, wobei sie ihn entdecken würden, doch stattdessen schoben sie ihre Rampe wieder in den Laderaum und zerrten den Rollladen herunter.
»Fahrt schon mal los«, sagte einer von den Weißen. Es war der, der zum Scherz damit angegeben hatte, er wäre mit der Frau von einem der Schwarzen beim Tanzen gewesen. »Muss erst ’nen Ausflug zum Scheißhaus im Begleitwagen da hinten machen.«
»Komm schon, Mattie, kneif noch ’ne Weile den Arsch zusammen.«
»Geht nicht«, sagte der Weiße. »Das Ei ist so groß, dass es dringend gelegt werden muss.«
Ein Motor sprang an, und der Lastwagen fuhr davon. Eine Weile herrschte Stille, dann kletterte der Weiße – Mattie – wieder in den Güterwagen. Er trug ein ärmelloses T-Shirt, das seine Oberarmmuskeln spektakulär zur Geltung brachte. Ganz schön aufgepumpt, hätte Lukes früherer bester Freund Rolf Destin gesagt.
»Okay, Kleiner. Ich hab dich gesehen, als ich mich auf die Kisten da gesetzt hab. Du kannst jetzt rauskommen.«
Einen Moment lang blieb Luke, wo er war, weil er dachte, wenn er völlig reglos und völlig still bliebe, würde der Mann denken, er hätte sich geirrt, und wieder verschwinden. Aber das war eine kindliche Vorstellung, und er war kein Kind mehr. Ganz und gar nicht. Deshalb kroch er heraus. Er wollte aufstehen, aber seine Beine waren steif, und ihm war schwummrig. Wenn der Mann ihn nicht festgehalten hätte, wäre er umgekippt.
»Heilige Scheiße, Kleiner, wer hat dir denn das Ohrläppchen abgerissen?«
Luke versuchte, etwas zu sagen, aber zuerst kam nur ein Krächzen heraus. Er räusperte sich und machte einen zweiten Anlauf. »Ich hatte ziemlichen Ärger. Haben Sie vielleicht was zu essen, Sir? Oder was zu trinken? Ich bin nämlich furchtbar hungrig und durstig.«
Ohne den Blick von Lukes verstümmeltem Ohr abzuwenden, griff der Mann in die Hosentasche und zog eine halbe Rolle Pfefferminzbonbons heraus. Luke grabschte danach, riss das Papier herunter und stopfte sich vier davon in den Mund. Er hätte gedacht, dass sein ganzer Speichel von seinem durstigen Körper aufgesogen worden war, aber wie aus unsichtbaren Düsen schoss ihm welcher in den Mund, und der Zucker traf seinen Kopf wie eine Bombe. Für einen Augenblick flammten die farbigen Blitze auf und rasten über das Gesicht des Mannes. Der sah sich um, als hätte er jemand hinter sich wahrgenommen, dann wandte er sich wieder Luke zu.
»Wann hast du denn das letzte Mal was gegessen?«
»Keine Ahnung«, sagte Luke. »Kann mich nicht mehr genau dran erinnern.«
»Und wie lange bist du schon in dem Zug hier?«
»Ungefähr einen Tag.« Das musste stimmen, auch wenn es ihm wesentlich länger vorkam.
»Dann kommst du ganz aus dem Norden, stimmt’s?«
»Ja.« Maine lag in etwa so weit nördlich, wie es ging, dachte Luke.
Mattie deutete auf Lukes Ohr. »Wer hat das getan? War das dein Vater? Oder dein Stiefvater?«
Luke starrte ihn erschrocken an. »Wie… wie kommen Sie denn auf die Idee?« Doch selbst in seinem momentanen Zustand war die Antwort offensichtlich. »Ach so, da sucht jemand nach mir. In der letzten Stadt, wo der Zug gehalten hat, war das auch so. Wie viele sind es? Was haben sie gesagt? Dass ich von zu Hause weggelaufen bin?«
»Genau. Es ist dein Onkel. Der hat zwei Freunde mitgebracht, und einer von denen ist ein Cop aus Wrightsville Beach. Du kommst aus Massachusetts, sagen sie, und du wärst ausgerissen. Wieso, haben sie nicht gesagt, aber wenn jemand dir das da angetan hat, kann ich es mir denken.«
Dass einer der Männer, die ihm auflauerten, ein Polizist war, jagte Luke einen gewaltigen Schrecken ein. »Ich bin in Maine eingestiegen, nicht in Massachusetts, und mein Dad ist tot. Meine Mama auch. Alles, was die sagen, ist gelogen.«
Darüber dachte der Mann eine Weile nach. »Wer hat dann dein Ohr so verstümmelt, Kleiner? Irgendein Arschloch in einem Pflegeheim?«
Das war nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Ja, Luke war in einer Art Pflegeheim gewesen, und ja, das wurde von Arschlöchern geführt. »Das ist ziemlich kompliziert. Aber… Sir… wenn diese Männer mich sehen, nehmen sie mich mit. Vielleicht könnten sie das nicht, wenn nicht ein Cop dabei wäre. Sie werden mich dahin zurückbringen, wo das hier passiert ist.« Er zeigte auf sein Ohr. »Bitte verraten Sie mich nicht. Bitte lassen Sie mich einfach in dem Zug hier bleiben.«
Mattie kratzte sich am Kopf. »Tja, ich weiß nicht recht. Du bist ein Kind, und dir geht’s ziemlich übel.«
»Mir wird’s noch wesentlich übler gehen, wenn die Männer mich mitnehmen.«
Glaub das, dachte er mit aller Kraft. Glaub das, glaub das!
