In dieser Nacht erhob sich ein heftiger Sturm. Das Toben des Windes ließ auch nicht nach, als sich die Morgendämmerung bemühte, die Handfläche der Welt in Silber zu tauchen, und dauerte während unseres ganzen Tagesmarsches an.
Es ist sehr entmutigend, im Regen zu marschieren, noch dazu in einem kalten Regen. Oh, wie habe ich den Schlamm gehaßt, durch den ich immer wieder gewandert bin – jahrhundertelang, wie mir scheinen will!
Wir suchten einen Schatten-Weg, auf dem es nicht regnete, doch was wir auch anstellten, wir kamen nicht weiter.
Wir konnten nach Amber marschieren, doch wir kamen nicht darum herum, daß uns dabei die Kleidung am Leibe klebte, daß uns der Trommelwirbel des Donners begleitete, daß hinter unserem Rücken die Blitze zuckten.
Am nächsten Abend fiel die Temperatur in ungeahnte Tiefen, und am Morgen starrte ich an den steif gefrorenen Flaggen vorbei auf eine nun weiße Welt unter dem grauen Himmel, vor dem zahlreiche helle Punkte flirrten. Der Atem wehte mir in riesigen Wolken um den Kopf.
Unsere Truppen waren auf ein solches Wetter nicht eingerichtet, mit Ausnahme der Pelzwesen – und wir trieben die Männer zur Eile an, um Erfrierungen zu verhindern. Die großen rothäutigen Burschen litten entsetzlich. Sie kamen aus einer sehr warmen Welt.
An diesem Tag wurden wir von Tigern, Polarbären und Wölfen angegriffen. Der Tiger, den Bleys erlegte, war von der Schnauze bis zur Schwanzspitze gut vierzehn Fuß lang.
Wir marschierten bis tief in die Nacht hinein; dann begann es zu tauen. Bleys trieb die Soldaten an, um sie aus den kalten Schatten zu holen. Der Trumpf für Amber hatte uns verraten, daß dort ein warmer, trockener Herbst herrschte; wir begannen uns der wirklichen Erde zu nähern.
Gegen Mitternacht der zweiten Nacht lagen Hagel und Schneematsch und kalte und warme Regenfälle hinter uns – wir waren in einer trockenen Welt.
Nun wurde der Befehl zum Lageraufschlagen gegeben – mit einem dreifachen Sicherheitskordon. In Anbetracht der Müdigkeit der Männer waren wir reif für einen Angriff. Doch die Männer taumelten bereits vor Erschöpfung und ließen sich nicht weiter antreiben.
Der Angriff erfolgte mehrere Stunden später, und Julian war der Anführer, wie ich später den Schilderungen Überlebender entnahm.
Er führte Kommandounternehmen gegen unsere empfindlichsten Lagerteile am Rand der Haupttruppe. Hätte ich gewußt, daß Julian am Werke war, hätte ich seinen Trumpf benutzt, um ihn vielleicht im Schach zu halten – doch ich erfuhr erst davon, als es schon zu spät war.
Wir hatten in dem überraschenden Winter etwa zweitausend Mann verloren, und mir war noch nicht bekannt, wie viele Opfer Julian gefunden hatte.
Offenbar verloren die Männer langsam den Mut, doch sie gehorchten, als der Weitermarsch befohlen wurde.
Der nächste Tag verging unter ständigen Angriffen. Eine Armee unserer Größe konnte sich nicht ausreichend flexibel bewegen, um den ständigen Attacken zu entgehen, die Julian gegen unsere Flanken führte. Einige seiner Männer erwischten wir, aber nicht genug – das Verhältnis war etwa eins zu zehn.
Gegen Mittag durchquerten wir das Tal, das parallel zur Meeresküste verlief. Der Wald von Arden lag links von uns im Norden. Amber erhob sich direkt vor uns. Der Wind war kühl und trug die Gerüche der Erde und ihrer süßen Früchte herbei. Blätter fielen herab. Amber war noch achtzig Meilen entfernt, ein bloßer Schimmer am Horizont.
Als sich an diesem Nachmittag Wolken zusammenzogen und ein leichter Schauer begann, regneten plötzlich Pfeile vom Himmel. Das Unwetter hörte wieder auf, und die Sonne kam hervor, um alles zu trocknen.
