Zwei Nächte vergingen auf unserem Weg zum rosa und schwarzen Sandstrand des großen Meeres. Erst am Morgen des dritten Tages erreichten wir die Küste, nachdem wir gegen Sonnenuntergang einer kleinen Reitertruppe ausgewichen waren. Wir scheuten uns, ins Freie zu treten, ehe wir die richtige Stelle gefunden hatten und Faiellabionin, die Treppe nach Rebma, in kürzester Zeit erreichen konnten.
Die aufgehende Sonne legte Milliarden glitzernder Funken auf die schäumende Brandung, und unsere Augen waren von den hin und her tanzenden Reflexen dermaßen geblendet, daß wir nicht unter die Oberfläche zu schauen vermochten. Wir hatten seit zwei Tagen von Früchten und Wasser gelebt, und ich war sehr hungrig – doch ich vergaß dieses Gefühl, als ich den breiten geneigten Strand betrachtete mit seinen überraschenden Korallenskulpturen in Orange, Rosa und Rot, mit den Häufchen aus Muscheln, Treibgut und kleinen, vom Wasser polierten Steinen; dahinter das Meer: aufsteigend, zurücksinkend, leise plätschernd, ganz Gold und Blau und Purpur, ein Wesen, das seine belebende Brise unter dem violetten Himmel der Morgendämmerung wie eine Labsal verschenkte.
Der Berg Kolvir, der der Morgendämmerung zugewendet ist und der seit Urzeiten Amber schützt wie eine Mutter ihr Kind, erhob sich etwa zwanzig Meilen zu unserer Linken, in nördlicher Richtung, und die Sonne hüllte ihn in einen goldenen Schimmer und ließ den Dunst über der Stadt in allen Regenbogenfarben erglühen.
Random blickte hinüber und knirschte mit den Zähnen; dann wandte er den Kopf ab.
Deirdre berührte meine Hand, deutete mit dem Kopf und begann parallel zum Strand nach Norden zu gehen. Random und ich folgten ihr. Sie hatte offenbar ein Erkennungszeichen ausgemacht.
Etwa eine Viertelmeile weiter hatten wir plötzlich das Gefühl, als erzittere die Erde unter unseren Füßen.
»Hufschlag!« flüsterte Random.
»Schaut!« sagte Deirdre. Ihr Kopf war nach hinten geneigt, sie deutete nach oben.
Ich folgte ihrer Geste mit den Blicken.
Über uns kreiste ein Falke.
»Wie weit ist es noch?« wollte ich wissen.
»Der Steinhügel dort«, sagte sie, und ich entdeckte etwa hundert Meter entfernt das Zeichen – acht Fuß hoch, auf kopfgroßen grauen Steinen, von Wind, Sand und Wasser zernagt, in der Form eines Pyramidenstumpfes.
Der Hufschlag wurde lauter, und im nächsten Augenblick ertönte ein Horn – diesmal nicht Julians Signal.
»Lauft!« schrie Random – und wir rannten.
Nach etwa fünfundzwanzig Schritten stieß der Falke herab. Er stürzte sich auf Random, doch der hatte bereits seine Klinge gezogen und hieb nach dem Tier. Daraufhin wandte sich der Falke Deirdre zu.
Ich riß mein Schwert aus der Scheide und probierte es mit einem Hieb.
Federn wirbelten durch die Luft. Der Falke stieg auf und griff erneut an, und diesmal traf meine Klinge auf etwas Hartes – und ich glaubte, der Falke stürzte vom Himmel, aber dessen war ich mir nicht sicher, denn ich hatte keine Lust, stehenzubleiben und zurückzuschauen. Der Hufschlag war nun schon ziemlich regelmäßig und laut zu hören, der Hornist mußte ganz in der Nähe sein.
Wir erreichten den Steinhügel; Deirdre wandte sich im rechten Winkel nach links und hielt direkt auf das Wasser zu.
Ich wollte mich nicht mit jemandem streiten, der offenbar wußte, was er tat. Ich folgte ihr. Im nächsten Augenblick bemerkte ich aus den Augenwinkeln die Reiter.
Sie waren noch ziemlich weit entfernt, doch sie galoppierten über den Strand herbei, mit gellenden Jagdhörnern und geifernden Hunden, und Random und ich rannten mit voller Kraft und wateten hinter unserer Schwester in die Brandung hinaus.
Wir standen bis zu den Hüften im Wasser, als Random sagte: »Ich bin tot, wenn ich zurückbleibe, und tot, wenn ich weitergehe.«
»Das eine geschieht auf der Stelle«, erwiderte ich, »und über das andere läßt sich vielleicht reden. Komm weiter!«
Und wir wateten tiefer ins Wasser. Wir befanden uns auf einer Art flachem Felsplateau, das sich ins Meer senkte. Ich wußte nicht, wie wir auf unserem weiteren Weg atmen sollten, aber wenn sich schon Deirdre keine Gedanken darüber machte, wollte ich versuchen, ebenfalls ruhig zu bleiben. Aber ich machte mir Sorgen.
Als das Wasser uns bis zum Kinn reichte, war ich sogar ziemlich besorgt, Deirdre ging ungerührt weiter, stieg in die Tiefe. Ich folgte ihr, Random folgte ihr.
Alle paar Schritte gab es eine Vertiefung. Wir waren auf einer gewaltigen Treppe, die Faiella-bionin hieß, das wußte ich nun.
Der nächste Schritt mußte das Wasser über meinem Kopf zusammenschwappen lassen, doch Deirdre war bereits unter der Oberfläche.
Ich machte also einen tiefen Atemzug und wagte mich weiter.
Weitere Stufen senkten sich vor mir, und ich stieg hinab. Ich wunderte mich, daß mein Körper gar keinen Auftrieb hatte; ich blieb aufrecht und kam mit jedem Schritt tiefer, als befände ich mich auf einer ganz normalen Treppe, wenn meine Bewegungen auch etwas verlangsamt waren. Ich begann mich zu fragen, was ich tun sollte, wenn ich den Atem nicht länger anhalten konnte.
Um die Köpfe von Random und Deirdre stiegen Bläschen auf. Ich versuchte festzustellen, was sie machten, doch ich konnte nichts erkennen. Sie schienen ganz normal zu atmen.
Als wir etwa zehn Fuß unter der Oberfläche waren, blickte mich Random von der Seite an, und ich hörte seine Stimme. Es klang, als hätte ich das Ohr an die Unterseite einer Badewanne gelegt, und mit jedem seiner Worte schien jemand gegen den Wannenboden zu treten.
Doch ich konnte ihn gut verstehen.
»Ich glaube nicht, daß sie die Hunde dazu bringen, uns ins Wasser zu folgen, die Pferde schon eher«, sagte er.
»Wie kannst du denn hier atmen?« versuchte ich zu fragen und hörte meine eigenen Worte aus der Ferne.
»Entspann dich«, sagte er hastig. »Wenn du noch den Atem anhältst, laß ihn langsam raus und mach dir keine Sorgen. Du kannst atmen, solange du die Treppe nicht verläßt.«
»Wie ist das möglich?« wollte ich wissen.
»Wenn wir es schaffen, wirst du eine Antwort auf diese Frage bekommen«, sagte er, und seine Stimme klang seltsam hohl im kalten Grün.
Inzwischen waren wir fast zwanzig Fuß tief, und ich drückte etwas Luft aus den Lungen und versuchte eine Sekunde lang einzuatmen.
Da das Ergebnis nicht weiter beunruhigend war, setzte ich den Versuch fort.
Es gab neue Bläschen, doch abgesehen davon bereitete mir der Übergang kein Unbehagen.
Während wir die nächsten zehn Fuß zurücklegten, hatte ich nicht das Gefühl, daß sich der Druck ringsum erhöhte. Wie durch einen grünlichen Nebel sah ich die Treppe, auf der wir uns bewegten. Sie führte scheinbar endlos in die Tiefe, schnurgerade. Und von unten schimmerte ein Lichtschein herauf.
»Wenn wir es durch das Tor schaffen, sind wir gerettet«, sagte meine Schwester.
»Dann bist du gerettet«, korrigierte sie Random, und ich fragte mich, was er wohl angestellt hatte, daß er in Rebma so gehaßt wurde.
»Wenn sie Pferde haben, die den Abstieg noch nie gemacht haben, müssen sie uns zu Fuß folgen«, bemerkte Random. »Dann schaffen wir es.«
»Wenn das stimmt, folgen sie uns vielleicht überhaupt nicht«, bemerkte Deirdre.
Wir beeilten uns.
Als wir etwa fünfzig Fuß tief waren, war das Wasser ringsum kalt und düster, doch der Lichtschimmer schräg unter uns nahm zu, und nach weiteren zehn Schritten vermochte ich die Lichtquelle auszumachen.
Zur Rechten erhob sich eine Säule. Auf ihrer Spitze befand sich eine Art schimmernde Kugel. Etwa fünfzehn Schritte darunter zeichnete sich links ein zweites Gebilde dieser Art ab. Und dahinter offenbar ein weiterer Beleuchtungskörper, wieder rechts – und so weiter.
Als wir in die Nähe der Erscheinung kamen, erwärmte sich das Wasser wieder, und die Treppe selbst wurde deutlich sichtbar; sie war weiß, durchsetzt mit Rosa und Grün, und erinnerte an Marmor, war aber trotz des Wassers überhaupt nicht glatt. Die Stufen waren etwa fünfzig Fuß breit, und zu beiden Seiten erhob sich ein Geländer aus demselben Material.
Fische umschwammen uns während des Abstiegs. Als ich einen Blick über die Schulter warf, war von unseren Verfolgern keine Spur auszumachen.
Es wurde heller. Wir erreichten das erste Licht – bei dem es sich nicht um eine Kugel auf einer Säule handelte. Meine Fantasie mußte der Erscheinung diese Details hinzugedichtet haben, um zumindest den Ansatz einer logischen Erklärung zu finden. Es schien sich um eine etwa zwei Fuß lange Flamme zu handeln, die oben wie aus einer riesigen Düse hervorschoß. Ich nahm mir vor, später danach zu fragen, und sparte meinen Atem – wenn der Ausdruck gestattet ist – für den schnellen Abstieg.
Als wir die beleuchtete Gasse erreicht und sechs weitere Fackeln passiert hatten, sagte Random: »Sie sind hinter uns!«
Wieder blickte ich zurück und sah in der Ferne einige Gestalten auf der Treppe, vier davon auf Pferderücken.
