Bis Beaufort war es im Wagen weitgehend still. Einmal versuchte Dr. Evans, ein Gespräch in Gang zu bringen, um den anderen erneut zu versichern, er wäre an allem völlig unschuldig. Daraufhin stellte Tim ihn vor die Wahl, entweder die Klappe zu halten und sich damit zwei von den Oxycodon-Tabletten zu verdienen, die Doc Roper zur Verfügung gestellt hatte, oder weiterzureden und die Schmerzen in seinem verwundeten Fuß auszuhalten. Evans entschied sich fürs Schweigen und für die Pillen. In dem braunen Gläschen waren danach nur noch wenige übrig. Tim bot eine Mrs. Sigsby an, die sie trocken hinunterschluckte, ohne sich zu bedanken.
Tim wollte wegen Luke, dass es ruhig blieb, denn der war jetzt der Kopf des Unternehmens. Die meisten Leute hätten es zwar als verrückt bezeichnet, einem Zwölfjährigen eine Strategie zuzutrauen, die Kinder im Tunnel zu retten, ohne dabei selbst ums Leben zu kommen, aber Wendy verhielt sich ebenfalls ruhig. Sie und Tim wussten, was Luke getan hatte, um bis nach DuPray zu gelangen, und sie hatten ihn seither handeln sehen. Sie wussten Bescheid.
Worüber genau wussten sie Bescheid? Nun, sie wussten, dass der Junge da nicht nur extrem viel Mumm hatte, sondern auch ein echtes Genie war. Diese Verbrecher vom Institut hatten ihn gekidnappt, um sich ein Talent zunutze zu machen, mit dem er wenig mehr zustande brachte als ein paar Zaubertricks, jedenfalls bevor es verstärkt worden war. Sie hielten seine Intelligenz für eine bloße Begleiterscheinung von dem, worauf sie es abgesehen hatten. Damit waren sie wie Wilderer, die einen fünf Tonnen schweren Elefanten abschlachteten, um an vierzig Kilo Elfenbein zu gelangen.
Tim bezweifelte, dass Dr. Evans sich dieser Ironie bewusst war, aber Mrs. Sigsby wäre dazu wohl in der Lage gewesen. Allerdings nur, wenn sie einer bestimmten Vorstellung Raum gelassen hätte – dass eine geheime Einrichtung, die viele Jahrzehnte überdauert hatte, von genau dem zu Fall gebracht werden konnte, was man für belanglos gehalten hatte, nämlich von dem beeindruckenden Intellekt dieses Kindes.
Gegen neun Uhr abends, und kurz nachdem sie die Stadtgrenze von Beaufort hinter sich gelassen hatten, forderte Luke Tim auf, ein Motel zu suchen. »Stell den Wagen aber nicht davor ab«, fügte er hinzu. »Fahr nach hinten.«
In der Boundary Street gab es eine Econo Lodge, deren rückwärtiger Parkplatz von Magnolien beschattet wurde. Tim hielt hinten am Zaun und stellte den Motor ab.
»Hier verlässt du uns, Officer Wendy«, sagte Luke.
»Tim?«, sagte Wendy. »Wovon redet er da?«
»Davon, dass du dir ein Zimmer besorgen sollst, womit er recht hat«, sagte Tim. »Du bleibst hier, wir fahren weiter.«
»Komm wieder her, sobald du den Zimmerschlüssel hast«, sagte Luke. »Und bring ein paar Blatt Papier mit. Hast du einen Kugelschreiber?«
»Natürlich, und mein Notizbuch hab ich auch dabei.« Sie klopfte auf die Vordertasche ihrer Uniformhose. »Aber…«
»Wenn du wiederkommst, erkläre ich dir alles, so gut es geht, aber im Grunde läuft es darauf hinaus, dass du unsere Versicherungspolice bist.«
Mrs. Sigsby wandte sich zum ersten Mal seit dem Zwischenhalt an dem verlassenen Friseurgeschäft an Tim. »Durch das, was der Junge durchgemacht hat, ist er wahnsinnig geworden, und Sie sind wahnsinnig, wenn Sie auf ihn hören. Ich kann Ihnen nur raten, Dr. Evans und mich hierzulassen und schleunigst die Flucht zu ergreifen.«
»Was bedeuten würde, dass wir meine Freunde sterben lassen«, sagte Luke.
Mrs. Sigsby lächelte. »Ach Luke, denk doch mal nach. Was haben die eigentlich je für dich getan?«
»Das würden Sie doch nicht verstehen«, sagte Luke. »In einer Million Jahre nicht.«
»Geh nur, Wendy«, sagte Tim, nahm ihre Hand und drückte sie. »Besorg dir ein Zimmer, und komm dann wieder her.«
Sie warf ihm einen zweifelnden Blick zu, reichte ihm jedoch die Glock, stieg aus und machte sich auf den Weg zur Rezeption.
»Ich möchte betonen«, sagte Dr. Evans, »dass ich nur unter…«
»Unter Protest, ja«, sagte Tim. »Das haben wir inzwischen kapiert. Halten Sie jetzt die Klappe.«
»Können wir mal kurz aussteigen?«, fragte Luke. »Ich will mit dir sprechen, ohne dass…« Er deutete mit dem Kinn auf Mrs. Sigsby.
»Klar, kein Problem.« Tim öffnete die Beifahrer- und die Schiebetür, dann stellte er sich an den Zaun, der den Parkplatz von dem geschlossenen Autohaus nebenan abgrenzte. Luke trat zu ihm. Von seinem Standort aus hatte Tim die beiden unfreiwilligen Passagiere im Blick und konnte eingreifen, falls sie abhauen wollten. Was allerdings nicht sehr wahrscheinlich war wegen einer Schusswunde am Bein beziehungsweise einer im Fuß.
»Was ist denn?«, fragte Tim.
»Spielst du Schach?«
»Ich kenne die Regeln, war aber nie besonders gut darin.«
»Ich schon«, sagte Luke mit leiser Stimme. »Und jetzt spiele ich mit ihm Schach. Mit Stackhouse. Verstehst du das?«
»Ich glaube, ja.«
»Das heißt, ich versuche, drei Züge vorauszudenken und außerdem Gegenmaßnahmen gegen seine zukünftigen Züge vorzubereiten.«
Tim nickte.
»Im Schach spielt Zeit keine große Rolle, außer beim Schnellschach, und das spielen wir jetzt. Zuerst müssen wir von hier zu dem Flugplatz, wo das Flugzeug wartet. Dann fliegen wir irgendwo in die Nähe von Presque Isle, wo es stationiert ist. Von da fahren wir zum Institut. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir es vor zwei Uhr morgens bis dorthin schaffen. Was meinst du?«
Tim rechnete im Kopf nach und nickte. »Vielleicht wird es ein bisschen später, aber sagen wir mal um zwei.«
»Damit bleiben meinen Freunden fünf Stunden Zeit, selbst etwas zu unternehmen, aber Stackhouse hat ebenfalls fünf Stunden, seine Lage zu überdenken und sich anders zu entscheiden. Dazu, die Kinder zu vergasen und einfach abzuhauen. Ich hab ihm gesagt, dass sein Foto in jedem Flughafen hängen wird, was er mir abgekauft hat, glaube ich, weil es irgendwo im Internet Fotos von ihm geben muss. Viele von den Leuten im Institut waren früher beim Militär. Er wahrscheinlich auch.«
»Vielleicht ist sogar auf dem Handy von dieser Giftschlange ein Foto von ihm«, sagte Tim.
Luke nickte, obwohl er bezweifelte, dass Mrs. Sigsby zu den Leuten gehörte, die Schnappschüsse machten. Er wollte sich nicht ablenken lassen. »Deshalb kommt er vielleicht auf die Idee, sich zu Fuß über die kanadische Grenze zu schleichen. Bestimmt hat er sich mindestens eine alternative Fluchtroute ausgedacht, einen nicht mehr benutzten Waldweg oder ein Flussufer. Das ist einer von seinen möglichen zukünftigen Schachzügen, die ich im Kopf behalten muss. Nur…«
»Nur was?«
Luke rieb sich mit dem Handballen die Wange, eine merkwürdig erwachsene Geste der Erschöpfung und Unentschlossenheit. »Nur brauche ich deine Meinung. Was ich mir denke, kommt mir logisch vor, aber ich bin noch ein Kind. Da kann ich mir nicht sicher sein. Du bist erwachsen, und du bist einer von den Guten.«
Das rührte Tim. Er warf einen Blick auf das Motel, aber von Wendy war noch nichts zu sehen. »Dann sag mir mal, was du so denkst.«
»Dass ich Stackhouse total aus dem Gleichgewicht gebracht habe. Ich habe seine ganze Welt zertrümmert. Vielleicht bleibt er deshalb einfach da, um mich zu töten, und benutzt meine Freunde als Köder, damit ich auch ganz sicher komme. Leuchtet dir das ein? Sag mir die Wahrheit.«
»Das leuchtet mir durchaus ein«, sagte Tim. »Rache kann eine starke Motivation sein, und dieser Stackhouse wäre nicht der Erste, der gegen die eigenen Interessen handelt, um sich zu rächen. Mir fällt aber noch ein weiterer Grund ein, weshalb er sich entscheiden könnte zu bleiben.«
»Und welcher?« Luke beäugte ihn nervös. Hinter dem Motel kam Wendy Gullickson hervor, eine Schlüsselkarte in der Hand.
Tim deutete mit dem Kopf auf die offene Beifahrertür des Vans. »Sigsby ist die Chefin, oder?«, flüsterte er Luke ins Ohr. »Stackhouse ist nur ihr Vollstrecker?«
»Stimmt.«
»Tja«, sagte Tim mit leichtem Lächeln. »Wer ist dann ihr Chef? Hast du mal darüber nachgedacht?«
Lukes Augen weiteten sich, und sein Mund klappte ein kleines Stück weit auf. Er hatte kapiert. Und strahlte.
Viertel nach neun.
Es war still im Institut. Die Kinder, die sich zurzeit im Vorderbau aufhielten, schliefen dank dem Beruhigungsmittel, das Joe und Hadad verteilt hatten. Im Tunnel schliefen die fünf, von denen die Meuterei ausgegangen war, ebenfalls, aber wahrscheinlich nicht tief. Stackhouse hoffte, dass sie furchtbar von ihren Kopfschmerzen gequält wurden. Wach waren nur die Rüben, die durch die Gegend taperten, als könnten sie irgendwohin gelangen. Manchmal bildeten sie einen Kreis wie beim Ringelreigen.
Stackhouse war ins Büro von Mrs. Sigsby zurückgekehrt und hatte mit dem Zweitschlüssel, den er von ihr erhalten hatte, die verschlossene unterste Schublade des Schreibtischs geöffnet. Jetzt hielt er das spezielle kastenförmige Telefon in der Hand, das sie Grünes Telefon oder Nullfon nannten. Er dachte an etwas, was Julia einmal über das Gerät mit seinen drei Tasten gesagt hatte. Das war im Dorf gewesen, irgendwann im vergangenen Jahr, als bei Heckle und Jeckle noch die meisten Gehirnzellen funktioniert hatten. Die Kinder vom Hinterbau hatten gerade einen Saudi erledigt, der Geld an Terrorzellen in Europa schleuste, und es hatte perfekt nach einem Unfall ausgesehen. Alles lief bestens. Zur Feier des Tages hatte Julia ihn zum Abendessen eingeladen. Vorher hatten sie gemeinsam eine Flasche Wein geleert, beim Essen und danach eine zweite. Das hatte ihr die Zunge gelockert.
»Ich hasse es, mit dem Nullfon Bericht zu erstatten«, hatte sie gesagt. »Diesen Mann mit der lispelnden Stimme… ich stelle ihn mir immer als Albino vor. Weiß gar nicht, wieso. Vielleicht hab ich als Mädchen so jemand in einem Comicheft gesehen. Einen Albinoschurken mit Röntgenaugen.«
Stackhouse hatte verständnisvoll genickt. »Wo ist der eigentlich stationiert? Und wer ist er?«
»Das weiß ich nicht und will es auch nicht wissen. Ich rufe ihn an, erstatte Bericht und stelle mich dann unter die Dusche. Schlimmer, als mit dem Nullfon anzurufen, wäre nur eines. Nämlich angerufen zu werden.«
Jetzt betrachtete Stackhouse das Nullfon mit einer Art abergläubischen Furcht, als könnte die Erinnerung an den Abend mit Mrs. Sigsby bewirken, dass das Ding da in seiner Hand…
»Nein«, sagte er. Zum leeren Zimmer. Zu dem stummen Telefon. Wenigstens war es vorläufig stumm. »Mit Aberglaube hat das nichts zu tun. Du wirst nämlich wirklich bald läuten. Das ist einfach logisch.«
Natürlich. Weil die Leute am anderen Ende des Nullfons – der lispelnde Mann und die Organisation, der er angehörte – von dem spektakulären Reinfall in diesem Kaff in South Carolina erfahren würden. Vielleicht wussten sie sogar schon Bescheid. Wenn sie über Hollister informiert waren, den in DuPray wohnenden Zuträger des Instituts, hatten sie sich möglicherweise bei ihm gemeldet, um alle schmutzigen Details zu erfahren.
Dennoch hatte das Nullfon noch nicht geläutet. Bedeutete das, dass die noch keine Ahnung hatten, oder bedeutete es, dass sie ihm Zeit ließen, die Sache in Ordnung zu bringen?
Stackhouse hatte dem Mann namens Tim erklärt, jeder Deal hänge davon ab, ob man die Existenz des Instituts geheim halten könne oder nicht. Er war nicht so töricht zu glauben, dass man einfach weitermachen konnte, zumindest nicht hier in den Wäldern von Maine, aber wenn er es irgendwie schaffte, die Lage zu bereinigen, ohne dass die Medien auf der ganzen Welt über paranormal begabte Kinder berichteten, die missbraucht und ermordet worden waren… und darüber, weshalb… dann wäre das schon ein gewisser Erfolg. Vielleicht belohnte man ihn sogar, wenn ihm eine hieb- und stichfeste Vertuschungsstrategie einfiel, aber es würde schon Belohnung genug sein, am Leben zu bleiben.
Laut diesem Tim wussten momentan nur drei Leute Bescheid. Alle anderen, die die Videos auf dem USB-Stick gesehen hatten, waren tot. Eventuell hatten einige Mitglieder des unglückseligen Teams Gold überlebt, aber die würden den Mund halten.
Abwarten, bis Luke Ellis und seine Unterstützer hier sind, dachte er. Das ist der erste Schritt. Vielleicht treffen die schon um zwei Uhr morgens ein, aber selbst wenn es um halb eins sein sollte, habe ich genügend Zeit, einen Hinterhalt zu planen. Zur Verfügung stehen mir zwar nur MTAs und Pfleger, aber einige von denen – Zeke der Grieche zum Beispiel – sind harte Burschen. Ich muss den USB-Stick in die Hände kriegen und die, die ihn haben, ebenfalls. Und wenn der Mann mit dem Lispeln wie erwartet anruft und fragt, wie ich mit der Lage umgehe, kann ich antworten…
»Ich kann antworten, dass bereits alles unter Kontrolle ist«, sagte Stackhouse laut.
Er legte das Nullfon auf Mrs. Sigsbys Schreibtisch und sandte ihm eine mentale Botschaft: Nicht läuten! Wage es bloß nicht, vor drei Uhr morgen früh zu läuten. Noch besser wäre vier oder fünf.
»Gib mir genügend Zeit…«
Das Telefon läutete, worauf Stackhouse einen erschrockenen Schrei ausstieß. Dann lachte er, obwohl sein Herz viel zu schnell hämmerte. Das war nicht das Nullfon, sondern sein Spezialhandy. Was bedeutete, dass der Anruf aus South Carolina kam.
»Hallo? Ist da Tim oder Luke?«
»Hier ist Luke. Hören Sie gut zu, ich erkläre Ihnen jetzt, wie es laufen wird.«
Kalisha hatte sich in einem sehr großen Haus verirrt und keine Ahnung, wie sie hinauskommen sollte, weil sie nicht wusste, wie sie hineingelangt war. Sie befand sich in einem Flur, der dem im Vorderbau ähnelte, wo sie eine Weile gelebt hatte, bevor sie nach hinten geschafft worden war, damit man ihr das Gehirn ausplündern konnte. Nur war dieser Flur mit Kommoden, Spiegeln und Garderoben eingerichtet und mit etwas, was wie ein Elefantenfuß mit Regenschirmen drin aussah. Auf einem Beistelltischchen stand ein Telefon, das genauso aussah wie das in der Küche ihres Elternhauses, und es läutete. Sie griff danach, und da sie schlecht sagen konnte, was man ihr schon mit vier Jahren beigebracht hatte (»Familie Benson«), sagte sie einfach hallo.
»¡Hola! ¿Me escuchas?« Es war die Stimme eines Mädchens, schwach und so von statischem Knistern durchsetzt, dass sie gerade noch zu verstehen war.
Was hola bedeutete, wusste Kalisha, weil sie in der Schule ein Jahr Spanisch gehabt hatte, während escuchas nicht zu ihrem dürftigen Wortschatz gehörte. Dennoch wusste sie, was das Mädchen sagte, und da wurde ihr klar, dass das Ganze ein Traum war.
»Ja, mhm, ich kann dich hören. Wo bist du? Und wer bist du überhaupt?«
Aber das Mädchen war fort.
Kalisha legte das Telefon weg und ging weiter den Flur entlang. Sie spähte in einen Raum, der wie ein Salon aus einem alten Film aussah, und dann in einen Ballsaal. Der Boden war mit schwarzen und weißen Quadraten belegt, was sie daran erinnerte, wie Luke und Nicky draußen auf dem Spielplatz Schach gespielt hatten.
Ein anderes Telefon läutete. Kalisha eilte darauf zu und kam in eine hübsche moderne Küche. Der Kühlschrank war mit Fotos, Magneten und einem Stoßstangenaufkleber mit der Aufschrift BERKOWITZ FOR PRESIDENT verziert. Obwohl sie Berkowitz überhaupt nicht kannte, wusste sie, dass das seine Küche war. Das Telefon hing an der Wand. Es war größer als das auf dem Tischchen vorher und erst recht größer als das in der Küche zu Hause. Fast kam es ihr wie ein Scherzartikel vor. Aber es läutete, weshalb sie abhob.