Nach einer Weile bemerkten wir den Rauchgeruch.
Und etwas später sahen wir den Rauch, der ringsum zum Himmel aufstieg.
Schließlich begannen die Flammenwände aufzusteigen und wieder zusammenzusinken. Sie bewegten sich mit knirschenden, unaufhaltsamen Schritten auf uns zu; und im Näherkommen begannen wir die Hitze zu spüren, und irgendwo weiter hinten in der Truppe entstand Panik. Geschrei ertönte, und die Kolonne wogte nach vorn.
Wir begannen zu laufen.
Ringsum fielen Ascheflocken zu Boden, und der Rauch wurde dichter. Wir rannten so schnell wir konnten, und die Flammen drängten noch näher heran. Die Licht- und Hitzevorhänge flatterten mit gleichmäßigem, wogendem Brausen, und die Wogen der Hitze hämmerten auf uns ein, rasten über uns dahin. Nach kurzer Zeit waren sie unmittelbar neben uns, und die Bäume verkohlten, die Blätter wehten glosend herab, und einige der kleineren Stämme begannen zu schwanken. Unser Weg war eine einzige Allee aus Bränden, so weit wir blickten.
Wir rannten noch schneller, denn die Lage mußte sich noch verschlimmern.
Und darin irrten wir uns nicht.
Gewaltige Bäume begannen sich vor uns über den Weg zu legen.
Wir sprangen über die Stämme oder liefen darum herum. Wenigstens waren wir auf einem Weg . . .
Die Hitze wurde erdrückend, und der Atem rasselte in unseren Lungen. Rehwild und Wölfe und Füchse und Kaninchen huschten an uns vorbei, flüchteten mit uns, ignorierten uns und ihre natürlichen Feinde. Die Luft über dem Rauch schien mit Wolken kreischender Vögel angefüllt. Ihre Ausscheidungen fielen auf uns herab.
Das Anstecken dieses alten Waldes, der so ehrwürdig war wie der Wald von Arden, wollte mir fast wie ein Sakrileg erscheinen. Aber Eric war Prinz von Amber – und bald auch König. Ich hätte vielleicht ebenso gehandelt . . .
Augenbrauen und Haar wurden mir angesengt. Meine Kehle fühlte sich wie ein Kamin an. Ich fragte mich, wie viele Männer uns dieser Angriff kosten mochte.
Siebzig Meilen Waldwege lagen zwischen uns und Amber, und über dreißig Meilen hinter uns, bis zum Rand des Baumbestandes.
»Bleys!« keuchte ich. »Zwei oder drei Meilen vor uns gabelt sich der Weg! Rechts kommt man schneller zum Oisen-Fluß, der zum Meer führt! Ich glaube, das ist unsere Chance! Das ganze Garnath-Tal wird verbrennen! Unsere einzige Hoffnung liegt am Wasser!«
Er nickte.
Wir hasteten weiter, doch die Brände überholten uns.
Wir schafften es bis zur Abzweigung, während wir die Flammen auf unserer glimmenden Kleidung mit den Händen löschten, uns die Asche aus den Augen rieben, schwarze Flocken ausspuckten und mit den Fingern durch das Haar fuhren, sobald sich dort Flämmchen anzunisten begannen.
»Nur noch etwa eine Viertelmeile«, sagte ich.
Schon mehrfach war ich von fallenden Ästen getroffen worden. Die bloßliegenden Stellen meiner Haut pulsierten mit einem fiebrigen Schmerz. Wir eilten durch brennendes Gras, hasteten einen langen Hang hinab und sahen unter das Wasser, und unser Tempo nahm weiter zu, obwohl wir es nicht für möglich gehalten hatten. Wir stürzten uns in den Fluß und ließen uns von der kalten Nässe einhüllen.
Bleys und ich bemühten uns, beieinander zu bleiben, als die Strömung uns packte und wir durch das gewundene Bett des Oisen gerissen wurden. Die verfilzten Äste der Bäume über uns waren zu den Stützpfeilern einer Kathedrale aus Feuer geworden. Wo sie auseinanderbrachen und einstürzten, mußten wir uns auf den Bauch drehen und untertauchen oder uns anders in Sicherheit bringen, je nachdem, wie nahe wir waren.