»Tja, ich weiß nicht recht«, wiederholte Mattie. »Obwohl die drei mir nicht ganz geheuer vorgekommen sind, das muss ich ehrlich sagen. Die waren irgendwie nervös, sogar der Cop. Außerdem bin ich selbst dreimal von zu Hause ausgerissen, bevor ich es endlich geschafft hab. Beim ersten Mal war ich ungefähr so alt wie du.«
Luke sagte nichts. Immerhin dachte Mattie jetzt in die richtige Richtung.
»Wo willst du denn hin? Weißt du das überhaupt?«
»Irgendwohin, wo ich was zu essen und zu trinken kriege und wo ich nachdenken kann«, sagte Luke. »Nachdenken muss ich, weil wahrscheinlich niemand die Geschichte glauben wird, die ich zu erzählen hab. Vor allem nicht, wenn ein Kind sie erzählt.«
»Mattie!«, rief jemand. »Komm endlich raus da, Mann! Sonst kriegst du ’ne Freifahrt nach South Carolina!«
»Hat man dich etwa gekidnappt, Kleiner?«
»Ja«, sagte Luke und begann zu weinen. »Und die Männer… der eine, der sagt, er ist mein Onkel, und der Cop…«
»MATTIE! Wisch dir den Arsch ab, und KOMM!«
»Was ich erzählt hab, ist die Wahrheit«, sagte Luke. »Wenn Sie mir helfen wollen, lassen Sie mich weiterfahren.«
»Tja, Scheiße.« Mattie spuckte an die Wand des Güterwagens. »Kommt mir falsch vor, aber dein Ohr da sagt mir, dass es vielleicht richtig ist. Diese Männer… bist du dir sicher, dass es schlimme Kerle sind?«
»Die schlimmsten«, sagte Luke. In Wirklichkeit hatte er vor den Schlimmsten noch ein bisschen Vorsprung, aber ob es dabei bleiben würde, hing davon ab, wozu der Mann da sich entschloss.
»Weißt du überhaupt, wo du jetzt bist?«
Luke schüttelte den Kopf.
»Wir sind hier in Wilmington. Jetzt hält der Zug noch in Georgia und dann in Tampa, bevor er in Miami ankommt. Wenn man dich sucht, wird man das überall da tun. Aber der nächste Ort, wo der Zug hält, ist bloß ein winziger Fleck auf der Landkarte. Da könntest du…«
»Mattie, wo zum Teufel steckst du denn?« Jetzt wesentlich näher. »Hör auf, hier rumzugammeln. Wir müssen los!«
Mattie warf Luke einen weiteren zweifelnden Blick zu.
»Bitte«, sagte Luke. »Sie haben mich in einen Wassertank getaucht. Bis ich fast ertrunken bin. Ich weiß, das ist schwer zu glauben, aber es stimmt.«
Schritte knirschten auf dem Kies. Sie kamen näher. Mattie sprang aus dem Güterwagen und schob die Tür drei Viertel weit zu. Luke kroch in sein Versteck hinter den Gartenmaschinen zurück.
»Hör mal, hast du nicht gesagt, du willst ein Ei legen? Was hast du denn da drin gemacht?«
Luke wartete darauf, dass Mattie sagte: In dem Wagen da hat sich ein Junge versteckt. Damit er nicht mit seinem Onkel mitfahren muss, wollte er mir ’nen fetten Bären aufbinden, dass man ihn oben in Maine gekidnappt und in einen Wassertank gesteckt hat.
