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Es war etwa acht Uhr, als mich das Taxi an einer willkürlich gewählten Straßenecke der nächsten Stadt absetzte. Ich bezahlte den Fahrer und wanderte zwanzig Minuten lang ziellos herum. Dann machte ich in einem Schnellrestaurant Station, bestellte Fruchtsaft, Eier, Toast, Speck und drei Tassen Kaffee. Der Speck war zu fett.

Nachdem ich meine Frühstückspause auf über eine Stunde ausgedehnt hatte, wanderte ich weiter, fand ein Kleidergeschäft und wartete, bis um halb zehn Uhr aufgemacht wurde.

Dann kaufte ich ein paar Hosen, drei Sporthemden, einen Gürtel, etwas Unterkleidung und ein Paar bequeme Schuhe. Außerdem suchte ich mir ein Taschentuch, eine Brieftasche und einen Taschenkamm aus.

Anschließend ging ich zur Greyhound-Station und stieg in einen Bus nach New York. Niemand versuchte mich aufzuhalten. Niemand schien nach mir zu suchen.

Während ich die vorbeihuschende Landschaft betrachtete, die in bunten Herbstfarben leuchtete und unter einem hellen, kalten Himmel von frischen Windböen bewegt wurde, ließ ich mir all die Dinge, die ich über mich und meine Lage wußte, durch den Kopf gehen.

Ich war von meiner Schwester Evelyn Flaumel als Carl Corey in Greenwood eingeliefert worden. Dies war als Folge eines Autounfalls geschehen, der etwa vierzehn Tage zurücklag – und bei dem ich mir angeblich Knochenbrüche zugezogen hatte, die mir aber keine Schwierigkeiten mehr machten. Ich hatte keinerlei Erinnerung an eine Schwester Evelyn. Die Leute in Greenwood waren angewiesen, mich ruhig zu halten, fürchteten aber rechtliche Konsequenzen, als ich mich befreien konnte und sie bedrohte. Also gut. Irgend jemand hatte Angst vor mir – aus irgendeinem Grund. An diesem Punkt wollte ich einhaken.

Ich zwang mich, an den Unfall zu denken, konzentrierte mich darauf, bis ich Herzschmerzen bekam. Es war kein Unfall gewesen. Dieser Eindruck schälte sich heraus, obwohl ich den Grund dafür nicht wußte. Aber ich würde die Wahrheit schon feststellen, und jemand würde dafür büßen müssen! Und zwar gehörig! Ein ungeheurer Zorn flammte plötzlich in mir auf. Wer mir weh zu tun versuchte, wer mich für seine Zwecke einspannen wollte, handelte auf eigene Gefahr und würde nun seine gerechte Strafe erhalten, wer immer dahinterstecken mochte. Mordgedanken bewegten mich, und ich wußte, daß ich solche Gefühle nicht zum erstenmal hatte, daß ich diesem Impuls in der Vergangenheit schon stattgegeben hatte. Und zwar mehr als einmal.

Ich starrte aus dem Fenster und sah zu, wie die toten Blätter von den Bäumen fielen.

Als ich die große Stadt erreichte, suchte ich den nächsten Frisiersalon auf und bestellte Rasur und Haarschnitt; anschließend wechselte ich auf der Toilette Hemd und Unterhemd, denn ich mag es nicht, wenn mir Haarschnipsel über den Rücken rieseln. Die .32 Automatic, die dem namenlosen Individuum in Greenwood gehörte, ruhte in meiner rechten Jackentasche. Wenn Greenwood oder meine Schwester mich schleunigst wieder festsetzen wollten, mochte ihnen eine Übertretung des Waffengesetzes gerade recht kommen. Dennoch beschloß ich die Waffe zu behalten, denn auf jeden Fall mußten sie mich zuerst mal finden, und ich wollte gewappnet sein. Ich aß kurz zu Mittag, fuhr eine Stunde lang mit U-Bahn und Bussen herum, bestieg schließlich ein Taxi, das mich zu Evelyns Adresse in Westchester brachte, zu Evelyn, meiner angeblichen Schwester, die hoffentlich mein Gedächtnis etwas auftauen würde.

