Das Land hieß Avernus, und die versammelten Truppen waren nicht ganz menschlich. Ich besichtigte sie am folgenden Morgen, wenige Schritte hinter Bleys gehend. Die Soldaten waren etwa sieben Fuß groß, hatten eine sehr rote Haut und wenig Haar, katzenähnliche Augen, sechsgliedrige Hände und Füße. Ihre Ohren liefen spitz zu, und die Finger besaßen Klauennägel.
Die Kämpfer trugen Kleidungsstücke, die leicht wie Seide aussahen, aber aus einem ganz anderen Stoff bestanden und vorwiegend grau oder blau waren, und jeder war mit zwei kurzen Klingen bewaffnet, die am Ende Haken aufwiesen.
Das Klima war mild, die Vielfalt der Farben war verwirrend, und alle hielten uns für Götter.
Bleys hatte Wesen gefunden, deren Religion sich um Brudergötter drehte, die wie wir aussahen und die ihre speziellen Sorgen hatten. Nach den Erwartungen dieses Mythos sollte ein böser Bruder die Macht übernehmen und die guten Brüder zu unterdrücken versuchen.
Und natürlich gab es die Sage von der Apokalypse, bei der alle aufgerufen waren, für die überlebenden guten Brüder Partei zu ergreifen.
Ich trug den linken Arm in einer schwarzen Schlinge und betrachtete die Wesen, die nicht mehr lange zu leben hatten.
Ich stand vor einem Soldaten und starrte ihn an. »Weißt du, wer Eric ist?« fragte ich.
»Der Herr des Bösen«, erwiderte er.
»Sehr gut«, sagte ich, nickte und ging weiter.
Bleys hatte sein Kanonenfutter gefunden.
»Wie groß ist deine Armee?« fragte ich ihn.
»Etwa fünfzigtausend Mann stark«, entgegnete er.
»Ich grüße jene, die ihr Leben hingeben werden«, sagte ich. »Mit fünfzigtausend Mann kannst du Amber nicht erobern, selbst wenn du sie heil und gesund zum Fuße Kolvirs schaffen könntest – was unmöglich ist. Schon der Gedanke ist eine Torheit, diese armen Schlucker mit ihren Spielzeugschwertern gegen die unsterbliche Stadt einsetzen zu wollen.«
»Ich weiß«, sagte er. »Aber sie sind nicht meine einzige Waffe.«
»Da brauchst du aber noch einiges mehr.«
»Was sagst du zu drei Flotten – anderthalbmal so groß wie Caines und Gérards Einheiten zusammen?«
»Reicht noch nicht«, sagte ich. »Das ist kaum ein Anfang.«
»Ich weiß. Aber ich bin noch bei den Vorbereitungen.«
»Nun, dann sollten wir das beschleunigen. Eric wird in Amber sitzen und uns umbringen, während wir durch die Schatten marschieren. Wenn die verbleibenden Streitkräfte endlich Kolvir erreichen, wird er sie dort kurz und klein schlagen. Dann kommt erst der Aufstieg nach Amber. Wie viele hundert sind deiner Meinung nach übrig, wenn wir die Stadt erreichen? Genug für einen fünfminütigen Kampf, ohne Verluste für Eric. Wenn du nicht mehr zu bieten hast, Bruder Bleys, sehe ich schwarz für unser Vorhaben.«
»Eric hat seine Krönung für einen Tag in drei Monaten anberaumt«, sagte er. »Bis dahin kann ich meine Armeen verdreifachen – mindestens. Vielleicht bringe ich eine Viertelmillion Soldaten aus den Schatten zusammen, die auf Amber vorrücken können. Es dürfte andere Welten geben wie diese, und ich werde in sie eindringen. Ich werde eine Streitmacht von Kreuzrittern zusammenrufen, wie sie nie zuvor gegen Amber geschickt wurde!«
»Und Eric bekommt Zeit, seine Abwehr zu stärken. Ich weiß nicht recht, Bleys . . . die Sache hat fast etwas Selbstmörderisches. Ich hatte keinen richtigen Überblick, als ich hier eintraf . . .«
»Und was hast du denn mitgebracht?« wollte er wissen. »Nichts! Es wird gemunkelt, daß du früher einmal Truppen befehligt hast. Wo sind sie?«
Ich wandte ihm den Rücken zu.