Es ist ein seltsames Gefühl, sich unter Wasser lachen zu hören.
»Na, meinetwegen!« sagte ich und berührte meinen Schwertgriff. »Wo wir es nun schon so weit geschafft haben, spüre ich neue Kräfte in mir!«
Trotzdem beeilten wir uns. Das Wasser links und rechts wurde nun tintenschwarz. Nur die Treppe, auf der wir wie von Sinnen nach unten hasteten, war erleuchtet, und in der Ferne begann ich die vagen Umrisse eines riesigen Torbogens auszumachen.
Deirdre begann zwei Stufen auf einmal zu nehmen und hüpfte uns voraus, und die trommelnden Hufe der verfolgenden Pferde hinter uns ließen die Treppe erbeben.
Die Horde der Bewaffneten, die die Treppe in ganzer Breite ausfüllte, lag weit zurück. Aber die vier Reiter hatten aufgeholt.
Wir folgten Deirdre in ihrem schnellen Lauf, und meine Hand ließ den Schwertgriff nicht mehr los.
Drei, vier, fünf – so viele Lichter passierten wir, ehe ich wieder zurückblickte und feststellte, daß die Reiter noch etwa fünfzig Fuß über uns waren, während wir die Fußsoldaten kaum noch sehen konnten. Vor uns ragte das Tor auf, bis dorthin waren es noch etwa zweihundert Fuß. Riesig, schimmernd wie Alabaster, verziert mit Tritonen, Meeresjungfrauen und Delphinen. Und dahinter schienen sich Leute aufzuhalten.
»Die fragen sich bestimmt, warum wir kommen«, bemerkte Random.
»Die Frage dürfte ziemlich akademisch bleiben, wenn wir es nicht schaffen«, erwiderte ich und lief noch schneller, als ich bemerkte, daß die Reiter zehn Fuß aufgeholt hatten.
Im nächsten Augenblick zog ich mein Schwert, und die Klinge funkelte im Fackelschein. Random folgte meinem Beispiel.
Nach weiteren zwanzig Schritten machten sich die Vibrationen der Hufe auf der grünen Treppe deutlich bemerkbar, und wir fuhren herum, um nicht im Laufen von hinten niedergestreckt zu werden.
Sie waren fast heran. Das Tor erhob sich nur etwa hundert Fuß hinter uns – doch wenn wir die vier Reiter nicht besiegen konnten, hätten es auch hundert Meilen sein können.
Als der Mann, der direkt auf mich zuritt, seine Klinge schwang, zog ich den Kopf ein. Da rechts von ihm und ein Stück dahinter ein zweiter Reiter anrückte, wich ich natürlich auf seine linke Seite aus, in die Nähe des Geländers. Diese Bewegung führte dazu, daß er vor seinem Körper vorbeischlagen mußte, da er die Waffe mit der rechten Hand führte.
Als sein Hieb kam, parierte ich in quarte und stach zu.
Er hatte sich im Sattel vorgebeugt, und meine Schwertspitze drang ihm auf der rechten Seite in den Hals.
Eine riesige Blutwolke wallte wie roter Rauch und wirbelte im grünlichen Licht. Widersinnigerweise regte sich in mir der Wunsch, Van Gogh hätte das sehen können.
Das Pferd galoppierte an mir vorbei, und ich ging von hinten auf den zweiten Reiter los.
Er machte kehrt, um den Hieb zu parieren, mit Erfolg. Aber der Schwung seines Unterwasserritts und die Stärke meines Hiebes rissen ihn aus dem Sattel. Während er noch stürzte, trat ich zu, und er trieb davon. Wieder schlug ich nach ihm, während er über mir schwebte, und er parierte erneut – doch von dieser Bewegung wurde er über das Treppengeländer getragen. Ich hörte ihn schreien, als der Wasserdruck ihn zerquetschte. Dann war er still.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit nun Random zu, der ein Pferd und einen Mann getötet hatte und sich mit einem zweiten Soldaten zu Fuß duellierte. Als ich die beiden erreichte, hatte er seinen Gegner schon getötet und lachte mich an. Ringsum wallte Blut, und mir wurde plötzlich klar, daß ich den irrsinnigen und traurigen Vincent Van Gogh tatsächlich gekannt hatte. Es war wirklich schade, daß er diese Szene nicht malen konnte.
Die unberittenen Verfolger waren noch etwa hundert Fuß entfernt, und wir machten kehrt und eilten auf den Torbogen zu. Deirdre hatte sich bereits in Sicherheit gebracht.
Wir schafften es. Neben uns erhoben sich zahlreiche Schwerter, und die Verfolger kehrten um. Dann steckten wir die Waffen fort, und Random sagte: »Jetzt ist es aus mit mir«, und wir traten zu der Gruppe, die sich zu unserer Verteidigung formiert hatte.
Random wurde aufgefordert, sein Schwert abzuliefern, und er gehorchte achselzuckend.
Zwei Männer nahmen links und rechts von ihm Aufstellung, ein dritter nahm hinter ihm Aufstellung, und so setzten wir unseren Weg auf der Treppe fort.
In dieser Wasserwelt war mir jedes Zeitgefühl verlorengegangen. Ich glaube allerdings, daß wir gut eine Viertelstunde unterwegs gewesen waren, bis wir endlich unser Ziel erreichten.
Vor uns ragten die goldenen Tore Rebmas auf. Wir gingen hindurch. Wir betraten die Stadt.
Alles schien hinter grünen Schleiern zu liegen. Durchsichtige Gebäude ragten auf; sie wirkten zerbrechlich und waren meistens sehr hoch, sie standen in bestimmten Gruppierungen zusammen und wiesen Farben auf, die durch meine Augen in meinen Geist wehten und Erinnerungen zu wecken suchten. Aber sie hatten keinen Erfolg; das einzige Ergebnis ihrer Bemühungen war der längst vertraute Schmerz des Halb-Erinnerten, des Nicht-Erinnerten. Doch eins wußte ich: Ich war schon einmal durch diese Straßen geschritten – oder durch sehr ähnliche Straßen.
Random hatte seit seiner Festnahme kein einziges Wort gesprochen. Deirdres Konversation hatte sich mit der Frage nach unserer Schwester Llewella erschöpft. Man informierte sie, daß sich Llewella in Rebma aufhielt.
Ich musterte unsere Begleiter. Es waren Männer mit grünem, purpurnem oder schwarzem Haar; sie alle hatten grüne Augen, mit Ausnahme eines Mannes, dessen Augen haselnußbraun schimmerten. Die Männer trugen schuppige knielange Badehosen und Umhänge, überkreuz gelegte Gurte vor der Brust und kurze Schwerter, die an muschelbesetzten Gürteln hingen. Sie besaßen kaum Körperhaare. Niemand sagte etwas zu mir, obwohl uns einige Typen finster anstarrten. Ich durfte meine Waffe behalten.
Wir wurden durch eine breite Straße geführt. Für die Beleuchtung sorgten Laternenflammen, die hier noch dichter standen als auf Faiella-bionin. Man starrte uns aus getönten achteckigen Fenstern nach. Fische mit hellen Bäuchen schwammen an uns vorbei.
Eine kühle Strömung traf uns wie ein Windhauch, als wir um eine Ecke kamen; nach ein paar Schritten folgte eine warme Strömung wie ein Atemzug.
Wir wurden in den Palast geführt, der das Zentrum der Stadt bildete. Ich kannte diesen Palast wie meine Westentasche! Das Gebäude war ein Spiegelbild des Palasts in Amber, gedämpft nur durch den grünen Schimmer, verwirrend verändert durch die zahlreichen Spiegel an den Wänden drinnen und draußen. In dem durchsichtigen Raum, an den ich mich fast erinnerte, saß eine Frau auf einem Thron, und ihre Augen waren rund wie Monde aus Jade, und ihre Augenbrauen schwangen sich empor wie die Flügel olivenfarbener Möwen. Ihr Mund und Kinn waren klein, ihre Wangenknochen hoch und breit und rund. Ein Weißgoldband lag um ihre Stirn, und ihren Hals zierte ein kristallenes Band; daran funkelte ein Saphir, zwischen ihren schönen nackten Brüsten, deren Warzen hellgrün geschminkt waren. Sie trug schuppige blaue Hosen und einen Silbergürtel, und in der rechten Hand hielt sie ein Szepter aus rosa Korallen. Sie trug an jedem Finger einen Ring, und jeder Ring enthielt einen Stein, der in einem anderen Blau funkelte. Sie lächelte nicht, als sie das Wort an uns richtete.
»Was sucht Ihr hier, Ausgestoßene von Amber?« fragte sie, und ihre Stimme war ein lispelndes, sanftes Etwas.
Deirdre antwortete für uns: »Wir flüchten vor dem Zorn des Prinzen, der in der wahren Stadt herrscht – Eric! Um ehrlich zu sein – wir streben seinen Sturz an. Wenn er hier wohlgelitten ist, sind wir verloren und befinden uns in der Gewalt unserer Feinde. Aber ich spüre, daß er hier nicht geliebt wird. Also kommen wir, um Hilfe zu erbitten, gnädige Moire . . .«
»Truppen für einen Angriff auf Amber dürft Ihr von mir nicht erwarten«, erwiderte sie. »Wie Ihr wißt, würde sich das Chaos in meinem Reich widerspiegeln.«
»Nicht das wünschen wir uns von Euch, liebe Moire«, fuhr Deirdre fort, »sondern nur eine Kleinigkeit, die ohne Mühe oder Kosten für Euch und Eure Untergebenen zu verwirklichen ist.«
»Nenn sie! Denn wie du weißt, ist Eric hier fast ebenso unbeliebt wie der Übeltäter, der dort zu deiner Linken steht.« Mit diesen Worten deutete sie auf meinen Bruder, der sie offen und herausfordernd anstarrte, während ein Lächeln um seine Lippen spielte.
Wenn er für seine mir unbekannte Tat büßen mußte, würde er sich der Strafe wie ein wahrer Prinz von Amber unterwerfen – wie sie auch aussehen mochte. Mir fiel plötzlich ein, daß unsere drei toten Brüder vor langer Zeit ebenso gehandelt hatten. Random würde die Strafe auf sich nehmen und die Menschen hier dennoch verspotten; würde noch lachen, wenn das Blut ihm schon im Mund zusammenlief und ihn erstickte, und im Sterben noch würde er einen unwiderruflichen Fluch ausstoßen, der sich erfüllen würde. Auch ich besaß diese Kraft, das erkannte ich plötzlich, und würde sie einsetzen, wenn die Umstände es erforderten.