Schon vor meiner Ankunft hatte ich mir eine Taktik zurechtgelegt.

Als dann schließlich die Tür des großen Hauses dreißig Sekunden nach meinem Klopfen aufschwang, wußte ich, was ich sagen wollte. Ich hatte darüber nachgedacht, während ich die gewundene weiße Kiesauffahrt entlangging, zwischen dunklen Eichen und hellschimmernden Ahornbäumen, während unter meinen Füßen das Laub raschelte und mir der Wind kühl um den frischgeschorenen Hals im hochgeschlagenen Jackenkragen strich.

Der Duft meines Haarwassers vermengte sich mit dem dumpfen Geruch der Efeuranken, die sich an den Mauern des alten Gebäudes hochzogen. Nichts kam mir aus meiner Erinnerung vertraut vor. Ich hatte den Eindruck, noch nie hier gewesen zu sein.

Ich hatte geklopft; das Geräusch hatte ein Echo gefunden.

Dann hatte ich die Hände in die Taschen gesteckt und gewartet.

Als die Tür aufging, lächelte und nickte ich dem Hausmädchen entgegen; sie hatte zahlreiche Leberflecken, eine dunkle Haut und einen puertoricanischen Akzent.

»Ja?« fragte sie.

»Ich möchte bitte Mrs. Evelyn Flaumel sprechen.«

»Wen darf ich anmelden?«

»Ihren Bruder Carl.«

»Oh, kommen Sie doch bitte herein«, forderte sie mich auf.

Ich betrat den Flur. Der Boden war ein Mosaik aus winzigen lachs- und türkisfarbenen Kacheln, die Wände waren mahagoniverkleidet, in einem Raumteiler zu meiner Linken stand eine Wanne voller großblättriger Gewächse. Von oben spendete ein Würfel aus Glas und Emaille ein gelbliches Licht.

Das Mädchen verschwand, und ich suchte meine Umgebung nach vertrauten Dingen ab.

Nichts.

Also wartete ich.

Schließlich kehrte das Hausmädchen zurück, nickte lächelnd und sagte: »Bitte folgen Sie mir. Man wird Sie in der Bibliothek empfangen.«

Ich folgte ihr drei Stufen hinauf und an zwei geschlossenen Türen vorbei durch einen Korridor. Die dritte Tür zur Linken war offen, und das Mädchen bedeutete mir einzutreten. Ich gehorchte und blieb auf der Schwelle stehen.

Wie alle Bibliotheken war der Raum voller Bücher. Drei Gemälde hingen an den Wänden, zwei ruhige Landschaften und ein friedlicher Meerblick.

Der Boden war mit dickem, grünem Material ausgelegt. Neben dem Tisch stand ein riesiger alter Globus, Afrika war mir zugewendet; dahinter erstreckte sich ein zimmerbreites Fenster, in kleine Glasfelder unterteilt. Doch nicht deswegen hielt ich auf der Schwelle inne.

Die Frau hinter dem Tisch trug ein blaugrünes Kleid mit breitem Kragen und V-Ausschnitt, hatte langes Haar und herabhängende Locken, in der Farbe etwa zwischen Sonnenuntergangswolken und der Außenkante einer Kerzenflamme in einem abgedunkelten Raum. Naturfarben, wie ich instinktiv wußte. Die Augen hinter einer Brille, die sie meinem Gefühl nach nicht brauchte, waren so blau wie der Erie-See um drei Uhr an einem wolkenlosen Sommernachmittag; und die Tönung ihres gezwungenen Lächelns paßte zu ihrem Haar. Doch auch das brachte mich nicht ins Stocken.

Ich kannte sie von irgendwoher – wenn ich den Ort auch nicht zu nennen vermochte.

Ich trat vor, ohne mein Lächeln zu verändern.

»Hallo«, sagte ich.