Das Wasser ringsum war angefüllt mit zischenden schwarzen Brocken, und hinter uns wirkten die Köpfe unserer überlebenden Soldaten wie eine Ladung dahintreibender Kokosnüsse.
Das Wasser war dunkel und kalt, und unsere Wunden begannen zu schmerzen, und wir zitterten und klapperten mit den Zähnen.
Wir mußten mehrere Meilen zurücklegen, ehe der brennende Wald zurückblieb und der flachen baumlosen Ebene Platz machte, die sich bis zum Meer erstreckte. Sie bot Julian eine perfekte Möglichkeit, sich mit seinen Bogenschützen auf die Lauer zu legen. Ich rnachte eine entsprechende Bemerkung gegenüber Bleys, und er war meiner Meinung, sah aber keine Möglichkeit, etwas dagegen zu tun. Und da mußte ich ihm recht geben.
Ringsum brannte der Wald, und wir schwammen und ließen uns treiben.
Meine Ängste bewahrheiteten sich, und der erste Pfeilschauer regnete auf uns herab.
Ich tauchte und schwamm eine lange Strecke unter Wasser. Da ich mich mit der Strömung bewegte, schaffte ich auf diese Weise ein gutes Stück, ehe ich wieder an die Oberfläche mußte.
Und schon tauchten weitere Pfeile um mich ins Wasser.
Die Götter allein mochten wissen, wie lange sich dieser Todeskampf noch hinziehen mochte – doch ich wollte nach Möglichkeit sein Ende erleben.
Also atmete ich tief ein und ging wieder unter Wasser.
Ich berührte den Flußgrund, tastete mich über Felsen weiter.
Ich schwamm so weit ich konnte und hielt dann auf das rechte Ufer zu; beim Auftauchen ließ ich die Luft ab.
Ich brach durch die Oberfläche, atmete tief ein und tauchte wieder unter, ohne mich umzusehen.
Und ich schwamm, bis mir die Lungen zu platzen drohten; dann kam ich wieder hoch.
Diesmal hatte ich nicht soviel Glück. Ein Pfeil bohrte sich durch meinen linken Bizeps. Ich schaffte es wieder unter Wasser und brach den Schaft ab, als ich den Grund erreichte. Beim nächsten Auftauchen bot ich ein sicheres Ziel, das wußte ich.
Daher zwang ich mich weiter, bis mir rote Blitze vor den Augen zuckten und sich Schwärze in meinem Kopf auszubreiten drohte. Gut drei Minuten muß ich unten gewesen sein.
Als ich wieder hochkam, geschah nichts, und ich trat Wasser und versuchte hustend und keuchend wieder zu Atem zu kommen.
Ich schwamm zum linken Ufer und hielt mich an den herabhängenden Ranken fest.
Dann sah ich mich um. In dieser Gegend gab es kaum noch Bäume, und das Feuer war noch nicht bis hierher vorgedrungen. Beide Ufer schienen leer zu sein – ebenso der Fluß. War ich etwa der einzige Überlebende? Das wollte mir unmöglich erscheinen. Immerhin war unsere Armee zu Beginn des Marsches riesig gewesen.
Ich war halbtot vor Erschöpfung, und mein ganzer Körper schmerzte. Jeder Quadratzentimeter meiner Haut schien versengt zu sein, aber das Wasser war so kalt, daß ich zugleich zitterte und wahrscheinlich blaugefroren war. Wenn ich weiterleben wollte, mußte ich den Fluß schleunigst verlassen. Allerdings hatte ich das Gefühl, daß ich noch einige Etappen unter Wasser durchstehen konnte, und beschloß meine Flucht auf diesem Wege noch ein Stück fortzusetzen, ehe ich mich endgültig von den schützenden Tiefen abwandte.
Mit Mühe und Not schaffte ich vier weitere Tauchstrecken und hatte schließlich das Gefühl, daß ich eine fünfte Etappe nicht mehr schaffen würde. Ich klammerte mich an einem Felsen fest, bis ich wieder ruhiger atmen konnte, und kletterte schließlich an Land.
Dort ließ ich mich auf den Rücken rollen und sah mich um. Die Gegend war mir unbekannt. Das Feuer schien noch weit entfernt zu sein. Ein dickes Gebüsch erstreckte sich zu meiner Rechten, und ich kroch darauf zu, zwängte mich hinein, fiel flach aufs Gesicht und schlief ein.