»Was ich von Euch erbitte«, fuhr Deirdre fort, »soll meinem Bruder Corwin zugutekommen, der zugleich Bruder der Lady Llewella ist, die hier bei Euch lebt. Ich glaube, sie hat Euch nie ein Ärgernis bereitet . . .«
»Das stimmt. Aber warum trägt er seinen Wunsch nicht selbst vor?«
»Eben das gehört zu dem Problem, Lady. Er kann nicht selbst sprechen, denn er weiß nicht, worum er bitten muß. Ein großer Teil seiner Erinnerung ist untergegangen, als Folge eines Unfalls, in den er verwickelt wurde, während er in den Schatten lebte. Wir sind gekommen, um sein Gedächtnis aufzufrischen, um die Erinnerung an die alten Zeiten zu wecken, damit er Eric in Amber entgegentreten kann.«
»Sprich weiter«, sagte die Frau auf dem Thron und musterte mich durch die Schatten ihrer Wimpern.
»In einem bestimmten Teil dieses Gebäudes«, sagte sie, »befindet sich ein Raum, den nur wenige aufzusuchen wagen. In diesem Raum«, fuhr sie fort, »liegt auf dem Boden in feurigen Linien ein Duplikat jener Erscheinung, die wir ›das Muster‹ nennen. Nur ein Kind des letzten Herrn von Amber kann dieses Muster abschreiten, ohne zu sterben; und dieser Gang schenkt dem Betreffenden die Macht über die Schatten.« Bei diesen Worten blinzelte Moire mehrmals, und ich fragte mich, wie viele Untergebene sie wohl auf diesen Weg geschickt hatte, um für Rebma ein wenig Einfluß auf diese Gabe zu gewinnen. Natürlich waren die Versuche vergeblich gewesen. »Indem er das Muster abschreitet«, fuhr Deirdre fort, »müßte Corwin unserer Meinung nach die Erinnerung an sich selbst als Prinz von Amber zurückerhalten. Er kann nicht Amber aufsuchen, um den Gang dort zu tun; dies ist der einzige Ort, an dem sich meines Wissens ein Duplikat befindet, abgesehen von Tirna Nog’th, wohin wir natürlich im Augenblick nicht gehen können.«
Moire schaute wieder zu meiner Schwester, streifte Random mit einem Blick und sah schließlich mich an.
»Ist Corwin bereit, den Versuch zu wagen?« fragte sie.
Ich verbeugte mich.
»Bereit, M’lady«, sagte ich, und sie lächelte.
»Also gut – Ihr habt meine Erlaubnis. Allerdings kann ich Euch außerhalb meines Reiches keine Sicherheitsgarantien geben.«
»Was das angeht, Euer Majestät«, sagte Deirdre, »erwarten wir keine Hilfe, sondern werden uns bei unserer Abreise selbst darum kümmern.«
»Bis auf Random«, sagte Moire, »der hier in Sicherheit sein wird.«
»Was meint Ihr?« fragte Deirdre, da sich Random unter den gegebenen Umständen natürlich nicht selbst äußern konnte.
»Gewiß erinnert Ihr Euch«, erwiderte die Herrscherin, »daß Prinz Random vor einiger Zeit als Freund in mein Reich kam – und anschließend in aller Heimlichkeit mit meiner Tochter Morganthe wieder verschwand.«
»Ich habe davon berichten hören, Lady Moire, doch ich weiß nichts über die Wahrheit oder Verlogenheit dieser Geschichte.«
»Sie ist wahr«, fuhr Moire fort. »Einen Monat später wurde sie mir zurückgebracht. Ihr Selbstmord erfolgte einige Monate nach der Geburt ihres Sohnes Martin. Was habt Ihr dazu zu sagen, Prinz Random?«
»Nichts«, sagte Random.
»Als Martin volljährig wurde«, fuhr Moire fort, »beschloß er das Muster zu beschreiten, denn er war immerhin vom Blute Ambers. Er ist der einzige Angehörige meines Volkes, dem dieses Wagnis gelungen ist. Danach ist er in die Schatten gegangen, und ich habe ihn seither nicht mehr gesehen. Was habt Ihr dazu zu sagen, Lord Random?«
»Nichts«, erwiderte Random.
»Deshalb werde ich Euch bestrafen«, fuhr Moire fort. »Ihr werdet eine Frau meiner Wahl heiraten und mit ihr ein Jahr lang in meinem Reiche wohnen – sonst ist Euer Leben verwirkt. Was sagt Ihr dazu, Random?«
Random sagte nichts – doch er nickte knapp.
Sie schlug mit dem Szepter auf die Armlehne ihres türkisfarbenen Throns.
»Gut«, sagte sie. »So soll es denn sein.«
Und so geschah es.
Wir zogen uns in die Räume zurück, die sie uns zugewiesen hatte, um uns frisch zu machen. Ein wenig später erschien sie an meiner Tür.
»Heil, Moire«, sagte ich.
»Lord Corwin von Amber«, gestand sie, »ich habe mir oft gewünscht, Euch kennenzulernen.«
»Und ich Euch«, log ich.
»Eure Taten sind Legende.«
»Vielen Dank – aber ich erinnere mich kaum noch daran.«
»Darf ich eintreten?«
»Gewiß.« Und ich gab ihr den Weg frei.
Sie betrat die herrlich ausgestattete Zimmerflucht, die sie mir zugewiesen hatte, und setzte sich auf die Kante des orangefarbenen Sofas.
»Wann möchtet Ihr den Versuch mit dem Muster machen?«
»So schnell wie möglich«, erwiderte ich.
Sie überlegte einen Augenblick. »Wo seid Ihr gewesen, in den Schatten?« fragte sie schließlich.
»Sehr weit von hier«, entgegnete ich, »an einem Ort, den ich zu lieben gelernt habe.«
»Seltsam, daß ein Lord von Amber diese Fähigkeit besitzt.«
»Welche Fähigkeit?«
»Zu lieben«, erwiderte sie.
»Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt.«
»Das bezweifle ich«, sagte sie. »Immerhin rühren die Balladen Corwins ans Herz.«
»Majestät ist zu gütig.«
»Aber irrt sich nicht«, erwiderte sie.
»Ich werde Euch eines Tages eine Ballade widmen.«
»Was habt Ihr in den Schatten getan?«
»Ich weiß nur noch, daß ich Berufssoldat war, Madam. Ich kämpfte für jeden, der mich bezahlte. Außerdem schuf ich Melodien und Worte zu vielen bekannten Liedern.«
»Beides erscheint mir logisch und natürlich.«
»Bitte sagt mir, was aus meinem Bruder Random wird.«
»Er muß ein Mädchen aus meinem Volk heiraten. Sie heißt Vialle. Sie ist blind und hat keine Freier in unseren Reihen.«
»Seid Ihr sicher«, sagte ich, »ob Ihr auch zu ihrem Vorteil handelt?«
»Auf diese Weise erringt sie großes Ansehen«, sagte Moire, »selbst wenn er nach einem Jahr verschwindet und niemals zurückkehrt. Was man auch sonst gegen ihn vorbringen kann – daß er ein Prinz von Amber ist, bleibt unbestreitbar.«
»Wenn sie ihn nun zu lieben beginnt?«
»Ist so etwas bei ihm wirklich möglich?«
»Auf meine Art liebe ich ihn auch – als Bruder.«
»Dann ist dies das erste Mal, daß ein Sohn Ambers so etwas sagt – ich schreibe die Worte Eurem poetischen Temperament zu.«
»Wie dem auch sei«, sagte ich. »Versichert Euch, daß Ihr im besten Interesse des Mädchens handelt.«
»Ich habe darüber nachgedacht«, verkündete sie, »und bin mir meiner Sache sicher. Sie wird sich wieder erholen, falls er ihr Kränkungen zufügt, und nach seiner Abreise wird sie an meinem Hof eine große Dame sein.«
»Gut«, sagte ich und wandte den Blick ab, denn Trauer überkam mich – natürlich für das Mädchen. »Was kann ich sagen?« fuhr ich fort. »Vielleicht tut Ihr etwas Gutes. Ich hoffe es jedenfalls.«
Und ich ergriff ihre Hand und küßte sie.
»Ihr, Lord Corwin, seid der einzige Prinz von Amber, dem ich meine Unterstützung geben könnte«, erwiderte sie, »Benedict vielleicht ausgenommen. Er ist schon zweiundzwanzig Jahre fort, und Lir allein weiß, wo seine Knochen ruhen. Es ist ein Jammer.«
»Das wußte ich nicht«, erwiderte ich. »Mein Gedächtnis ist ganz durcheinander. Habt Geduld mit mir. Benedict wird mir fehlen. Aber ob er wirklich tot ist? Er war mein Lehrmeister und unterrichtete mich an allen Waffen. Zugleich war er sehr sanftmütig.«
»Wie du, Corwin«, sagte sie, nahm meine Hand und zog mich heran.
»Nein, im Grunde nicht«, erwiderte ich und nahm auf dem Sofa neben ihr Platz.
»Wir haben vor dem Essen noch viel Zeit«, sagte sie und lehnte sich mit der Schulter an mich.
»Wann essen wir denn?« fragte ich.
»Wann immer ich es anordne«, sagte sie und drehte sich zu mir herum. Ich zog sie an mich und ertastete den Haken des Gürtels, der ihren zarten Leib umschlang. Darunter war es noch zarter, ihr Schamhaar war grün und weich wie junges Moos im Frühling.
Ich bettete sie auf die Couch und widmete ihr eine Ballade ohne Worte, und ihre Lippen antworteten mir, ihr ganzer Körper.
Nachdem wir gegessen hatten – und nachdem ich den Trick des Unterwasseressens gelernt hatte, von dem ich vielleicht später mehr berichten werde, wenn es die Umstände erfordern – erhoben wir uns von unseren Plätzen in dem riesigen Marmorsaal, der mit Netzen und roten und braunen Tauen verziert war, gingen durch einen schmalen Korridor und stiegen unter den Meeresboden hinab – zuerst über eine Wendeltreppe, die sich schimmernd durch absolute Dunkelheit zog. Nach den ersten zwanzig Schritten sagte mein Bruder: »Ach, was soll’s!«, verließ die Treppe und begann daneben in die Tiefe zu schwimmen.