»Hallo? ¿Hola? Hier spricht – me llamo – Kalisha.«
Aber es war nicht das Mädchen, das spanisch sprach. Es war ein Junge. »Bonjour, tu m’entends?« Französisch. Bonjour war französisch. Andere Sprache, dieselbe Frage, und diesmal war die Verbindung besser. Nicht sehr, aber immerhin ein bisschen.
»Ja, oui, oui, ich kann dich hören! Wo bist…«
Aber der Junge war fort, und wieder ein anderes Telefon läutete. Kalisha rannte durch eine Speisekammer in einen Raum mit Strohwänden und gestampftem Lehmboden, der größtenteils von einer farbenprächtigen Webmatte bedeckt war. Das war die letzte Station eines flüchtigen afrikanischen Warlords namens Badu Bokassa, dem eine seiner Gespielinnen ein Messer in den Hals gerammt hatte. In Wirklichkeit war er allerdings von einem Haufen Kinder getötet worden, die mehrere Tausend Meilen entfernt waren. Dr. Hendricks hatte seinen Zauberstab geschwungen – bei dem es sich um eine billige Wunderkerze handelte–, und schon war Mr. Bokassa erledigt. Das Telefon auf der Matte war noch größer als die vorherigen, beinahe so groß wie eine Tischlampe. Als Kalisha den Hörer abhob, lag er schwer in ihrer Hand.
Wieder ein Mädchen, diesmal glockenklar. Je größer die Telefone waren, desto klarer war offenbar die Stimme. »Zdravo, čuješ li me?«
»Ja, ich kann dich prima hören, aber was ist das für ein Ort hier?«
Die Stimme war fort, und ein anderes Telefon läutete. Es stand in einem Schlafzimmer mit einem Kronleuchter an der Decke und war so groß wie ein Hocker. Kalisha musste den Hörer mit beiden Händen abheben.
»Hallo, hoor je me?«
»Ja! Klar! Total gut sogar! Sprich mit mir!«
Das tat der Junge, der es diesmal war, nicht. Kein Wählton. Einfach weg.
Das nächste Telefon befand sich in einem Wintergarten mit einem großen Glasdach und war so groß wie der Tisch, auf dem es stand. Sein Läuten schmerzte in den Ohren. Es war, als würde es bei einem Rockkonzert durch einen Verstärker gejagt. Kalisha rannte mit ausgestreckten Armen und gehobenen Handflächen darauf zu, um den Hörer herunterzustoßen, nicht weil sie irgendeine Offenbarung erwartete, sondern um das Ding zum Schweigen zu bringen, bevor ihr die Trommelfelle platzten.
»Ciao!«, donnerte eine Jungenstimme. »Mi senti? MI SENTI?«
Das weckte Kalisha schließlich auf.
Sie war bei ihren Freunden, bei Avery, Nicky, George und Helen. Die schliefen noch, wenn auch unruhig. George und Helen stöhnten. Nicky murmelte etwas und streckte die Hände aus, wobei sie an das große Telefon dachte, auf das sie zugerannt war, um es zum Schweigen zu bringen. Avery wand sich hin und her; er keuchte etwas, was sie bereits gehört hatte: »Hoor je me? Hoor je me?«
Offenbar träumten die dasselbe, was Kalisha geträumt hatte, und wenn man bedachte, was sie jetzt alle waren – wozu das Institut sie gemacht hatte–, war das vollkommen logisch. Wenn sie schon eine Art Gruppenkraft erzeugten, bestehend aus Telepathie und Telekinese, weshalb sollten sie dann nicht denselben Traum haben? Die einzige Frage war, wer von ihnen damit angefangen hatte. Wahrscheinlich war das Avery gewesen, weil er am stärksten war.
Ein Bienenstock, dachte sie. Das sind wir jetzt. Ein Schwarm von paranormal veranlagten Bienen.
Kalisha stand auf und blickte sich um. Sie waren immer noch im Tunnel gefangen, daran hatte sich nichts geändert, aber sie hatte den Eindruck, dass die Gruppenkraft stärker geworden war. Vielleicht war das der Grund, weshalb die Kinder aus Station A nicht eingeschlafen waren, obwohl es ziemlich spät sein musste; Kalishas Zeitgefühl war immer gut gewesen, und jetzt dachte sie, dass es mindestens halb zehn sein musste, vielleicht auch etwas später.
Das Summen war lauter denn je und hatte eine Art zyklischen Rhythmus angenommen: mmm-MMM-mmm-MMM. Sie sah mit Interesse (aber ohne große Überraschung), dass die Leuchtstofflampen an der Decke demselben Rhythmus folgten, indem sie heller wurden, ein bisschen dunkler und dann wieder heller.
TK, die man tatsächlich sehen kann, dachte sie. Auch wenn sie uns absolut nichts nützt.
Pete Littlejohn, der Junge, der sich vorher ständig auf den Kopf geklopft und dabei ja-ja-ja-ja-ja-ja gerufen hatte, kam auf sie zugesprungen. Damals im Vorderbau war Pete einerseits herzig und andererseits nervig gewesen wie ein kleiner Bruder, der sich ständig an einen hängte und zu lauschen versuchte, wenn man sich unter Freundinnen Geheimnisse erzählte. Mit seinem feuchten Mund, seinem herabhängenden Unterkiefer und seinen leeren Augen bot er jetzt einen Anblick, der schwer zu ertragen war.
»¿Me escuchas?«, fragte er. »Hörst du mich?«
»Du hast es also auch geträumt«, sagte Kalisha.
Anstatt darauf zu reagieren, wandte Pete sich wieder seinen umherwandernden Gefährten zu. Jetzt sagte er etwas, was sich nach staizez minni anhörte. Weiß Gott, was für eine Sprache das ist, dachte sie, aber bestimmt bedeutet es dasselbe wie sonst auch.
»Ich höre dich«, sagte Kalisha zu niemand Bestimmtes. »Aber was willst du eigentlich?«
Ungefähr in der Hälfte des Tunnels hatte jemand etwas mit Malkreide an die Wand geschrieben. Kalisha ging hin, um es sich anzusehen, wobei sie mehreren durch die Gegend trottenden Kids ausweichen musste. In großen violetten Buchstaben stand da: RUF DAS GROSE FON AN. NIM DAS GROSE FON AB. Also träumten die Kids aus Station A es tatsächlich auch, nur waren sie dabei wach. Da ihr Gehirn weitgehend ausgelöscht war, träumten sie vielleicht ohnehin die ganze Zeit. Was für eine fürchterliche Idee, nur zu träumen, zu träumen und zu träumen, ohne je fähig zu sein, in die reale Welt zurückzufinden.
»Du also auch, hm?«
Das war Nicky. Seine Augen waren vom Schlaf verquollen, die Haare standen in alle Richtungen ab. Damit sah er irgendwie niedlich aus. Kalisha hob die Augenbrauen.
»Der Traum. Großes Haus, immer größere Telefone? So ähnlich wie in Die 500 Hüte des Bartholomew Cubbins?«
»Die Hüte von wem?«
»Das ist ein Buch von Dr. Seuss. Bartholomew will vor dem König seinen Hut lüften, aber jedes Mal, wenn er einen abnimmt, ist ein größerer und prächtigerer drunter.«
»Hab ich nicht gelesen, aber das mit dem Traum stimmt schon. Ich glaube, der kam von Avery.« Sie deutete auf den Avester, der völlig erschöpft weiterschlief. »Zumindest hat er bei dem angefangen.«
»Kann sein, aber vielleicht empfängt ihn Avery auch von irgendwoher und gibt ihn verstärkt weiter. Ist wohl nicht so wichtig.« Nicky betrachtete die Botschaft an der Wand, dann blickte er sich um. »Die Rüben sind aber unruhig heute Nacht.«
Kalisha sah ihn finster an. »Nenn sie nicht so. Das ist ein Wort für Sklaven. Du sagst ja auch nicht Nigger zu mir.«
»Okay«, sagte Nicky. »Dann sind eben die geistig Behinderten heute Nacht unruhig. Klingt das besser?«
»Ja.« Sie schenkte ihm ein Lächeln.
»Wie geht es deinem Kopf, Sha?«
»Besser. Gut sogar. Und deinem?«
»Auch.«
»Meinem auch«, sagte George, während er sich zu den beiden gesellte. »Danke der Nachfrage. Habt ihr auch den Traum gehabt? Immer größere Telefone und hallo, hörst du mich?«
»Haben wir«, sagte Nicky.
»Das letzte Telefon, kurz bevor ich aufgewacht bin, war größer als ich. Außerdem ist das Summen jetzt stärker.« Dann fügte er in demselben beiläufigen Ton hinzu: »Was meint ihr, wie lange es noch dauert, bis sie auf die Idee kommen, uns zu vergasen? Ich wundere mich, dass sie das noch nicht getan haben.«
Viertel vor zehn auf dem Parkplatz der Econo Lodge in Beaufort, South Carolina.
»Ich höre«, sagte Stackhouse. »Wenn du dir von mir helfen lässt, können wir vielleicht gemeinsam eine Lösung finden. Lass uns darüber reden.«
»Nein danke«, sagte Luke. »Sie sollen bloß zuhören. Und machen Sie sich Notizen, weil ich’s nicht zweimal sagen will.«
»Ist dein Freund Tim noch…«
»Wollen Sie den USB-Stick oder nicht? Wenn nicht, können Sie gerne weiterreden. Aber wenn Sie ihn wollen, halten Sie verflucht noch mal den Mund!«
Tim legte Luke die Hand auf die Schulter. Auf dem Beifahrersitz schüttelte Mrs. Sigsby betrübt den Kopf. Luke musste nicht erst ihre Gedanken lesen, um zu wissen, was sie dachte: Da versuchte ein Junge sich an etwas, was die Aufgabe eines Mannes wäre.
Stackhouse seufzte. »Na gut. Stift und Papier sind bereit.«
»Erstens: Den USB-Stick hat Officer Wendy zwar nicht, den haben wir dabei, aber sie kennt die Namen von meinen Freunden – Kalisha, Avery, Nicky, Helen und noch ein paar andere – und weiß, wo die herkommen. Falls deren Eltern tot sind wie meine, wird das ausreichen, auch ohne den Stick eine Untersuchung in Gang zu bringen. Dazu muss Wendy kein einziges Wort über paranormal veranlagte Kinder oder die ganzen Mordanschläge sagen. Man wird das Institut finden, und selbst wenn Sie es geschafft haben sollten abzuhauen, Stackhouse, würden die Leute, von denen Sie bezahlt werden, Sie aufspüren und zur Strecke bringen. Wir sind also Ihre beste Überlebenschance. Ist das bei Ihnen angekommen?«
»Erspar mir deine Überredungskünste. Wie heißt Officer Wendy mit Nachnamen?«
Tim, der sich nah zu Luke beugte, um beide Seiten des Dialogs mitzubekommen, schüttelte den Kopf. Den Rat hätte Luke allerdings gar nicht gebraucht.
»Geht Sie nichts an. Zweitens: Kontaktieren Sie das Flugzeug, mit dem Ihr Stoßtrupp hierhergekommen ist. Sagen Sie den Piloten, die sollen sich im Cockpit einschließen, sobald sie uns kommen sehen.«
Tim flüsterte zwei Wörter. Luke nickte.
»Aber bevor sie das tun, sollen sie die Gangway herunterklappen.«
»Wie sollen sie erkennen, dass ihr es seid?«
»Daran, dass wir in einem von den Vans sitzen, mit denen Ihre Killer zu uns gekommen sind.« Luke genoss diese Mitteilung an Stackhouse, weil er ihm damit etwas unter die Nase rieb: Mrs. Sigsby hatte zum Schlag ausgeholt und danebengetroffen.
»Das heißt, wir sehen den Piloten und den Kopiloten nicht, und die sehen uns nicht. Wenn wir dort landen, von wo die Maschine gestartet ist, bleiben die beiden im Cockpit. Ist so weit alles klar?«
»Ja.«
»Drittens: Ich will, dass ein Van auf uns wartet, einer mit neun Sitzen, genau wie der, mit dem wir gerade aus DuPray gekommen sind.«
»So einen haben wir nicht.«
»Unsinn. In Ihrer kleinen Siedlung gibt’s einen ganzen Fuhrpark. Hab ich mit eigenen Augen gesehen. Also, wollen Sie sich mit mir einigen, oder soll ich mir die Mühe sparen?«
Luke schwitzte heftig, und zwar nicht nur weil es eine feuchtheiße Nacht war. Er war froh, dass Tim ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte und dass Wendy besorgt zu ihm herüberblickte. Es fühlte sich gut an, nicht mehr allein zu sein. Bis jetzt war ihm eigentlich gar nicht klar gewesen, was für eine schwere Bürde das gewesen war.
Stackhouse stieß einen Seufzer aus, als sähe er sich ungebührlich unter Druck gesetzt. »Sprich weiter«, sagte er.
»Viertens: Sie werden einen Bus besorgen.«
»Einen Bus? Das kann doch nicht dein Ernst sein!«
Luke beschloss, auf die Unterbrechung einzugehen, weil sie berechtigt war. Jedenfalls blickten Tim und Wendy sichtlich verblüfft drein.
»Bestimmt haben Sie überall Freunde, also sicher auch bei der Polizei in Dennison River Bend. Vielleicht gehören die Cops dort sogar alle dazu. Es ist Sommer, also haben die Kinder Ferien, und die Schulbusse dürften auf dem städtischen Parkplatz stehen, zusammen mit den Schneepflügen und Müllwagen und so weiter. Einer von Ihren Freunden bei der Polizei soll sich den Schlüssel von einem Bus mit mindestens vierzig Sitzen besorgen und ihn in die Zündung stecken. Dann kann einer von Ihren MTAs oder Pflegern damit zum Institut fahren. Dort stellt er den Bus an dem Fahnenmast vor dem Verwaltungsgebäude ab und lässt wieder den Schlüssel stecken. Haben Sie alles verstanden?«
»Ja.« Geschäftsmäßig. Jetzt ohne Widerspruch und Unterbrechungen, und obwohl Luke nicht über das psychologische Verständnis verfügte, das Tim als Erwachsener haben musste, war ihm klar, warum. Das Ganze, dachte Stackhouse sicher, war der hirnrissige Plan eines Kindes, kaum besser als reines Wunschdenken. Dasselbe sah Luke auf dem Gesicht von Tim und dem von Wendy. Mrs. Sigsby, die alles mithören konnte, hatte sichtlich Probleme, nicht das Gesicht zu verziehen.
»Es ist ein simpler Tausch. Sie bekommen den USB-Stick, ich bekomme die Kinder. Die aus dem Hinterbau und auch die aus dem Vorderbau. Wenn alle um zwei Uhr morgens startbereit sind, wird Officer Wendy den Mund halten. Das ist der Deal. Ach ja, als Dreingabe bekommen Sie auch noch Ihre verfluchte Chefin und Ihren verfluchten Doktor zurück.«
»Darf ich dir eine Frage stellen, Luke? Ist das zulässig?«
»Bitte.« Luke ahnte bereits, wie die Frage lauten würde. Es war eine, die er tatsächlich beantworten wollte.
»Sobald ihr fünfunddreißig bis vierzig Kinder in einen großen, gelben Schulbus mit Dennison River Bend an der Seite gestopft habt, wo wollt ihr dann mit denen hin? Und zwar in Anbetracht dessen, dass die meisten von denen absolut nichts mehr im Kopf haben?«
»Nach Disneyland«, sagte Luke.
Tim legte die Hand an die Stirn, als würde ihm plötzlich der Kopf dröhnen.
»Übrigens werden wir mit Officer Wendy in Kontakt bleiben. Bevor wir mit dem Flugzeug starten, nachdem wir gelandet sind, wenn wir zum Institut kommen und wenn wir von dort abfahren. Falls sie keine Anrufe mehr bekommt, wird sie selbst welche machen. Zuerst wird sie sich bei der State Police von Maine melden, dann beim FBI und beim Heimatschutzministerium. Kapiert?«
»Ja.«
»Gut. Noch was. Wenn wir ankommen, will ich, dass Sie uns erwarten. Mit ausgestreckten Armen, eine Hand auf der Kühlerhaube vom Bus, die andere am Fahnenmast. Sobald die Kids im Bus sind und mein Freund Tim am Lenkrad sitzt, übergebe ich Ihnen den USB-Stick von Maureen und steige selbst ein. Verstanden?«
»Ja.«
Kurz und knapp. Stackhouse versuchte sichtlich, nicht so zu klingen wie jemand, der das große Los gezogen hatte.
Er weiß, dass Wendy ein Problem darstellen könnte, dachte Luke, weil sie die Namen von allerhand vermissten Kindern kennt, aber er glaubt, das Problem lösen zu können. Der USB-Stick ist brisanter, weil man ihn nicht so leicht zu Fake News erklären kann. Und ich serviere ihm das Ding jetzt praktisch auf dem Silbertablett. Wie kann er das ablehnen? Antwort: Das kann er nicht.
»Luke…«, mischte sich Tim ein.
Luke schüttelte den Kopf: Nicht jetzt, während ich nachdenke.
Stackhouse weiß, dass seine Lage weiterhin schlecht ist, aber jetzt sieht er einen Lichtstrahl. Gott sei Dank hat Tim mich an etwas erinnert, was mir selbst hätte einfallen sollen – Sigsby und Stackhouse stellen nicht die oberste Ebene dar. Sie müssen selbst Vorgesetzte haben, Leute, gegenüber denen sie Rechenschaft ablegen müssen. Wenn alles gelaufen ist, kann Stackhouse denen sagen, es hätte noch viel schlimmer kommen können und sie sollten ihm sogar dankbar sein, dass er die Lage entschärft habe.
»Wirst du mich noch mal anrufen, bevor ihr abfliegt?«, fragte Stackhouse.
»Nein. Ich vertraue darauf, dass Sie alles arrangieren.« Obwohl Vertrauen nicht das erste Wort war, das Luke in den Sinn kam, wenn er an Stackhouse dachte. »Wenn wir das nächste Mal miteinander reden, stehen wir uns gegenüber, vor dem Institut. Am Flughafen wartet ein Van, am Fahnenmast ein Bus. Falls Sie irgendwas verbocken, greift Officer Wendy zum Telefon und berichtet, was sie zu berichten hat. Bis dann.«
Er legte auf und sackte in sich zusammen.