Als ich erwachte, wäre ich am liebsten gestorben. Mein ganzer Körper war ein einziger Schmerz, und mir war übel. Halb im Delirium lag ich im Gebüsch und taumelte schließlich nach Stunden zum Fluß zurück, wo ich durstig trank. Dann torkelte ich wieder auf das Dickicht zu und legte mich erneut schlafen.
Als ich das Bewußtsein wiedererlangte, fühlte ich mich noch immer sehr mitgenommen, wenn auch ein wenig kräftiger. Ich ging zum Fluß zurück und stellte mit Hilfe meines eiskalten Trumpfes fest, daß Bleys noch am Leben war.
»Wo bist du?« fragte er, als ich Kontakt aufgenommen hatte.
»Wenn ich das nur wüßte!« erwiderte ich. »Ich habe Glück, daß ich überhaupt irgendwo bin. Allerdings muß das Meer in der Nähe sein. Ich höre die Wellen und kenne den Geruch.«
»Du bist in der Nähe des Flusses?«
»Ja.«
»An welchem Ufer?«
»Am linken, am Nordufer.«
»Dann bleibe, wo du bist«, wies er mich an. »Ich schicke jemanden zu dir. Ich sammele gerade unsere Streitkräfte. Ich habe schon über zweitausend zusammen; Julian traut sich bestimmt nicht in unsere Nähe. Es werden mit jeder Minute mehr.«
»Gut«, sagte ich.
Ich blieb, wo ich war. Und dabei schlief ich ein.
Ich hörte sie durch die Büsche brechen und duckte mich. Vorsichtig schob ich einige Äste zur Seite und starrte hindurch.
Es waren Rothäute.
Ich klopfte meine Kleidung ab, fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, richtete mich schwankend auf, machte einige tiefe Atemzüge und trat vor.
»Hier«, verkündete ich.
Zwei von den Wesen fuhren mit gezogenen Klingen herum. Aber sie erholten sich schnell wieder, lächelten, bezeugten mir ihren Respekt und führten mich zum Lager, das etwa zwei Meilen entfernt war. Ich schaffte die Strecke, ohne mich aufstützen zu müssen.
Bleys tauchte auf. »Wir haben schon gut dreitausend beisammen«, sagte er und rief einen Sanitätsoffizier herbei, der sich meiner annehmen mußte.
In der Nacht belästigte uns niemand. In dieser Zeit stießen große Teile unserer Truppen wieder zu uns, und auch am folgenden Tag verstärkten sich unsere Reihen weiter.
Schließlich hatten wir etwa fünftausend Mann. In der Ferne war Amber zu erkennen.
Wir lagerten eine weitere Nacht und setzten uns am nächsten Morgen in Marsch.
Am Nachmittag hatten wir etwa fünfzehn Meilen zurückgelegt. Wir marschierten am Strand entlang. Von Julian keine Spur.
Der Schmerz in meinen Brandwunden begann nachzulassen.
Mein Oberschenkel schien zu heilen, doch Schulter und Arm taten noch scheußlich weh.
Wir marschierten weiter und befanden uns bald vierzig Meilen vor Amber. Das Wetter blieb friedlich, und der Wald zu unserer Linken war eine einzige trostlose Aschewüste. Das Feuer hatte den größten Teil des Holzbestandes im Tal vernichtet, was sich zur Abwechslung einmal zu unserem Vorteil auswirkte. Weder Julian noch sonst jemand konnte uns hier in einen Hinterhalt locken. Jede Annäherung bemerkten wir auf weite Entfernung. Vor Sonnenuntergang schafften wir weitere zehn Meilen und schlugen unser Lager am Meer auf.
Am nächsten Tag mußte ich daran denken, daß Erics Krönung unmittelbar bevorstand, und machte Bleys auf diese Tatsache aufmerksam. Wir wußten nicht mehr so recht, welchen Tag wir eigentlich schrieben, doch mir war klar, daß wir noch eine kurze Gnadenfrist hatten.
Wir drangen im Eilmarsch weiter vor, und gegen Mittag legten wir eine Pause ein. Unsere Entfernung zum Fuße des Kolvir betrug nur noch fünfundzwanzig Meilen, bei Einbruch der Dämmerung noch zehn.