»Wollte nach erfolgreicher Geschäftsabwicklung nur noch kurz einen Blick auf die Rasenmäher von Kubota da drin werfen«, sagte Mattie. »Meiner wird nämlich bald den Geist aufgeben.«
»Na, dann komm jetzt, der Zug muss weiter. Sag mal, hast du vielleicht ’nen Jungen durch die Gegend rennen sehen? Du weißt schon, den Bengel, der irgendwo im Norden in ’nen Wagen gesprungen ist und jetzt vielleicht gedacht hat, er könnt sich mal in Wilmington umsehen?«
Eine Pause entstand. Dann sagte Mattie: »Nein.«
Luke hatte vorgebeugt dagesessen. Als er die Antwort hörte, legte er den Hinterkopf an die Wand und schloss die Augen.
Etwa zehn Minuten später lief ein scharfer Ruck durch die Wagen von Zug Nummer 9956. Der Verschiebebahnhof glitt vorüber, erst langsam, dann allmählich schneller. Der Schatten eines Signals fiel durch die Tür des Wagens, dann tauchte ein weiterer Schatten auf. Der eines Mannes. Eine fettfleckige Papiertüte flog herein und landete auf dem Boden.
Luke sah Mattie nicht, er hörte ihn nur: »Viel Glück, kleiner Hobo!« Dann war der Schatten verschwunden.
Er kroch so schnell aus seinem Versteck, dass er mit seinem unverletzten Ohr an einen Rasentraktor knallte. Das merkte er kaum. In der Tüte da steckte der Himmel. Er konnte ihn riechen.
Der Himmel entpuppte sich als ein Cheeseburger, eine Apfeltasche von Hostess und eine Flasche Quellwasser Marke Carolina Sweetheart. Luke musste seine ganze Willenskraft aufwenden, um nicht den gesamten halben Liter Wasser in einem Zug auszutrinken. Er ließ ein Viertel davon drin, stellte die Flasche ab, griff jedoch gleich wieder hektisch danach und schraubte die Kappe darauf. Wenn der Zug plötzlich schlingerte und die Flasche umfiel, wäre er verrückt geworden. Den Cheeseburger verschlang er mit fünf gierigen Bissen und spülte ihn mit einem großen Schluck Wasser hinunter. Dann leckte er sich das Fett von der Handfläche und kroch mit dem Wasser und der Apfeltasche in sein Versteck zurück. Zum ersten Mal, seit er auf der S. S. Pokey den Fluss befahren und zu den Sternen hinaufgeblickt hatte, hatte er das Gefühl, dass sein Leben eventuell lebenswert war. Und obwohl er nicht richtig an Gott glaubte, da er fand, dass die Beweise ein klein wenig stärker gegen als für seine Existenz sprachen, betete er, allerdings nicht für sich. Er bat diese äußerst hypothetische höhere Macht, den Mann zu segnen, der ihn als Hobo bezeichnet und eine braune Papiertüte in den Güterwagen geworfen hatte.
Da sein Magen nun voll war, wäre er am liebsten wieder eingedöst, zwang sich jedoch, wach zu bleiben.
Jetzt hält der Zug noch in Georgia und dann in Tampa, bevor er in Miami ankommt, hatte Mattie gesagt. Wenn man dich sucht, wird man das überall da tun. Aber der nächste Ort, wo der Zug hält, ist bloß ein winziger Fleck auf der Landkarte.
Selbst in jener kleinen Stadt würde wahrscheinlich jemand nach ihm Ausschau halten, aber Luke hatte nicht die Absicht, nach Tampa oder Miami zu fahren. Sich in der Menge zu verlieren hatte gewisse Vorteile, doch in Großstädten gab es zu viele Cops, und inzwischen hatten die wahrscheinlich alle ein Foto von dem Jungen, der im Verdacht stand, seine Eltern ermordet zu haben. Außerdem war es logisch, dass er nicht ewig davonlaufen konnte. Dass Mattie ihn nicht verpfiffen hatte, war ein fantastischer Glücksfall; auf einen weiteren zu zählen wäre idiotisch.
Immerhin glaubte Luke, einen Trumpf in der Hand zu haben. Das Schälmesser, das Maureen ihm unter die Matratze gesteckt hatte, war irgendwo unterwegs verloren gegangen, aber der USB-Stick steckte noch in seiner Tasche. Er hatte keine Ahnung, was sich darauf befand. Unter Umständen handelte es sich bloß um eine langatmige, schuldbewusste Beichte, die nach Geschwafel klang, zum Beispiel irgendwas über das Baby, das Maureen weggegeben hatte. Es konnten jedoch auch Beweise sein. Dokumente.