»Setz dich, bitte«, sagte sie und deutete auf einen Sessel mit hoher Lehne und breiten Armstützen, der weich und orangefarben gepolstert und genau in dem Winkel zurückgeklappt war, wie ich es zum Herumlümmeln gern hatte.

Ich kam der Aufforderung nach, und sie sah mich an.

»Freut mich, daß du wieder auf den Beinen bist.«

»Ich auch. Wie ist es dir ergangen?«

»Gut, danke der Nachfrage. Ich muß zugeben, daß ich dich hier nicht zu sehen erwartet hätte.«

»Ich weiß«, hakte ich nach. »Aber hier bin ich nun, um dir für deine schwesterliche Fürsorge zu danken.« Ich legte einen leicht ironischen Ton in meine Worte, weil mich ihre Reaktion interessierte.

In diesem Augenblick kam ein riesiger Hund ins Zimmer – ein irischer Wolfshund – und rollte sich vor dem Tisch zusammen. Ein zweiter folgte und wanderte zweimal um den Globus, ehe er sich ebenfalls hinlegte.

»Nun«, sagte sie ebenso ironisch, »das war das mindeste, was ich für dich tun konnte. Du müßtest eben vorsichtiger fahren.«

»Ab jetzt«, sagte ich, »werde ich vorsichtiger sein, das verspreche ich dir.« Ich wußte nicht, welche Rolle ich hier eigentlich spielte, aber da sie nicht wußte, daß ich nichts wußte, beschloß ich, sie gründlich auszuhorchen. »Ich hatte mir gedacht, es würde dich interessieren, wie es mir geht, und bin gekommen, damit du mich anschauen kannst.«

»Neugierig war ich tatsächlich – und bin es immer noch«, erwiderte sie. »Hast du schon gegessen?«

»Etwas Schnelles, vor mehreren Stunden.«

Sie klingelte nach dem Mädchen und bestellte etwas zu essen. Dann sagte sie: »Ich hatte mir schon gedacht, daß du Greenwood verlassen würdest, sobald du dazu in der Lage warst. Allerdings hatte ich nicht angenommen, daß es so schnell geschehen würde – und daß du dann hierherkommen würdest!«

»Ich weiß«, sagte ich, »deshalb bin ich ja hier.«

Sie bot mir eine Zigarette an, ich nahm sie, gab uns beiden Feuer. »Du hattest schon immer was übrig für Überraschungen«, vertraute sie mir schließlich an. »Wenn dir das auch bisher oft geholfen hat, würde ich mich an deiner Stelle lieber nicht mehr darauf verlassen.«

»Wie meinst du das?« fragte ich.

»Das Wagnis ist für einen Bluff viel zu groß, und für genau das halte ich deinen Auftritt hier; ich habe deinen Mut stets bewundert, Corwin, aber sei kein Dummkopf. Du weißt doch, worum es geht.«

Corwin? Speichern unter »Corey.«

»Vielleicht weiß ich nicht mehr Bescheid«, sagte ich. »Vergiß nicht, daß ich eine Weile geschlafen habe.«

»Soll das heißen, du hast keinen Kontakt mehr gehabt?«

»Seit meinem Erwachen hatte ich keine Gelegenheit dazu.«

Sie legte den Kopf auf die Seite und kniff die herrlichen Augen zusammen.

»Unbesonnen«, sagte sie, »aber möglich. Immerhin möglich. Vielleicht sagst du die Wahrheit. Bei dir wäre das denkbar. Ich will im Augenblick mal darauf eingehen. Vielleicht hast du sogar besonders klug und vorsichtig gehandelt. Ich werde darüber nachdenken.«

Ich zog an meiner Zigarette und hoffte, daß sie noch mehr sagen würde. Aber da sie schwieg, wollte ich den möglichen Vorteil nutzen, den ich in diesem unverständlichen Spiel herausgeholt hatte – ein Spiel mit Spielern, die ich nicht kannte, und um Einsätze, von denen ich keine Ahnung hatte.

»Die Tatsache, daß ich hier bin, besagt etwas«, meinte ich.