Und wir ruhten nicht. Wir marschierten bis Mitternacht und lagerten erneut. Inzwischen hatte ich wieder einigermaßen zu mir selbst gefunden.
Ich hieb versuchsweise mit meiner Klinge durch die Luft und stellte fest, daß ich fast wieder in Form war. Am nächsten Tag ging es mir sogar noch besser.
Wir marschierten, bis wir den ersten Hang des Kolvir erreichten, wo uns Julians gesamte Streitmacht erwartete, verstärkt durch zahlreiche Kämpfer aus Caines Flotte, die sich hier als Fußsoldaten betätigten.
Bleys stellte sich hin und brüllte einiges in den Wind, dann griffen wir an.
Wir hatten noch knapp dreitausend Mann, als wir mit Julians Soldaten fertig waren. Julian selbst entkam natürlich.
Aber wir hatten gesiegt. An diesem Abend fand eine Feier statt. Wir hatten gesiegt!
Inzwischen hatten meine Ängste weiter zugenommen, die ich Bleys anvertraute. Dreitausend Mann gegen Kolvir.
Ich hatte die Flotte verloren, und Bleys hatte über acht-Bilanz war schrecklich.
Trotzdem begannen wir am nächsten Tag mit dem Aufstieg. Es gab eine Treppe, die es den Männern ermöglichte, die Stufen zu zweit nebeneinander zu erklimmen; doch bald verengte sich der Weg dermaßen, daß wir hintereinander gehen mußten.
Wir stiegen hundert Meter empor, zweihundert, dreihundert.
Dann wehte der Sturm vom Meer herein, und wir klammerten uns fest und ließen uns durchschütteln.
Hinterher fehlten einige hundert Mann.
Wir mühten uns weiter, und der Regen trommelte herab. Die Stufen wurden höher und glitschiger. Als wir ein Viertel der Höhe Kolvirs erstiegen hatten, stießen wir auf eine Gruppe von Bewaffneten, die auf dem Wege nach unten war. Der erste dieser Männer schlug sich mit dem Anführer unserer Streitmacht herum, und zwei Männer stürzten in die Tiefe. Zwei Stufen waren gewonnen, ein weiterer Mann wirbelte in die Tiefe.
So ging es über eine Stunde lang, dann hatten wir etwa ein Drittel des Weges zurückgelegt, und die Schlange der Männer vor Bleys und mir wurde langsam kürzer. Nur gut, daß unsere großen roten Krieger stärker waren als Erics Soldaten. Waffen klirrten, ein Schrei ertönte, und ein Mann stürzte an uns vorbei. Manchmal war er rothäutig, zuweilen auch pelzig, doch in den meisten Fällen trugen die Fallenden Erics Farben.
Wir schafften es bis zur Hälfte des Weges, wobei wir um jede Stufe kämpfen mußten. An der Spitze verbreiteten sich die Stufen zu der Treppe, deren Spiegelbild sich in Rebma befand. Sie führte zum großen Tor, zum östlichen Zugang nach Amber.
Noch waren etwa fünfzig Kämpfer vor uns. Dann vierzig, dreißig, zwanzig, ein Dutzend . . .
Wir hatten ungefähr zwei Drittel des Weges zurückgelegt, und die Treppe führte im Zickzack am Steilhang Kolvirs empor. Die Osttreppe wird selten benutzt, sie ist fast eine Art Verzierung. Ursprünglich hatten wir vorgehabt, durch das jetzt verbrannte Tal vorzustoßen, im Klettern einen Bogen zu schlagen nach Westen über die Berge; schließlich wollten wir von hinten in Amber einfallen. Das Feuer und Julian hatten diesen Plan zunichte gemacht. Den langen Weg hätten wir nie geschafft. Frontalangriff oder Kapitulation, das war jetzt die Alternative. Und Kapitulation kam nicht in Frage.
Drei weitere Krieger Erics stürzten in die Tiefe, und wir rückten um vier Stufen vor. Dann trat unser führender Mann die Reise in die Tiefe an, und wir mußten einen Schritt zurückweichen.
Der. Meereswind war scharf und kühl, und am Fuße des Berges versammelten sich die Aasvögel in Scharen. Die Sonne brach durch die Wolken, als Eric seine Wetterpfuscherei aufgab, nachdem wir uns nun mit seinen Leuten herumschlugen.