»So geht es tatsächlich schneller«, verkündete Moire.
»Und es ist ein langer Weg«, sagte Deirdre, die die entsprechende Entfernung in Amber kannte.
Und so verließen wir alle die Treppe und schwammen neben dem schimmernden gewundenen Gebilde durch die Dunkelheit.
Es dauerte etwa zehn Minuten bis hinab, doch als unsere Füße den Boden berührten, standen wir fest und sicher auf den Beinen. Licht schimmerte ringsum aus einigen Wandnischen, in denen Flammen flackerten.
»Warum ist dieser Teil des Ozeans im Duplikat Ambers so anders als die sonstigen Gewässer?« wollte ich wissen. »Hier scheinen ganz andere Gesetzmäßigkeiten zu herrschen.«
»Weil es eben so ist«, erwiderte Deirdre, und das ärgerte mich.
Wir befanden uns in einer riesigen Höhle, von der Tunnel in alle Richtungen abgingen. Wir näherten uns einem Tunneleingang.
Nachdem wir ziemlich lange ausgeschritten waren, stießen wir auf Nebengänge, von denen einige durch Türen oder Gitter verschlossen waren, andere nicht.
An der siebenten Öffnung blieben wir stehen. Hier versperrte uns eine riesige graue Tür aus einem schieferähnlichen Material den Weg, in Metall gefaßt, von doppelter Mannesgröße. Beim Anblick dieser Tür kam mir eine vage Erinnerung an die Größe von Tritonen. Im nächsten Moment lächelte Moire – ein Lächeln, das nur für mich bestimmt war –, nahm einen großen Schlüssel von einem Ring an ihrem Gürtel und schob ihn ins Schloß.
Allerdings vermochte sie ihn nicht umzudrehen. Vielleicht war das Schloß seit langer Zeit nicht mehr benutzt worden.
Random stieß einen Knurrlaut aus, und seine Hand schoß vor, schlug die ihre zur Seite.
Er packte den Schlüssel mit der rechten Hand und drehte ihn herum.
Ein Klicken ertönte.
Dann schob er die Tür mit dem Fuß auf, und wir alle starrten hinein.
In einem Raum, der die Größe eines Ballsaales hatte, war das Muster angelegt.
Der Fußboden war schwarz und wirkte glatt wie Glas. Auf dem Boden zeichnete sich das Muster ab.
Es schimmerte in kaltem Licht, es bestand aus kaltem Licht und ließ den Raum irgendwie durchsichtig erscheinen. Es handelte sich um ein kompliziertes Filigranwerk schimmernder Energie, hauptsächlich aus Kurven bestehend, wenn es auch zur Mitte hin einige gerade Linien hatte. Die Erscheinung erinnerte mich an eine besonders komplizierte Version eines jener Labyrinthrätsel, die man mit einem Bleistift lösen muß, um sich aus einem Gewirr von Gängen und Sackgassen zu befreien oder ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Irgendwo im Hintergrund glaubte ich die Worte »Anfang« zu sehen. Die ganze Anlage war in der Mitte etwa hundert Meter breit und ungefähr hundertundfünfzig lang.
Der Anblick ließ in meinem Kopf eine Erinnerung anschlagen, und dann kam der Schmerz. Ich zuckte innerlich vor dem Ansturm zurück. Aber wenn ich ein Prinz von Amber war, dann mußte dieses Muster in meinem Blut, in meinem Nervensystem oder meinen Genen irgendwie aufgezeichnet sein, dann mußte ich richtig darauf reagieren und das verdammte Ding abschreiten können.
Random faßte mich am Arm. »Es ist eine schwere Prüfung«, sagte er. »Aber unmöglich ist es nicht, sonst wären wir jetzt nicht hier. Geh die Sache langsam an und laß dich nicht beirren. Mach dir keine Sorgen wegen der Funkenschauer, die du bei jedem Schritte erzeugst. Sie können dir nicht schaden. Du wirst die ganze Zeit das Gefühl haben, unter Schwachstrom zu stehen, und nach einer Weile wirst du geradezu berauscht sein. Aber das mußt du mit Konzentration überwinden, und vergiß eins nicht – du mußt in Bewegung bleiben! Was immer geschieht, bleib nicht stehen und verlaß den Weg nicht, sonst ist es wahrscheinlich um dich geschehen.« Während er sprach, waren wir weitergegangen. Wir schritten dicht an der rechten Wand entlang um das Muster herum, gingen auf das andere Ende zu.
Die Frauen folgten uns.
Ich flüsterte Random zu: »Ich habe versucht, ihr die Sache auszureden, die sie für dich geplant hat. Sinnlos.«
»Ich hatte schon angenommen, daß du es versuchen würdest«, erwiderte er. »Mach dir keine Sorgen. Ich kann notfalls auch ein Jahr lang auf dem Kopf stehen, und vielleicht läßt man mich schon früher wieder gehen – wenn ich mich übel genug anstelle.«
»Das Mädchen, das sie für dich ausgesucht hat, heißt Vialle. Sie ist blind.«
»Großartig«, sagte er. »Großartiger Witz!«
»Erinnerst du dich an die Grafschaft, von der wir gesprochen haben?«
»Ja.«
»Dann solltest du das Mädchen freundlich behandeln und das ganze Jahr bleiben – das wird mich großzügig stimmen.«
Keine Reaktion.
Dann drückte er mir den Arm.
»Eine Freundin von dir?« fragte er und lächelte leise. »Wie ist sie denn?«
»Abgemacht?« fragte ich lauernd.
»Abgemacht.«
Dann hatten wir die Stelle erreicht, an der das Muster begann, fast in einer Ecke des Raums.
Ich trat vor und betrachtete die eingelegte Feuerlinie, die nahe der Stelle begann, an der mein linker Fuß stand. Das Muster war die einzige Lichtquelle, im Raum. Das Wasser ringsum war kühl.
Ich trat vor und setzte den linken Fuß auf den Weg. Der Schuh war sofort von blauweißen Funken umgeben. Dann zog ich den rechten Fuß nach und spürte sofort die Elektrizität, von der Random gesprochen hatte. Ich machte einen zweiten Schritt.
Ein Knistern ertönte, und ich spürte, wie sich meine Haare aufrichteten. Der nächste Schritt.
Dann begann sich das Ding zu krümmen, fast in die Gegenrichtung. Ich machte zehn weitere Schritte, wobei sich ein gewisser Widerstand aufzubauen begann. Es war, als wäre vor mir eine Barriere aus einer schwarzen Substanz erwachsen, die mich mit jedem Schritt stärker zurückzudrängen versuchte.
Ich kämpfte dagegen an. Plötzlich wußte ich, daß es sich um den Ersten Schleier handelte.
Ihn zu überwinden war eine besondere Leistung, ein gutes Zeichen, ein Signal, daß ich tatsächlich Teil des Musters war. Jedes Heben und Senken des Fußes kostete plötzlich sehr viel Kraft, und Funken sprühten aus meinem Haar.
Ich konzentrierte mich auf die glühende Linie. Schweratmend schritt ich darauf entlang.
Plötzlich ließ der Druck nach. Der Schleier hatte sich vor mir geöffnet – ebenso plötzlich, wie er aufgetreten war. Ich hatte ihn überwunden und damit etwas gewonnen.
Ich hatte ein Stück meiner selbst hinzugewonnen.
Ich sah die papierdünne Haut und die dürren Knochen der Toten in Auschwitz. Ich war in Nürnberg dabei gewesen, das wußte ich. Ich hörte die Stimme Stephen Spenders, der »Wien« aufsagte, und ich sah Mutter Courage über die Bühne schreiten. Ich sah die Raketen von den fleckigen Betonrampen aufsteigen, Peenemünde, Vandenberg, Kennedy, Kyzyl Kum in Kasachstan, und ich berührte mit eigener Hand die große Chinesische Mauer. Wir tranken Bier und Wein, und Shaxpur sagte, er sei voll, und zog ab, um sich zu übergeben. Ich drang in den grünen Wald der westlichen Reservation ein und erbeutete an einem Tage drei Skalps. Im Marschieren begann ich ein Lied zu singen, in das die anderen bald einfielen. Es wurde zu »Auprès de ma Blonde.« Ich erinnerte mich, ich erinnerte mich . . . an mein Leben an dem Ort der Schatten, den seine Bewohner die Erde genannt haben, die große Schattenwelt. Nach drei weiteren Schritten hielt ich eine blutige Klinge in der Hand und sah drei Tote und mein Pferd, auf dem ich dem aufgebrachten Mob der Französischen Revolution entkommen war. Und mehr, unendlich mehr, bis zurück . . .
Ich machte einen weiteren Schritt.
Bis zurück . . .
Die Toten. Sie waren überall. Ein schrecklicher Gestank lag in der Luft, der Geruch von Tod und Verwesung – und ich hörte das Geheul eines Hundes, der totgeschlagen wurde. Schwarze Rauchschwaden füllten den Himmel, und ein eiskalter Wind umtoste mich und trug kleine Regentropfen herbei. Meine Kehle war trocken, meine Hände zitterten, mein Kopf schien zu glühen. Allein taumelte ich dahin, sah meine Umwelt durch den Schleier des Fiebers, das mich verzehrte. In den Gossen lagen Unrat und tote Katzen und der Kot aus Nachttöpfen. Mit klingender Glocke ratterte der Todeswagen vorbei, bespritzte mich mit Schlamm und kaltem Wasser.
Wie lange ich herumwanderte, weiß ich nicht mehr; jedenfalls ergriff eine Frau meinen Arm, und ich sah einen Totenkopfring an ihrem Finger. Sie führte mich in ihre Wohnung, stellte dort aber fest, daß ich kein Geld hatte und kein zusammenhängendes Wort mehr herausbekam. Angst verzerrte ihr bemaltes Gesicht, löschte das Lächeln auf ihren schimmernden Lippen, und sie floh von mir und ließ sich auf ihr Bett fallen. Ich warf mich auf sie und klammerte mich schutzsuchend an ihrem Fleisch fest.
Später – wieder weiß ich nicht, wieviel Zeit vergangen war – kam ein großer Mann, der Beschützer des Mädchens, versetzte mir einen Schlag ins Gesicht und zerrte mich hoch. Ich packte seinen rechten Bizeps und krallte mich in seinen Arm. Er trug und zerrte mich zur Tür.