»Ja«, erwiderte sie. »Ich weiß. Aber du bist schlau, also könnte dein Hiersein auf mehr als eine Möglichkeit hindeuten. Warten wir’s ab, dann sehen wir klarer.«

Warten worauf? Um was zu sehen? Welche Möglichkeiten?

In diesem Augenblick wurden Steaks und ein großer Krug Bier aufgetragen. Dadurch war ich vorübergehend der Notwendigkeit enthoben, geheimnisvolle und allgemeingültige Äußerungen zu machen, die sie für raffiniert oder verschlüsselt halten konnte. Mein Steak war sehr gut, innen saftig-rosa, und ich zerrte mit den Zähnen an dem hartgerösteten frischen Brot und schluckte durstig das Bier. Sie lachte, während sie kleine Bissen von ihrem Steak abschnitt.

»Mir gefällt der Schwung, mit dem du das Leben anpackst, Corwin. Das ist einer der Gründe, warum es mir zuwider wäre, wenn du es verlieren würdest.«

»Mir auch«, brummte ich.

Während des Essens beschäftigte ich mich ein wenig mit ihr. Sie saß da in einem tief ausgeschnittenen Kleid, das grün war wie das Grün des Meeres und unten schwungvoll weit geschnitten.

Musik ertönte, es wurde getanzt, Stimmen murmelten hinter uns. Ich trug Schwarz und Silber, und . . . Die Vision verschwand. Aber es war ein echtes Stück aus meiner Erinnerung, davon war ich überzeugt; ich fluchte innerlich, daß mir das Gesamtbild fehlte. Was hatte sie mir damals gesagt, sie in ihrem grünen Kleid, ich in meinem schwarzsilbernen Gewand, in jener Nacht, beim Klang der Musik und der Stimmen – was hatte sie mir da gesagt?

Ich schenkte Bier aus dem Krug nach und beschloß die Vision auf die Probe zu stellen.

»Ich erinnere mich da an einen Abend«, sagte ich, »du warst von Kopf bis Fuß in Grün gekleidet, und ich trug meine Farben. Wie schön mir damals alles vorkam – und die Musik . . .!«

Ihr Gesicht nahm einen sehnsüchtigen Ausdruck an, die Wangenmuskeln entspannten sich.

»Ja«, sagte sie. »War das nicht eine großartige Zeit? . . . Du hast wirklich keine Verbindung mehr?«

»Ehrenwort«, sagte ich, was immer mein Wort wert sein mochte.

»Die Dinge sind im Grunde viel schlimmer geworden«, sagte sie, »und die Schatten enthalten mehr Schrecknisse, als man sich hat träumen lassen . . .«

»Und . . .?« fragte ich.

»Er hat noch immer seine Sorgen«, endete sie.

»Oh.«

»Ja«, fuhr sie fort, »und er wird natürlich wissen wollen, wo du stehst.«

»Hier«, sagte ich.

»Soll das heißen . . .?«

»Wenigstens im Augenblick«, sagte ich – vielleicht ein wenig zu hastig, denn sie hatte die Augen zu sehr aufgerissen. »Schließlich habe ich noch keinen rechten Überblick.« Was immer das bedeuten mochte.

»Oh.«

Und wir aßen unser Steak und leerten die Biergläser und warfen den Hunden die Reste vor.

Hinterher tranken wir Kaffee, und ich erlebte einen Anfall brüderlicher Gefühle, die ich aber unterdrückte. »Was ist mit den anderen?« fragte ich – und das konnte alles bedeuten, klang aber ungefährlich.

Einen Augenblick lang war ich besorgt, sie könnte mich fragen, was ich denn meinte. Statt dessen lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück, blickte zur Decke empor und sagte: »Wie immer, hat man von keinem der Verschollenen gehört. Vielleicht war deine Methode die beste. Ich habe ja selbst Spaß daran. Aber wie könnte man je – die Pracht vergessen?«

Ich senkte den Blick, weil ich nicht sicher war, was ich hätte hineinlegen müssen. »Das kann man auch nicht«, sagte ich. »Niemals.«

Es folgte ein langes unbehagliches Schweigen. »Haßt du mich?« fragte sie schließlich.

