3

Am nächsten Morgen war sie fort, ohne eine Nachricht hinterlassen zu haben. Das Mädchen setzte mir das Frühstück in der Küche vor und zog sich zurück, um ihren Hausmädchenpflichten nachzukommen. Ich hatte den Impuls unterdrückt, die Frau auszuhorchen, da sie die Dinge, die ich wissen wollte, entweder nicht verraten würde oder vielleicht gar nicht über sie informiert war. Außerdem hätte sie den Versuch sicher Flora gemeldet. Da ich mich anscheinend im Haus frei bewegen konnte, beschloß ich statt dessen in die Bibliothek zurückzukehren. Vielleicht konnte ich dort etwas in Erfahrung bringen. Außerdem mag ich Bibliotheken. Wände aus schönen und weisen Worten ringsum geben mir ein Gefühl der Behaglichkeit und Sicherheit. Mir ist immer viel wohler, wenn ich sehe, daß es etwas gibt, mit dem sich die Schatten zurückdrängen lassen.

Donner und Blitz – oder einer ihrer Verwandten – erschien von irgendwoher und folgte mir mit steifen Beinen durch den Flur und beschnüffelte meine Fährte. Ich versuchte mich mit ihm anzufreunden, aber dabei war mir, als spräche ich mit einem Motorradpolizisten, der mich eben angehalten hatte. Unterwegs warf ich einen Blick in einige andere Zimmer, die einfach nur Zimmer waren, ganz normal.

Ich betrat also die Bibliothek, wo mir noch immer Afrika entgegenblickte. Ich schloß hinter mir die Tür, um die Hunde draußenzuhalten, und schlenderte durch den Raum, während ich die Titel auf den Regalen las.

Geschichtsbücher waren besonders zahlreich vertreten. Sie schienen in ihrer Sammlung zu überwiegen. Daneben entdeckte ich zahlreiche Kunstbücher der großformatigen, teuren Sorte und blätterte einige durch. Ich kann am besten nachdenken, wenn ich mich mit etwas anderem beschäftige.

Ich fragte mich, woher Floras Reichtum stammte. Wenn wir verwandt waren, bedeutete das, daß ich irgendwo auch über ausreichende Mittel verfügte? Ich dachte über meinen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Status, über meinen Beruf und meine Herkunft nach. Ich hatte das Gefühl, daß ich mir um Geld keine Sorgen machte und daß es immer genug Vermögen oder Verdienstmöglichkeiten gegeben hatte, um mich zufriedenzustellen. Besaß ich ein großes Haus wie dieses? Ich wußte es nicht mehr.

Welchen Beruf übte ich aus?

Ich saß hinter ihrem Tisch und durchforschte mein Gehirn nach besonderen Kenntnissen. Es ist schwierig, sich selbst auf diese Weise zu erkunden, als Fremden. Vielleicht ist das der Grund, warum ich nichts zu finden vermochte. Was zu einem Menschen gehört, gehört eben ihm, ist ein Teil von ihm und scheint einfach dorthin zu gehören, ins Innere. Das ist alles.

Arzt? Der Gedanke kam mir, während ich einige anatomische Zeichnungen Leonardos betrachtete. Fast automatisch war ich im Geiste die Etappen verschiedener chirurgischer Operationen durchgegangen. Ich erkannte, daß ich schon Operationen an Menschen durchgeführt hatte.

Aber das Bild stimmte noch nicht ganz. Mir war klar, daß ich eine medizinische Ausbildung hatte, die aber zu etwas anderem gehörte. Irgendwie war mir bewußt, daß ich kein praktizierender Chirurg war. Aber was dann? Was spielte da noch hinein?

Etwas lenkte meinen Blick auf sich.

Vom Tisch aus vermochte ich die gegenüberliegende Wand zu überschauen, an der unter anderem ein antiker Kavalleriesäbel hing, den ich bei meinem ersten Rundgang durch den Raum übersehen hatte. Ich stand auf, ging hinüber und nahm die Waffe von den Haken.

Im Geiste schüttelte ich den Kopf über den Zustand des Säbels. Ich wünschte mir Öllappen und Wetzstein, um die Waffe so aufzubereiten, wie es sich gehörte. Ich kannte mich mit antiken Waffen aus, besonders mit Hiebwaffen.