Wir kletterten sechs Stufen weiter und verloren einen Mann.
Es war seltsam und traurig und verrückt . . .
Bleys stand vor mir; bald kam die Reihe an ihn. Und wenn er unterging, mußte ich kämpfen.
Noch sechs Männer vor uns.
Zehn Stufen . . .
Fünf Männer waren noch übrig.
Langsam rückten wir vor, und so weit ich zurückschauen konnte, war auf jeder Stufe Blut geflossen.
Der fünfte Mann tötete vier Gegner, ehe er selbst fiel und uns zu einer weiteren Biegung der Treppe brachte.
Immer weiter ging es empor, unser dritter Mann schwenkte in jeder Hand eine Klinge. Nur gut, daß er hier einen heiligen Krieg ausfocht, so führte er jeden Hieb mit echtem Einsatz. Er fällte drei Mann, ehe er selbst starb.
Der nächste war nicht ganz so energisch oder nicht ganz so gut. Er stürzte sofort von der Treppe – da waren es nur noch zwei.
Bleys zog seine lange verzierte Klinge, und die Schneide funkelte in der Sonne.
»Bald, Bruder«, sagte er, »werden wir sehen, was sie gegen einen Prinzen ausrichten.«
»Hoffentlich nur gegen einen«, erwiderte ich, und er lachte leise.
Ich meine, daß wir noch etwa ein Viertel des Weges vor uns hatten, als Bleys schließlich doch an der Reihe war.
Er sprang vor und brachte den ersten Gegner sofort aus dem Gleichgewicht. Seine Schwertspitze bohrte sich in den Hals des zweiten, und die flache Klinge prallte gegen den Kopf des dritten, der ebenfalls abstürzte. Mit dem vierten duellierte er sich einen Augenblick lang und erledigte ihn ebenfalls.
Ich hatte die Klinge kampfbereit in der Hand, während ich die Auseinandersetzung verfolgte und langsam nachrückte.
Er war gut, sogar noch besser, als ich ihn in Erinnerung hatte. Er stürmte wie ein Wirbelwind vor, und seine Klinge blitzte förmlich vor Leben – und säte Tod. Die Gegner fielen reihenweise vor ihm. An diesem Tag behauptete er sich, wie es seinem Stande zukam. Ich fragte mich, wie lange er das durchhalten konnte.
Er hielt einen Dolch in der Linken und benutzte ihn mit brutaler Geschicklichkeit, sobald er eine Möglichkeit im Nahkampf sah. Er ließ die Klinge schließlich im Hals des elften Opfers stecken.
Die Schlange der Gegner schien kein Ende zu nehmen. Offenbar erstreckte sie sich bis zum Absatz am oberen Ende. Ich wünschte, daß ich nicht in den Kampf eingreifen müßte – und hätte fast schon zu hoffen gewagt.
Drei weitere Männer stürzten an mir vorbei, und wir erreichten einen kleinen Absatz und eine Biegung. Bleys räumte den Treppenabsatz und begann weiter emporzusteigen. Eine halbe Stunde lang beobachtete ich ihn, und die Gegner starben einer nach dem anderen. Ich hörte das ehrfürchtige Gemurmel der Männer hinter mir. Ich begann fast zu glauben, er könne es schaffen.
Er arbeitete mit allen Tricks. Er führte die gegnerischen Waffen und Augen mit seinem Mantel in die Irre. Er stellte den Kriegern manches Bein. Er umklammerte Handgelenke und zerrte mit voller Kraft daran.
Wieder erreichten wir einen Treppenabsatz. An seinem Ärmel schimmerte nun etwas Blut, doch er lächelte ständig, und die Krieger hinter den Männern, die er tötete, hatten totenbleiche Gesichter, als die Reihe an ihnen war, sich ihm zu stellen. Dies steigerte seinen Schwung. Und vielleicht trug die Tatsache, daß ich hinter Bleys bereitstand, noch mehr zu ihren Ängsten bei, machte sie langsamer, belastete ihre Nerven. Wie ich später erfuhr, wußten diese Männer von der Schlacht auf See.