Tim reichte Wendy die Pistole und deutete auf die beiden Gefangenen. Wendy nickte. Da sie jetzt Wache stand, konnte Tim Luke beiseiteziehen. Er stellte sich mit ihm an den Zaun in den Schatten, den ein Magnolienbaum warf.
»Luke, das kann doch nie im Leben klappen. Vielleicht wartet dort am Flughafen wirklich ein Wagen auf uns, aber wenn es in diesem Institut so zugeht, wie du’s erzählt hast, wird man uns dort auflauern und umbringen. Deine Freunde und die anderen Kinder wird man auch töten. Dann ist nur noch Wendy übrig. Die tut sicher, was sie kann, aber es wird trotzdem Tage dauern, bis jemand da oben aufkreuzt – ich weiß nur zu gut, wie die Behörden reagieren, wenn etwas Ungewöhnliches auftaucht. Und wenn man das Institut findet, wird es bis auf die Leichen leer sein. Falls die nicht ebenfalls verschwunden sind. Du sagst ja, die haben ein Entsorgungssystem für die…« Tim wusste nicht recht, wie er es ausdrücken sollte. »Für die verbrauchten Kinder.«
»Das ist mir alles völlig klar«, sagte Luke. »Aber es geht nicht um uns, sondern um sie. Um die Kinder. Es geht mir bloß darum, Zeit zu gewinnen, weil dort irgendwas vor sich geht. Und nicht nur dort.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich bin jetzt stärker, obwohl wir mehr als tausend Meilen vom Institut entfernt sind«, sagte Luke. »Trotzdem bin ich ein Teil von den Kindern dort, und es sind nicht mehr bloß die. Sonst hätte ich die Waffe von dem Typen niemals an die Decke richten können, indem ich daran gedacht hab. Früher war ich auf leere Pizzableche spezialisiert, erinnerst du dich?«
»Luke, ich glaube einfach nicht…«
Luke konzentrierte sich. Kurz sah er ein Bild des Telefons im Flur seines Elternhauses. Es läutete, und wenn er abhob, würde jemand fragen: »Hörst du mich?« Dann verschwand das Bild, und er sah die farbigen Blitze und hörte ein leises Summen. Die Blitze waren eher matt als grell, was gut war. Er wollte sie Tim nämlich zeigen, ohne ihm wehzutun… was nur zu leicht hätte geschehen können.
Wie von unsichtbaren Händen gestoßen, taumelte Tim vorwärts an den Maschendrahtzaun und hob gerade noch rechtzeitig die Unterarme, um sich nicht das Gesicht zu verletzen.
»Tim?«, rief Wendy.
»Nichts passiert«, sagte Tim. »Pass nur weiter auf die beiden auf, Wendy.« Er sah Luke an. »Warst du das?«
»Es kam nicht von mir, es ging nur durch mich hindurch«, sagte Luke. Weil sie jetzt Zeit hatten (wenigstens ein bisschen) und weil er neugierig war, fragte er: »Wie war es denn?«
»Wie ein starker Windstoß.«
»Natürlich war es stark«, sagte Luke. »Weil wir gemeinsam stärker sind. Sagt jedenfalls Avery.«
»Das ist dieser kleine Junge.«
»Genau. Ohnehin hatten sie schon lange niemand mehr, der so stark war. Vielleicht seit Jahren. Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber ich glaube, sie haben ihn in den Wassertank gesteckt. Durch die Nahtoderfahrung, die er dabei gemacht hat, sind die Stass-Lichter verstärkt worden, ohne dass er welche von den dämpfenden Injektionen bekommen hat.«
»Jetzt kann ich dir wirklich nicht mehr folgen.«
Luke hörte gar nicht hin. »Das war bestimmt eine Bestrafung dafür, dass er mir bei der Flucht geholfen hat.« Er deutete mit dem Kopf auf den Wagen. »Vielleicht weiß Mrs. Sigsby Bescheid, es könnte sogar ihre Idee gewesen sein. Jedenfalls ist der Schuss nach hinten losgegangen, sonst hätten sie nicht gemeutert. Die Kinder aus Station A haben die eigentliche Kraft, und die hat Avery freigesetzt.«
»Trotzdem haben sie offenbar nicht genügend Kraft, dass sie da rauskommen, wo sie in der Falle sitzen.«
»Noch nicht«, sagte Luke. »Aber ich glaube, das wird sich ändern.«
»Warum? Und wie?«
»Du hast mich nachdenklich gemacht, als du gesagt hast, dass Mrs. Sigsby und Stackhouse bestimmt noch jemand über sich haben. Da hätte ich eigentlich selbst drauf kommen sollen, aber da hat mir der Weitblick gefehlt. Wahrscheinlich weil Eltern und Lehrer das Einzige sind, was Kinder über sich haben. Jedenfalls… wenn es weitere Chefs gibt, wieso sollte es dann nicht noch weitere Institute geben?«
Ein Wagen bog auf den Parkplatz ein, fuhr an ihnen vorüber und verschwand mit blinkenden roten Rücklichtern. Als man ihn nicht mehr sah, redete Luke weiter.
»Vielleicht ist das Institut in Maine das einzige in Amerika, es könnte aber auch noch eins an der Westküste geben. Wie zwei Buchstützen sozusagen. Wahrscheinlich gibt’s eins in England… und in Russland… in Indien… China… Deutschland… Korea. Wenn man darüber nachdenkt, ist das total plausibel.«
»Kein Rüstungswettlauf, sondern ein mentaler Wettlauf«, sagte Tim. »Willst du darauf hinaus?«
»Wohl eher kein Wettlauf. Ich glaube, die ganzen Institute arbeiten zusammen. Sicher bin ich mir nicht, aber es kommt mir logisch vor. Sie haben ein gemeinsames Ziel, das irgendwie gut ist – indem man ein paar Kinder umbringt, hält man die Menschheit davon ab, sich selbst auszurotten. Ein Tauschhandel. Weiß Gott, wie lange das schon vor sich geht, aber bisher hat es noch nie eine Meuterei gegeben. Jetzt haben Avery und meine anderen Freunde eine angezettelt, und die könnte sich ausbreiten. Vielleicht tut sie das sogar schon.«
Tim Jamieson war kein Historiker oder Sozialwissenschaftler, aber er hielt sich auf dem Laufenden und dachte, dass Luke durchaus recht haben könnte. Eine Meuterei – oder eine Revolution, um eine weniger abwertende Bezeichnung zu verwenden – war wie ein Virus, erst recht im Informationszeitalter. So etwas konnte sich tatsächlich ausbreiten.
»Die Kraft, die jeder Einzelne von uns hat – also der Grund, weshalb man uns überhaupt gekidnappt und ins Institut geschafft hat–, ist relativ klein. Wenn wir alle zusammen sind, wird sie stärker. Besonders durch die Kids aus Station A, denn weil die keinen Verstand mehr haben, ist nur noch die Kraft übrig. Aber wenn es weitere Institute gibt, wenn die Kids dort wissen, was in unserem passiert, und wenn alle sich zusammentun…«
Luke schüttelte den Kopf. Er dachte an das Telefon im Flur seines Elternhauses, nur dass es jetzt zu einer enormen Größe angeschwollen war.
»Wenn es dazu käme, würde eine gewaltige Kraft entstehen, wirklich gewaltig. Deshalb brauchen wir Zeit. Falls Stackhouse mich für einen Trottel hält, der so versessen darauf ist, seine Freunde zu retten, dass er sich auf einen schwachsinnigen Deal einlässt, dann ist das nur gut für uns.«
Tim spürte immer noch den vermeintlichen Windstoß, der ihn an den Zaun gestoßen hatte. »Das heißt, wir fliegen gar nicht dorthin, um deine Freunde zu retten, oder?«
Luke betrachtete ihn ernst. Mit seinen Blutergüssen im Gesicht und seinem bandagierten Ohr wirkte er wie ein völlig harmloses Kind. Dann lächelte er, und für einen Augenblick sah er überhaupt nicht mehr harmlos aus.
»Nein. Wir werden dort aufräumen.«
Kalisha Benson, Avery Dixon, George Iles, Nicholas Wilholm, Helen Simms.
Die fünf Kinder saßen am Ende des Tunnels neben der verschlossenen Tür, hinter der – derzeit unerreichbar – Ebene F vom Vorderbau lag. Katie Givens und Hal Leonard waren eine Weile bei ihnen gewesen, hatten sich jetzt jedoch zu den Kindern aus Station A gesellt. Sie wanderten durch die Gegend, wenn die anderen das taten, und reichten ihnen die Hände, wenn sie einen Kreis bildeten. Len verhielt sich ebenso, und auch was Iris anging, hatte Kalisha keine große Hoffnung mehr, obwohl die bisher nur zusah, wie die Kinder aus Station A sich zusammenfanden, voneinander lösten und wieder zusammenfanden. Helen hatte sich erholt und war wieder ganz und gar bei ihnen, aber Iris war wohl schon verloren, genauso wie Jimmy Cullum und Donna Gibson, die Kalisha von ihrer Zeit im Vorderbau her kannte – dank ihren Windpocken hatte sie sich dort wesentlich länger aufgehalten als sonst üblich. Die Kinder aus Station A machten sie traurig, aber das mit Iris war schlimmer. Die Möglichkeit, dass sie irreparabel beschädigt worden war… diese Vorstellung war einfach…
»Grässlich«, sagte Nick.
Sie sah ihn beinahe vorwurfsvoll an. »Bist du etwa in meinem Kopf?«
»Ja, aber ich verzichte drauf, in deine mentale Unterwäscheschublade zu gucken«, sagte Nicky, worauf Kalisha schnaubte.
»Wir sind jetzt alle gegenseitig in unseren Köpfen«, sagte George und zeigte mit dem Daumen auf Helen. »Oder meint ihr wirklich, ich will wissen, wieso sie mal bei der Pyjamaparty von ’ner Freundin so laut lachen musste, dass sie sich in die Hose gepinkelt hat? Das ist ein authentischer Fall von Informationsüberflutung.«
»Immer noch besser, als rauszukriegen, dass du dir Sorgen wegen der Schuppenflechte an deinen…«, konterte Helen, aber Kalisha gebot ihr, den Mund zu halten.
»Was meint ihr wohl, wie spät es ist?«, fragte George.
Kalisha warf einen Blick auf ihr nacktes Handgelenk. »Keine Uhr.«
»Mir kommt es wie elf vor«, sagte Nicky.
»Wisst ihr, was komisch ist?«, sagte Helen. »Früher hab ich das Summen immer gehasst. Weil ich wusste, dass es mir das Gehirn aussaugt.«
»Das haben wir alle gewusst«, sagte George.
»Aber jetzt mag ich es irgendwie.«
»Weil es Kraft ist«, sagte Nicky. »Bloß hat die bisher denen gehört, bis wir sie uns zurückgeholt haben.«
»Eine Trägerwelle«, sagte George. »Und jetzt ist sie ständig vorhanden. Sie wartet nur auf eine Übertragung.«
Hallo, hört ihr mich, dachte Kalisha und wurde von einem Schauder ergriffen, der keineswegs unangenehm war.
Mehrere Kinder aus Station A fassten sich an den Händen. Iris gesellte sich zu ihnen. Das Summen wurde stärker, ebenso wie das Pulsieren der Leuchtstofflampen an der Decke. Als die Kids sich wieder losließen, sank das Summen zu seinem früheren Niveau herab.
»Er ist in der Luft«, sagte Kalisha. Keiner von den anderen musste fragen, wen sie meinte.
»Ich würd so gern mal wieder fliegen«, sagte Helen sehnsüchtig. »Das wäre richtig toll.«
»Ob sie wohl warten, bis er kommt, Sha?«, fragte Nicky. »Oder werden sie einfach das Gas aufdrehen? Was meinst du?«
»Bin ich etwa Professor X?« Sie stieß Avery den Ellbogen in die Seite… aber ganz sanft. »Wach auf, Avester. Es ist was im Busch.«
»Bin schon wach«, sagte Avery. Was nicht ganz stimmte, denn er hatte noch gedöst und das Summen genossen. Und an Telefone gedacht, die immer größer wurden, so wie die Hüte von Bartholomew Cubbins immer prächtiger geworden waren. »Sie werden warten. Das müssen sie, denn wenn uns was zustößt, würde Luke das mitkriegen. Und wir werden auch warten, bis er eintrifft.«
»Und wenn es so weit ist?«, fragte Kalisha.
»Dann benutzen wir das Telefon«, sagte Avery. »Das große. Wir alle gemeinsam.«
»Wie groß ist es eigentlich?«, fragte George in bangem Ton. »Das letzte, das ich gesehen hab, war nämlich verdammt riesig. Fast so groß wie ich.«
Avery schüttelte nur den Kopf. Seine Augenlider sanken herab. Im Grunde war er ein kleines Kind, das lange nach der Schlafenszeit noch wach war.
Die Kinder aus Station A – selbst Kalisha fiel es schwer, sie nicht als Rüben zu bezeichnen – hielten sich wieder einmal an den Händen. Die Lampen an der Decke wurden heller; eine der Röhren machte vor Überlastung sogar ganz schlapp. Das Summen wurde tiefer und stärker. Bestimmt spürten sie es auch im Vorderbau, da war Kalisha sich sicher – Joe und Hadad, Chad und Dave, Priscilla und dieser hundsgemeine Zeke. Die übrigen ebenfalls. Ob es ihnen wohl Angst machte? Vielleicht ein bisschen, aber…
Aber die meinen, wir würden in der Falle sitzen, dachte Kalisha. Die meinen, dass sie in Sicherheit sind. Die meinen, die Revolte wäre unter Kontrolle. Sollen sie das ruhig weiter meinen.
Irgendwo gab es ein großes Telefon – das größte aller Telefone mit Nebenstellen in vielen Zimmern. Wenn die Kids mit diesem Telefon anriefen (was sie tun mussten, denn es gab keine andere Wahl), würde die Kraft in dem Tunnel, in dem sie gefangen waren, stärker sein als jede Bombe, die jemals auf der Erde oder darunter detoniert war. Dann würde das Summen, das jetzt nur eine Trägerwelle war, vielleicht zu einer Vibration anschwellen, die Gebäude zum Einsturz bringen oder gar ganze Städte zerstören konnte. Kalisha war sich da nicht sicher, hielt es jedoch für möglich. Wie viele Kinder, deren Kopf jetzt von allem außer ihren besonderen Kräften geleert war, warteten wohl auf einen Anruf mit dem großen Telefon? Einhundert? Fünfhundert? Eventuell sogar mehr, falls es überall auf der Welt Institute gab.
»Nicky?«
»Was ist?« Auch er hatte gedöst und hörte sich verärgert an.
»Einschalten können wir es wohl«, sagte sie, weil es nicht nötig war, zu erklären, wovon sie sprach. »Aber wenn wir das tun… können wir es dann auch wieder ausschalten?«
Darüber dachte Nicky nach, bevor er lächelte. »Das weiß ich nicht. Aber nach allem, was sie uns angetan haben… ist mir das ehrlich gesagt scheißegal.«
Viertel nach elf.
Stackhouse war wieder im Büro von Mrs. Sigsby, wo das Nullfon – vorläufig schweigend – auf dem Schreibtisch lag. In einer Dreiviertelstunde würde der letzte Tag, an dem das Institut seiner gewohnten Mission nachging, vorüber sein. Morgen würde dieser Ort verlassen sein, egal wie sich die Sache mit Luke Ellis entwickelte. Das Programm als solches konnte trotz dieser Wendy, die Luke und sein Freund da unten im Süden zurückgelassen hatten, weiterlaufen, aber die Einrichtung hier war erledigt. In der heutigen Nacht kam es nur darauf an, den USB-Stick in die Finger zu bekommen und dafür zu sorgen, dass Luke Ellis tot war. Mrs. Sigsby zu retten wäre nett, aber nicht zwingend erforderlich.
Tatsächlich fand der Auszug aus dem Institut bereits statt. Von dort, wo Stackhouse saß, hatte er einen Blick auf die nicht asphaltierte Straße, auf der man nach Dennison River Bend gelangte, um von dort aus weiter in die südlicher gelegenen Bundesstaaten zu fahren… oder nach Kanada und Mexiko, wenn man einen Reisepass besaß. Zu sich gerufen hatte Stackhouse lediglich Zeke, Chad, Doug den Koch (zwanzig Jahre bei Halliburton) und Dr. Felicia Richardson, die von der Hawk Security Group ins Institut gekommen war. Diesen Leuten konnte er vertrauen.
Was die anderen anging… er hatte zwischen den Bäumen ihre Rücklichter flackern sehen. Zwar hatten sich bisher wohl erst etwa ein Dutzend auf den Weg gemacht, doch dabei würde es nicht bleiben. Bald würden sich im Vorderbau nur noch die paar Kinder aufhalten, die momentan dort untergebracht waren. Vielleicht war das auch schon jetzt der Fall. Aber Zeke, Chad, Doug und Dr. Richardson würden bei der Stange bleiben, die waren loyal. Und Gladys Hickson. Die blieb sicher auch, vielleicht selbst dann, wenn alle anderen fort waren. Gladys war nicht nur eine Kämpfernatur; Stackhouse hatte zunehmend den Eindruck, dass sie regelrecht psychotisch war.
Eigentlich bin ich selbst ein Psycho, wenn ich hierbleibe, dachte er. Aber der kleine Scheißer hat recht – man würde mich aufspüren. Und jetzt tappt er direkt in meine Falle. Es sei denn…
»Es sei denn, er führt mich an der Nase herum«, murmelte Stackhouse.
Rosalind, die Assistentin von Mrs. Sigsby, steckte den Kopf herein. Im Lauf der vergangenen zwölf Stunden hatte ihr normalerweise perfektes Make-up erheblich gelitten, und ihre normalerweise perfekt frisierten grauen Haare standen an den Seiten in die Höhe.