Der Säbel fühlte sich leicht und nützlich an, ich hatte das Gefühl, daß ich damit einiges anstellen konnte. Ich schlug en garde, parierte und hieb ein paarmal zu. Ja, ich konnte mit dem Ding umgehen.

Was für eine Basis war das? Ich sah mich nach weiteren Gedächtnishilfen um.

Da mir jedoch nichts anderes auffiel, hängte ich die Klinge wieder an die Wand und kehrte zum Tisch zurück. Als ich mich gesetzt hatte, beschloß ich, die Schubladen durchzusehen.

Ich begann in der Mitte, arbeitete mich auf der linken Seite schubladenweise hoch und auf der anderen wieder hinab.

Briefpapier, Umschläge, Briefmarken, Büroklammern, Bleistiftstümpfe, Gummibänder – die üblichen Sachen.

Allerdings zog ich jede Schublade ganz heraus und nahm sie auf den Schoß, während ich den Inhalt untersuchte. Dahinter stand keine bewußte Absicht.

Dieses Vorgehen gehörte vielmehr zu einer Ausbildung, die ich früher einmal erhalten hatte, eine Ausbildung, die mich veranlaßte, auch die Außenkanten und Unterseiten der Schubladen zu untersuchen.

Eine Kleinigkeit entging mir fast, fiel mir dann aber doch noch im letzten Augenblick auf. Die Rückwand der rechten unteren Schublade war nicht so hoch wie die der anderen.

Dies deutete auf etwas hin, und als ich mich niederkniete und in den Schreibtisch blickte, entdeckte ich ein kleines kastenähnliches Gebilde, das an der Oberseite festgemacht war.

Es war eine weitere kleine Lade, ganz hinten befestigt, und sie war verschlossen.

Ich mußte etwa eine Minute lang mit Büroklammern, Stecknadeln und einem Schuhanzieher aus Metall herumfummeln, den ich in einer anderen Schublade entdeckt hatte. Der Schuhanzieher brachte mich schließlich zum Ziel.

Die kleine Schublade enthielt einen Packen Spielkarten.

Der Karton trug eine Zeichnung, die mich auf den Knien erstarren und meinen Atem schneller gehen ließ, während mir der Schweiß auf die Stirn trat.

Ein weißes Einhorn auf grünem Feld – auf den Hinterbeinen stehend, nach rechts gewandt.

Ich kannte diese Zeichnung, und es schmerzte mich, daß ich keinen Namen dafür wußte.

Ich öffnete die Schachtel und zog die Karten heraus. Sie bauten auf dem Tarock auf mit Zauberstäben, Drudenfüßen, Kelchen und Schwertern, doch die Großen Trümpfe sahen ganz anders aus.

Ich schob beide Schubladen wieder zu, wobei ich die kleinere nicht verschloß. Dann erst setzte ich meine Untersuchung fort.

Sie wirkten fast lebensecht, die Großen Trümpfe, bereit, durch die schimmernde Oberfläche zu treten. Die Karten fühlten sich ziemlich alt an, und es machte mir Freude, sie in der Hand zu halten.

Plötzlich wußte ich, daß auch ich einmal ein solches Spiel besessen hatte.

Ich begann die Karten auf der Schreibunterlage vor mir auszubreiten.

Eine zeigte einen listig aussehenden kleinen Mann mit schmaler Nase, lachendem Mund und struppigem, strohfarbenem Haar. Er war in eine Art Renaissance-Kostüm der Farben Orange, Rot und Braun gekleidet. Er trug eine lange weite Hose und ein enggeschnittenes besticktes Wams. Und ich kannte ihn. Er hieß Random.

Als nächstes die ruhigen Gesichtszüge Julians, dem das dunkelbraune Haar lang herabhing, dessen blaue Augen weder Leidenschaft noch Gefühl zeigten. Er war in eine schuppige weiße Rüstung gekleidet – nicht silbern oder metallisch gestrichen, sondern in einem Ton, der mich an Emaille erinnerte. Ich wußte allerdings, daß der Stoff sehr hart war und jedem Aufprall widerstand, trotz des dekorativen und herausgeputzten Aussehens. Er war der Mann, den ich bei seinem Lieblingsspiel besiegt hatte, woraufhin er mir ein Glas Wein ins Gesicht geschüttet hatte. Ich kannte ihn und haßte ihn.