»Es gibt sie nicht mehr«, erwiderte ich. »Da bin ich sicher.«
»Könntest du nicht einen Schatten deines Schattens finden?«
»Das will ich gar nicht erst versuchen«, sagte ich. »Tut mir leid.«
»Was kannst du mir denn überhaupt nützen?«
»Ich werde wieder verschwinden«, sagte ich. »Wenn das alles ist, was du wolltest, wenn du mich nur deswegen bei dir haben wolltest – um noch mehr Leichen zu bekommen.«
»Warte doch!« rief er. »Ich habe unbedacht gesprochen. Wenn es schon nicht mehr wird, möchte ich doch wenigstens deinen Rat hören. Bleib bei mir, bitte. Ich kann mich sogar entschuldigen.«
»Das ist nicht nötig«, sagte ich, wußte ich doch, was dieses Angebot für einen Prinzen von Amber bedeutet. »Ich bleibe. Ich glaube, ich kann dir helfen.«
»Gut!« Und er schlug mir auf die gesunde Schulter.
»Und ich verschaffe dir weitere Truppen«, fuhr ich fort. »Keine Sorge.«
Und das tat ich.
Ich wanderte durch die Schatten und fand eine Rasse pelziger Wesen, dunkel und mit Klauen und Reißzähnen bewehrt, ziemlich menschenähnlich und nicht besonders intelligent. Etwa hunderttausend verehrten uns dermaßen, daß sie zu den Waffen griffen.
Bleys war beeindruckt und hielt den Mund. Eine Woche später war meine Schulter wieder verheilt. Nach zwei Monaten hatten wir unsere Viertelmillion und mehr zusammen.
Allerdings war mir irgendwie seltsam zumute. Der größte Teil der Truppen ging in den sicheren Tod. Ich war das Werkzeug, das für diesen Umstand weitgehend verantwortlich war. Ich hatte Anwandlungen von Reue, obwohl ich den Unterschied zwischen Schatten und Substanz durchaus kannte. Jeder Tod würde ein wirklicher Tod sein; doch das wußte ich auch.
Und in manchen Nächten beschäftigte ich mich mit den Spielkarten. Die fehlenden Trümpfe befanden sich in dem Spiel, das ich bei mir führte. Einer war ein Bild des eigentlichen Amber, und ich wußte, daß mich die Karte in die Stadt zurücktragen konnte. Die anderen zeigten unsere toten oder vermißten Geschwister. Und eine Karte trug ein Bild von Vater, und ich blätterte hastig weiter. Er war fort.
Ich starrte lange auf jedes Gesicht, um mir darüber klar zu werden, was von jedem zu erwarten war. Ich legte mehrmals die Karten aus, und jedesmal kam derselbe heraus.
Er hieß Caine.
Er trug grünen und schwarzen Satin und einen dunklen Dreispitz mit einem silbernen Federbusch. An seinem Gürtel hing ein smaragdbesetzter Dolch. Er war dunkelhäutig.
»Caine«, sagte ich.
Nach einer Weile kam die Antwort.
»Wer?«
»Corwin«, sagte ich.
»Corwin? Soll das ein Witz sein?«
»Nein.«
»Was willst du?«
»Was hast du?«
»Das weißt du doch«, und seine Augen zuckten herum, sahen mich an, doch ich beobachtete seine Hand, die am Dolch lag.
»Wo bist du?«
»Bei Bleys.«
»Es gibt Gerüchte, du seist kürzlich in Amber aufgetaucht. Ich habe mich schon über die Bandagen an Erics Arm gewundert.«
»Den Grund dafür siehst du vor dir«, sagte ich. »Wie hoch ist dein Preis?«
»Was meinst du damit?«
»Wir wollen klar und offen reden. Glaubst du, daß Bleys und ich Eric besiegen können?«
»Nein – deshalb bin ich ja auch auf Erics Seite. Und ich werde meine Armada nicht verkaufen, wenn du das im Sinn haben solltest – und so etwas könnte ich mir denken.«
Ich lächelte.
»Schlaues Brüderchen«, erwiderte ich. »Na ja, hat mich gefreut, mal wieder mit dir zu reden. Auf Wiedersehen in Amber – vielleicht.«
Ich hob die Hand.