Als mir klar wurde, daß er mich in die Kälte hinauswerfen wollte, griff ich noch fester zu, um dagegen zu protestieren. Ich drückte mit aller Kraft, die mir noch verblieben war, und stammelte, flehte ihn an.
Durch Schweiß und tränengeblendete Augen sah ich plötzlich, wie sein Gesicht erschlaffte, und hörte, wie ein Schrei zwischen seinen fleckigen Zähnen hervorbrach.
Ich hatte ihm mit meinem Griff den Oberarm gebrochen.
Er stieß mich mit der linken Hand fort und sank weinend auf die Knie. Ich hockte am Boden, und war einen Augenblick lang klar im Kopf.
»Ich . . . bleibe . . . hier«, sagte ich, »bis ich mich besser fühle. Raus mit dir! Wenn du zurückkommst, töte ich dich!«
»Du hast ja die Pest!« brüllte er. »Morgen holen sie deine Knochen!« Und er spuckte aus, rappelte sich hoch und taumelte ins Freie. Die Frau floh mit ihm.
Ich schleppte mich zur Tür und verriegelte sie. Dann kroch ich ins Bett zurück und schlief ein.
Wenn die Totengräber am nächsten Morgen tatsächlich meine Leiche abholen wollten, wurden sie enttäuscht. Denn etwa zehn Stunden später erwachte ich mitten in der Nacht, in kalten Schweiß gebadet. Mein Fieber war überwunden. Ich war schwach, aber bei Sinnen.
Ich erkannte, daß ich die Pest überlebt hatte.
Ich nahm einen Männermantel, den ich im Schrank fand, und auch etwas Geld aus einer Schublade.
Dann trat ich in die Londoner Nacht hinaus, im Jahre der Pest, auf der Suche nach etwas . . .
Ich hatte keine Ahnung, wer ich war oder was ich dort machte.
So hatte es begonnen.
Ich war nun ein gutes Stück in das Muster vorgedrungen, und die Funken sprühten mir ständig um die Füße, reichten mir fast bis zu den Knien. Ich wußte nicht mehr, in welche Richtung ich ging oder wo Random und Deirdre und Moire standen. Ströme durchzuckten mich, und ich hatte das Empfinden, daß meine Augäpfel vibrierten. Plötzlich spürte ich ein Prickeln wie von Nadeln in den Wangen und einen kühlen Hauch im Nacken. Ich biß die Zähne zusammen, damit sie nicht zu klappern begannen.
Nicht der Autounfall hatte die Amnesie ausgelöst. Ich hatte seit der Herrschaft Elizabeths I. kein volles Erinnerungsvermögen mehr gehabt! Flora mußte angenommen haben, der kürzliche Unfall habe mich völlig wiederhergestellt. Sie hatte meinen Zustand gekannt. Plötzlich kam mir der Gedanke, daß sie sich vermutlich nur deswegen auf der Schatten-Erde aufhielt, um mich im Auge zu behalten.
Also seit dem sechzehnten Jahrhundert?
Das vermochte ich nicht zu sagen. Doch ich würde es herausfinden.
Ich machte sechs weitere schnelle Schritte, erreichte das Ende einer Biegung und stand am Ausgangspunkt einer geraden Linie.
Ich setzte den Fuß darauf, und mit jedem Schritt begann sich eine weitere Barriere unangenehm bemerkbar zu machen. Es handelte sich um den Zweiten Schleier.
Es folgte eine rechtwinklige Biegung, eine zweite, eine dritte.
Ich war ein Prinz von Amber. Das war die Wahrheit. Ursprünglich waren es fünfzehn Brüder gewesen, von denen sechs nicht mehr lebten. Es hatte acht Schwestern gegeben, von denen zwei, vielleicht sogar vier tot waren. Wir hatten einen Großteil unseres Lebens mit Wanderungen durch die Schatten oder unsere eigenen Universen verbracht. Es ist eine philosophische Frage, ob ein Wesen mit Macht über die Schatten sein eigenes Universum schaffen kann. Wie immer die Antwort darauf letztlich aussehen mochte – in der Praxis war es möglich.
Eine weitere Biegung begann, und es war, als bewegte ich mich auf Leim.
Eins, zwei, drei, vier . . . Ich hob meine glühenden Stiefel und senkte sie wieder.
Der Kopf dröhnte mir wie eine Glocke, und mein Herz fühlte sich an, als hämmere es sich selbst in Stücke.
Amber.
Als ich mich an Amber erinnerte, kam ich plötzlich wieder ganz leicht voran.
Amber war die großartigste Stadt, die es je gegeben hatte oder geben würde. Amber hatte seit Ewigkeiten bestanden und würde ewig bestehen – und jede andere Stadt, wo immer sie auch stehen mochte, war nur der Schatten einer Phase Ambers, Amber, Amber, Amber . . . Ich erinnere mich an dich. Ich werde dich nie wieder vergessen. Tief im Innern habe ich dich wohl nie wirklich vergessen, in all jenen Jahrhunderten, die ich auf der Schatten-Erde verbrachte, denn meine nächtlichen Träume wurden oft von Visionen deiner grünen und goldenen Türme und deiner weiten Terrassen heimgesucht. Ich erinnere mich an deine breiten Promenaden und die Meere aus goldenen und roten Blumen. Ich erinnere mich an die Süße deiner Luft und an die Tempel, Paläste und Freuden, die du zu bieten hast, zu bieten hattest und immer bieten wirst. Amber, die unsterbliche Stadt, von der jede andere Stadt nur ein Abklatsch ist, ich kann dich nicht vergessen, selbst jetzt nicht; auch vermag ich jenen Tag auf dem Muster von Rebma nicht zu vergessen, da ich dich innerhalb deiner reflektierten Mauern wiedererkannte, erfrischt von einer Mahlzeit nach langem Hunger und von der Liebesstunde mit Moire, doch nichts ließ sich mit der Freude und Wonne der Erinnerung an dich vergleichen; und selbst jetzt, da ich vor dem Gericht des Chaos stehe und diese Geschichte dem einzigen Anwesenden vortrage, damit er sie vielleicht weitererzähle, damit sie nicht untergehe, wenn ich gestorben bin – selbst jetzt erinnere ich mich in Liebe an dich, an die Stadt, in der zu herrschen ich geboren wurde . . .
Nach zehn weiteren Schritten erhob sich vor mir ein sprühendes Filigrannetz aus Feuer. Ich stellte meine Kräfte dagegen, während mein Schweiß vom Wasser aufgesaugt wurde, so schnell er sich bildete.
Es war gefährlich, teuflisch gefährlich, und ich hatte plötzlich den Eindruck, als bewegte sich das Wasser im Saal mit starken Strömungen, die mich aus dem Muster zu reißen drohten. Ich widersetzte mich diesen Kräften und strebte weiter. Instinktiv wußte ich, daß ich sterben mußte, wenn ich das Muster vorzeitig verließ. Ich wagte es nicht, meinen Blick von den hellen Stellen zu nehmen, die vor mir lagen – etwa um zu sehen, wie weit ich schon vorgedrungen war, wie weit ich noch zu gehen hatte.
Die Strömungen ließen nach, und weitere Erinnerungen kehrten zurück . . . Erinnerungen an mein Leben als Prinz von Amber . . . Nein, Sie haben keinen Anspruch darauf; es sind meine Erinnerungen, zum Teil böse und grausam, zum Teil vielleicht angenehm. Erinnerungen, die bis in meine Kindheit im riesigen Palast von Amber zurückreichen, unter dem grünen Banner meines Vaters Oberon, das springende weiße Einhorn, nach rechts gewandt.
Random hatte das Muster bewältigt. Sogar Deirdre war ans Ziel gekommen. Also mußte ich, Corwin, es ebenfalls schaffen, ungeachtet des Widerstandes.
Ich tauchte aus dem Filigranvorhang auf und marschierte durch die Große Kurve. Die Kräfte, die das Universum bilden, fielen mich an und formten mich gewaltsam nach ihrem Bilde.
Doch ich hatte einen Vorteil gegenüber anderen Personen, die sich auf das Muster wagten. Ich wußte, daß ich diesen Weg schon einmal gegangen war, daß ich also stark genug war. Dies half mir in meinem Kampf gegen die unnatürlichen Ängste, die wie schwarze Wolken aufstiegen und plötzlich wieder verschwunden waren, nur um dann mit doppelter Stärke zurückzukehren. Ich schritt das Muster ab und erinnerte mich an alles, erinnerte mich an all die Tage vor meiner langen Zeit auf der Schatten-Erde, erinnerte mich an andere Orte in den Schatten, von denen mir viele sehr am Herzen lagen, und einer besonders, den ich über alles liebte, über alles – außer Amber.
Ich brachte drei weitere Kurven, eine gerade Linie und eine Reihe scharfer Bögen hinter mich, und wie schon einmal vor längerer Zeit erfüllte mich die Erkenntnis einer Fähigkeit, die mir nie wirklich verloren war: ich hatte Macht über die Schatten.
Zehn Wendungen, die mich schwindeln machten, ein weiterer kurzer Bogen, eine gerade Linie und der Letzte Schleier.
Jede Bewegung war eine Qual. Alles versuchte mich zur Seite zu stemmen. Das Wasser war zuerst kalt, dann kochendheiß. Ich hatte den Eindruck, als bedrängte es mich ständig. Ich mühte mich ab, stellte einen Fuß vor den anderen. Die Funken sprangen an dieser Stelle bis zur Hüfte hoch, dann bis zur Brust und zu den Schultern. Sie stachen mir in die Augen, hüllten mich völlig ein. Ich vermochte das Muster kaum noch zu erkennen.
Dann ein kurzer Bogen, der in Schwärze endete.
Eins, zwei . . . und beim letzten Schritt hatte ich das Gefühl, durch eine Betonmauer steigen zu wollen.
Aber ich schaffte es.
Dann drehte ich mich langsam um und betrachtete den Weg, den ich zurückgelegt hatte. Den Luxus, in die Knie zu sinken, durfte ich mir nicht gönnen. Ich war ein Prinz von Amber, und nichts sollte mich in der Gegenwart von meinesgleichen besiegen, bei Gott! Nicht einmal das Muster!
Mit federnden Schritten bewegte ich mich in eine Richtung, die ich für die richtige hielt. Dann verweilte ich einen Augenblick lang und überlegte.
Ich kannte nun die Macht des Musters. Es würde kein Problem sein, darauf zurückzugehen. Aber warum sollte ich mir die Mühe machen?