Dann kam das dunkelhäutige, dunkeläugige Gesicht Caines, von Kopf bis Fuß in schwarzen und grünen Samt gehüllt, darüber ein keck aufgesetzter Dreispitz, von dem ein grüner Federbusch zum Rücken herabhing. Er stand im Profil, einen Arm angewinkelt, und die Spitzen seiner Schnabelschuhe waren übertrieben aufgebogen. An seinem Gürtel blitzte ein smaragdbesetzter Dolch. Mein Herz war von zwiespältigen Gefühlen erfüllt.

Und dann Eric. Auf jeden Fall gutaussehend, das Haar so dunkel, daß es fast blau wirkte. Der Bart kräuselte sich um den Mund, der immer lächelte, und er war schlicht in Lederjacke, enge Hosen und hohe schwarze Stiefel gekleidet, darüber ein einfacher Umhang. Er trug einen roten Schwertgurt mit einem langen silbernen Säbel, ein Rubin diente als Gürtelschnalle, und der Capekragen, der sich um seinen Kopf erhob, war rot eingefaßt, ebenso die Ärmel. Die Hände, deren Daumen in den Gürtel gehakt waren, sahen ausgesprochen kräftig und groß aus. Schwarze Handschuhe steckten im Gürtel an der Hüfte. Ich war sicher, daß er es war, der mich an jenem schicksalhaften Tag zu töten versucht hatte. Ich musterte ihn und fürchtete ihn auch etwas.

Dann kam Benedict, mürrisch, groß und hager: dünn im Gesicht, doch offen an Geist. Er trug die Farben Orange, Gelb und Braun und ließ mich an Heuhaufen, Kürbisköpfe und Vogelscheuchen denken. Er hatte ein langes, kräftiges Kinn, haselnußbraune Augen und braunes Haar, das sich niemals kräuselte. Er stand neben einem braunen Pferd und stützte sich auf eine Lanze, um die eine Blumengirlande gewunden war. Er lachte nur selten. Er gefiel mir.

Ich zögerte, bevor ich die nächste Karte aufdeckte, und mein Herz machte einen Sprung und prallte gegen meinen Brustkasten und wäre am liebsten ins Freie gehüpft.

Ich sah mich selbst.

Ich kannte das Ich, das ich rasiert hatte – dies war der Bursche hinter dem Spiegel. Grüne Augen, schwarzes Haar, in Schwarz und Silber gewandet, jawohl! Mein Mantel bewegte sich leicht im Wind. Wie Eric trug ich schwarze Stiefel und auch eine Klinge, nur war meine schwerer, allerdings nicht ganz so lang. Die Handschuhe hatte ich angezogen, und sie waren silberfarben und schuppig. Die Spange an meinem Hals hatte die Form einer Silberrose.

Ich, Corwin.

Und von der nächsten Karte sah mich ein großer, kräftiger Mann an. Er hatte Ähnlichkeit mit mir, nur war sein Kinn stärker ausgeprägt, und ich wußte, daß er größer war als ich, allerdings auch langsamer. Seine Körperkräfte waren gewaltig. Er trug ein weites Gewand aus blaugrauem Stoff, das in der Mitte von einem breiten schwarzen Gürtel zusammengehalten wurde, und er lachte. Um seinen Hals hing an einer dicken Schnur ein silbernes Jagdhorn. Er trug ein keckes Schnurrbärtchen, und ein Bartkranz rahmte sein Gesicht. In der rechten Hand hielt er einen Krug mit Wein. Meine Zuneigung flog ihm entgegen, und schon fiel mir sein Name ein. Er hieß Gérard.

Dann kam ein wildaussehender Mann mit mächtigem Bart und flammendem Haarschopf, ganz in Rot und Orange gekleidet, zumeist Seide, und er hielt ein Schwert in der Rechten und ein Glas Wein in der Linken, und aus seinen Augen, die so blau waren wie Floras Augen, schien der Teufel zu funkeln. Er hatte ein leicht fliehendes Kinn, was jedoch vom Bart verdeckt wurde. Sein Schwert war herrlich ziseliert mit einem goldfarbenen Metall, das Filigranmuster von ausgeprägter Schönheit bildete. Zwei große Ringe trug er an der rechten Hand und einen an der linken: einen Smaragd, einen Rubin und einen Saphir. Dieser Mann war Bleys, das wußte ich sofort.