Endlich wurde der Zug wieder langsamer. Luke ging zur Tür, hielt sich daran fest, um nicht umzufallen, und beugte sich hinaus. Er sah eine Menge Bäume und eine zweispurige Straße, dann die Rückseite von Privathäusern und größeren Gebäuden. Der Zug fuhr an einem Signal vorüber, das auf Gelb stand. Vielleicht kam jetzt das Kaff, von dem Mattie gesprochen hatte; vielleicht musste der Zug aber auch nur warten, bis weiter vorn das Gleis frei war. Letzteres war eventuell besser für Luke, denn wenn an der nächsten Station ein besorgter Onkel auf ihn wartete, dann direkt am Güterbahnhof. Ein Stück weit entfernt standen Lagerhäuser mit glitzernden Metalldächern. Dahinter verlief die zweispurige Straße, und hinter der Straße wuchsen wieder Bäume.
Deine Aufgabe ist es jetzt, aus dem Zug zu springen und zu den Bäumen da rüberzurennen, so schnell du kannst, sagte er sich. Und denk dran, schon beim Sprung zu rennen, damit du nicht mit der Schnauze im Schotter landest.
Ohne die Tür loszulassen, wiegte er sich vor und zurück, die Lippen zu einer dünnen, konzentrierten Linie zusammengepresst. Das war tatsächlich der Halt, von dem Mattie ihm erzählt hatte, denn jetzt sah er weiter vorn ein Stationsgebäude. Auf die ausgeblichenen grünen Dachschindeln hatte jemand DUPRAY SOUTHERN & WESTERN gemalt.
Runter mit dir, dachte Luke. Schließlich willst du auf keinen Fall irgendeinem Onkel begegnen.
»Eins…«
Er wiegte sich vorwärts.
»Zwei…«
Er wiegte sich zurück.
»Drei!«
Luke sprang. Er begann zwar noch in der Luft zu rennen, kam jedoch mit der momentanen Zuggeschwindigkeit auf dem Schotter neben den Gleisen auf, was etwas schneller war, als seine Beine leisten konnten. Sein Oberkörper kippte nach vorn, und da er zum Ausgleich die Arme nach hinten ausstreckte, sah er wahrscheinlich aus wie ein Eisschnellläufer vor der Ziellinie.
Als er schon glaubte, sich fangen zu können, bevor er stürzte, rief jemand: »He, pass auf!«
Er riss den Kopf hoch und sah zwischen den Lagerhäusern und dem Bahnhof einen Mann auf einem Gabelstapler sitzen. Ein weiterer Mann erhob sich im Schatten des Stationsgebäudes von einem Schaukelstuhl, die Zeitschrift, in der er gelesen hatte, noch in der Hand. Er rief: »Achtung, da kommt ein Pfosten!«
Gemeint war der zweite Signalpfosten, dessen Lampe rot leuchtete, aber zum Ausweichen sah Luke ihn zu spät. Instinktiv drehte er den Kopf zur Seite und versuchte, den Arm zu heben, aber bevor ihm das ganz gelungen war, prallte er mit vollem Tempo gegen den Stahl. Die rechte Gesichtshälfte mit dem verwundeten Ohr erwischte es am schlimmsten. Er zuckte nach hinten, kam auf dem Schotter auf und rollte von den Schienen weg. Das Bewusstsein als solches verlor er zwar nicht, aber dessen Unmittelbarkeit. Der Himmel schwang von ihm weg, kehrte zurück und entfernte sich wieder. Etwas Warmes lief ihm an der Wange entlang, und er wusste, dass sein Ohr wieder blutete, sein armes, misshandeltes Ohr. Eine innere Stimme ermunterte ihn schreiend, aufzustehen und schleunigst in den Wald zu rennen, aber Hören und Handeln waren zwei Paar Schuhe. Als er versuchte, auf die Beine zu kommen, scheiterte er.
Jetzt bin ich geliefert, dachte er. Scheiße. Was für ein verfluchter Mist.
Dann stand der Mann von dem Gabelstapler über ihm. Aus Lukes Perspektive am Boden sah er etwa fünf Meter groß aus. In den Gläsern seiner Brille funkelte die Sonne, weshalb man seine Augen nicht sehen konnte. »Mensch, Kleiner, was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«
»Hab versucht zu fliehen.« Luke war sich nicht sicher, ob er wirklich etwas sagte, glaubte jedoch, das zu tun. »Ich darf mich von denen nicht erwischen lassen, bitte lassen Sie das nicht zu!«
Der Mann bückte sich zu ihm hinunter. »Brauchst nicht zu reden, ich kann dich sowieso nicht verstehen. Du bist brutal an den Pfosten da geknallt, und du blutest wie ein Schwein. Beweg mal die Beine.«
Luke gehorchte.