»Natürlich nicht«, erwiderte ich. »Wie könnte ich das denn – wenn man es genau bedenkt?«

Diese Antwort schien sie zu freuen, und sie ließ ihre weißen Zähne blitzen.

»Gut, und vielen Dank«, sagte sie. »Was du auch sein magst, du bist auf jeden Fall ein Gentleman.«

Ich grinste und verbeugte mich.

»Du verdrehst mir noch den Kopf.«

»Sicher nicht«, meinte sie, »wenn man es genau bedenkt.«

Und mir war unbehaglich zumute.

Der Zorn loderte nach wie vor in mir, und ich fragte mich, ob sie wisse, gegen wen er sich richten müßte. Ich hatte das Gefühl, daß sie Bescheid wußte. Ich kämpfte mit dem Wunsch, sie geradeheraus danach zu fragen, unterdrückte die Anwandlung aber.

»Na, was gedenkst du zu tun?« fragte sie schließlich, und damit steckte ich in der Klemme.

»Natürlich vertraust du mir nicht . . .«, erwiderte ich.

»Wie könnten wir das?«

Das wir mußte ich mir merken.

»Nun denn. Zunächst bin ich bereit, mich deiner Überwachung zu stellen. Ich würde gern hierbleiben, wo du mich im Auge behalten kannst.«

»Und hinterher?«

»Hinterher? Wir werden sehen.«

»Geschickt«, sagte sie, »sehr geschickt. Damit bringst du mich in eine unangenehme Lage.« (Ich hatte mich so entschlossen, weil ich nicht wußte, wo ich sonst unterkriechen sollte und das erpreßte Geld mich nicht lange über Wasser halten konnte.) »Natürlich darfst du bleiben. Aber ich möchte dich warnen . . .«, bei diesen Worten betastete sie ein Gebilde an einer Halskette, das ich für eine Art Schmuckstück hielt –»dies ist eine Ultraschallpfeife. Blitz und Donner haben vier Brüder, die darauf getrimmt sind, Störenfriede anzugreifen, und sie reagieren auf meine Pfeife. Versuch also nicht irgendwohin zu gehen, wo du nicht erwünscht bist. Ein kleiner Pfiff, und auch du bist ihr Opfer. Diese Hunderasse ist der Grund, warum es in Irland keine Wölfe mehr gibt.«

»Ich weiß«, sagte ich und erkannte dabei, daß ich es tatsächlich wußte.

»Ja«, fuhr sie fort. »Es wird Eric gefallen, daß du mein Gast bist. Diese Tatsache müßte ihn dazu bringen, dich in Ruhe zu lassen – und darum geht es dir doch, n’est-ce pas?«

»Oui«, erwiderte ich.

Eric! Der Name sagte mir etwas! Ich hatte tatsächlich einen Eric gekannt, und diese Tatsache war einmal sehr wichtig gewesen. Allerdings nicht in letzter Zeit. Aber der Eric, den ich kannte, war noch immer da, und das war wichtig.

Warum?

Ich haßte ihn – das war einer der Gründe. Ich haßte ihn so sehr, daß ich mit dem Gedanken gespielt hatte, ihn umzubringen. Vielleicht hatte ich es sogar schon versucht.

Auch gab es eine Bindung zwischen uns, das wußte ich.

Waren wir verwandt?

Ja, das war’s! Keinem von uns gefiel es, daß wir – Brüder waren . . . ich erinnerte mich, erinnerte mich . . .!

Der große, starke Eric mit dem nassen Kräuselbart und seinen Augen – die Evelyns Augen ähnlich sahen!

Eine neue Woge der Erinnerung durchfuhr mich, während meine Schläfen zu schmerzen begannen und sich mein Nacken plötzlich heiß anfühlte.