Dann kam eine Gestalt, die mir und Bleys ähnlich sah. Meine Gesichtszüge, wenn auch zarter, und meine Augen; Bleys’ Haar, bartlos. Der junge Mann trug einen grünen Reitanzug und saß auf einem Schimmel, der rechten Seite der Karte zugewandt. Das Bild strahlte Stärke und Schwäche zugleich aus, Konzentration und Unbeherrschtheit. Ich fand den Burschen sympathisch, zugleich aber auch nicht; ich mochte ihn und fühlte mich doch abgestoßen. Ich wußte, daß er Brand hieß. Ich wußte es, als mein Blick auf ihn fiel.

Mir wurde auch klar, daß ich all diese Männer gut kannte, daß ich mich ausnahmslos an sie erinnerte, an ihre Stärken und Schwächen, ihre Siege und Niederlagen.

Denn sie waren meine Brüder.

Ich zündete mir eine Zigarette aus Floras Schreibtischvorrat an, lehnte mich zurück und überdachte die Dinge, an die ich mich erinnert hatte.

Sie waren meine Brüder, diese acht seltsamen Männer in den seltsamen Kostümen. Und ich wußte, daß es nur recht und billig war, wenn sie sich nach Belieben kleideten, so wie es für mich richtig war, daß ich Schwarz und Silber anlegte. Dann lachte ich leise vor mich hin; mir war bewußt geworden, was ich am Leibe trug, was ich in dem Kleiderladen, in der kleinen Stadt gekauft hatte, den ich nach meiner Abreise aus Greenwood aufgesucht hatte.

Ich trug schwarze Hosen, und die drei Hemden, die ich gekauft hatte, wiesen eine annähernd graue, silbrige Färbung auf. Mein Jackett war ebenfalls schwarz.

Wieder wandte ich mich den Karten zu, und da war Flora in einem Gewand, das so grün war wie das Meer – so wie ich sie gestern abend im Geiste gesehen hatte; dann ein schwarzhaariges Mädchen mit denselben blauen Augen. Das Haar hing ihr lang herab, und sie war ganz in Schwarz gekleidet, mit einem Silbergürtel um die Hüften. Sie hieß Deirdre. Dann kam Fiona, deren Haar mich an Bleys oder Brand denken ließ und die meine Augen und einen Teint wie Perlmutter hatte. Ich haßte sie, sobald ich die Karte umgedreht hatte. Die nächste war Llewella, das Haar zu den jadegrünen Augen passend; sie trug ein schimmerndes graugrünes Gewand mit einem lavendelfarbenen Gürtel und sah traurig aus. Irgendwoher wußte ich, daß sie nicht so war wie die anderen. Aber auch sie war meine Schwester.

Eine riesige Entfernung, ganze Welten schienen mich von all diesen Menschen zu trennen. Trotzdem schienen sie mir körperlich sehr nahe zu sein.

Die Karten fühlten sich dermaßen kalt an, daß ich sie schnell wieder hinlegte, wenn auch mit gewissem Widerwillen, den Kontakt mit ihnen zu verlieren.

Aber es gab keine weiteren Karten. Die anderen waren unbedeutende Symbole. Und ich wußte irgendwie – wieder dieses Irgendwie, ah, irgendwie! –, daß mehrere Karten fehlten.

Doch ich hätte um alles in der Welt nicht sagen können, was auf den fehlenden Trümpfen dargestellt war.

Diese Erkenntnis bedrückte mich seltsam, und ich nahm meine Zigarette zwischen die Finger und überlegte.

Warum kamen all diese Erinnerungen so schnell zurück, wenn ich die Karten betrachtete – warum fluteten sie mir in den Kopf, ohne ihren Hintergrund oder den größeren Zusammenhang gleich mitzubringen? Natürlich wußte ich jetzt mehr als zu Anfang, jedenfalls im Hinblick auf Namen und Gesichter. Aber das war so ziemlich alles.

Ich vermochte die Bedeutung der Tatsache nicht zu ergründen, daß wir alle auf diesen Karten festgehalten worden waren. Dabei verspürte ich den starken Wunsch, ein solches Spiel zu besitzen. Doch wenn ich Floras Karten an mich nahm, merkte sie sofort, daß sie fehlten, und das konnte Ärger bringen. Ich legte sie also wieder in die kleine Schublade hinter der großen Lade und schloß sie ein. Und dann zermartete ich mir das Gehirn – und wie, bei Gott! Aber ich kam nicht weiter.