»Mr. Stackhouse?«
»Ja, Rosalind.«
Sie sah ihn beunruhigt an. »Ich glaube, Dr. Hendricks ist weggefahren. Vor etwa zehn Minuten habe ich seinen Wagen gesehen, glaube ich.«
»Das überrascht mich nicht. Sie sollten auch fahren, Rosalind. Nach Hause.« Er lächelte. Es fühlte sich seltsam an, in einer solchen Nacht zu lächeln, doch auf gute Weise. »Mir ist gerade klar geworden, dass ich Sie kenne, seit ich hierhergekommen bin, also seit vielen Jahren, und trotzdem keine Ahnung habe, wo Sie zu Hause sind.«
»In Missoula«, sagte Rosalind, die selbst überrascht aussah. »Das liegt in Montana. Wenigstens nehme ich an, dass ich da noch zu Hause bin. Ich habe ein Haus dort, aber ich bin schon fünf Jahre nicht mehr da gewesen, glaube ich. Ich zahle bloß die Steuern, wenn sie fällig sind. Wenn ich freihabe, bleibe ich im Dorf, und wenn ich mal was anderes sehen will, fahre ich nach Boston. Ich bin ein Fan von den Red Sox und den Bruins, und ich gehe gern in dieses Programmkino in Cambridge. Aber ich bin immer bereit, wieder hierherzukommen.«
Stackhouse wurde klar, dass Rosalind in diesen mehr als fünfzehn Jahren noch nie so viel zu ihm gesagt hatte. Sie war schon das treue Faktotum von Mrs. Sigsby gewesen, als Stackhouse nach seinem Dienst als Kriminalermittler bei der Army ins Institut gekommen war. Jetzt war sie immer noch da und sah auch praktisch immer noch so aus wie damals. Ob sie wohl Mitte sechzig war oder eine gut erhaltene Siebzigerin?
»Sir, hören Sie das summende Geräusch?«
»Ja, das höre ich.«
»Ist das ein Transformator oder so was? Ich hab es jedenfalls noch nie gehört.«
»Ein Transformator. Ja, so könnte man es wohl nennen.«
»Es ist ungeheuer nervtötend.« Sie rieb sich die Ohren, womit sie ihre Haare noch mehr durcheinanderbrachte. »Offenbar wird es von den Kindern erzeugt. Kommt Julia – Mrs. Sigsby – eigentlich wieder? Das tut sie doch, oder etwa nicht?«
Eher amüsiert als verärgert stellte Stackhouse fest, dass die immer so korrekte und unaufdringliche Rosalind die Ohren gespitzt hatte, ob mit oder ohne Summen.
»Ich nehme an, ja.«
»Dann würde ich gerne bleiben. Ich kann nämlich schießen, wissen Sie? Einmal im Monat fahre ich zum Schießstand in die Stadt, manchmal sogar zweimal. Ich hab das Schützenvereinäquivalent vom Scharfschützenabzeichen, und letztes Jahr hab ich den Wettbewerb für kleine Handfeuerwaffen gewonnen.«
Julias unauffällige Assistentin konnte also nicht nur ausgezeichnet stenografieren, sie besaß auch das Scharfschützenabzeichen… oder, wie sie es nannte, das Äquivalent. Wunder gab es doch immer wieder.
»Was für eine Waffe haben Sie denn, Rosalind?«
»Eine Smith & Wesson M&P Kaliber fünfundvierzig.«
»Macht der Rückstoß Ihnen keine Probleme?«
»Dank meiner Handgelenkstütze kann ich ausgezeichnet damit umgehen. Sir… falls Sie die Absicht haben, Mrs. Sigsby aus der Hand ihrer Kidnapper zu befreien, möchte ich sehr gerne daran teilnehmen.«
»In Ordnung«, sagte Stackhouse. »Sie sind dabei. Ich kann jede Hilfe brauchen.« Allerdings würde er sich gut überlegen müssen, wie er Rosalind einsetzte, denn eventuell war es nicht möglich, Julia zu retten. Die war jetzt entbehrlich geworden. Wichtig waren allein der USB-Stick und dieser verfluchte, allzu kluge Junge.
»Danke, Sir. Ich werde Sie nicht enttäuschen.«
»Davon bin ich überzeugt, Rosalind. Ich werde Ihnen jetzt erklären, wie sich das Ganze voraussichtlich abspielen wird, aber zuerst habe ich eine Frage.«
»Ja, bitte?«
»Ich weiß, dass man das als Gentleman niemals fragt und als Dame niemals verrät, aber wie alt sind Sie eigentlich?«
»Achtundsiebzig, Sir.« Die Antwort kam ziemlich prompt, und Rosalind hielt den Blickkontakt aufrecht, aber es war eine Lüge. In Wirklichkeit war Rosalind Dawson bereits einundachtzig.
Viertel vor zwölf.
Die Challenger mit der Aufschrift 940NF am Heck und mit MAINE PAPER INDUSTRIES am Rumpf bewegte sich auf einer Flughöhe von 12000 Metern auf Maine zu. Durch den von hinten kommenden Jetstream schwankte die Geschwindigkeit leicht zwischen 520 und 550 Meilen pro Stunde.
Die Ankunft der Gruppe in Alcolu und der darauffolgende Abflug waren reibungslos verlaufen, vor allem weil Mrs. Sigsby einen VIP-Ausweis des Flughafenbetreibers Regal Air besaß und gern bereit war, diesen am Tor vorzuzeigen. Sie roch eine Chance – immer noch klein, aber vorhanden–, lebend aus der Sache herauszukommen. Die Challenger stand in einsamer Pracht und mit ausgeklappter Gangway auf dem Rollfeld. Nachdem Tim die Gangway eingezogen und die Tür gesichert hatte, hämmerte er mit dem Griff von Tag Faradays Pistole an die geschlossene Cockpittür.
»Ich glaube, wir sind so weit hier hinten. Wenn bei euch alles klar ist, können wir starten.«
Von der anderen Seite der Tür kam keine Antwort, aber die Triebwerke liefen an. Zwei Minuten später waren sie bereits in der Luft. Inzwischen befanden sie sich laut dem Monitor an der Trennwand zum Cockpit irgendwo über West Virginia und hatten DuPray weit hinter sich gelassen. Tim hätte nicht erwartet, so plötzlich abzureisen und schon gar nicht unter derart extremen Umständen.
Evans döste, Luke war in Tiefschlaf versunken. Nur Mrs. Sigsby war noch wach. Sie saß stocksteif da und hatte den Blick auf Tims Gesicht gerichtet. Ihre weit offenen, ausdruckslosen Augen hatten etwas Reptilienhaftes an sich. Womöglich hätte die letzte Schmerztablette von Doc Roper sie schachmatt gesetzt, aber die hatte sie trotz offenkundig ziemlich starken Schmerzen verweigert. Eine ernsthafte Schusswunde war ihr erspart geblieben, aber selbst ein Streifschuss tat mächtig weh.
»Offenbar waren Sie früher bei der Polizei«, sagte sie. »Das sehe ich an Ihrer Körperhaltung und daran, wie Sie reagiert haben – schnell und effizient.«
Tim erwiderte nichts, sondern sah sie nur an. Er hatte die Glock auf den Sitz neben sich gelegt. In zwölftausend Meter Höhe einen Schuss abzufeuern wäre eine ganz schlechte Idee, aber wieso sollte er dazu gezwungen sein, selbst in einer wesentlich geringeren Höhe? Schließlich brachte er dieses Biest genau dahin, wo es hinwollte.
»Ich verstehe überhaupt nicht, weshalb Sie dem Plan zugestimmt haben.« Sie deutete mit dem Kinn auf Luke, der mit seinem lädierten Gesicht und seinem bandagierten Ohr wesentlich jünger als zwölf wirkte. »Wir wissen doch beide, dass er nur seine Freunde retten will, und ich glaube, wir wissen ebenfalls beide, dass sein Plan töricht ist. Genauer gesagt idiotisch. Dennoch haben Sie zugestimmt. Weshalb, Tim?«
Tim sagte nichts.
»Mir ist schon unbegreiflich, dass Sie sich überhaupt eingemischt haben. Wollen Sie mir nicht auf die Sprünge helfen?«
Er hatte nicht die Absicht. Zu den ersten Tipps, die sein Betreuer ihm in seinen vier Monaten Probezeit bei der Polizei gegeben hatte, gehörte: Du befragst Straftäter, lässt aber nie zu, dass sie dich befragen.
Selbst wenn er zum Reden aufgelegt gewesen wäre, hätte er nichts sagen können, was auch nur einigermaßen rational geklungen hätte. Hätte er ihr erklären sollen, dass es reiner Zufall war, dass er sich jetzt in einem exklusiven Flugzeug befand, wie es sonst nur reiche Männer und Frauen von innen zu Gesicht bekamen? Dass er vor einer gefühlten Ewigkeit in einer wesentlich gewöhnlicheren Maschine direkt vor dem Abflug nach New York unvermittelt aufgestanden war und sich bereit erklärt hatte, seinen Sitz für Bares und einen Hotelgutschein zur Verfügung zu stellen? Dass alles – die Fahrt per Autostopp nach Norden, der Verkehrsstau auf der I-95, die Wanderung nach DuPray und der Job als Nachtklopfer – eine Folge dieser einen impulsiven Tat gewesen war? Oder sollte er sagen, das Schicksal hätte es so gewollt? Dass er von der Hand irgendeines kosmischen Schachspielers nach DuPray versetzt worden war, um den jetzt da drüben schlafenden Jungen vor Leuten zu retten, die ihn gekidnappt hatten und sich sein außergewöhnliches Gehirn zunutze machen wollten, bis es aufgebraucht war? Und wenn es sich so verhielt, was waren dann Sheriff John, Tag Faraday, George Burkett, Frank Potter und Bill Wicklow? Nur Bauern, die bei einem großen Spiel geopfert werden mussten? Und welche Schachfigur war er selbst? Er hätte sich ja gern für einen Turm gehalten, aber wahrscheinlich war auch er nur ein Bauer.
»Wollen Sie nicht doch die letzte Schmerztablette nehmen?«, fragte er.
»Sie haben nicht vor, meine Frage zu beantworten, nicht wahr?«
»Nein, Ma’am, das habe ich tatsächlich nicht vor.« Tim drehte den Kopf, um in die weite Dunkelheit hinauszublicken. Tief unter ihm funkelten einige Lichter wie Glühwürmchen am Grunde eines Brunnenschachts.
Mitternacht.
Das kastenförmige Spezialhandy gab sein heiseres Krächzen von sich. Stackhouse hob ab. Die Stimme am anderen Ende gehörte einem momentan nicht im Dienst befindlichen Pfleger namens Ron Church. Der angeforderte Van stehe am Flughafen, berichtete Church. Denise Allgood, eine ebenfalls gerade nicht Dienst tuende MTA (obwohl jetzt eigentlich alle im Dienst sein sollten), war Church mit einem Pkw des Instituts gefolgt. Nachdem Church den Van abgestellt hatte, hätte er eigentlich mit Denise ins Institut kommen sollen, aber die beiden waren miteinander verbandelt, was Stackhouse bekannt war. Es war schließlich seine Aufgabe, Bescheid zu wissen. Deshalb war anzunehmen, dass Ron und Denise sich nach erledigter Aufgabe woandershin begeben würden anstatt hierher. Das war in Ordnung. Obgleich es traurig war, wie viele desertierten, war es vielleicht am besten so. Es war an der Zeit, einen Schlussstrich unter die Operation zu ziehen. Zum letzten Akt würden genügend von seinen Leuten dableiben, und das war alles, worauf es ankam.
Luke und sein Freund Tim waren erledigt, da war Stackhouse sich absolut sicher. Dem lispelnden Mann am anderen Ende des Nullfons würde das entweder ausreichen oder nicht. Das lag nicht mehr in seiner Hand, was in gewisser Hinsicht eine Erleichterung war. Wahrscheinlich hatte er diese fatalistische Ader seit seinen Tagen im Irak und in Afghanistan wie ein schlummerndes Virus mit sich herumgetragen und erst jetzt als solches erkannt. Er würde tun, was ihm möglich war, mehr konnte man von niemand verlangen. Die Hunde bellten, und die Karawane zog weiter.
Es klopfte an der Tür, und im nächsten Moment blickte Rosalind herein. Sie hatte etwas mit ihren Haaren gemacht, was eine Verbesserung darstellte. Weniger sicher war er sich im Hinblick auf das Schulterholster, das sie jetzt trug. Damit sah sie so surreal aus wie ein Hund mit einem Partyhut.
»Gladys ist da, Mr. Stackhouse.«
»Schicken Sie sie rein.«
Gladys trat durch die Tür. Unter ihrem Kinn baumelte eine Gasmaske; ihre Augen waren gerötet. Da sie bestimmt nicht geweint hatte, stammte die Reizung wohl von dem Gebräu, das sie zusammengemischt hatte. »Das Zeug ist fertig«, sagte sie. »Ich muss nur noch den WC-Reiniger hinzufügen. Sobald Sie die Anweisung erteilen, Mr. Stackhouse, vergasen wir die da unten.« Sie schüttelte kurz und heftig den Kopf. »Ich kann es kaum erwarten. Dieses Summen treibt mich in den Wahnsinn.«
So wie du aussiehst, ist da nicht mehr viel nötig, dachte Stackhouse, aber was das Summen anging, hatte sie recht. Man konnte sich einfach nicht daran gewöhnen. Gerade wenn man dachte, es geschafft zu haben, schwoll es an – wenn auch eigentlich nicht in den Ohren, sondern im Kopf. Um anschließend urplötzlich wieder auf seinen früheren, etwas erträglicheren Pegel abzusinken.
»Ich hab gerade mit Felicia gesprochen«, sagte Gladys. »Mit Dr. Richardson, meine ich. Sie beobachtet die da unten auf ihrem Monitor und sagt, dass das Summen stärker wird, wenn sie sich an den Händen nehmen, und abnimmt, wenn sie sich wieder loslassen.«
Darauf war Stackhouse bereits von allein gekommen. Dazu musste man kein Genie sein, wie man so sagte.
»Wann ist es so weit, Sir?«
Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich denke, in etwa drei Stunden. Die Ventilatoren befinden sich auf dem Dach, nicht wahr?«
»Ja.«
»Vielleicht kann ich Sie anrufen, wenn es an der Zeit ist, Gladys, aber es könnte sein, dass ich das nicht schaffe. Wahrscheinlich wird alles sehr schnell gehen. Sobald Sie hören, dass vor dem Verwaltungsgebäude Schüsse fallen, speisen Sie das Chlorgas ein, egal ob Sie was von mir hören oder nicht. Und dann machen Sie, dass Sie wegkommen. Gehen Sie dort nicht wieder rein, laufen Sie einfach auf dem Dach zum Ostflügel vom Vorderbau. Verstanden?«
»Ja, Sir!« Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Dasjenige, das alle Kinder hassten.
Halb eins.
Während Kalisha die Kinder aus Station A beobachtete, dachte sie an die Marching Band der Ohio State University. Ihr Dad war ein großer Fan vom dortigen Footballteam, den Buckeyes, weshalb sie mit ihm immer die Spiele angeschaut hatte, allerdings nur, um bei ihm zu sein. Das Einzige, was ihr wirklich gefallen hatte, war die Show in der Halbzeitpause, wenn die Band (»Die Ziiiierde der Buckeyes!«, rief der Stadionsprecher bei jeder Gelegenheit) aufs Spielfeld marschierte. Dabei spielten die Mitglieder nicht nur ihre Instrumente, sondern bildeten auch Formen, die nur von oben sichtbar waren – zum Beispiel das S auf der Brust von Superman oder einen fantastischen Dino wie aus Jurassic Park, der umherging und mit seinem Saurierkopf nickte.
Die Kinder aus Station A hatten keine Musikinstrumente, und wenn sie sich an den Händen fassten, bildeten sie immer nur einen ganz normalen Kreis – unregelmäßig, weil der Tunnel so eng war–, doch das taten sie mit derselben… es gab einen Ausdruck dafür…
»Synchronizität«, sagte Nicky.
Verblüfft drehte sie sich nach ihm um. Er grinste sie an und strich die Haare zurück, damit sie einen besseren Blick auf seine Augen hatte, die – zugegeben – ziemlich faszinierend waren.
»Das ist selbst für ’nen weißen Jungen ein ziemlich anspruchsvolles Wort.«
»Hab ich von Luke.«
»Hörst du den etwa? Stehst du in Kontakt mit ihm?«
»Irgendwie schon. Mal mehr, mal weniger. Ist schwer zu sagen, was meine Gedanken sind und was seine. Als ich geschlafen hab, war es besser. Wenn ich wach bin, kommen mir meine eigenen Gedanken in die Quere.«
»Wie eine Interferenz?«
Nicky zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich. Aber wenn du dich öffnest, kannst du ihn bestimmt auch hören. Übrigens kommt er besser durch, wenn die da gerade einen Kreis bilden.« Er deutete mit dem Kinn auf die Kinder aus Station A, die ihre ziellose Wanderung wiederaufgenommen hatten. Jimmy und Donna gingen nebeneinander und ließen die verschränkten Hände schwingen. »Willst du’s versuchen?«
Kalisha bemühte sich, nicht mehr zu denken. Zuerst fiel ihr das erstaunlich schwer, aber wenn sie dem Summen lauschte, wurde es leichter. Das Summen war wie eine Mundspülung, nur für das Gehirn.
»Was ist so lustig, Sha?«
»Nichts.«
»Oh, hab’s kapiert«, sagte Nicky. »Hirnspülung statt Mundspülung. Find ich cool.«
»Ich kriege was mit, aber nicht besonders viel. Vielleicht schläft Luke gerade.«
»Gut möglich. Aber ich glaube, er wird bald aufwachen. Weil wir wach sind.«
»Synchronizität«, sagte sie. »Was für ein krasses Wort. Passt gut zu ihm. Weißt du noch, wie er die Münzen genannt hat, die sie uns für die Automaten gegeben haben? Die wären eine Gratifikation. Auch ein krasses Wort.«
»Luke ist speziell, und das liegt daran, dass er so klug ist.« Nicky warf einen Blick auf Avery, der sich an Helen lehnte. Beide schliefen tief und fest. »Und der Avester ist deshalb speziell, weil er… tja…«
»Weil er Avery ist.«
»Genau.« Nicky grinste. »Trotzdem haben diese Idioten seinen Motor getunt, ohne einen Regler einzubauen.« Sein Lächeln war – zugegeben – genauso faszinierend wie seine Augen. »Die beiden haben uns irgendwie gemeinsam dahin gebracht, wo wir jetzt sind. Luke ist wie die Schokohülle, Avery wie die Füllung. Einer von beiden allein hätte nichts verändert. Zusammen sind sie die Eisbombe, die alles hier in die Luft sprengen wird.«
Kalisha lachte. Das war eine dämliche, aber ziemlich passende Beschreibung. Zumindest hoffte sie das. »Trotzdem stecken wir immer noch fest. Wie Ratten in einem zugestöpselten Rohr.«
Seine blauen Augen blickten in ihre braunen. »Nicht mehr lange, wie du sicher weißt.«
»Wir werden sterben, oder?«, sagte sie. »Wenn sie uns nicht vergasen, dann…« Sie warf einen Blick auf die Kinder aus Station A, die wieder einen Kreis bildeten. Das Summen schwoll an, die Deckenlampen wurden heller. »Es wird so weit sein, wenn die da richtig loslegen. Gemeinsam mit den anderen, wo immer die sind.«
Das Telefon, dachte sie in seine Richtung. Das große Telefon.