Ich hatte zwar kein Kartenspiel, aber die Kraft des Musters mochte mir den gleichen Dienst tun . . .
Sie warteten auf mich, mein Bruder und meine Schwester und Moire mit ihren Schenkeln wie Marmorsäulen.
Deirdre konnte nun wieder auf sich selbst aufpassen – schließlich hatten wir ihr das Leben gerettet. Ich fühlte mich nicht verpflichtet, sie Tag um Tag zu beschützen. Random saß ohnehin ein Jahr lang in Rebma fest, es sei denn, er hatte den Mut, vorzuspringen, das Muster bis zu seinem stillen Machtkern abzuschreiten und zu fliehen. Und was Moire anging, die Bekanntschaft mit ihr war angenehm gewesen; vielleicht würde ich sie eines Tages wiedersehen – und zwar gern. Ich schloß die Augen und senkte den Kopf.
Doch kurz vorher sah ich noch einen vorbeihuschenden Schatten.
Random? Versuchte er es tatsächlich? Wie auch immer, er wußte bestimmt nicht, wohin ich wollte. Niemand konnte das wissen.
Ich öffnete die Augen und stand in der Mitte desselben Musters, umgekehrt.
Frierend und erschöpft sah ich mich um – ich war in Amber, im wirklichen Saal, von dem derjenige, aus dem ich kam, nur ein Abbild war. Vom Muster konnte ich innerhalb Ambers zu jedem gewünschten Punkt springen.
Die Rückkehr würde allerdings ein Problem aufwerfen.
Ich stand tropfnaß da und überlegte.
Wenn Eric eine der königlichen Zimmerfluchten bezogen hatte, mochte ich ihn dort finden. Vielleicht auch im Thronsaal. Aber dann mußte ich mit eigener Kraft zum Ort der Macht zurückfinden, mußte ich wieder durch das Muster schreiten, um den Fluchtpunkt zu erreichen.
Ich versetzte mich in ein mir bekanntes Versteck im Palast. Es handelte sich um einen fensterlosen Raum, der nur durch, einige Beobachtungsschlitze weiter oben erleuchtet wurde. Ich verriegelte den einzigen Zugang von innen, staubte mir eine Holzbank ab, breitete meinen Mantel darauf aus und legte mich zu einem Schläfchen nieder. Wenn von oben jemand herabstieg, würde ich ihn rechtzeitig hören.
Und ich schlief ein.
Nach einer Weile erwachte ich, stand auf, staubte meinen Mantel ab und legte ihn wieder um. Dann begann ich die Serie der Pflöcke zu erklimmen, die leiterartig in den Palast hinaufführte.
Anhand der Markierungen an den Wänden erkannte ich, wo die dritte Etage lag.
Ich schwang mich auf einen kleinen Vorsprung hinüber und suchte nach dem Guckloch. Ich fand es und starrte hindurch. Kein Mensch zu sehen. Die Bibliothek war leer. Ich öffnete die Geheimtür und trat ein.
Wie immer beeindruckte mich die Vielzahl der Bücher. Ich betrachtete alles, einschließlich der Glasvitrinen, und ging schließlich auf eine Stelle zu, wo ein Kristallkasten all das enthielt, was zu einem Familienbankett führt. Er enthielt vier Sätze der Familienkarten, und ich suchte nach einer Möglichkeit, mir ein Spiel zu besorgen, ohne einen Alarm auszulösen, der verhindern konnte, daß ich es benutzte.
Nach etwa zehn Minuten gelang es mir, den richtigen Kasten mit einem Trick zu öffnen. Dann suchte ich mir mit den Karten einen bequemen Sitz, um mich näher mit meiner Beute zu befassen.
Die Karten sahen genauso aus wie Floras Spiel; sie hielten uns alle unter Glas fest und fühlten sich kalt an zwischen den Fingern. Inzwischen war mir auch der Grund wieder bekannt.
Ich mischte die Karten und breitete sie in der richtigen Reihenfolge vor mir aus. Dann deutete ich ihre Position und sah, daß auf die ganze Familie schlimme Dinge zukamen; schließlich raffte ich die Karten wieder zusammen.
Bis auf eine.
Bis auf die Karte, die meinen Bruder Bleys zeigte.
Ich schob die anderen wieder in ihre Schachtel und steckte diese in den Gürtel. Dann befaßte ich mich in Gedanken mit Bleys.
Etwa zu dieser Zeit kratzte es im Schloß der großen Bibliothekstür. Was tun? Ich lockerte mein Schwert in der Scheide und wartete. Allerdings duckte ich mich dazu hinter den Tisch.
Um die Ecke blickend, sah ich, daß es sich um einen Mann namens Dik handelte, der offensichtlich saubermachen wollte; er begann die Aschenbecher und Papierkörbe zu leeren und die Regale abzustauben.
Da es unpassend gewesen wäre, entdeckt zu werden, richtete ich mich auf. »Hallo, Dik«, sagte ich. »Erinnerst du dich noch an mich?«
Er zuckte heftig zusammen und wurde totenblaß.
»Natürlich, Lord«, sagte er. »Wie könnte ich Euch je vergessen?«
»Na ja, nach so langer Zeit wäre das immerhin möglich.«
»Niemals, Lord Corwin«, erwiderte er.
»Ich nehme an, ich bin ohne offizielle Genehmigung hier und im Begriff, verbotene Nachforschungen anzustellen«, sagte ich, »aber wenn Eric einen Wutanfall bekommt, sobald du ihm von mir berichtest, erkläre ihm bitte auch, daß ich lediglich meine Rechte ausgeschöpft habe und daß er mich von Angesicht wiedersehen wird – bald.«
»Das werde ich tun, M’lord«, sagte er und verbeugte sich.
»Komm, setz dich einen Augenblick zu mir, guter Dik, dann erzähle ich dir mehr.«
Er gehorchte, und ich machte mein Versprechen wahr.
»Es gab eine Zeit«, sagte ich in sein uraltes Gesicht, »da man mich für immer verloren wähnte und aufgegeben hatte. Aber da ich noch lebe und noch bei vollen Kräften bin, muß ich Erics Anspruch auf den Thron von Amber wohl leider anfechten. Allerdings ist das keine leichthin zu klärende Sache, da er nicht der Erstgeborene ist und ich außerdem nicht der Meinung bin, daß er breite Unterstützung fände, wenn ein anderer Thronanwärter auf der Bildfläche erschiene. Aus diesen Gründen – zu denen noch viele andere kommen, von denen die meisten persönlicher Natur sind – werde ich ihn bekämpfen. Ich habe noch nicht entschieden, auf welche Grundlage ich meine Opposition stellen will – jedenfalls hat er eine verdient, bei Gott! Sag ihm das! Wenn er mich sprechen möchte, sag ihm, ich wohne in den Schatten, doch in anderen als zuvor. Vielleicht weiß er, was ich damit meine. Ich bin nicht leicht zu vernichten, denn ich werde mich mindestens ebensogut schützen, wie er sich hier einkapselt. Ich werde ihm von jetzt bis in alle Ewigkeit die Hölle heiß machen und werde erst aufhören, bis einer von uns tot ist. Was sagst du dazu, alter Gefolgsmann?«
Und er ergriff meine Hand und küßte sie.
»Heil sei Euch, Corwin, Lord von Amber«, sagte er, und eine Träne funkelte in seinem Auge.
Im nächsten Augenblick knirschte die Tür hinter ihm und schwang auf. Eric trat ein.
»Hallo«, sagte ich im Aufstehen und ließ meine Stimme denkbar herablassend klingen. »Ich hatte nicht erwartet, in dieser Partie so früh auf dich zu treffen. Wie stehen die Dinge in Amber?« Seine Augen waren geweitet vor Erstaunen.
»Nun, wenn es um die Dinge geht, Corwin, steht es gut. In anderer Beziehung allerdings nicht so gut.«
»Das ist bedauerlich«, sagte ich, »und wie stellen wir die Dinge richtig?«
»Ich wüßte eine Methode«, erwiderte er und sah zu Dik hinüber, der sich schleunigst empfahl und die Tür hinter sich zumachte. Ich hörte sie ins Schloß klicken.
Eric lockerte sein Schwert in der Scheide.
»Du willst auf den Thron«, sagte er.
»Wollen wir das nicht alle?« gab ich zurück.
»Schon möglich«, meinte er seufzend. »Es stimmt völlig – das Gerede vom unruhigen Schlaf, wenn man Herrscher ist. Ich habe keine Ahnung, warum wir dermaßen nach diesem lächerlichen Posten streben. Aber du darfst nicht vergessen, daß ich dich schon zweimal besiegt habe, wobei ich dir beim letztenmal in einer Schattenwelt großzügig das Leben geschenkt habe.«
»So großzügig war das gar nicht«, widersprach ich. »Du weißt selbst, wo du mich zurückgelassen hast – ich sollte an der Pest sterben. Wenn ich mich recht erinnere, war der Kampf beim erstenmal ziemlich ausgeglichen.«
»Dann kämpfen wir es jetzt aus, Corwin«, sagte er. »Ich bin älter und besser als du. Wenn du mit Waffen gegen mich antreten willst, bin ich gerüstet. Tötest du mich, gehört der Thron wahrscheinlich dir. Versuch’s ruhig! Doch ich glaube nicht, daß du es schaffst. Und ich möchte, daß du deinen Anspruch hier und jetzt erhebst. Also los. Wollen mal sehen, was du auf der Schatten-Erde gelernt hast.«
Und er hatte die Klinge in der Hand, und ich schwang die meine.
Ich eilte um den Tisch herum.
»Was du doch für eine Chuzpe hast!« sagte ich. »Was erhebt dich so sehr über uns andere, was macht dich eher zum Herrscher als uns?«
»Die Tatsache, daß ich fähig war, den Thron zu besetzen«, erwiderte er. »Versuch’s doch, ihn mir zu nehmen!«
Und das tat ich.
Ich versuchte es mit einem Kopfhieb, den er abwehrte, woraufhin ich seinen Stich auf mein Herz parierte und nach seinem Handgelenk hieb.
Diesen Vorstoß blockte er ab und schob mit dem Fuß einen Schemel zwischen uns.
Ich schickte das kleine Möbelstück mit den Zehen auf den Weg und hoffte, daß es sein Gesicht treffen würde, aber es flog vorbei, und er fiel erneut über mich her.