Bis ich auf ein Zauberwort stieß.

Amber.

Gestern abend hatte mich dieses Wort ziemlich erschüttert – und zwar so sehr, daß ich der Erinnerung bisher bewußt aus dem Weg gegangen war. Doch jetzt schlich ich näher heran. Jetzt bewegte ich das Wort im Geiste hin und her und untersuchte alle Gedanken, die mir dabei kamen.

In dem Wort knisterte eine starke Sehnsucht und eine gewaltige Nostalgie. Ganz im Innern umschloß es Begriffe wie verlorene Schönheit und große Taten und ein Machtbewußtsein, das geradezu allumfassend war. Irgendwie gehörte dieses Wort zu meinem Sprachschatz. Irgendwie war ich ein Teil davon, und es war ein Teil von mir. Es war der Name eines Ortes, das erkannte ich nun. Es war der Name eines Ortes, der mir einmal sehr vertraut gewesen war. Doch das Wort beschwor keine Bilder herauf, nur Gefühle.

Wie lange ich so dasaß, weiß ich nicht. Meine Träumereien hatten mich irgendwie von der Zeit gelöst.

Aus dem innersten Kern meiner Gedanken stieg die Erkenntnis auf, daß es leise geklopft hatte. Dann drehte sich langsam der Türknauf, und das Mädchen – Carmella – trat ein und erkundigte sich, ob ich zu Mittag etwas essen wollte.

Die Vorstellung behagte mir, und ich folgte ihr in die Küche und aß ein halbes Hähnchen und trank ein großes Glas Milch.

Schließlich nahm ich einen Topf Kaffee mit in die Bibliothek, wobei ich den Hunden aus dem Weg ging. Ich war gerade bei meiner zweiten Tasse, als das Telefon klingelte.

Es kribbelte mir in den Fingern, den Hörer abzunehmen, doch ich vermutete, daß es überall im Haus Nebenapparate gab und Carmella sich bestimmt melden würde.

Aber das war ein Irrtum. Der Apparat klingelte weiter.

Schließlich konnte ich nicht mehr widerstehen.

»Hallo«, sagte ich. »Hier bei Flaumel.«

»Könnte ich bitte Mrs. Flaumel sprechen?«

Es war die Stimme eines Mannes; er sprach hastig und etwas nervös. Er schien außer Atem zu sein, und seine Worte kamen gedämpft und durch das schwache Surren und die Gespensterstimmen, die auf ein Ferngespräch hindeuten.

»Tut mir leid«, sagte ich. »Sie ist im Augenblick nicht hier. Kann ich ihr etwas ausrichten, oder soll sie Sie anrufen?«

»Mit wem spreche ich denn?« wollte er wissen.

Ich zögerte. »Corwin«, sagte ich schließlich.

»Mein Gott!« rief er, und ein langes Schweigen trat ein.

Ich dachte schon, er hätte aufgelegt. »Hallo?« fragte ich noch einmal, als er wieder zu sprechen begann.

»Lebt sie noch?« wollte er wissen.

»Natürlich! Mit wem spreche ich denn überhaupt?«

»Erkennst du meine Stimme nicht, Corwin? Hier ist Random. Hör zu, ich bin in Kalifornien und habe Ärger. Ich wollte Flora eigentlich nur bitten, mir Zuflucht zu gewähren. Hast du dich mit ihr zusammengetan?«

»Vorübergehend«, sagte ich.

»Ich verstehe. Gewährst du mir deinen Schutz, Corwin?« Pause. Dann: »Bitte!«

»Soweit ich kann«, erwiderte ich. »Aber ich kann Flora zu nichts verpflichten, ohne mit ihr abzustimmen.«

»Wirst du mich vor ihr beschützen?«

»Ja.«

»Dann genügt mir das völlig, Mann. Ich will sehen, daß ich es nach New York schaffe. Dabei muß ich etliche Umwege in Kauf nehmen, ich weiß also nicht, wie lange es dauert. Wenn ich den falschen Schatten aus dem Weg gehen kann, sehen wir uns dann. Wünsch mir Glück.«

»Glück«, sagte ich.