»Wahrscheinlich«, sagte Nicky. »Luke meint, wir werden alles über denen da oben zusammenkrachen lassen, wie Samson den Tempel auf die Philister stürzen ließ. Die Geschichte kenne ich zwar nicht – in meiner Familie hat sich keiner für die Bibel interessiert–, aber ich kapiere, was gemeint ist.«
Kalisha kannte die Geschichte und erschauderte. Als ihr Blick wieder auf Avery fiel, dachte sie an etwas anderes aus der Bibel: Ein kleiner Knabe wird sie leiten.
»Kann ich dir mal was sagen?«, fragte Kalisha. »Wahrscheinlich lachst du mich aus, aber das ist mir egal.«
»Nur zu!«
»Ich will, dass du mich küsst.«
»Das ist aber keine schwere Aufgabe«, sagte Nicky. Er strahlte.
Sie beugte sich zu ihm, er beugte sich ihr entgegen, und dann küssten sie sich mitten im Summen.
Das ist aber schön, dachte Kalisha. Ich hab’s mir schon so vorgestellt, und es ist wirklich schön.
Sogleich kam Nickys Gedanke zu ihr, getragen vom Summen: Machen wir’s doch gleich noch einmal. Mal sehen, ob das doppelt so schön ist.
Zehn vor zwei.
Die Challenger setzte auf der Landebahn eines Privatflugplatzes auf, der sich im Besitz einer Briefkastenfirma namens Maine Paper Industries befand. Dann rollte die Maschine auf ein kleines, dunkles Gebäude zu. Als sie sich ihm näherte, ließ ein Bewegungsmelder drei Scheinwerfer auf dem Dach aufflammen. Ihr Licht fiel auf ein kastenförmiges Bodenstromaggregat und einen hydraulischen Containerstapler. Daneben wartete keine Familienkutsche, sondern ein neunsitziger Chevrolet Suburban, schwarz mit getönten Fenstern. Orphan Annie wäre begeistert gewesen.
Sobald die Challenger in der Nähe des Wagens gestoppt hatte, verstummten die Triebwerke. Einen Moment war Tim sich diesbezüglich nicht ganz sicher, denn er hörte ein leises Summen.
»Das kommt nicht vom Flugzeug«, sagte Luke. »Das sind die Kids. Je näher wir ihnen sind, desto stärker wird es.«
Tim ging nach vorn, legte den großen roten Hebel um, mit dem man die Tür öffnete, und klappte die Gangway aus. Deren Ende kam gut einen Meter vor der Fahrertür des Suburbans auf dem Asphalt auf.
»Okay«, sagte er, während er zu den anderen zurückging. »Da sind wir. Aber bevor wir aussteigen, Mrs. Sigsby, habe ich noch was für Sie.«
Auf dem Konferenztisch der Maschine hatte er einen Stapel Hochglanzbroschüren mit den verschiedenen Wundertaten der inexistenten Maine Paper Industries entdeckt, dazu ein halbes Dutzend Basecaps mit dem Namen des Pseudounternehmens. Eine Kappe reichte er Mrs. Sigsby, eine zweite hatte er für sich selbst reserviert.
»Setzen Sie die auf, und ziehen Sie sie in die Stirn. Sie haben kurze Haare, da sollten alle drunterpassen.«
Mrs. Sigsby betrachtete die Mütze mit Widerwillen. »Wozu?«
»Sie steigen als Erste aus. Falls uns jemand auflauert, wäre es mir lieb, wenn Sie die Schüsse abkriegen.«
»Wieso sollte man denn jemand hierherschicken, wo wir doch dort hinfahren?«
»Da das zugegebenermaßen unwahrscheinlich ist, haben Sie sicher nichts dagegen, die Erste zu sein.« Tim setzte ebenfalls seine Basecap auf, nur andersherum, sodass das verstellbare Band sich über seine Stirn spannte. Luke fand, dass er zu alt dafür war – das war etwas für Kids–, aber er hielt den Mund. Vielleicht wollte Tim sich damit ja hochputschen.
»Evans«, fuhr Tim fort. »Sie gehen direkt hinter ihr.«
»Nein«, sagte Dr. Evans. »Ich werde dieses Flugzeug nicht verlassen. Ich bin nicht mal sicher, ob ich das überhaupt könnte. Mein Fuß tut viel zu weh. Ich kann ihn überhaupt nicht belasten.«
Tim überlegte einen Moment, dann sah er Luke an. »Was meinst du dazu?«
»Er sagt die Wahrheit«, antwortete Luke. »Er müsste die Treppe runterhüpfen, und die ist steil. Nicht dass er runterfällt.«
»Eigentlich hätte ich gar nicht dabei sein dürfen«, sagte Dr. Evans. Aus seinem linken Auge quoll eine dicke Träne. »Schließlich bin ich Mediziner!«
»Sie sind ein medizinisches Monster«, sagte Luke. »Sie haben zugesehen, wie Kinder beinahe ertrunken sind – und dabei dachten, sie würden wirklich ertrinken–, und Sie haben sich Notizen gemacht. Manche Kinder sind durch eine extreme Reaktion auf die Spritzen, die sie von Ihnen und Hendricks bekommen haben, tatsächlich gestorben. Und die, die überlebt haben, hatten kein richtiges Leben mehr, oder? Ich sag Ihnen was, ich würd Ihnen gern auf den Fuß da treten. Richtig den Absatz reinbohren.«
»Nein!«, kreischte Evans. Er kauerte sich in den Sitz und zog den geschwollenen Fuß hinter den anderen.
»Luke!«, sagte Tim.
»Keine Angst«, sagte Luke. »Ich würd’s zwar wirklich gern, aber ich tu’s nicht. Sonst wäre ich ja wie der da.« Er sah Mrs. Sigsby an. »Aber Sie haben keine andere Wahl. Stehen Sie auf, und steigen Sie die Treppe da runter!«
Mrs. Sigsby setzte die Basecap auf und erhob sich mit so viel Würde, wie sie zustande brachte. Luke wollte ihr folgen, aber Tim hielt ihn zurück. »Du gehst hinter mir. Weil du am wichtigsten bist.«
Luke widersprach ihm nicht.
Auf der obersten Treppenstufe blieb Mrs. Sigsby stehen und hob die Hände in die Luft. »Ich bin’s, Mrs. Sigsby! Falls jemand da unten ist, bloß nicht schießen!«
Luke fing klar auf, was Tim dachte: So sicher, wie sie behauptet hat, ist sie sich nicht.
Niemand reagierte; kein äußeres Geräusch außer von den Grillen, kein inneres Geräusch außer dem leisen Summen. Langsam stieg Mrs. Sigsby die Gangway hinab, wobei sie sich am Geländer festhielt, um ihr verwundetes Bein zu schonen.
Tim klopfte mit dem Pistolengriff an die Tür des Cockpits. »Danke, meine Herren. Es war ein guter Flug. Einen Passagier haben Sie übrigens noch an Bord. Schaffen Sie ihn hin, wohin Sie wollen.«
»Am besten in die Hölle«, sagte Luke. »One-Way, ohne Rückflugticket.«
Als Tim auf die Gangway trat, machte er sich auf einen Schuss gefasst – schließlich hatte er nicht erwartet, dass Mrs. Sigsby sich lautstark zu erkennen gab. Das hätte er natürlich tun sollen, aber es kam ohnehin kein Schuss.
»Auf den Beifahrersitz«, sagte er zu Mrs. Sigsby. »Luke, du setzt dich direkt hinter sie. Ich hab zwar die Pistole, aber du musst mir Deckung geben. Falls sie versucht, mir in die Quere zu kommen, wendest du einen von deinen mentalen Tricks an. Verstanden?«
»Klar«, sagte Luke und stieg hinten ein.
Mrs. Sigsby setzte sich und legte den Gurt an. Als sie die Hand ausstreckte, um die Tür zu schließen, schüttelte Tim den Kopf. »Noch nicht.« Er ließ eine Hand auf der Türkante liegen, während er Wendy anrief, die sicher und geborgen in ihrem Zimmer in der Econo Lodge in Beaufort wartete.
»Der Adler ist gelandet.«
»Wie läuft es?« Die Verbindung war so gut, als stünde Wendy neben ihm. Das wünschte er sich kurz sogar, bis ihm einfiel, wohin sie wollten.
»Bisher prima. Bleib wach. Ich ruf dich an, sobald es vorüber ist.«
Falls ich das dann noch kann, dachte er. Anschließend ging er zur anderen Seite des Wagens und stieg ein. Der Schlüssel lag im Becherhalter. Er nickte Mrs. Sigsby zu. »Jetzt können Sie die Tür zumachen.«
Während sie das tat, warf sie ihm einen verächtlichen Blick zu und sagte genau das, was Luke vorher gedacht hatte: »Wenn Sie die Mütze so rum tragen, sehen Sie bemerkenswert dämlich aus, Mr. Jamieson.«
»Was soll ich sagen, ich bin Eminem-Fan. Und Sie halten jetzt die Klappe.«
Im dunklen Terminal von Maine Paper Industries kniete ein Mann am Fenster und beobachtete, wie die Scheinwerfer des Suburbans aufflammten und dieser auf das offene Tor zurollte. Es handelte sich um Irwin Mollison, einen arbeitslosen Sägewerksarbeiter, der zu den vielen Zuträgern des Instituts im Umkreis von Dennison River Bend gehörte. Stackhouse hätte zwar Ron Church befehlen können zu bleiben, wusste jedoch aus Erfahrung, dass es eine schlechte Idee war, Leuten einen Befehl zu erteilen, die ihn eventuell missachten würden. Da war es besser, jemand zu nehmen, der sich nur ein Taschengeld dazuverdienen wollte.
Mollison wählte eine Nummer, die er auf seinem Handy eingespeichert hatte. »Sie sind unterwegs«, sagte er. »Ein Mann, eine Frau und ein Junge. Die Frau trägt eine Mütze auf dem Kopf, daher konnte ich ihr Gesicht nicht sehen, aber sie hat sich in die Tür vom Flugzeug gestellt und ihren Namen gebrüllt. Mrs. Sigsby. Der Mann hat auch eine Mütze auf, bloß mit dem Schirm nach hinten. Und der Junge ist der, den Sie suchen. Hat einen Verband am Ohr und einen brutalen blauen Fleck an der Seite vom Gesicht.«
»Gut«, sagte Stackhouse. Er hatte bereits einen Anruf vom Kopiloten der Challenger erhalten, der ihm berichtet hatte, dass Dr. Evans noch in der Maschine sitze. Was okay war.
Bisher war alles okay… jedenfalls soweit das unter den gegebenen Umständen möglich war. Der Bus stand wie gefordert am Fahnenmast. Doug den Koch und Chad den Pfleger wollte Stackhouse dort zwischen den Bäumen gegenüber vom Verwaltungsgebäude postieren, wo die Einfahrt des Instituts anfing. Zeke Ionidis und Felicia Richardson würden ihren Posten auf dem Dach des Verwaltungsgebäudes beziehen, hinter einer Brüstung verborgen, bis es losging. Gladys sollte das Gift in das Belüftungssystem einspeisen und sich dann in Sicherheit bringen. Die beiden Positionen der Schützen ermöglichten ein klassisches Kreuzfeuer, wenn der Suburban sich näherte – so lautete zumindest die Theorie. Wenn Stackhouse neben dem Fahnenmast stand, die Hand auf die Kühlerhaube vom Bus gelegt, würde er mindestens dreißig Meter von den sich kreuzenden Geschossen entfernt sein. Es bestand zwar ein gewisses Risiko, von einem Querschläger getroffen zu werden, aber das war akzeptabel.
Rosalind würde er anweisen, in Ebene F vor der Tür zum Tunnel Wache zu halten. Schließlich sollte sie keine Chance haben zu sehen, wie ihre langjährige, geliebte Chefin mitten in den Kugelhagel geriet, aber das war nicht der einzige Grund. Stackhouse wusste genau, dass das konstante Summen eine bestimmte Kraft darstellte. Vielleicht war die noch nicht stark genug, die Tür aufzubrechen, aber das war nicht sicher. Womöglich warteten die da unten nur, bis ihr kleiner Freund Ellis eintraf, damit sie von hinten angreifen und dasselbe Chaos verursachen konnten, das sie im Hinterbau angerichtet hatten. Die Rüben hatten zwar nicht mehr genügend Hirn, sich so etwas auszudenken, aber da waren ja noch die anderen. Falls das also geschah, würde Rosalind mit ihrer Smith & Wesson dastehen, und die Ersten, die durch die Tür kamen, würden sich wünschen, dahinter geblieben zu sein. Hoffentlich würde dieser verfluchte Wilholm den Angriff leiten.
Ob ich wohl bereit für das bin, was jetzt geschehen wird, fragte er sich, und die Antwort schien ja zu lauten. So bereit, wie er sein konnte. Vielleicht lief ja doch alles glatt. Die von außen kommende Gefahr bestand schließlich nur aus Ellis. Aus einem Kind und irgendeinem irregeleiteten Helden, den dieses Kind unterwegs aufgegabelt hatte. In etwa neunzig Minuten würde der ganze Schwachsinn vorüber sein.
Drei Uhr. Das Summen war jetzt lauter.
»Stopp«, sagte Luke. »Hier abbiegen.« Er deutete auf einen von riesigen alten Tannen beschirmten Waldweg, dessen Mündung kaum sichtbar war.
»Bist du da langgekommen, als du geflohen bist?«, fragte Tim.
»Um Himmels willen, nein. Sonst hätten sie mich geschnappt.«
»Woher weißt du dann…«
»Die da weiß es«, sagte Luke. »Und weil sie es weiß, weiß ich es auch.«
Tim wandte sich an Mrs. Sigsby. »Kommt irgendwo ein Tor?«
»Fragen Sie doch ihn.« Sie spuckte die Worte geradezu aus.
»Kein Tor«, sagte Luke. »Nur ein großes Schild, auf dem was von einer Experimentalstation von Maine Paper Industries steht. Und dass der Zutritt verboten ist.«
Über den zutiefst frustrierten Ausdruck auf dem Gesicht von Mrs. Sigsby musste Tim lächeln. »Der Junge sollte mal zur Polizei gehen, meinen Sie nicht, Mrs. Sigsby? Der würde jedes Alibi durchschauen.«
»Fahren Sie nicht da hin«, sagte sie. »Sonst wird man uns alle drei umbringen. Stackhouse macht vor nichts halt.« Sie blickte Luke über die Schulter hinweg an. »Du kannst Gedanken lesen, daher weißt du, dass ich die Wahrheit sage, also mach ihm das klar.«
Luke sagte nichts.
»Wie weit ist es denn noch bis zu Ihrem Institut?«, fragte Tim.
»Zehn Meilen«, sagte Mrs. Sigsby. »Vielleicht ein bisschen mehr.« Offenbar hatte sie mittlerweile kapiert, dass es sinnlos war, querzuschießen.
Tim bog ab. Sobald sie die großen Bäume hinter sich gelassen hatten, deren Zweige über das Dach und die Seiten des Wagens strichen, war der Weg eben und gut in Schuss. Der zu drei Vierteln volle Mond schien durch die Lücken im Wald und färbte den Boden knochenbleich. Tim schaltete die Scheinwerfer aus und fuhr weiter.
Zwanzig nach drei.
Um Kalishas Handgelenk schlossen sich die kalten Finger von Avery Dixon. Sie hatte gedöst, an Nickys Schulter gelehnt. Jetzt hob sie den Kopf. »Ja, Avester?«
Weck sie auf. Helen und George und Nicky. Weck die alle auf.
»Warum…«
Wenn du überleben willst, weckst du sie auf. Es ist bald so weit.
Nicky Wilholm war bereits wach. »Können wir denn überhaupt überleben?«, fragte er. »Hältst du das für möglich?«
»Ich höre euch da drin!« Das war die Stimme von Rosalind auf der anderen Seite der Tür. Sie klang nur leicht gedämpft. »Worüber redet ihr da? Und wieso summt ihr?«
Während Kalisha George und Helen wach rüttelte, sah sie die farbigen Blitze wieder. Die waren zwar schwach, aber sie waren da. Sie sausten an den Tunnelwänden auf und ab wie Kinder auf einer Rutsche, was ganz gut passte, denn in gewisser Weise waren es ja Kinder, oder etwa nicht? Beziehungsweise das, was von denen übrig geblieben war. Es waren sichtbar gewordene Gedanken, die zwischen den umherwandernden Kindern aus Station A herumhüpften, im Kreis sausten, tanzten und Pirouetten drehten. Und sahen diese Kinder jetzt nicht lebendiger aus? Wenigstens ein bisschen? Den Eindruck hatte Kalisha, aber vielleicht war das bloß Einbildung. Oder Wunschdenken. Im Institut gewöhnte man sich Wunschdenken an. Man lebte geradezu davon.
»Ich hab nämlich eine Pistole!«
»Ich auch, Lady«, sagte George. Er fasste sich in den Schritt, dann wandte er sich an Avery. Was läuft, du Miniboss?
Avery blickte einen nach dem anderen an, und Kalisha sah, dass er weinte. Dabei wurde ihr so flau im Magen, als ob sie etwas Schlechtes gegessen hätte und sich übergeben müsste.