Ich parierte seinen Angriff, er den meinen. Dann stieß ich vor, wurde abgewehrt und angegriffen und fiel ihm erneut in die Parade.
Nun versuchte ich es mit einem sehr komplizierten Angriff, den ich in Frankreich gelernt hatte – ein Hieb, eine Finte in quarte, eine Finte in sixte, und einen Vorstoß, der zu einem Angriff auf sein Handgelenk abgefälscht wurde.
Ich ritzte ihn, Blut begann zu fließen.
»Oh, niederträchtiger Bruder!« sagte er und wich zurück. »Den Meldungen zufolge ist Random in deiner Begleitung.«
»Richtig«, sagte ich. »Im Kampf gegen dich stehe ich nicht allein.«
Er griff an und schlug mich zurück, und ich hatte plötzlich das Gefühl, daß er mir trotz all meiner Bemühungen noch immer überlegen war. Er gehörte zu den großartigsten Schwertkämpfern, denen ich je gegenübergestanden hatte. Ich hatte plötzlich das Gefühl, als könnte ich ihn niemals besiegen, und parierte heftig und zog mich zurück, während er unbarmherzig nachsetzte, Schritt um Schritt. Beide hatten wir jahrhundertelang mit den größten Meistern der Klingen gearbeitet. Der beste Schwertkämpfer von uns war Bruder Benedict, aber der konnte keine Hilfe leisten, weder mir noch Eric. Ich begann mit der linken Hand Gegenstände vom Tisch zu reißen und sie durch den Raum zu schleudern. Aber Eric wich den Geschossen aus und stieß mit unverminderter Kraft vor. Ich brach nach links aus, doch ich vermochte seine Schwertspitze nicht von mir abzuwenden.
Und ich hatte Angst. Der Mann kämpfte großartig. Wäre er mir nicht so verhaßt gewesen, hätte ich ihm für seine Leistung applaudiert.
Immer weiter wich ich zurück, ergriffen von Angst und der Erkenntnis, daß ich ihn nicht zu besiegen vermochte. Mit dem Schwert war er ein besserer Kämpfer als ich. Ich verwünschte diese Tatsache, kam aber nicht darum herum. Ich probierte drei weitere komplizierte Attacken und wurde jedesmal abgeschlagen. Er parierte mühelos und trieb mich seinerseits in die Defensive.
Dann gab es Lärm und Gerenne im Flur vor der Bibliothek. Erics Gefolgschaft kreuzte auf, und wenn er mich nicht umbrachte, ehe die anderen auf dem Schauplatz eintrafen, nahmen sie ihm diese Arbeit bestimmt ab – wahrscheinlich mit einem Armbrustpfeil.
Blut tropfte von seinem rechten Arm, aber die Hand wurde noch immer ruhig geführt. In mir regte sich die Hoffnung, daß ich im Hinblick auf seine Verletzung bei defensivem Vorgehen vielleicht in der Lage war, ihn zu ermüden und seine Abwehr womöglich im richtigen Augenblick zu durchbrechen, wenn er langsamer wurde.
Ich fluchte leise vor mich hin, und er lachte.
»Dumm von dir, daß du hierhergekommen bist«, sagte er.
Erst als es zu spät war, merkte er, was ich im Schilde führte. Ich hatte mich langsam zurückdrängen lassen, bis ich die Tür im Rücken hatte. Das Manöver war riskant, beraubte es mich doch der Bewegungsfreiheit für einen weiteren Rückzug – aber es war besser als der sichere Tod.
Mit der linken Hand gelang es mir, den Sperrbalken vorzulegen. Die Tür war groß und dick und ließ sich bestimmt nicht so einfach einschlagen. Auf diese Weise hatte ich einige Minuten gewonnen. Zugleich holte ich mir eine Schulterwunde von einer Attacke, die ich nur zum Teil abwehren konnte, als der Balken in die Halterungen fiel. Aber es hatte meine linke Schulter getroffen. Mein Schwertarm war nach wie vor intakt.
Ich lächelte, um mich mutig zu geben.
»Vielleicht war es dumm von dir, hierherzukommen«, konterte ich. »Du wirst nämlich langsamer.« Und ich versuchte es mit einem heimtückischen, drängenden Angriff.
Er wehrte mich ab, mußte aber dabei zwei Schritte zurückweichen.
»Die Wunde macht dir zu schaffen«, fügte ich hinzu. »Dein Arm wird schwächer. Du spürst, wie dich die Kraft verläßt . . .«
»Halt’s Maul!« sagte er, und und ich erkannte, daß ich im tiefsten Innern eine empfindliche Stelle getroffen hatte. Dies erhöhte meine Chancen um mehrere Prozent, sagte ich mir und bedrängte ihn so gut ich konnte, auch wenn ich wußte, daß ich das nicht lange durchhalten würde.
Aber Eric wußte es nicht.
Ich hatte die Saat der Angst ausgestreut, und er wich vor meinem plötzlichen Angriff zurück.
Jemand hämmerte an die Tür, doch darum brauchte ich mir noch keine Gedanken zu machen.
»Ich mach dich fertig, Eric«, sagte ich. »Ich bin widerstandsfähiger als früher, und du bist erledigt, Bruder.«
Ich sah die Angst in seinen Augen, die sich über sein Gesicht ausbreitete, und sofort änderte sich sein Kampfstil. Er ging völlig in die Defensive, wich immer mehr vor meinen Attacken zurück. Ich war sicher, daß das keine Verstellung war. Ich hatte das Gefühl, ihn geblufft zu haben, denn er war immer besser gewesen als ich. Aber wenn das nun auf meiner Seite auch psychologische Gründe gehabt hätte? Wenn ich mich mit dieser Einstellung geradezu selbst besiegt hätte – eine Einstellung, die Eric natürlich gefördert hatte! Was war, wenn ich mich die ganze Zeit selbst geblufft hatte? Vielleicht war ich ja genauso gut wie er. Mit einem seltsamen neuen Selbstvertrauen probierte ich denselben Angriff, den ich schon einmal durchgebracht hatte, und zog eine neue rote Spur über seinen Unterarm.
»Zweimal auf denselben Trick hereinzufallen, das war aber ziemlich dumm, Eric«, sagte ich, und er wich hinter einen breiten Stuhl zurück. Wir kämpften eine Zeitlang über der Lehne.
Die Schläge an der Tür hörten auf, und die Stimmen, die fragend gerufen hatten, schwiegen.
»Sie holen Äxte«, keuchte Eric. »Sie sind gleich hier.«
Ich gab mein Lächeln nicht auf. Ich hielt krampfhaft daran fest und sagte: »Ein paar Minuten dauert es schon – und das ist mehr, als ich brauche, um dich fertigzumachen. Du kannst dich ja kaum noch wehren, und das Blut fließt immer stärker, sieh dir’s doch an!«
»Halt den Mund!«
»Wenn sie zur Stelle sind, gibt es hier nur noch einen Herrscher von Amber – und du bist das nicht!«
Mit dem linken Arm fegte er einige Bücher von einem Regal, die mich trafen und polternd vor mir zu Boden fielen.
Doch er nahm seine Chance nicht wahr, er griff nicht an. Er hastete quer durch den Raum, packte einen Schemel, den er in der linken Hand hielt.
Dann stellte er sich mit dem Rücken in eine Ecke und hielt Schemel und Klinge vor sich.
Hastige Schritte tönten aus dem Flur herein, und schon begannen Äxte gegen die Tür zu schmettern.
»Komm schon!« rief er. »Versuch mich doch zu erledigen!«
»Du hast Angst«, sagte ich.
Er lachte.
»Eine akademische Frage«, erwiderte er. »Du kannst mich nicht umbringen, ehe die Tür nachgibt – und dann ist es aus mit dir.«
Da hatte er recht. In seiner Position konnte er jede Klinge abwehren – zumindest einige Minuten lang.
Hastig zog ich mich zur gegenüberliegenden Wand zurück.
Mit der linken Hand öffnete ich das Wandpaneel, durch das ich eingetreten war.
»Also gut«, meinte ich. »Es sieht so aus, als kämst du mit dem Leben davon – diesmal wenigstens. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, kann dir niemand mehr helfen.«
Er spuckte aus und belegte mich mit Schimpfwörtern und setzte sogar den Schemel ab, um noch eine obszöne Geste zu machen; doch ich schob mich bereits durch die Wandöffnung und schloß das Paneel hinter mir.
Ein dumpfer Laut ertönte, und eine zwanzig Zentimeter lange Stahlspitze schimmerte auf meiner Seite des Holzpaneels, das ich eben festhakte. Er hatte sein Schwert geschleudert. Eine riskante Sache, falls ich zu ihm zurückkehrte. Aber er wußte, daß ich so nicht handeln würde, denn es hörte sich an, als konnte die große Tür nicht mehr lange standhalten.
Ich kletterte so schnell ich konnte an den Pflöcken hinab in den Raum, in dem ich geschlafen hatte. Dabei beschäftigte ich mich in Gedanken mit meinem verbesserten Kampfstil. Zuerst war ich eingeschüchtert gewesen von dem Mann, der mich schon einmal besiegt hatte. Aber das mußte ich mir noch genau überlegen. Vielleicht waren die Jahrhunderte auf der Schatten-Erde gar nicht verschwendet gewesen. Vielleicht hatte ich mich in dieser Zeit tatsächlich verbessert. Ich spürte plötzlich, daß ich Eric mit dem Schwert womöglich ebenbürtig war. Und das erfüllte mich mit einem angenehmen Gefühl. Wenn wir uns wiederbegegneten – und dazu kam es bestimmt – und wenn es dann keine Einflüsse von außen gab – wer weiß? Die Chance mußte ich nutzen. Unsere heutige Begegnung hatte ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt, das wußte ich. Die Angst mochte ihn langsamer machen, mochte bei der nächsten Gelegenheit dazu führen, daß er zögerte.
Ich ließ los, sprang die letzten vier Meter hinab und fing den Fall mit federnden Knien ab. Ich hatte die sprichwörtlichen fünf Minuten Vorsprung vor meinen Verfolgern, aber ich war sicher, daß ich die Zeit nutzen und entwischen konnte.
Denn ich hatte die Karten im Gürtel.
Ich zog die Karte mit Bleys’ Abbild und starrte darauf. Meine Schulter tat weh, doch ich vergaß den Schmerz, als mich die Kälte packte.