Ich ließ mir im Gesicht nichts anmerken und zwang mich, an meiner Zigarette zu ziehen und nach meinem Bier zu greifen. Im nächsten Moment wurde mir bewußt, daß Evelyn wirklich meine Schwester war! Nur hieß sie nicht Evelyn. Ihr richtiger Name wollte mir nicht einfallen, sie hieß jedenfalls nicht Evelyn. Ich beschloß vorsichtig zu sein. Wenn ich sie anredete, wollte ich lieber gar keinen Namen benutzen, bis mir der richtige einfiel.

Und was war mit mir? Was ging hier eigentlich vor?

Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß Eric irgendwie mit meinem Unfall zu tun hatte.

Der Sturz hätte eigentlich tödlich sein müssen, doch ich war durchgekommen. Er war der Gesuchte, nicht wahr? Ja, sagte mir mein Gefühl. Eric mußte es sein. Und Evelyn arbeitete mit ihm zusammen, bezahlte Greenwood, um mich im Koma zu halten. Besser das als tot, aber . . .

Ich erkannte, daß ich mich irgendwie in Erics Gewalt begeben hatte, indem ich zu Evelyn kam, und daß ich, wenn ich blieb, sein Gefangener sein würde, einem neuen Angriff schutzlos ausgesetzt.

Aber sie hatte angedeutet, daß mein Aufenthalt hier Eric veranlassen würde, mich in Ruhe zu lassen. War das möglich? Im Grunde durfte ich keiner Äußerung glauben. Ich mußte ständig auf der Hut sein. Vielleicht war es besser, wenn ich einfach verschwand und meine Erinnerungen langsam zurückkehren ließ.

Aber ich hatte ein beunruhigendes Gefühl der Dringlichkeit. Ich mußte schnellstmöglich Klarheit gewinnen und dann sofort handeln. Dieser Gedanke beherrschte mich wie ein Zwang. Wenn ich meine Erinnerungen nur unter Gefahr auffrischen konnte, wenn ich die richtige Gelegenheit nur im Risiko finden konnte, dann mußte ich so handeln. Ich wollte bleiben.

»Und ich erinnere mich«, sagte Evelyn, und mir wurde bewußt, daß sie schon eine Weile gesprochen hatte, ohne daß ich überhaupt zugehört hatte. Vielleicht lag es an der Nachdenklichkeit in ihrer Stimme, die keine Reaktion erforderte – und am Zwang meiner Gedanken.

»Und ich erinnere mich an den Tag, als du Julian bei seinem Lieblingsspiel besiegtest und er ein Glas Wein nach dir schleuderte und dich verwünschte. Aber du nahmst den Preis entgegen. Und er hatte plötzlich Angst, zu weit gegangen zu sein. Aber du hast nur gelacht und ein Glas mit ihm getrunken. Ich glaube, ihm tat sein Temperamentsausbruch hinterher leid, wo er doch sonst so beherrscht ist, und ich glaube, er war an jenem Tag neidisch auf dich. Weißt du noch? Ich glaube, er hat seither vieles von dir kopiert. Aber ich hasse ihn noch immer und hoffe, daß es ihn bald erwischt. Ich habe so ein Gefühl, als ob es bald soweit wäre . . .«

Julian, Julian, Julian. Ja und nein.

Die vage Erinnerung an ein Spiel, an das Quälen eines Mannes, dessen geradezu legendäre Selbstbeherrschung ich zerstört hatte. Ja, das alles war mir irgendwie vertraut; nein, ich vermochte nicht zu sagen, worum es dabei im einzelnen gegangen war.

»Und Caine, den hast du erst richtig übertölpelt. Er haßt dich sehr, das weißt du . . .«

Ich erkannte, daß ich nicht besonders beliebt war. Irgendwie gefiel mir diese Vorstellung.

Der Name Caine hörte sich ebenfalls vertraut an. Sehr sogar.

Eric, Julian, Caine, Corwin. Die Namen wirbelten mir im Kopf herum, und irgendwie konnte ich nicht mehr an mich halten.

»Es ist lange her . . .«, sagte ich fast gegen meinen Willen – eine Äußerung, die aber zu stimmen schien.