»Und jetzt beweg die Arme.«
Luke hob sie an.
Der Mann vom Schaukelstuhl gesellte sich zu dem vom Gabelstapler. Luke versuchte, mit seinen neu erworbenen telepathischen Fähigkeiten herauszufinden, was einer oder beide dachten beziehungsweise wussten. Er hörte nichts; was das Gedankenlesen anging, herrschte momentan Ebbe. Vielleicht hatte der Schlag, den er bekommen hatte, ihm seine ganze TP aus dem Kopf getrieben.
»Dem ist nichts Schlimmes passiert, oder, Tim?«
»Glaub nicht. Hoffentlich. Im Erste-Hilfe-Kurs lernt man zwar, man soll jemand mit ’ner Kopfverletzung nicht umlagern, aber das Risiko gehe ich ein.«
»Wer von Ihnen ist angeblich mein Onkel?« fragte Luke. »Oder sind Sie das beide?«
Der Mann vom Schaukelstuhl runzelte die Stirn. »Kapieren Sie, was er sagt?«
»Nein. Ich leg ihn ins Hinterzimmer von Mr. Jackson.«
»Dann nehm ich seine Beine.«
Allmählich kam Luke wieder vollständig zu sich. In der Beziehung war sein Ohr tatsächlich hilfreich, denn es fühlte sich an, als wollte es sich in seinen Kopf bohren. Und sich vielleicht darin verstecken.
»Nee, geht schon«, sagte der Mann vom Gabelstapler. »Er ist ja nicht schwer. Rufen Sie lieber Doc Roper an, und sagen Sie ihm, er muss einen Hausbesuch machen.«
»Genauer gesagt, einen Lagerhausbesuch«, sagte der andere und lachte, wobei gelbliche Zahnstummel zum Vorschein kamen.
»Sehr lustig. Nun machen Sie schon. Nehmen Sie das Bahnhofstelefon.«
»Jawohl, Sir!« Der Schaukelstuhlmann salutierte ironisch vor dem Gabelstaplermann und machte sich auf den Weg. Der Gabelstaplermann hob Luke auf.
»Setzen Sie mich ab«, sagte Luke. »Ich kann selbst gehen.«
»Meinst du? Lass mich sehen.«
Luke schwankte kurz, dann fand er sein Gleichgewicht.
»Wie heißt du, Junge?«
Luke überlegte. Er war sich nicht sicher, ob er seinen Namen nennen sollte, solange er nicht wusste, ob es sich bei dem Mann um einen »Onkel« handelte. Er sah ganz nett aus… aber das hatte sogar Zeke vom Institut getan, wenn er ausnahmsweise guter Laune gewesen war.
»Wie heißen denn Sie?«, konterte er.
»Tim Jamieson. Komm jetzt, damit du wenigstens nicht mehr in der prallen Sonne bist.«
Norbert Hollister, Besitzer eines heruntergekommenen Motels, das nur dank seiner monatlichen Einkünfte als Zuträger für das Institut noch in Betrieb war, nahm tatsächlich das Telefon im Stationsgebäude, um Doc Roper anzurufen, aber zuerst wählte er auf seinem Handy eine Nummer, die man ihm in den frühen Morgenstunden mitgeteilt hatte. Da war er stinksauer gewesen, dass man ihn geweckt hatte. Jetzt hingegen war er begeistert.
»Dieser Junge«, sagte er. »Der ist hier.«
»Einen Moment«, sagte Andy Fellowes. »Ich stelle Sie durch.«
Nach kurzer Stille fragte jemand anderes: »Sind Sie Hollister? In DuPray in South Carolina?«
»Bin ich. Der Junge, den Sie suchen, ist gerade aus ’nem Güterzug gesprungen. Sein Ohr ist ganz verstümmelt. Ist immer noch ’ne Belohnung für ihn ausgesetzt?«
»Ja. Und wenn Sie dafür sorgen, dass er in der Stadt bleibt, wird die sogar noch größer sein.«
Norbert lachte. »Ach, ich glaube, der wird bleiben. Er ist gegen einen Signalpfosten geknallt, der ihn fast schachmatt gesetzt hat.«
»Verlieren Sie ihn nicht aus den Augen«, sagte Stackhouse. »Ich will, dass Sie mich alle Stunde anrufen. Kapiert?«
»So als Statusmeldung.«
»Ja, so ähnlich. Um den Rest kümmern wir uns.«