Es gab zwei Möglichkeiten, von Amber direkt in die Schatten zu entfliehen . . .
Die eine war das Muster, das selten zu diesem Zwecke benutzt wurde.
Eine andere waren die Trümpfe, wenn man sich auf einen Bruder verlassen konnte.
Ich richtete meine Gedanken auf Bleys. Ich konnte ihm ziemlich vertrauen. Er war zwar mein Bruder, aber er steckte in Schwierigkeiten und brauchte meine Hilfe.
Ich starrte ihn an, den Mann mit seiner Flammenkrone, in seinem orangeroten Gewand, mit einem Schwert in der rechten Hand und einem Glas Wein in der linken. In seinen Augen tanzte ein teuflischer Ausdruck, sein Bart war flammendrot, und die Linien auf seiner Klinge bildeten ein flammendes Filigran, das – so erkannte ich plötzlich – ein Stück des Musters nachvollzog. Seine Ringe funkelten. Er schien sich zu bewegen.
Der Kontakt berührte mich wie ein eisiger Wind.
Die Gestalt auf der Karte schien plötzlich lebensgroß zu sein und veränderte die Position, paßte sie der Wirklichkeit an. Die Augen richteten sich nicht genau auf mich, die Lippen bewegten sich.
»Wer ist das?« fragten sie, und ich hörte die Worte.
»Corwin«, sagte ich, und er streckte die linke Hand aus, die nun keinen Weinkelch mehr hielt.
»Dann komm zu mir, wenn du willst.«
Ich streckte die Hand aus, und unsere Finger berührten sich. Ich machte einen Schritt.
Nach wie vor hielt ich die Karte in der linken Hand, doch nun standen Bleys und ich zusammen auf einer Klippe. Auf einer Seite gähnte ein Abgrund, auf der anderen ragte eine gewaltige Festung auf. Der Himmel über uns war flammenfarben.
»Sei gegrüßt, Bleys«, sagte ich und steckte die Karte zu den anderen in meinen Gürtel. »Vielen Dank für die Hilfe.«
Mir war plötzlich schwach, und ich spürte, daß die Wunde an meiner linken Schulter noch immer blutete.
»Du bist ja verwundet!« sagte er und legte mir einen Arm um die Schultern. Ich wollte nicken, verlor aber statt dessen das Bewußtsein.
Später am Abend lag ich ausgestreckt in einem bequemen Stuhl in der Festung und trank Whisky. Wir rauchten, reichten die Flasche hin und her und unterhielten uns.
»Du warst also wirklich in Amber?«
»Genau.«
»Und du hast Eric bei eurem Duell verwundet?«
»Ja.«
»Verdammt! Ich wünschte, du hättest ihn umgebracht!« Dann wurde er nachdenklich. »Na ja, vielleicht ist es doch besser so. Damit wärst du nämlich auf den Thron gekommen. Gegen Eric stehen meine Chancen vielleicht besser als gegen dich. Ich weiß es nicht. Was hast du für Pläne?«
»Jeder von uns erstrebt den Thron«, sagte ich, »es besteht also kein Grund, daß wir uns anlügen. Ich habe nicht die Absicht, dich deswegen umzubringen – das wäre töricht –, doch andererseits gedenke ich meinen Anspruch nicht aufzugeben, nur weil ich hier deine Gastfreundschaft genieße. Random hätte Freude daran, aber er ist derzeit so ziemlich aus dem aktiven Geschehen ausgeschlossen. Von Benedict hat seit längerer Zeit niemand etwas gehört. Gérard und Caine scheinen Eric zu unterstützen und keine eigenen Ansprüche anmelden zu wollen. Das gleiche gilt für Julian. Damit bleiben Brand und unsere Schwestern. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, was Brand gerade treibt, aber ich weiß, daß Deirdre machtlos ist, es sei denn, sie und Llewella könnten in Rebma etwas auf die Beine stellen, und Flora ist Erics Anhängerin. Was Fiona im Schilde führt, weiß ich nicht.«
»Damit wären wir beide übrig«, sagte Bleys und schenkte noch einmal die Gläser voll. »Ja, du hast recht. Ich weiß nicht, was in den Köpfen der anderen vorgeht, aber ich vermag unsere Stärken und Schwächen abzuwägen und glaube, ich bin in der besten Position. Du hast klug gehandelt, als du zu mir kamst. Unterstütze mich, dann gebe ich dir eine Grafschaft.«
»Du bist zu gütig«, sagte ich. »Wir werden sehen.«
»Was könntest du sonst tun?« fragte er, und ich merkte, daß die Frage einen sehr wichtigen Punkt berührte.
»Ich könnte eine eigene Armee auf die Beine stellen und Amber belagern«, erwiderte ich.
»Wo in den Schatten liegt denn deine Armee?« wollte er wissen.
»Das ist natürlich meine Sache«, erwiderte ich. »Ich glaube nicht, daß ich mich gegen dich stellen würde. Wenn es um die Herrschaft geht, möchte ich dich, mich, Gérard oder Benedict – wenn er noch lebt – auf dem Thron sehen.«
»Aber am liebsten natürlich dich.«
»Natürlich.«
»Dann verstehen wir uns. Ich glaube, wir können zusammenarbeiten, im Augenblick jedenfalls.«
»Ich bin derselben Meinung«, stimmte ich zu, »sonst hätte ich mich auch nicht in deine Hand begeben.«
Er lächelte in seinen Bart. »Du brauchst jemanden«, sagte er. »Und ich war das kleinere Übel.«
»Stimmt.«
»Ich wünschte, Benedict wäre hier. Ich wünschte, Gérard hätte sich nicht kaufen lassen.«
»Wünsche, Wünsche!« sagte ich. »Nimm deine Wünsche in die eine Hand und in die andere etwas anderes, drücke beide zu, dann siehst du, was sich als reell erweist.«
»Gut gesprochen«, meinte er.
Eine Zeitlang rauchten wir schweigend vor uns hin.
»Wie sehr kann ich dir vertrauen?« fragte er.
»Soweit ich dir vertrauen kann.«
»Dann wollen wir ein Abkommen treffen. Offen gestanden hatte ich dich seit vielen Jahren tot geglaubt. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß du im entscheidenden Augenblick auftauchen und einen eigenen Anspruch anmelden würdest. Aber jetzt bist du da, und damit basta. Verbünden wir uns – werfen wir unsere Streitkräfte zusammen, belagern wir Amber. Wer immer von uns den Kampf überlebt, bekommt die Beute. Wenn wir beide überleben, ach, Himmel! – dann können wir uns immer noch duellieren!«
Ich ließ mir den Vorschlag durch den Kopf gehen. Etwas Besseres konnte ich eigentlich nicht erwarten.
»Ich möchte mal drüber schlafen«, sagte ich. »Meine Antwort bekommst du morgen, einverstanden?«
»Einverstanden.«
Wir leerten unsere Gläser und wandten uns gemeinsamen Erinnerungen zu. Meine Schulter schmerzte etwas, aber der Whisky half mir darüber hinweg, ebenso wie die Salbe, die Bleys darauf gestrichen hatte. Nach einer Weile war die Stimmung schon ziemlich gelockert.
Es ist wohl seltsam, Verwandte zu haben und doch ohne Familie zu sein – denn unser ganzes Leben hindurch waren wir getrennte Wege gegangen. Himmel! Wir redeten den Mond vom Himmel! Zuletzt schlug mir Bleys auf die gesunde Schulter und verkündete, er beginne den Alkohol zu spüren, und ein Bediensteter würde mir am nächsten Morgen das Frühstück bringen. Ich nickte, wir umarmten uns, und er zog sich zurück. Dann trat ich ans Fenster. Von hier oben vermochte ich weit in den Abgrund zu blicken.
Die Lagerfeuer in der Tiefe funkelten wie Sterne. Es waren viele tausend. Hier wurde deutlich, daß Bleys eine gewaltige Streitmacht zusammengezogen hatte, und ich war neidisch auf ihn. Andererseits hatte diese Situation ihr Gutes. Wenn es überhaupt jemand mit Eric aufnehmen konnte, dann wahrscheinlich Bleys. Bleys auf dem Thron von Amber – das wäre keine üble Sache; nur hätte ich mich selbst dort oben lieber gesehen.
Ich schaute noch eine Zeitlang hinab und sah, daß sich seltsame Gestalten zwischen den Lichtern bewegten. Da begann ich mich zu fragen, woraus seine Armee bestehen mochte.
Wie auch immer, es war mehr, als ich besaß.
Ich tastete mich zum Tisch zurück und schenkte mir ein letztes Glas ein.
Doch ehe ich den Alkohol hinabstürzte, zündete ich eine Kerze an.
In ihrem Licht nahm ich das Kartenspiel zur Hand, das ich gestohlen hatte.
Ich breitete die Karten vor mir aus, bis ich die Abbildung Erics erreichte. Ich legte sie in die Mitte des Tisches und steckte die übrigen wieder fort.
Nach einer Weile belebte sich das Bild; und ich sah Eric in Schlafkleidung und hörte die Worte: »Wer ist da?« Sein Arm war verbunden.
»Ich«, sagte ich, »Corwin. Wie geht es dir?«
Da begann er zu fluchen, und ich lachte. Ich trieb ein gefährliches Spiel, zu dem mich der Whisky verleitet haben mochte, doch ich fuhr fort: »Mir war gerade danach, dir zu sagen, daß bei mir alles zum Besten steht. Ich wollte dir auch sagen, daß du recht hattest, als du vom unruhigen Schlaf des Herrschenden sprachst. Du wirst nicht mehr lange schlafen können. Leb wohl, Bruder! Der Tag, an dem ich nach Amber zurückkehre, ist zugleich dein letzter! Das wollte ich dir nur sagen – da dieser Tag nicht mehr allzu fern ist.«
»Komm ruhig«, erwiderte er, »und ich werde mich hinsichtlich deiner Todesart nicht lumpen lassen.«
Da richtete sich sein Blick auf mich, und wir waren uns ganz nahe.
Ich machte ihm eine lange Nase und fuhr mit der Handfläche über die Karte.
Es war, als hätte ich einen Telefonhörer aufgelegt. Ich schob Eric zwischen die übrigen Karten.
Als sich der Schlaf herabsenkte, begann ich mir dennoch Gedanken über Bleys’ Truppen zu machen, die in der Schlucht unter uns lagerten, und ich dachte an Erics Abwehr.
Es würde nicht einfach werden.