»Corwin«, sagte sie. »Reden wir nicht um den heißen Brei herum. Du willst mehr als Sicherheit, das weiß ich. Und du bist noch stark genug, etwas herauszuholen, wenn du deine Trümpfe nur richtig ausspielst. Ich habe keine Ahnung, was du im Schilde führst, aber vielleicht können wir mit Eric zu einem Arrangement kommen.« Die Bedeutung des wir hatte sich offenbar verändert. Sie war zu einem Urteil über meinen Wert in den unbekannten Dingen gelangt, die hier vorgingen. Sie sah eine Chance, etwas für sich selbst herauszuholen, das spürte ich. Ich lächelte, aber nicht zu sehr. »Bist du deshalb hergekommen?« fuhr sie fort. »Hast du einen Vorschlag für Eric, etwas, das einen Zwischenträger erfordert?«

»Kann durchaus sein«, erwiderte ich, »wenn ich noch ein bißchen gründlicher darüber nachgedacht habe. Ich bin erst seit so kurzer Zeit wieder auf den Beinen, daß ich mir noch so manches durch den Kopf gehen lassen muß. Jedenfalls möchte ich an dem Ort sein, wo ich am schnellsten handeln könnte, wenn ich zu dem Schluß käme, daß mir auf Erics Seite am besten gedient wäre.«

»Sieh dich vor«, sagte sie. »Du weißt, daß ich ihm jedes Wort weitererzähle.«

»Natürlich«, sagte ich, ohne es wirklich zu wissen; ich mußte nur schnell parieren, »es sei denn, deine Interessen gingen mit den meinen konform.«

Ihre Augenbrauen rückten enger zusammen, und dazwischen erschienen einige winzige Falten.

»Ich verstehe nicht so recht, was du mir da eigentlich vorschlägst.«

»Ich schlage dir gar nichts vor, noch nicht. Ich bin nur ganz ehrlich mit dir und sage, daß ich es nicht weiß. Ich bin noch gar nicht überzeugt, daß ich mich mit Eric arrangieren möchte. Schließlich . . .« Ich ließ das Wort bewußt in der Luft hängen, denn ich hatte nichts nachzusetzen, obwohl ich eigentlich das Gefühl hatte, ich müßte weitersprechen.

»Man hat dir eine Alternative geboten?«

Plötzlich stand sie auf und ergriff ihre Pfeife. »Natürlich steckt Bleys dahinter!«

»Setz dich«, sagte ich, »und stell dich nicht lächerlich an. Würde ich mich so bereitwillig in deine Hand begeben, nur um mich zu Hundefutter verarbeiten zu lassen, wenn du zufällig an Bleys denkst?«

Sie entspannte sich, sank vielleicht sogar etwas in sich zusammen, und nahm wieder Platz.

»Vielleicht nicht«, sagte sie schließlich. »Aber ich weiß, daß du ein Spieler bist und hinterlistig sein kannst. Wenn du gekommen bist, um mich als Gegner zu beseitigen, solltest du den Versuch lieber bleibenlassen. So wichtig bin ich nicht, was du inzwischen selbst wissen müßtest. Außerdem hatte ich bisher immer angenommen, daß du mich ganz gern hast.«

»Das war und ist durchaus richtig«, sagte ich, »und du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Aber es ist interessant, daß du Bleys erwähnst.« Ich mußte Köder legen, immer wieder Köder! Es gab noch so viel zu erfahren!

»Warum? Hat er sich denn wirklich mit dir in Verbindung gesetzt?«

»Die Frage möchte ich lieber nicht beantworten«, sagte ich in der Hoffnung, mir damit einen Vorteil zu verschaffen. Jedenfalls wußte ich nun Bleys’ Geschlecht. »Wenn er zu mir gekommen wäre, hätte ich ihm dieselbe Antwort gegeben wie Eric – ›Ich werde darüber nachdenken.‹«

»Bleys«, sagte sie noch einmal, und ich wiederholte im Geiste den Namen, Bleys. Bleys, ich mag dich. Ich habe den Grund vergessen, und ich weiß, daß es Gründe gibt, warum ich dich nicht gernhaben sollte – aber ich mag dich, soviel ist klar.