Dann ertönte ein Klicken, und ich lauschte noch eine Zeitlang dem fernen Summen und den Gespensterstimmen.

Der kecke kleine Random war also in Schwierigkeiten! Ich hatte das Gefühl, daß mir das eigentlich kein Kopfzerbrechen bereiten dürfte. Aber in meiner jetzigen Lage war er einer der Schlüssel zu meiner Vergangenheit und wahrscheinlich auch zu meiner Zukunft. Ich würde also versuchen, ihm nach besten Kräften zu helfen, bis ich erfahren hatte, was ich von ihm wissen wollte. Ich wußte, daß zwischen uns nicht gerade die stärkste Bruderliebe herrschte. Aber ich wußte auch, daß er kein Dummkopf war; er hatte Ideen und Köpfchen und reagierte auf die verrücktesten Dinge seltsam sentimental; andererseits war sein Wort nicht die Spucke wert, die er dabei verbrauchte, und er hätte meine Leiche vermutlich an die nächste Universität verkauft, wenn er genug dafür bekommen konnte. Ich erinnerte mich gut an den kleinen Schwindler – mit einem schwachen Hauch von Zuneigung, vielleicht wegen ein paar hübscher Stunden, die wir zusammen verbracht hatten. Aber ihm vertrauen? Niemals! Ich beschloß, Flora erst im letzten Augenblick zu sagen, daß er im Anmarsch war. Er mochte mir als As im Ärmel nützlich sein.

Also schüttete ich noch etwas heißen Kaffee zu den Resten in meiner Tasse und trank langsam.

Vor wem rückte er aus?

Jedenfalls nicht vor Eric, denn sonst hätte er nicht hier angerufen. Später beschäftigte mich Randoms Frage, ob Flora etwa tot war, nur weil ich zufällig hier war. War sie wirklich so sehr mit dem von mir gehaßten Bruder verbündet, daß in der Familie das Gerücht umging, ich würde sie ebenfalls umbringen, wenn ich die Chance dazu erhielt? Die Vorstellung erschien mir seltsam, aber schließlich kam die Frage von ihm.

Und was war das eigentlich, weswegen sie sich verbündet hatten? Was war die Ursache dieser Spannung, dieser Opposition? Wie kam es, daß Random auf der Flucht war?

Amber.

Das war die Antwort.

Amber. Irgendwie lag der Schlüssel zu allem in Amber. Das Geheimnis des Durcheinanders war in Amber zu finden, lag in einem Ereignis, das sich dort abgespielt hatte – vor gar nicht so langer Zeit, würde ich meinen. Ich mußte mich in acht nehmen. Ich mußte ein Wissen vortäuschen, das ich nicht besaß, während ich mir die Kenntnisse Stück um Stück von jenen holte, die Bescheid wußten. Ich war zuversichtlich, daß ich es schaffen konnte. Es gab soviel Mißtrauen ringsum, daß sich jeder vorsichtig gab. Und das wollte ich mir zunutze machen. Ich würde mir holen, was ich brauchte, und nehmen, was ich wollte; ich würde mir jene merken, die mir halfen, und die übrigen verdrängen. Denn dies, das wußte ich, war das Gesetz, nach dem unsere Familie lebte, und ich war ein echter Sohn meines Vaters . . .

Plötzlich machten sich wieder meine Kopfschmerzen bemerkbar, bohrend, pulsierend, als wollte mir die Schädeldecke zerplatzen.

Der Gedanke an meinen Vater mußte diesen Anfall ausgelöst haben, dachte ich, vermutete ich, fühlte ich . . . Aber ich wußte nicht, warum oder wie es dazu gekommen war.

Nach einer gewissen Zeit ließen die Schmerzen nach, und ich schlief im Stuhl ein. Nach einer viel längeren Zeit ging die Tür auf, und Flora trat ein. Wieder war es draußen Nacht.

Sie trug eine grüne Seidenbluse und einen langen grauen Wollrock. Ihre Füße steckten in Ausgehschuhen und dicken Strümpfen. Das Haar hatte sie hinter dem Kopf zusammengesteckt, und sie wirkte ein wenig bleich. Wie zuvor hatte sie ihre Hundepfeife bei sich.

»Guten Abend«, sagte ich und stand auf.