Wenn es so weit ist, müsst ihr ganz schnell los.
Helen: Wenn was so weit ist, Avery?
Wenn ich zum großen Telefon greife.
Nicky: Mit wem willst du denn sprechen?
Mit den anderen Kids. Mit denen, die weit weg sind.
Kalisha deutete mit dem Kinn auf die Tür. Die Frau da draußen ist bewaffnet.
Avery: Darüber müsst ihr euch keine Sorgen machen. Lauft einfach los. Ihr alle.
»Wir«, sagte Nicky. »Wir, Avery. Wir laufen gemeinsam los.«
Avery schüttelte den Kopf. Kalisha versuchte, in diesen Kopf einzudringen, um herauszufinden, was da drin vor sich ging und was Avery wusste, doch alles, was sie fand, waren vier Wörter, die sich unablässig wiederholten.
Ihr seid meine Freunde. Ihr seid meine Freunde. Ihr seid meine Freunde.
»Sie sind seine Freunde, aber er kann nicht mit ihnen rausgehen«, sagte Luke.
»Wer kann nicht mit wem rausgehen?«, fragte Tim. »Von wem redest du da?«
»Von Avery. Der muss dableiben. Er ist derjenige, der mit dem großen Telefon anrufen muss.«
»Ich hab keine Ahnung, was das bedeuten soll, Luke.«
»Ich will sie rausholen, aber ihn auch!«, rief Luke. »Ich will sie alle retten! Das ist nicht fair!«
»Er ist wahnsinnig«, sagte Mrs. Sigsby. »Allmählich muss Ihnen doch klar sein, dass…«
»Schnauze!«, sagte Tim. »Das war die letzte Verwarnung!«
Sie drehte den Kopf, sah seinen Gesichtsausdruck und gehorchte.
Tim lenkte den Wagen langsam über eine Kuppe und stoppte. Ein Stück weiter vorn wurde der Weg breiter. Zwischen den Bäumen sah er Lichter und den dunklen Umriss eines Gebäudes.
»Ich glaube, wir sind da«, sagte er. »Luke, ich weiß zwar nicht, was gerade mit deinen Freunden geschieht, aber das haben wir nicht in der Hand. Trotzdem musst du dich jetzt zusammennehmen. Schaffst du das?«
»Ja«, sagte Luke heiser. Er räusperte sich und versuchte es noch einmal. »Ja. Okay.«
Tim stieg aus, ging zur Beifahrertür und zog sie auf.
»Was nun?«, fragte Mrs. Sigsby. Sie klang verdrossen und ungeduldig, doch selbst in dem schwachen Licht sah Tim, dass sie Angst hatte. Wofür es gute Gründe gab.
»Steigen Sie aus. Den restlichen Weg sitzen Sie am Steuer. Ich setze mich nach hinten zu Luke, und falls Sie irgendwelche Tricks versuchen sollten, wie beispielsweise an einen Baum zu fahren, bevor wir zu den Lichtern da kommen, schieße ich durch die Lehne direkt in Ihre Wirbelsäule.«
»Nein. Nein!«
»Doch. Wenn es stimmt, was Sie den Kindern angetan haben, dann haben Sie eine gewaltige Schuld auf sich geladen. Die ist jetzt fällig. Steigen Sie aus, setzen Sie sich ans Lenkrad und fahren Sie los. Langsam. Schritttempo.« Er machte eine kurze Pause. »Und drehen Sie den Mützenschirm nach hinten.«
Andy Fellowes rief aus dem EDV- und Überwachungsraum an. Seine Stimme klang schrill und aufgeregt. »Sie sind da, Mr. Stackhouse! Sie haben etwa hundert Meter vor der Stelle angehalten, wo die Straße zur Einfahrt wird! Die Scheinwerfer sind ausgeschaltet, aber das Licht vom Mond und von den Fenstern hier reicht aus, dass man was sehen kann. Soll ich Ihnen das Bild auf den Monitor schicken, damit Sie selbst…«
»Nicht nötig.« Stackhouse warf das Festnetztelefon auf den Tisch, bedachte das Nullfon mit einem letzten Blick – es hatte sich nicht gemeldet, Gott sei Dank – und eilte zur Tür. Sein Funkgerät steckte in der Hosentasche, auf die höchste Stufe gedreht und mit dem Knopf in seinem Ohr verbunden. Alle seine Leute hatten denselben Kanal eingestellt.
»Zeke?«
»Bin da, Chef. Mit Dr. Richardson.«
»Doug? Chad?«
»Auf dem Posten.« Das war Doug der Koch. Der sich an besseren Tagen gelegentlich beim Abendessen zu den Kindern gesetzt und ihnen Zaubertricks vorgeführt hatte, bei denen die Kleineren gelacht hatten. »Wir sehen schon das Fahrzeug. Ein schwarzer Neunsitzer. Suburban oder Tahoe, stimmt’s?«
»Stimmt. Gladys?«
»Auf dem Dach, Mr. Stackhouse. Das Zeug ist bereit. Muss nur noch die Zutaten mischen.«
»Fangen Sie an, falls Sie Schüsse hören.« Wobei die Frage jetzt nicht mehr lautete, ob das passieren würde, sondern nur wann, und bis dahin waren es jetzt sicher nur noch drei oder vier Minuten. Vielleicht weniger.
»Alles klar«, sagte Gladys.
»Rosalind?«
»Auf meinem Posten. Das Summen ist sehr laut hier unten. Ich glaube, die hecken was aus.«
Daran zweifelte Stackhouse nicht, aber lange würden sie das nicht mehr tun. Sie würden nämlich zu sehr damit beschäftigt sein zu ersticken. »Halten Sie durch, Rosalind. Bald sitzen Sie wieder in Boston bei einem Red-Sox-Spiel.«
»Wie wär’s, wenn Sie mitkommen, Sir?«
»Nur wenn ich die Yankees anfeuern darf.«
Stackhouse trat ins Freie. Nach dem heißen Tag war die Nachtluft angenehm kühl. Er spürte, wie ihn eine Welle der Zuneigung für sein Team überkam. Für alle diejenigen, die bei ihm geblieben waren. Die würden auf jeden Fall belohnt werden, wenn er da etwas mitzureden hatte. Es war eine schwere Pflicht, und sie waren dageblieben, um sie zu erfüllen. Der Mann am Lenkrad des Suburbans hatte sich in die Irre führen lassen. Er begriff nicht – konnte es gar nicht begreifen–, dass das Leben von allen Menschen, die er je geliebt hatte, davon abhing, was hier im Institut geleistet worden war. Allerdings war es damit jetzt vorbei. Und der irregeleitete Held konnte nur noch sterben.
Stackhouse ging auf den Schulbus zu, der am Fahnenmast stand, und meldete sich zum letzten Mal bei seiner Truppe. »Schützen, ihr konzentriert euch zuerst auf den Fahrer, verstanden? Auf den, der seine Mütze mit dem Schirm nach hinten trägt. Anschließend bestreicht ihr das ganze verfluchte Ding von vorne bis hinten. Zielt hoch auf die Fenster, und zertrümmert die Scheiben, damit ihr die Köpfe erwischt. Bitte bestätigen!«
Das taten sie.
»Eröffnet das Feuer aber erst, wenn ich die Hand hebe. Ich wiederhole, wenn ich die Hand hebe.«
Er stellte sich vor den Bus und legte die rechte Hand auf das kühle, mit Tautropfen überzogene Blech. Mit der Linken ergriff er den Fahnenmast. Dann wartete er.
»Losfahren«, sagte Tim. Er duckte sich hinter dem Fahrersitz auf den Boden. Luke lag unter ihm.
»Bitte zwingen Sie mich nicht dazu«, sagte Mrs. Sigsby. »Wenn ich Ihnen nur endlich erklären dürfte, weshalb dieser Ort so wichtig ist…«
»Losfahren.«
Sie fuhr los. Die Lichter kamen näher. Jetzt konnte Mrs. Sigsby den Bus sehen und den Fahnenmast. Und Trevor, der dazwischenstand.
Es ist so weit, sagte Avery.
Er hatte sich darauf gefasst gemacht, Angst zu haben, da er dauernd Angst hatte, seit er in einem Zimmer aufgewacht war, das wie sein Zimmer zu Hause aussah, es aber nicht war. Und nachdem er von Harry Cross zu Boden gestoßen worden war, hatte er noch mehr Angst bekommen. Jetzt aber hatte er keine mehr. Er fühlte sich regelrecht beschwingt. Seine Mutter hatte beim Putzen immer ein Lied auf der Stereoanlage gehört, und jetzt fiel ihm eine Zeile davon ein: I shall be released.
Er ging zu den Kindern aus Station A hinüber, die bereits einen Kreis bildeten. Kalisha, Nicky, George und Helen folgten ihm. Avery streckte die Hände zur Seite aus. Kalisha ergriff die eine, Iris die andere – die arme Iris, die sie vielleicht hätten retten können, wenn es nur einen Tag früher so weit gewesen wäre.
Die Frau, die vor der Tür Wache stand, rief etwas, eine Frage, aber die ging im Summen verloren. Die Blitze tauchten auf, jetzt nicht mehr matt, sondern hell, und sie wurden immer heller. Bald füllten die Stass-Lichter das Zentrum des Kreises; sie drehten sich spiralförmig wie die Streifen auf einer Friseurstange, sie stiegen auf und nieder, als kämen sie aus einem tief in der Erde verborgenen Kraftort, wohin sie immer wieder zurückkehrten, um erneut emporzusteigen, erfrischt und stärker denn je.
MACHT DIE AUGEN ZU.
Das war kein bloßer Gedanke mehr, sondern ein gewaltiger Ruf, vom Summen getragen.
Avery blickte in die Runde, um sich zu vergewissern, dass die anderen ihm gehorchten, dann schloss er selbst die Augen. Er hätte erwartet, sein Zimmer zu Hause zu sehen oder vielleicht den Garten mit der Schaukel und dem aufblasbaren Pool, den sein Vater immer Ende Mai aufpumpte, doch das tat er nicht. Was er hinter seinen geschlossenen Augen sah – was sie alle sahen–, war der Spielplatz des Instituts. Vielleicht hätte ihn das nicht überraschen sollen, denn dort war er zwar zu Boden gestoßen worden und hatte weinen müssen, was ein schlechter Anfang für diese letzten Wochen seines Lebens gewesen war, aber außerdem hatte er Freunde gewonnen, und zwar gute. Zu Hause hatte er keinerlei Freunde gehabt. In der Schule hatten sie ihn für einen Spinner gehalten und sich sogar über seinen Namen lustig gemacht, indem sie auf ihn zugerannt kamen und ihm he, Avery, du kleiner Cleverly ins Gesicht riefen. Hier war so etwas nie passiert, weil sie hier alle gemeinsam in der Falle saßen. Hier hatten seine Freunde für ihn gesorgt, sie hatten ihn wie einen ganz normalen Menschen behandelt, und jetzt würde er für sie sorgen. Kalisha, Nicky, George und Helen – er würde für sie sorgen.
Vor allem für Luke. Wenn er dazu imstande war.
Mit geschlossenen Augen sah er das große Telefon.
Es stand neben dem Trampolin vor der flachen Kuhle, die Luke gegraben hatte, um sich unter dem Zaun durchzuschlängeln, ein altmodisches Telefon, mindestens fünf Meter hoch und schwarz wie der Tod. Avery, seine Freunde und die Kinder aus Station A hatten einen Kreis darum gebildet. Die Stass-Lichter wirbelten heller denn je abwechselnd über die Wählscheibe und über den gigantischen Hörer aus Bakelit.
Los, Kalisha. Auf den Spielplatz!
Ohne Widerspruch ließ sie Avery los, doch bevor die Lücke im Kreis den Kraftstrom unterbrechen und die Vision zerstören konnte, griff George nach Averys Hand. Nun war das Summen überall. Bestimmt hörten sie es an all den weit entfernten Orten, wo es andere Kinder wie sie gab, die ebenfalls einen solchen Kreis gebildet hatten. Diese Kinder hörten es, so wie die Zielpersonen es gehört hatten, zu deren Tötung sie in die verschiedenen Institute verschleppt worden waren. Und wie die Zielpersonen würden die Kinder gehorchen, nur mit dem Unterschied, dass sie wissentlich und freudig gehorchen würden. Die Revolte fand nicht nur hier statt, sondern auf globaler Ebene.
Los, George. Auf den Spielplatz!
Die Hand von George löste sich, und die von Nicky nahm ihren Platz ein. Nicky, der für Avery eingetreten war, als Harry ihn umgestoßen hatte. Nicky, der ihm den Namen Avester gegeben hatte, einen Namen, den nur seine Freunde benutzen durften. Avery drückte seine Hand und spürte, wie der Druck erwidert wurde. Nicky, der immer blaue Flecken hatte. Nicky, der sich nicht unterwarf oder diese beschissenen Münzen entgegennahm.
Los, Nicky. Auf den Spielplatz!
Er war fort, und jetzt ergriff Helen die Hand von Avery, Helen mit ihrer verblassten Punkfrisur, Helen, die ihm beigebracht hatte, wie man auf dem Trampolin Purzelbäume schlug, und dabei auf ihn aufgepasst hatte, »damit du nicht runterfällst und dir den Schädel aufschlägst«.
Los, Helen. Auf den Spielplatz!
Als letzte von seinen Freunden hier machte sie sich auf den Weg, aber Katie nahm die Hand, die Helen gehalten hatte, und es war so weit.
Von draußen hörte man gedämpfte Schüsse.
Bitte mach, dass es noch nicht zu spät ist!
Das war sein letzter bewusster Gedanke als Individuum, als Avery. Dann trat er in das Summen und die Lichter ein.
Es war an der Zeit, ein Ferngespräch zu führen.
Durch die letzten Bäume hindurch sah Stackhouse den Wagen anrollen. Die Lichter des Verwaltungsgebäudes spiegelten sich in den Chromleisten. Der Suburban bewegte sich ganz langsam, aber er näherte sich. Stackhouse kam in den Sinn (zu spät, als dass man etwas dagegen unternehmen konnte, aber war das nicht immer so?), dass der Junge den USB-Stick womöglich gar nicht dabei, sondern der Frau übergeben hatte, die er Officer Wendy nannte. Oder dass er ihn irgendwo auf dem Weg vom Flugplatz hierher versteckt und dem irregeleiteten Helden gesagt hatte, er solle Officer Wendy anrufen und ihr für den Fall, dass die Sache in die Hose gehe, das Versteck beschreiben.
Aber was hätte ich groß dagegen tun können, dachte er. Nichts. Jetzt zählt nur dieser Moment.
Der Suburban tauchte am Anfang der Einfahrt auf. Stackhouse blieb zwischen dem Bus und der Fahnenstange stehen, die Arme ausgestreckt wie Christus am Kreuz. Das Summen hatte eine fast betäubende Lautstärke erreicht, und er fragte sich, ob Rosalind wohl ihre Stellung hielt oder sich gezwungen gesehen hatte zu fliehen. Er dachte an Gladys und hoffte, dass sie bereit war, die Mixtur einzuspeisen.
Mit zusammengekniffenen Augen konzentrierte er sich auf die Gestalt hinter dem Lenkrad. Viel war nicht zu erkennen, und er wusste, dass Doug und Chad durch die getönten Seitenfenster erst recht nichts sehen würden, bis sie die in Stücke geschossen hatten, aber die Windschutzscheibe war aus klarem Glas, und als der Wagen nur noch zwanzig Meter entfernt war – ein bisschen näher, als er gehofft hatte–, sah er das Justierband der umgedrehten Basecap, das sich über die Stirn des Fahrers spannte, und ließ die Fahnenstange los. Der Fahrer schüttelte hektisch den Kopf, eine Hand ließ das Lenkrad los und presste sich seesternförmig an die Windschutzscheibe, wie um stopp zu rufen, und da wurde Stackhouse klar, dass man ihn hereingelegt hatte. Der Trick war so simpel wie die Idee, unter einem Zaun durchzukriechen, und genauso wirkungsvoll.
Hinter dem Lenkrad saß nicht der irregeleitete Held. Da saß Mrs. Sigsby.
Der Suburban hielt an, dann bewegte er sich rückwärts. »Tut mir leid, Julia, da kann man nichts machen«, sagte Stackhouse und hob die Hand.
Auf dem Verwaltungsgebäude und zwischen den Bäumen wurde das Feuer eröffnet. Auf dem Dach des Vorderbaus nahm Gladys Hickson die Deckel von zwei großen Eimern Bleichmittel, aufgestellt unter dem Gebläse, das den Hinterbau und den Tunnel mit Heizung und Kühlung versorgte. Sie hielt den Atem an, kippte die Flaschen mit WC-Reiniger in die Eimer, rührte mit einem Besenstiel jeweils kurz um, zog eine Plane über Eimer und Gebläse und rannte mit brennenden Augen auf den Ostflügel zu. Während sie über das Dach lief, spürte sie, dass es sich unter ihr bewegte.
»Nein, Trevor, nein!«, kreischte Mrs. Sigsby. Sie schüttelte den Kopf heftig hin und her. Von hinten sah Tim, wie sie die linke Hand hob und an die Windschutzscheibe drückte. Mit der rechten legte sie den Rückwärtsgang ein.
Der Suburban hatte sich gerade wieder in Bewegung gesetzt, als Schüsse krachten. Einige kamen von rechts aus dem Wald, andere von vorn und – da war sich Tim ziemlich sicher – von oben. In der Windschutzscheibe tauchten Löcher auf. Das Glas wurde milchig und sackte nach innen. Mrs. Sigsby verwandelte sich in eine Puppe, die zuckte, zappelte und erstickte Schreie ausstieß, während die Geschosse sie durchbohrten.
»Bleib unten, Luke!«, brüllte Tim, als der Junge sich unter ihm regte. »Unten bleiben!«
Geschosse durchschlugen die Seitenfenster des Suburban. Auf Tims Rücken regneten Glasscherben. An der Rückseite vom Fahrersitz lief Blut herab. In dem konstanten Summen, das von überall her zu kommen schien, hörte Tim die Kugeln knapp über seinem Rücken durch den Wagen fliegen, jede mit einem tiefen, weichen Zischen.