Bleys kämpfte sich zum nächsten Treppenabsatz vor und stieg weiter. Ich hatte nicht geglaubt, daß er es so weit schaffen konnte. Ich glaubte auch nicht, daß ich Ähnliches vollbringen konnte.
Es war das phänomenalste Beispiel von Waffengeschick und Ausdauer, das ich gesehen hatte, seit Benedict in einer großartigen Leistung den Paß über Arden gegen die Mondreiter von Ghenesh verteidigt hatte.
Doch Bleys ermüdete langsam, das war zu erkennen. Wenn es nur eine Möglichkeit gegeben hätte, mich an ihm vorbeizuschieben . . .!
Aber die gab es nicht. Also folgte ich ihm und fürchtete jeden Streich, der sein letzter sein könnte.
Ich spürte, daß seine Kräfte erlahmten. Wir befanden uns noch hundert Fuß vom Ende der Treppe entfernt.
Mein Mitgefühl galt ihm. Er war mein Bruder, und er hatte mich gut behandelt. Ich glaube, er selbst bezweifelte in diesen Sekunden, daß er es schaffen würde – dennoch kämpfte er weiter wie ein Löwe – womit er mir die Chance auf den Thron eröffnete.
Er tötete drei weitere Männer, und bei jedem Gegner bewegte sich seine Klinge langsamer. Mit dem vierten duellierte er sich etwa fünf Minuten lang, ehe er ihn ausschalten konnte. Ich war sicher, daß der nächste sein letzter sein würde.
Aber das war nicht der Fall.
Als er den Mann umbrachte, wechselte ich meine Klinge in die linke Hand, zog mit der rechten meinen Dolch und schleuderte ihn.
Die Waffe bohrte sich bis zum Heft in den Hals des nächsten Gegners.
Bleys sprang zwei Stufen empor und zertrennte dem Mann vor sich die Achillessehne und kippte ihn in die Tiefe.
Dann hieb er aufwärts, riß dem nachfolgenden Kämpfer den Unterleib auf.
Ich stürmte vor, um die Lücke aufzufüllen, um mich unmittelbar hinter ihm aufzuhalten, kampfbereit. Doch er brauchte mich noch nicht.
Mit neu aufflackernder Energie tötete er die beiden nächsten Männer. Ich rief nach einem weiteren Dolch, der mir von hinten gereicht wurde.
Ich hielt die Klinge bereit, bis Bleys wieder langsamer wurde, und tötete damit den Mann, gegen den er kämpfte.
Als die Waffe durch die Luft zischte, stürmte der Mann gerade vor und wurde mehr vom Griff als von der Klinge getroffen. Doch die Wucht des Aufpralls am Kopf genügte, Bleys drückte gegen seine Schulter, und der Mann stürzte ab. Aber schon griff der nächste Soldat an. Obwohl er sich selbst aufspießte, traf er Bleys an der Schulter, und beide taumelten gemeinsam über die Kante.
Wie durch Reflex, in einer jener mikrosekundenschnellen Entscheidungen, deren Rechtfertigung man erst findet, nachdem sie längst gefallen sind, zuckte meine linke Hand zum Gürtel, riß die Schachtel mit den Trümpfen heraus und warf sie Bleys zu, der einen Augenblick lang zu verharren schien – so schnell waren meine Wahrnehmungen und Muskeln. »Fang sie, du Dummkopf!« brüllte ich.
Und er fing das Päckchen auf.
Ich hatte keine Zeit mehr, mich um die weiteren Geschehnisse zu kümmern, da ich schon parieren und zustoßen mußte. Dann begann die letzte Etappe unseres Anstiegs auf den Kolvir-Berg.
Beschränken wir uns auf den Hinweis, daß ich es schaffte und keuchend dastand, als meine Truppen über den Rand kletterten, um mir auf dem letzten Treppenabsatz zur Seite zu stehen.
Wir konsolidierten unsere Streitkräfte und drangen weiter vor.
Es dauerte eine Stunde, bis wir das Große Tor erreichten.
Wir stürmten hindurch. Wir betraten Amber.
Wo immer Eric auch sein mochte, er hatte sicher nicht damit gerechnet, wir würden es bis hierhin schaffen.
Und ich fragte mich, wo Bleys wohl steckte. Hatte er Gelegenheit gefunden, einen Trumpf zu ziehen und zu benutzen, ehe er unten aufprallte? Eine Antwort auf diese Frage würde ich wohl nie erhalten.