Aber sie antwortete nicht. Statt dessen ging sie durch den Raum zur Bar, schenkte sich einen Schuß Jack Daniels ein und kippte den Alkohol wie ein Mann hinunter. Dann machte sie sich einen zweiten Drink, den sie mit zu dem großen Sessel nahm.

Ich zündete eine Zigarette an und reichte sie ihr.

Sie nickte und sagte: »Die Straße nach Amber – ist schwierig.«

»Warum?«

Sie warf mir einen verwirrten Blick zu.

»Wann hast du sie das letztemal zu begehen versucht?«

Ich zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht mehr.«

»Bitte sehr, wenn du dich anstellen willst«, sagte sie. »Ich hatte mich nur gefragt, wieviel davon dein Werk war.«

Ich antwortete nicht, denn ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Aber im nächsten Augenblick fiel mir ein, daß es eine einfachere Methode gab als die Straße, um nach Amber zu kommen. Offensichtlich wußte sie nichts davon.

»Dir fehlen ein paar Trümpfe«, sagte ich plötzlich mit einer Stimme, die der meinen fast nicht mehr ähnlich klang.

Da sprang sie auf, verschüttete den Drink über ihre Hand.

»Gib sie mir zurück!« rief sie und griff nach der Pfeife.

Ich trat vor und packte sie an den Schultern.

»Ich habe sie nicht«, sagte ich. »Ich habe nur eine Feststellung getroffen.«

Sie entspannte sich ein wenig und begann zu weinen; ich drückte sie sanft wieder in den Sessel.

»Ich dachte, du wolltest mir sagen, du hättest mir meine restlichen genommen«, sagte sie. »Und nicht nur eine böse und überflüssige Bemerkung machen.«

Ich entschuldigte mich nicht. Es kam mir nicht recht vor, so etwas zu tun.

»Wie weit bist du denn gekommen?«

»Nicht weit.« Dann lachte sie und betrachtete mich mit einem frischen Funkeln in den Augen.

»Ich begreife jetzt, was du getan hast, Corwin«, sagte sie, und ich zündete mir eine Zigarette an, um einer Antwort aus dem Weg zu gehen.

»Ein paar von den Dingen kamen von dir, nicht wahr? Du hast mir den Weg nach Amber versperrt, ehe du hierherkamst, ja? Du wußtest, daß ich zu Eric gehen würde. Aber das kann ich jetzt nicht mehr. Jetzt muß ich warten, bis er zu mir kommt. Schlau von dir! Du willst ihn zu mir locken, nicht wahr? Aber er wird einen Boten schicken. Er kommt bestimmt nicht selbst.«

Diese Frau, die mir offen eingestand, sie habe gerade versucht, mich an meinen Feind zu verraten – was sie auch jetzt noch tun würde, wenn sie Gelegenheit dazu erhielt – sprach in seltsam bewunderndem Tonfall von etwas, das ich ihrer Meinung nach getan und das ihre Pläne durcheinandergebracht hatte. Wie konnte jemand in Gegenwart eines erklärten Gegners so offen machiavellisch sein? Aus tiefstem Innern stieg die Antwort in mir auf: So sind wir eben. Im Umgang mit unseresgleichen brauchen wir kein Versteck zu spielen. Allerdings meinte ich, daß ihr doch etwas die Raffinesse eines echten Profis fehlte.

»Hältst du mich für dumm, Flora?« fragte ich. »Glaubst du, ich bin hierhergekommen, nur um in aller Ruhe abzuwarten, bis du mich an Eric verrätst? Worauf du auch gestoßen sein magst, es ist dir recht geschehen!«

»Schon gut. Wir spielen eben nicht in derselben Klasse. Aber du bist im Exil, wie ich! Und das beweist, daß du so übermäßig schlau auch wieder nicht bist!«

Irgendwie schmerzten mich ihre Worte, und ich wußte, daß sie nicht stimmten.

»Exil – o nein!« sagte ich.

Wieder lachte sie.

»Ich wußte doch, daß ich dich irgendwie auf die Palme bringen würde«, sagte sie. »Also gut, du treibst dich mit bestimmten Absichten in den Schatten herum. Du bist ja verrückt!«

Ich zuckte die Achseln.