Klickend und klackend bohrten die Geschosse sich ins Metall. Die Kühlerhaube klappte auf. Tim musste an die letzte Szene in einem alten Gangsterfilm denken, an Bonnie Parker und Clyde Barrow im Todestanz, während die Kugeln in ihren Wagen und in sie selbst einschlugen. Was immer Lukes Plan gewesen war, er war katastrophal gescheitert. Mrs. Sigsby war tot; die Überreste der Windschutzscheibe waren mit Blutspritzern bedeckt. Tim und Luke würden die Nächsten sein.
Dann hörte man Schreie von oben und Rufe von rechts. Zwei weitere Geschosse durchschlugen die rechte Hintertür, eines streifte tatsächlich den Kragen von Tims Hemd. Es waren die letzten. Jetzt hörte Tim ein gewaltiges, donnerndes Knirschen.
»Lass mich hoch!«, keuchte Luke. »Ich krieg keine Luft!«
Tim richtete sich ein Stück weit auf und spähte zwischen den Vordersitzen hindurch. Er war sich bewusst, dass ihm jederzeit der Kopf weggeblasen werden konnte, aber er musste sehen, was da vor sich ging. Luke tat dasselbe. Tim wollte ihm befehlen, sich wieder auf den Boden zu legen, aber die Worte blieben ihm in der Kehle stecken.
Das kann nicht wahr sein, dachte er. Das kann einfach nicht wahr sein.
Doch das war es.
Avery und die anderen standen im Kreis um das große Telefon. Es war kaum zu sehen hinter den Stass-Lichtern, die so hell und so wunderschön leuchteten.
Die Wunderkerze, dachte Avery. Jetzt machen wir die Wunderkerze.
Die floss aus den Lichtern zusammen, bestimmt drei Meter hoch. Funken sprühten in alle Richtungen. Zuerst schwankte die Wunderkerze hin und her, dann brachte das Gruppenhirn sie besser unter Kontrolle. Sie pendelte an den riesigen Hörer des Telefons und stieß ihn von seiner riesigen Gabel. Das hantelförmige Monstrum landete schräg auf den Pfosten des Seilgartens. Aus der Sprechmuschel erschollen Stimmen in vielen verschiedenen Sprachen; sie stellten alle dieselbe Frage: Hallo, hörst du mich? Hallo, bist du da?
JA, antworteten die Kinder des Instituts mit einer einzigen Stimme. JA, WIR HÖREN EUCH! ES IST SO WEIT!
Das hörte ein Kreis aus Kindern im spanischen Nationalpark Sierra Nevada. Ein Kreis aus bosnischen Kindern, die in den Dinarischen Alpen eingekerkert waren, hörte es. Auf Pampus, einem den Eingang zum Hafen von Amsterdam bewachenden Inselchen, hörte es ein Kreis aus holländischen Kindern. Ein Kreis aus deutschen Kindern hörte es in einem Bergwald in Bayern.
In Pietrapertosa, Sizilien.
In Namwon, Südkorea.
Zehn Kilometer außerhalb der sibirischen Geisterstadt Tscherski.
Sie hörten es, sie antworteten, sie wurden eins.
Kalisha und die anderen erreichten die verschlossene Tür zum Vorderbau. Jetzt hörten sie die Schüsse deutlich, denn das Summen hatte so abrupt geendet, als hätte man einen Stöpsel gezogen.
Oh, es ist schon noch da, dachte Kalisha. Nur sind nicht mehr wir die Empfänger.
In den Wänden erhob sich ein Ächzen, ein fast menschliches Geräusch, und dann flog die Tür zwischen Tunnel und Vorderbau nach außen und prallte auf die davor stehende Rosalind Dawson, die sofort tot war. Völlig verbogen, wo sich ihre schweren Angeln befunden hatten, landete die Tür hinter dem Aufzug. An der Decke zitterte das Drahtgitter über den Leuchtstofflampen und schuf irre Unterwasserschatten.
Das Ächzen wurde lauter, es kam von überall her. Es war, als würde das Gebäude versuchen, sich selbst auseinanderzureißen. Im Wagen draußen hatte Tim an Bonnie und Clyde gedacht, Kalisha dachte an Edgar Allan Poes Geschichte vom Hause Usher.
Los, dachte sie zu den anderen. Schnell!
Sie rannten an der zertrümmerten Tür vorbei, unter der die zermalmte Frau in einer sich ausbreitenden Blutlache lag.
George: Was ist mit dem Aufzug? Der ist da hinter uns!
Nicky: Bist du behämmert? Ich weiß zwar nicht, was da gerade läuft, aber in einen Aufzug steig ich jetzt bestimmt nicht.
Helen: Ist das ein Erdbeben?
»Nein«, sagte Kalisha.
Ein Gedankenbeben. Keine Ahnung, wie…
»… wie die das machen, aber das…« Sie holte Luft und schmeckte etwas Scharfes, was sie zum Husten brachte. »Das ist es.«
Helen: Da stimmt was nicht mit der Luft.
»Ich glaube, das ist irgendein Gift«, sagte Nicky. Diese verdammten Schweine, die geben einfach nie auf.
Kalisha drückte die Tür mit der Aufschrift TREPPE auf, und sie erklommen die Stufen. Inzwischen husteten sie alle. Zwischen Ebene D und C fingen die Stufen unter ihnen zu beben an. Risse liefen im Zickzack an den Wänden herab. Die Leuchtstoffröhren erloschen, die Notbeleuchtung ging an und verbreitete einen matten, gelblichen Schein. Kalisha blieb stehen, beugte sich vornüber, würgte trocken und mühte sich weiter.
George: Was ist mit Avery und den anderen Kids da unten? Die werden ersticken!
Nicky: Und was ist mit Luke? Ist er hier? Und ist er noch am Leben?
Das wusste Kalisha nicht. Sie wusste nur, dass sie hier herauskommen mussten, bevor sie selbst erstickten. Oder bevor sie zermalmt wurden, falls das Institut in sich zusammenstürzte.
Ein gewaltiges Beben lief durch das Gebäude. Die Treppe neigte sich nach rechts. Kalisha fragte sich, wie es ihnen jetzt wohl ergehen würde, wenn sie den Aufzug genommen hätten, schob die Vorstellung jedoch gleich von sich weg.
Ebene B. Kalisha rang nach Atem, aber die Luft war besser hier, weshalb sie ein bisschen schneller laufen konnte. Sie war froh, dass sie nicht von den Zigaretten aus dem Automaten abhängig geworden war, das war ja immerhin etwas. Das Ächzen in den Wänden war zu einem tiefen Kreischen geworden. Außerdem hörte sie ein hohles metallisches Knirschen. Das mussten die Rohre und Stromleitungen sein, die auseinanderbrachen.
Alles brach auseinander. Einen kurzen Moment kam Kalisha ein gruseliges Youtube-Video in den Sinn, auf das sie wie gebannt gestarrt hatte: ein Zahnarzt, der jemand mit der Zange einen Zahn zog. Während ringsum Blut austrat, hatte der Zahn gewackelt, als versuchte er, sich im Kiefer festzuklammern, bis er sich endlich mitsamt der Wurzel löste. Was jetzt geschah, fühlte sich genauso an.
Sie kamen zur Tür zum Erdgeschoss, aber die klemmte surreal verzogen im Rahmen. Als Kalisha dagegen drückte, öffnete sie sich nicht. Nicky stellte sich neben sie, damit sie gemeinsam drücken konnten. Ohne Erfolg. Unter ihnen hob sich der Boden und krachte donnernd wieder hinunter. Ein Stück der Decke löste sich, stürzte auf die Treppe und rutschte abwärts, wobei es zerbröselte.
»Wenn wir es nicht rausschaffen, werden wir zerquetscht!«, rief Kalisha.
Nicky: George. Helen.
Er streckte seitlich die Hände aus. Das Treppenhaus war eng, doch irgendwie gelang es den vieren, sich nebeneinander vor die Tür zu postieren, Hüfte an Hüfte und Schulter an Schulter. Kalisha hatte die Haare von George in den Augen und roch den Atem von Helen, der nach Angst stank. Tastend fassten sie sich alle an den Händen. Die Blitze erschienen, und die Tür ging kreischend auf, wobei sie ein Stück vom oberen Rahmen mitnahm. Dahinter sah man den Flur des Wohnbereichs, der sich jetzt wie betrunken zur Seite neigte. Kalisha flog als Erste durch den verbogenen Rahmen, wie ein Korken aus einer Sektflasche. Sie fiel auf die Knie und schnitt sich die Hand an einer herabgefallenen Lampe auf, deren Scherben und Metallteile sich auf dem ganzen Boden verteilt hatten. An einer Wand hing schief das Poster mit den drei Jungen, die durch eine Wiese rannten, laut Aufschrift an einem Tag wie im Paradies.
Als Kalisha auf die Beine kam und sich umblickte, sah sie, dass die anderen auch gerade hochkamen. Gemeinsam rannten sie auf den Aufenthaltsraum zu, an Zimmern vorüber, wo nie wieder gestohlene Kinder wohnen würden. Die Türen krachten abwechselnd auf und zu, als würde ein Haufen Irrer lautstark applaudieren. Im Aufenthaltsraum waren mehrere Verkaufsautomaten umgestürzt und hatten ihren Inhalt auf den Boden ergossen. Aus zerbrochenen Flaschen stieg stechender Alkoholgeruch auf. Die Tür zum Spielplatz war wieder so verbogen, dass man sie nicht hätte öffnen können, aber die Glasscheibe war herausgefallen, und eine spätsommerliche Brise trug herrlich frische Luft herein. An der Schwelle angelangt, erstarrte Kalisha. Für einen Augenblick vergaß sie, dass sich das ganze Gebäude um sie herum auseinanderzureißen schien.
Zuerst dachte sie, die anderen wären doch noch da unten herausgekommen, vielleicht durch die andere Tür im Tunnel, denn da waren sie: Avery, Iris, Hal, Len, Jimmy, Donna und die Kinder aus Station A. Dann wurde ihr klar, dass sie die alle gar nicht wirklich sah. Es waren Projektionen. Genau wie das riesige Telefon, um das sie einen Kreis bildeten. Eigentlich hätte es das Trampolin und das Badmintonnetz unter sich zerquetschen sollen, doch beides stand noch da, und Kalisha sah den Maschendrahtzaun nicht hinter dem gewaltigen Gerät, sondern durch es hindurch.
Dann waren sowohl die Kids wie das Telefon verschwunden. Kalisha spürte, dass der Boden wieder in die Höhe stieg, und diesmal krachte er nicht wieder hinunter. Zwischen dem Aufenthaltsraum und dem Spielplatzrand hatte sich ein Spalt gebildet, der langsam breiter wurde. Noch waren es erst etwa dreißig Zentimeter, doch dabei würde es nicht bleiben. Um hinauszugelangen, musste sie einen kleinen Sprung machen wie von der zweiten Stufe einer Treppe.
»Kommt!«, rief sie den anderen zu. »Schnell! Solange das noch geht!«
Vom Dach des Verwaltungsgebäudes her hörte Stackhouse Schreie, während die Schüsse verstummt waren. Als er sich umdrehte, sah er etwas, was er zuerst nicht glauben konnte. Der Vorderbau stieg in die Höhe. Auf dem Dach stand eine Gestalt silhouettenhaft vor dem Mond, die Arme ausgebreitet, um das Gleichgewicht zu halten. Das musste Gladys sein.
Das ist unmöglich, dachte er.
Aber es geschah. Während der Vorderbau immer höher stieg, löste er sich knirschend und krachend von der Erde. Er verdeckte den Mond, dann neigte er sich wie die Nase eines gleichermaßen gigantischen und schwerfälligen Hubschraubers. Gladys verlor den Halt. Stackhouse hörte ihre Schreie, als sie ins Dunkel stürzte. Auf dem Verwaltungsgebäude ließen Zeke und Dr. Richardson ihre Waffen fallen, kauerten sich an die Brüstung und starrten nach oben auf eine Erscheinung wie aus einem Traum – ein Gebäude, das langsam in den Himmel stieg. Glassplitter und Betonbrocken regneten herab. Der Maschendrahtzaun um den Spielplatz wurde größtenteils mitgezogen. An der gezackten Unterseite des Gebäudes strömte Wasser aus den geborstenen Rohren.
Aus der zertrümmerten Tür des Aufenthaltsraums polterte der Zigarettenautomat. George Iles, der auf das emporschwebende Gebäude gaffte, wäre davon zermalmt worden, wenn Nicky ihn nicht zur Seite gerissen hätte.
Doug der Koch und Chad der Pfleger kamen mit gerecktem Hals und aufgesperrtem Mund zwischen den Bäumen hervor. Ihre Waffen hingen ihnen lose in der Hand. Vielleicht dachten sie, in dem von Geschossen durchlöcherten Suburban wären alle tot, wahrscheinlich hatten sie den jedoch vor Verwunderung und Entsetzen völlig vergessen.
Jetzt schob sich die Unterseite des Vorderbaus über das Dach des Verwaltungsgebäudes. Das tat sie mit der würdevollen, schwerfälligen Anmut einer Fregatte der Royal Navy aus dem achtzehnten Jahrhundert, die mit von einer leichten Brise gefüllten Segeln ihres Weges zog. Dämmelemente und Stromkabel, teils noch Funken sprühend, hingen wie zerfetzte Nabelschnüre herab. Ein nach unten ragendes Rohr riss ein Belüftungsgehäuse vom Dach. Zeke Ionidis und Dr. Felicia Richardson sahen, was da ankam, und rannten auf die Klappe zu, durch die sie heraufgestiegen waren. Zeke schaffte es, Dr. Richardson nicht. Mit einer schützenden Geste, die zugleich unwillkürlich und mitleiderregend wirkte, hob sie die Arme über den Kopf.
In diesem Augenblick brach der Tunnel zwischen Vorder- und Hinterbau, geschwächt durch die jahrelange Vernachlässigung und den aberwitzigen Aufstieg des Vorderbaus, in sich zusammen. Die Kinder darin, die bereits an Chlorgasvergiftung und mentaler Überlastung starben, wurden zermalmt. Sie hatten den Kreis bis zum Ende aufrechterhalten, und als die Decke herunterkrachte, hatte Avery Dixon einen letzten Gedanken, gleichermaßen klar und ruhig: Es war toll, Freunde zu haben.
Tim erinnerte sich nicht daran, dass er aus dem Suburban gestiegen war. Er war vollständig damit beschäftigt zu verarbeiten, was er da sah: ein riesiges Gebäude, das in der Luft schwebte und sich über ein kleineres Gebäude schob. Auf dessen Dach sah er eine Gestalt, die die Hände über den Kopf hob. Dann hörte er von irgendwo hinter dieser unglaublichen, wie von David Copperfield geschaffenen Illusion her ein gedämpftes Donnern, eine gewaltige Staubwolke stieg auf… und das schwebende Gebäude stürzte herab wie ein Stein.
Ein Donnerschlag erschütterte den Boden und brachte Tim ins Taumeln. Das kleinere Gebäude, in dem wohl die Büros waren, konnte das von oben kommende Gewicht nicht tragen. Es explodierte in alle Richtungen nach außen. Holz, Beton und Glas flogen durch die Luft, und eine neue Staubwolke quoll in den Himmel, so groß, dass sie den Mond verhüllte. Die Alarmanlage im Bus (wer hätte gedacht, dass so ein Ding eine hatte?) ging los und stieß ein an- und abschwellendes Jaulen aus. Wer immer da auf dem Dach des kleineren Gebäudes gestanden hatte, war natürlich tot, und alle im Innern waren nur noch Brei.
»Tim!« Luke packte ihn am Arm. »Tim!« Der Junge zeigte auf die beiden Männer, die zwischen den Bäumen hervorgetreten waren. Der eine starrte noch auf die Ruine, aber der andere hob eine große Pistole. Ganz langsam, wie in einem Traum.
Tim brachte ebenfalls seine Pistole in Anschlag, und zwar wesentlich schneller. »Stopp. Waffen fallen lassen! Beide!«
Die zwei sahen ihn benommen an, dann gehorchten sie.
»Und jetzt da rüber zum Fahnenmast!«
»Ist es vorbei?«, sagte einer der Männer. »O Gott, hoffentlich ist es vorbei.«
»Ich glaube schon«, sagte Luke. »Tun Sie, was mein Freund sagt.«
Durch die Staubwolken hindurch wankten die beiden auf den Fahnenmast und den Bus zu. Luke hob die Waffen auf und wollte sie schon in den Suburban werfen, als ihm einfiel, dass man mit dem von Geschossen durchsiebten und mit Blut bespritzten Fahrzeug nirgendwo mehr hinkäme. Deshalb behielt er eine von den automatischen Pistolen. Die andere schleuderte er in den Wald.
Stackhouse beobachtete einen Moment lang, wie Chad und Doug auf ihn zukamen, dann wandte er sich wieder den Trümmern seines Lebens zu.
Wer hätte das schon ahnen können, dachte er. Wer hätte wissen können, dass die Kinder genügend Kraft entwickeln können, um ein ganzes Gebäude in die Luft zu heben? Mrs. Sigsby nicht, Evans nicht, Heckle und Jeckle nicht, Donkey Kong nicht (wo immer der jetzt gerade sein mag) – und ich erst recht nicht. Wir dachten, wir würden mit einem Hochspannungsgenerator umgehen, während wir in Wirklichkeit nur Schwachstrom angezapft haben. Da haben wir uns selbst reingelegt.
Jemand klopfte ihm auf die Schulter, und als er sich umdrehte, stand der irregeleitete Held vor ihm. Der war breitschultrig (wie es ein echter Held sein sollte), trug jedoch eine Brille, was nicht zum Klischee passte.
Allerdings gibt’s da ja auch Clark Kent, dachte Stackhouse.
»Sind Sie bewaffnet?«, fragte der Mann namens Tim.
Stackhouse schüttelte den Kopf und wedelte matt mit der Hand. »Das hab ich den anderen überlassen.«
»Seid ihr drei die Letzten?«
»Keine Ahnung.« Noch nie hatte Stackhouse sich so erschöpft gefühlt. Wahrscheinlich lag das am Schock. Daran und am Anblick eines Gebäudes, das in den Nachthimmel gestiegen war und den Mond verdunkelt hatte. »Vielleicht ist jemand vom Personal im Hinterbau noch am Leben. Und die Ärzte dort, Hallas und James. Was allerdings die Kinder im Vorderbau angeht… Ich weiß nicht, wie jemand das da hätte überleben können.« Mit bleischwerem Arm deutete er auf die Trümmer.