Wir hatten die Lage unterschätzt, in vollem Ausmaß. Wir waren hoffnungslos unterlegen, und es blieb uns nichts anderes übrig, als bis zum Äußersten zu kämpfen. Warum hatte ich Bleys törichterweise meine Trümpfe zugeworfen? Ich wußte, daß er kein Spiel besaß, und diese Tatsache hatte wohl meine Reaktion bestimmt, die zudem noch von meinem Aufenthalt auf der Schatten-Erde geprägt worden war. Aber wenn es jetzt zum Schlimmsten kam, hätte ich die Karten zur Flucht benutzen können.
Und es kam zum Schlimmsten.
Wir kämpften bis zum Einbruch der Dämmerung, und zu dieser Zeit war nur noch eine kleine Gruppe von uns am Leben.
Wir waren an einem Punkt etwa tausend Meter innerhalb der Mauern Ambers umzingelt – noch immer weit vom Palast. Wir kämpften in der Defensive – und einer nach dem anderen starben wir. Wir wurden überwältigt.
Llewella oder Deirdre hätten mir Schutz geboten. Warum hatte ich es getan? Ich tötete einen Mann und schlug mir die Frage aus dem Kopf.
Die Sonne ging unter, und Dunkelheit füllte den Himmel. Wir waren nur noch hundert Mann und hatten auf dem Weg zum Palast kaum Fortschritte gemacht.
Dann entdeckte ich Eric und hörte ihn Befehle brüllen. Wenn ich ihn doch nur erreichen könnte!
Aber das konnte ich nicht.
Vermutlich hätte ich in diesem Augenblick kapituliert, um die restlichen Soldaten zu retten, die mir viel zu gute Dienste geleistet hatten.
Aber es gab niemanden, dem ich mich hätte ergeben können, niemanden, der eine Kapitulation verlangte. Eric hätte mich nicht hören können, wenn ich losgebrüllt hätte. Er war weit hinten und befehligte seine Leute.
Und so kämpften wir weiter, und bis auf hundert Mann existierte meine Streitmacht nicht mehr.
Machen wir es kurz.
Man tötete jeden einzelnen unserer Leute.
Mich bedachte man mit stumpfen Pfeilen und einem großen Netz.
Schließlich sank ich zu Boden, wurde niedergeknüppelt und gefesselt, und dann ging alles andere unter bis auf einen Alptraum, der sich an mich klammerte und unter keinen Umständen loslassen wollte.
Wir waren besiegt.
Ich erwachte in einem Verlies unter Amber, und es tat mir leid, daß ich es bis hierhin geschafft hatte.
Die Tatsache, daß ich noch lebte, deutete daraufhin, daß Eric Pläne mit mir hatte. Ich stellte mir Streckbänke und Kammern, Flammen und Zangen vor. Auf feuchtem Stroh liegend, beschäftigte ich mich mit den kommenden Erniedrigungen.
Wie lange war ich bewußtlos gewesen? Ich wußte es nicht.
Ich durchsuchte meine Zelle nach einem Werkzeug, mit dem ich Selbstmord begehen konnte. Aber ich fand nichts Geeignetes.
Meine Wunden brannten wie Sonnen, und ich war ungeheuer müde.
Ich legte mich nieder und schlief erneut ein.
Ich erwachte, und noch immer kümmerte sich niemand um mich. Es gab niemanden zu überzeugen, niemanden zu foltern.
Auch hatte ich nichts zu essen.
Ich lag in der Zelle auf dem Boden, in meinen Mantel gehüllt, und ließ mir alles durch den Kopf gehen, was geschehen war, seitdem ich in Greenwood mein Bewußtsein erlangt und mich einer Spritze widersetzt hatte. Vielleicht hätte ich das lieber nicht tun sollen.
Ich erfuhr, was Verzweiflung bedeutet.
Bald würde sich Eric zum König von Amber krönen. Vielleicht war es schon geschehen.
Aber der Schlaf war etwas Herrliches, und ich war so ungeheuer müde!
Zum erstenmal hatte ich Gelegenheit, mich auszuruhen und meine Wunden zu vergessen.
Die Zelle war dunkel; sie stank und war feucht.