»Was willst du überhaupt?« fragte sie. »Warum bist du wirklich hier?«

»Ich wollte wissen, was du im Schilde führtest«, erwiderte ich. »Das ist alles. Wenn ich nicht bleiben will, kannst du mich nicht halten. Nicht einmal Eric hat das fertiggebracht. Vielleicht wollte ich dich wirklich nur besuchen. Vielleicht werde ich auf meine alten Tage sentimental. Wie dem auch sei; ich werde noch ein Weilchen bleiben und dann wahrscheinlich für immer verschwinden. Wenn du nicht so begierig gewesen wärest, Kapital aus mir zu schlagen, hättest du wahrscheinlich mehr von der Sache gehabt, liebe Schwester. Du hast mich gebeten, dich nicht zu vergessen, wenn ein bestimmter Umstand einträte . . .«

Es dauerte mehrere Sekunden, bis sie begriff, was ich glaubte anzudeuten.

»Du willst es versuchen!« sagte sie. »Du willst es tatsächlich versuchen!«

»Und ob!« sagte ich in dem Bewußtsein, daß ich es wirklich versuchen würde, worum es sich auch handeln mochte. »Und meinetwegen kannst du das Eric ausrichten – aber denk daran, daß ich es vielleicht sogar schaffe. Und wenn ich es schaffe, könnte es vorteilhaft sein, mein Freund zu sein, vergiß das nicht.«

Ich hätte zu gern gewußt, worüber ich hier eigentlich redete; immerhin hatte ich schon einige Schlüsselworte aufgeschnappt und erspürte ihren Stellenwert, so daß ich sie richtig benutzen konnte, ohne wirklich zu wissen, was sie bedeuteten. Jedenfalls kamen sie mir passend vor, hundertprozentig passend . . .

Plötzlich warf sie sich in meine Arme und küßte mich.

»Ich sag’s ihm nicht! Auf mein Wort, Corwin! Ich glaube, du kannst es schaffen. Bleys wird Schwierigkeiten machen, aber Gérard hilft dir vielleicht, und vielleicht auch Benedict. Und wenn er das sieht, würde auch Caine zu dir umschwenken . . .«

»Ich kann meine Pläne allein schmieden«, sagte ich.

Sie löste sich von mir, schenkte Wein ein und reichte mir ein Glas.

»Auf die Zukunft«, sagte sie.

»Darauf trinke ich immer.«

Und das taten wir.

Dann füllte sie mein Glas wieder und blickte mir ins Gesicht.

»Eric, Bleys oder du – einer von euch mußte dahinterstecken«, sagte sie. »Ihr seid die einzigen, die überhaupt Mut oder Köpfchen haben. Aber du hattest dich so lange vom Schauplatz empfohlen, daß ich dich schon gar nicht mehr mitgezählt hatte.«

»Da zeigt sich mal wieder, daß man einer Sache niemals gewiß ist.«

Ich trank aus meinem Glas und hoffte, daß sie mal ein Weilchen den Mund halten würde. Für meinen Geschmack war sie ein wenig zu offenkundig bemüht, auf allen Hochzeiten mitzutanzen. Irgend etwas machte mir zu schaffen, und ich wollte darüber nachdenken.

Wie alt war ich eigentlich?

Diese Frage, das spürte ich, gehörte zu der Erklärung für die schreckliche Losgelöstheit, die ich gegenüber den Personen auf den Spielkarten empfand. Ich war älter, als es den Anschein hatte. (Mitte Dreißig, hatte ich geschätzt, als ich mich im Spiegel betrachtete – aber jetzt wußte ich, daß die Schatten hier ein Lügenwort für mich einlegten.) Ich war erheblich älter und hatte meine Brüder und Schwestern schon seit langer Zeit nicht mehr zusammen gesehen, in friedlicher Koexistenz wie auf den Karten, ohne Spannungen und Reibereien.

Plötzlich schlug eine Glocke an. Wir hörten Carmella zur Tür gehen.

»Das ist sicher Bruder Random«, sagte ich und wußte, daß ich recht hatte. »Er steht unter meinem Schutz.«

Ihre Augen weiteten sich. Dann lächelte sie, als wisse sie zu schätzen, was für einen raffinierten Schachzug ich da wieder gemacht hatte.

Natürlich hatte ich nichts dergleichen getan, aber ich war zufrieden, sie in dem Glauben zu lassen.

Ich fühlte mich sicherer so.

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