Wir saßen uns eine Zeitlang stumm gegenüber, und ich fühlte eine Müdigkeit in mir aufsteigen, die ich aber nicht zeigen wollte. Ich konnte stark sein. Und ich wußte, daß ich stark sein mußte.

Ich saß da und lächelte und sagte: »Hübsche Bibliothek hast du hier«, und sie erwiderte: »Vielen Dank.«

»Bleys«, wiederholte sie nach einer Weile. »Glaubst du wirklich, er hat eine Chance?«

Ich zuckte die Achseln.

»Wer weiß? Ich jedenfalls nicht. Vielleicht hat er eine. Mag sein.«

Dann starrte sie mich mit leicht aufgerissenen Augen an, und ihr Mund öffnete sich. »Du hast keine Chance?« fragte sie. »Du willst es doch nicht selbst versuchen, oder?«

Da lachte ich – doch nur um auf ihre Stimmung einzugehen.

»Sei doch kein Dummkopf«, sagte ich, als ich fertig war. »Ich?«

Aber schon als ihr die Worte über die Lippen kamen, wußte ich, daß sie eine besondere Saite berührt hatte, etwas in mir Vergrabenes, das mit einem kräftigen »Warum nicht?« antwortete.

Plötzlich hatte ich Angst.

Sie schien allerdings erleichtert zu sein über meine Ablehnung der Sache, über die ich nichts Näheres wußte. Sie lächelte plötzlich und deutete auf eine eingebaute Bar zu meiner Linken.

»Ich möchte gern einen Irischen Nebel«, sagte sie.

»Ich eigentlich auch«, erwiderte ich, stand auf und machte zwei Drinks.

»Weißt du«, fuhr ich fort, als ich mich wieder gesetzt hatte, »es ist angenehm, so mit dir zusammen zu sein, auch wenn es nur für eine kurze Zeit ist. Es weckt Erinnerungen.«

Und sie lächelte und bot einen lieblichen Anblick.

»Du hast recht«, sagte sie und trank aus ihrem Glas. »In deiner Gesellschaft habe ich fast das Gefühl, in Amber zu sein.« Ich ließ fast mein Getränk fallen.

Amber! Das Wort ließ einen kribbelnden Schauder über meinen Rücken laufen.

Im nächsten Augenblick begann sie zu weinen, und ich stand auf und legte ihr tröstend den Arm um die Schultern.

»Du darfst nicht weinen, Mädchen. Bitte nicht. Das macht mich auch traurig.« Amber! Dieser Ort hatte etwas Besonderes, er war elektrisierend, machtvoll. »Es wird wieder gute Zeiten geben wie früher«, sagte ich leise.

»Glaubst du wirklich?« fragte sie.

»Ja!« sagte ich laut. »Ja, das glaube ich.«

»Du bist ja verrückt. Ich glaube dir fast alles, auch wenn ich weiß, daß du verrückt bist.«

Dann weinte sie noch ein Weilchen und beruhigte sich schließlich.

»Corwin«, sagte sie, »wenn du es schaffst – wenn dir eine unglaubliche, unvorstellbare Chance aus den Schatten den Weg ebnet – wirst du dich dann deiner kleinen Schwester Florimel erinnern?«

»Ja«, sagte ich und erkannte zugleich, daß sie so hieß. »Ja, ich werde an dich denken.«

»Danke. Ich werde Eric nur das Wesentliche mitteilen und Bleys überhaupt nicht erwähnen – und auch nicht meine neuesten Vermutungen.«

»Vielen Dank, Flora.«

»Aber ich traue dir kein bißchen«, fügte sie hinzu. »Daran solltest du auch denken.«

»Das ist selbstverständlich.«

Dann rief sie das Mädchen, das mir ein Zimmer zeigen sollte, und ich zog mich mühsam aus, sank ins Bett und schlief elf Stunden lang.

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