»Aber die übrigen Kinder«, sagte Tim. »Was ist mit denen? Waren die nicht in dem anderen Gebäude?«
»Sie waren im Tunnel«, mischte Luke sich ein. »Der Typ da hat versucht, sie zu vergasen, aber vorher ist der Tunnel zusammengebrochen. In dem Moment, wo der Vorderbau in die Luft gestiegen ist.«
Stackhouse überlegte, ob er das leugnen sollte, aber was hätte es genutzt, wenn der Junge da seine Gedanken lesen konnte. Außerdem war er total erschöpft. Völlig verbraucht.
»Heißt das, dass deine Freunde tot sind?«, sagte Tim.
Luke machte den Mund auf, um zu sagen, dass er das nicht sicher wisse, aber für wahrscheinlich halte. Dann zuckte sein Kopf zur Seite, als hätte jemand ihn gerufen. Wenn dem so war, so war das nur in seinem Kopf geschehen, denn Tim hörte die Stimme erst einige Sekunden später.
»Luke!«
Ein Mädchen rannte über den Rasen, wobei sie den Trümmern ausweichen musste, die kranzförmig nach außen geschleudert worden waren. Drei weitere Kinder folgten, zwei Jungen und ein Mädchen.
»Lukey!«
Luke rannte auf das erste Mädchen zu und schlang die Arme um sie. Die anderen drei kamen dazu, und während sich die kleine Gruppe fest umarmte, hörte Tim wieder das Summen, wenn auch leiser. Mehrere Trümmer regten sich, Holzstücke und Betonbrocken stiegen in die Luft, um wieder herunterzusinken. Und hörte Tim nicht in seinem Kopf, wie die Stimmen der vier dort drüben sich flüsternd vermischten? Vielleicht bildete er sich das nur ein, aber…
»Die senden immer noch was aus«, sagte Stackhouse in desinteressiertem Ton, als würde er irgendetwas völlig Belangloses verkünden. »Ich höre sie. Das tun Sie sicher auch. Passen Sie bloß auf, die Wirkung kumuliert. Das hat Hallas und James zu Heckle und Jeckle gemacht.« Er stieß ein kurzes, bellendes Lachen aus. »Die waren nur noch zwei Witzfiguren mit Doktortitel.«
Anstatt darauf zu achten, ließ Tim die Kinder ihr freudiges Wiedersehen genießen – wer auf der ganzen Welt hätte das mehr verdient als sie? Nebenbei hielt er ein Auge auf die drei überlebenden Institutsmitarbeiter, obwohl die eigentlich nicht den Eindruck machten, als könnten sie ihm irgendwie gefährlich werden.
»Was mache ich bloß mit euch Arschlöchern?«, sagte Tim, ohne wirklich zu den dreien zu sprechen. Er dachte nur laut.
»Bitte töten Sie uns nicht«, sagte Doug. Er deutete auf die kleine Gruppe, die sich immer noch umarmte. »Ich habe für die jungen Leute da gekocht. Hab sie am Leben gehalten.«
»Wenn Sie am Leben bleiben wollen, würde ich an Ihrer Stelle nicht versuchen, irgendetwas zu rechtfertigen«, sagte Tim. »Am klügsten wäre es wahrscheinlich, schlicht den Mund zu halten.« Er wandte sich an Stackhouse. »Sieht aus, als würden wir den Bus nicht brauchen, nachdem ihr die meisten Kinder umgebracht habt, deshalb…«
»Aber das haben doch nicht wir…«
»Sind Sie taub? Ich hab gesagt, Sie sollen den Mund halten.«
Stackhouse sah Tims Gesichtsausdruck. Der wirkte nicht heroisch, irregeleitet oder sonst was. Der verriet Mordabsichten. Er hielt den Mund.
»Wir brauchen ein Fahrzeug, um hier wegzukommen«, fuhr Tim fort. »Und ich hab wirklich keine Lust, mit euch Pennern durch den Wald zu diesem Dorf zu marschieren, von dem Luke mir erzählt hat. Es war ein langer, anstrengender Tag. Irgendwelche Vorschläge?«
Stackhouse schien ihn gar nicht gehört zu haben. Er starrte auf die Ruine, die der Vorderbau jetzt war, und auf die zermalmten Überreste vom Verwaltungsgebäude darunter. »Das alles«, sagte er verwundert. »Das alles wegen einem entlaufenen Jungen.«
Tim kickte ihm leicht ans Schienbein. »Zuhören, Sie Trottel. Wie schaffe ich die Kinder von hier weg?«
Stackhouse gab keine Antwort, ebenso wenig wie der Mann, der angeblich für die Kinder gekocht hatte. Dafür meldete sich der dritte, der mit seinem Kasack wie ein Krankenpfleger aussah. »Wenn ich eine Idee habe, lassen Sie mich dann laufen?«
»Wie heißen Sie?«
»Chad, Sir. Chad Greenlee.«
»Tja, Chad, das hängt davon ab, wie gut Ihre Idee ist.«
Die letzten früher im Institut eingesperrten Kinder umarmten und umarmten und umarmten sich. Luke hatte das Gefühl, er könnte die anderen für immer so umarmen und spüren, wie sie ihn umarmten, denn er hätte nie erwartet, sie je wiederzusehen. Vorläufig war alles, was sie brauchten, in dem engen Kreis, den sie auf dem mit Trümmern übersäten Rasen bildeten. Sie brauchten nur einander. Die Welt mit all ihren Problemen war ihnen scheißegal.
Avery?
Kalisha: Tot. Er und alle anderen. Als der Tunnel über ihnen eingestürzt ist.
Nicky: Es ist besser so, Luke. Er wäre nicht mehr so gewesen wie früher. Nicht mehr er selbst. Was er getan hat, was die alle getan haben… es hätte ihn ausgehöhlt wie die anderen.
Was ist mit den Kids im Vorderbau? Ist von denen noch jemand am Leben? Dann müssen wir nämlich…
Es war Kalisha, die antwortete, indem sie den Kopf schüttelte und keine Worte sandte, sondern ein Bild: den verstorbenen Harry Cross aus Selma, Alabama. Den Jungen, der in der Cafeteria gestorben war.
Luke starrte Sha an. Die alle? Willst du sagen, dass alle an einem Krampfanfall gestorben sind, bevor das Ding da heruntergekracht ist?
Er deutete auf die Trümmer.
»Ich glaube, es ist passiert, als der Vorderbau abgehoben hat«, sagte Nicky. »Als Avery den Hörer vom großen Telefon runtergestoßen hat.« Und als er merkte, dass Luke nicht ganz begriff: Als die anderen Kinder dazugekommen sind.
»Die Kinder von weit weg«, fügte George hinzu. »Aus den anderen Instituten. Die Kids im Vorderbau waren einfach zu… Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.«
»Zu verwundbar«, sagte Luke. »Das meinst du wohl. Sie waren zu verwundbar. Es war wie eine von den verfluchten Spritzen, stimmt’s? Eine von den besonders schlimmen.«
Die anderen nickten.
»Bestimmt hat er die Blitze gesehen, als er gestorben ist«, flüsterte Helen. »Ist das nicht schrecklich?«
Luke reagierte mit jenem kindlichen Widerspruch, über den Erwachsene oft zynisch lächelten und den nur andere Kinder wirklich verstehen konnten: Das ist nicht fair! Nicht fair!
Nein, stimmten die anderen zu. Nicht fair.
Sie lösten sich voneinander. Luke sah sie einen nach dem anderen im staubigen Mondlicht an: Helen, George, Nicky… und Kalisha. Er erinnerte sich an den Tag, als er ihr zum ersten Mal begegnet war. Da hatte sie so getan, als würde sie eine Zuckerzigarette rauchen.
George: Was jetzt, Lukey?
»Das wird Tim schon wissen«, sagte Luke und konnte nur hoffen, dass es stimmte.
Chad ging voraus und führte sie um die zerstörten Gebäude herum. Hinter ihm trotteten mit hängendem Kopf Stackhouse und Doug der Koch. Tim folgte, die Pistole in der Hand. Luke und seine Freunde gingen hinter ihm. Die Grillen, die von der Katastrophe zum Schweigen gebracht worden waren, sangen wieder.
An einem asphaltierten Weg, an dem hintereinander ein knappes Dutzend Pkws, Transporter und Pick-ups parkten, blieb Chad stehen. Eines der Fahrzeuge war ein Toyota-Kastenwagen mit der Aufschrift MAINE PAPER INDUSTRIES an der Seite. Chad zeigte darauf. »Wie wäre es mit dem, Sir? Wäre der geeignet?«
Wäre er wohl, wenigstens für den Anfang, dachte Tim. »Was ist mit dem Schlüssel?«
»Das sind Dienstwagen, die jeder benutzt, deshalb steckt der Schlüssel immer unter der Sonnenblende.«
»Luke«, sagte Tim. »Kannst du mal nachschauen?«
Als Luke zu dem Wagen ging, begleiteten ihn die anderen Kinder, als könnten sie es nicht ertragen, auch nur eine Sekunde voneinander getrennt zu sein. Luke öffnete die Fahrertür und klappte die Sonnenblende herunter. Etwas fiel in seine Hand. Er hielt den Schlüssel in die Höhe.
»Gut«, sagte Tim. »Mach jetzt die Hecktür auf. Wenn da irgendwelches Zeug drin liegt, müsst ihr es rausräumen.«
Das übernahmen der Junge namens Nick und der kleinere namens George. Sie holten mehrere Gartenrechen und Hacken, einen Werkzeugkasten und einige Säcke Rasendünger heraus. Während sie damit beschäftigt waren, setzte Stackhouse sich ins Gras und ließ den Kopf auf die Knie sinken. Es war ein Ausdruck der tiefsten Niedergeschlagenheit, aber Tim empfand keinerlei Mitgefühl. Er schlug Stackhouse auf die Schulter.
»Wir fahren jetzt.«
Stackhouse hob nicht einmal den Kopf. »Wohin? Ich glaube, der Junge hat was von Disneyland gesagt.« Er schnaubte, was wohl eine extrem humorlose Form von Lachen war.
»Geht Sie nichts an. Aber mich würde interessieren, wo Sie eigentlich hinwollen?«
Stackhouse gab keine Antwort.
Im Laderaum des Kastenwagens gab es keine Sitze, weshalb die Kinder sich auf dem Beifahrersitz abwechselten, angefangen mit Kalisha. Luke quetschte sich zwischen ihr und Tim auf den blanken Blechboden. Nicky, George und Helen hockten nebeneinander vor der Hecktür und blickten durch die kleinen, staubigen Fenster auf eine Welt, die sie nie erwartet hätten wiederzusehen.
Luke: Wieso weinst du, Kalisha?
Sie antwortete ihm, dann sagte sie es laut, damit auch Tim es hören konnte. »Weil alles so schön ist. Selbst im Dunkeln ist alles so schön. Wenn bloß Avery da wäre und es auch sehen könnte!«
Am östlichen Horizont dämmerte es schwach, als Tim in südlicher Richtung auf den Highway 77 einbog. Der Junge namens Nicky hatte Kalisha auf dem Vordersitz abgelöst. Luke war mit ihr nach hinten geklettert, und jetzt lagen alle vier wie ein Wurf Welpen auf dem Boden und schliefen fest. Auch Nicky schien zu schlafen, denn sein Kopf schlug jedes Mal, wenn der Wagen über eine Bodenwelle fuhr, ans Fenster… Und es gab eine Menge Bodenwellen.
Kurz nachdem Tim ein Schild mit der Ankündigung gesehen hatte, dass es noch fünfzig Meilen bis Millinocket waren, warf er einen Blick auf sein Handy und sah, dass er zwei Balken und neun Prozent Akkuladung hatte. Er rief Wendy an, die beim ersten Läuten abhob. Sie wollte wissen, ob es gut ausgegangen sei. Als er das bestätigte, fragte sie, wie es Luke gehe.
»Gut«, sagte er. »Der schläft gerade. Ich hab vier weitere Kinder dabei. Dort waren noch andere – wie viele, weiß ich nicht, jedenfalls eine ganze Reihe–, aber die sind tot.«
»Tot? Mein Gott, Tim, was ist passiert?«
»Kann ich dir jetzt nicht erzählen. Das hol ich nach, sobald es geht, und vielleicht glaubst du es sogar, aber momentan bin ich irgendwo in der Pampa, ich hab nicht mehr als dreißig Dollar in der Tasche, und ich trau mich nicht, meine Kreditkarten zu benutzen. Da, wo ich gerade herkomme, herrscht ein furchtbares Chaos, und ich will hier keine Spuren hinterlassen. Außerdem bin ich verdammt müde. Der Tank ist noch halb voll, was gut ist, aber ich pfeife auf dem letzten Loch. Scheiße, was?«
»Was… du… irgendwelche…«
»Wendy, hier ist ein Funkloch. Wenn du mich hörst – ich rufe wieder an. Ich liebe dich.«
Er wusste nicht, ob sie den letzten Satz mitbekommen hatte oder nicht und was sie damit anfangen würde. So etwas hatte er noch nie zu ihr gesagt. Er schaltete sein Handy aus und legte es in die Ablage zur Pistole von Tag Faraday. Alles, was in DuPray geschehen war, schien schon so lange zurückzuliegen, als gehörte es zu einem Leben, das jemand anderes geführt hatte. Momentan kam es nur auf die Kinder da an und darauf, was er mit ihnen anfangen würde.
Und darauf, wer sie eventuell verfolgte.
»He, Tim!«
Er drehte Nicky den Kopf zu. »Ich dachte, du schläfst.«
»Nein, hab bloß nachgedacht. Darf ich dir was sagen?«
»Klar. Du darfst mir ’ne Menge sagen. Dann bleibe ich besser wach.«
»Eigentlich wollte ich bloß danke sagen. Ich kann zwar nicht behaupten, du hättest meinen Glauben an die Menschheit wiederhergestellt, aber mit Lukey herzukommen, wie du es getan hast… dazu war verdammt viel Mumm nötig.«
»Sag mal, Junge, liest du etwa meine Gedanken?«
Nicky schüttelte den Kopf. »Momentan keine Chance. Vermutlich könnte ich nicht mal eins von den Bonbonpapierchen auf dem Boden dieser Schrottmühle in Bewegung bringen, und das war ursprünglich meine Spezialität. Wenn ich mit denen da hinten verbunden wäre…« Er deutete mit dem Kopf auf die schlafenden Kinder im Laderaum. »Dann wäre es anders. Jedenfalls vorübergehend.«
»Meinst du, das wird wieder abflauen? Bis du wieder wie früher bist?«
»Keine Ahnung. Mir ist das sowieso nicht wichtig. War es noch nie. Mich interessiert nur Football und Streethockey.« Er warf einen Blick auf Tim. »Mann, das sind ja keine Säcke unter deinen Augen, sondern richtige Koffer.«
»Ich brauche etwas Schlaf, das stimmt«, gab Tim zu. Ja, so etwa zwölf Stunden. Ungebeten fiel ihm das heruntergekommene Motel von Norbert Hollister ein, wo der Fernseher nicht funktionierte und die Kakerlaken nur so durch die Gegend wuselten. »Wahrscheinlich gibt’s hier irgendwo private Motels, wo man keine Fragen stellt, wenn ich bar bezahlen will, aber was Bargeld angeht, bin ich ausgesprochen knapp.«
Nicky grinste, und Tim sah ihm den gut aussehenden jungen Mann an, zu dem er – wenn alles gut lief – in ein paar Jahren werden würde. »Ich glaube, da könnten ich und meine Freunde dir aushelfen. Ganz sicher bin ich mir nicht, aber wahrscheinlich klappt es. Haben wir genug Benzin, dass wir es bis in die nächste Stadt schaffen?«
»Auf jeden Fall.«
»Halt dort mal an«, sagte Nicky und legte den Kopf wieder ans Fenster.
Kurz bevor die in Millinocket gelegene Filiale der Seaman’s Trust Bank an diesem Tag um neun Uhr öffnete, rief eine Kassiererin namens Sandra Robichaux den Filialleiter aus seinem Büro.
»Wir haben ein Problem«, sagte sie. »Sehen Sie sich das mal an!«
Sie setzte sich vor den Monitor, auf dem das aufgezeichnete Überwachungsvideo vom Geldautomaten lief. Der Filialleiter, er hießt Brian Stearns, ließ sich neben ihr nieder. Zwischen den einzelnen Transaktionen schlief die Kamera, was in der kleinen Stadt Millinocket im Norden von Maine normalerweise bedeutete, dass sie die ganze Nacht über schlief und erst gegen sechs Uhr morgens für die ersten Kunden aufwachte. Die Zeitangabe auf dem Bildschirm lautete 05:18. Stearns und Robichaux sahen, wie sich fünf Personen dem Geldautomaten näherten. Vier hatten sich ihre T-Shirt über Mund und Nase gezogen, womit sie wie maskierte Banditen in einem alten Western aussahen. Die fünfte trug eine tief in die Stirn gezogene Basecap, auf der vorn MAINE PAPER INDUSTRIES stand.
»Die sehen wie Kinder aus!«
Robichaux nickte. »Falls sie nicht kleinwüchsig sind, was nicht sehr wahrscheinlich ist. Jetzt kommt es, Mr. Stearns.«
Die Kinder fassten sich an den Händen und bildeten einen Kreis. Einen Moment lang verzerrte sich das Bild wie durch eine elektrische Interferenz. Dann spuckte das Gerät wie ein Spielautomat im Casino einen Schein nach dem anderen aus.
»Was ist denn da los?«
Robichaux schüttelte den Kopf. »Das weiß ich auch nicht, aber die haben mehr als zweitausend Dollar eingesteckt, obwohl der Automat eigentlich an niemand mehr als achthundert auszahlen soll. So ist er eingestellt. Ich denke, wir sollten irgendjemand anrufen, aber ich weiß nicht, wen.«
Stearns sagte nichts. Er beobachtete nur fasziniert, wie die kleinen Banditen – sie sahen aus, als wären sie noch nicht mal in der Highschool – das Geld einsteckten.
Dann waren sie fort.