»Warte!« rief er.
»Warum?«
»Ich kenne ja nicht mal dein Angebot!«
»O doch«, sagte ich. »Du hast es erraten und hast kein Interesse daran.«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich weiß eben nur, wo die Werte liegen.«
»Du meinst die Macht.«
»Gut also, die Macht. Was hast du zu bieten?«
Wir verhandelten etwa eine Stunde lang, danach standen den drei Phantomflotten Bleys’ die nördlichen Gewässer offen, wohin sie sich zurückziehen mochten, um Verstärkung abzuwarten.
»Wenn es mißlingt, gibt es drei Hinrichtungen in Amber«, sagte er.
»Aber damit rechnest du doch nicht wirklich, oder?« wollte ich wissen.
»Nein, ich glaube, daß in absehbarer Zeit einer von euch, du oder Bleys, auf den Thron kommt. Ich bin es zufrieden, dem Sieger zu dienen. Die Grafschaft ist mir dann recht. Allerdings möchte ich noch immer Randoms Kopf in unseren Handel einbeziehen.«
»Auf keinen Fall«, sagte ich. »Du hast meine Bedingungen gehört – greif zu oder laß es.«
»Ich greife zu.«
Ich lächelte, legte die Handfläche auf die Karte, und er war fort.
Gérard wollte ich mir für den nächsten Tag aufheben. Caine hatte mich angestrengt. Ich ließ mich ins Bett fallen und schlief ein.
Als Gérard erfuhr, wie die Dinge standen, erklärte er sich einverstanden, uns in Ruhe zu lassen. Das lag in erster Linie daran, daß ich der Fragesteller war, da er Eric für das kleinere der möglichen Übel gehalten hatte.
Ich traf mein Arrangement sehr schnell, indem ich ihm alles versprach, was er verlangte, da für ihn keine Köpfe zu rollen brauchten.
Später besichtigte ich noch einmal die Truppen und erzählte ihnen mehr von Amber. Seltsamerweise kamen sie wie Brüder miteinander aus, die großen roten und die kleinen pelzigen Burschen.
Es war traurig – aber wahr.
Wir waren ihre Götter – und daran führte kein Weg vorbei.
Ich sah die Flotte, die auf einem blutroten Ozean dahinsegelte. Ich überlegte.
In den Schatten-Welten, durch die sich die Schiffe bewegten, würden viele untergehen.
Ich dachte über die Truppen von Avernus nach, und über meine Rekruten aus dem Land, das Ri’ik genannt wurde. Sie hatten die Aufgabe, zur Erde und nach Amber zu marschieren.
Ich mischte die Karten und legte sie auf. Schließlich nahm ich Benedicts Bildnis zur Hand. Ich suchte lange, doch ich fand nichts anderes als Kälte.
Dann ergriff ich Brands Karte. Wieder spürte ich zuerst nur die Kälte.
Dann ertönte ein Schrei. Es war ein schrecklicher, gequälter Laut.
»Hilf mir!« tönte es.
»Wie kann ich das?« fragte ich.
»Wer ist da?« wollte er wissen, und ich sah, wie sich sein Körper wand.
»Corwin.«
»Hol mich fort von diesem Ort, Bruder Corwin! Was immer du dir dafür wünschst, es soll dein sein!«
»Wo bist du?«
»Ich . . .«
Es folgte ein Wirbel von Dingen, die vorzustellen mein Gehirn nicht in der Lage war, dann ein weiterer Schrei, wie aus Todesqualen geboren, ein Laut, der in Stille endete.
Dann kehrte schnell die Kälte zurück.
Ich stellte fest, daß ich am ganzen Körper zitterte.
Ich zündete mir eine Zigarette an und trat ans Fenster, um in die Nacht hinauszuschauen. Die Karten lagen auf dem Tisch in meinem Raum in der Garnison – so wie sie gefallen waren.
Die Sterne waren winzig und vom Nebel verwischt. Keines der Sternenbilder war mir bekannt. Ein kleiner blauer Mond schimmerte durch die Dunkelheit. Die Nacht war mit einem plötzlichen eiskalten Wind eingefallen, und ich zog den Mantel eng um mich. Unwillkürlich dachte ich an den Winter unseres katastrophalen Feldzugs in Rußland. Himmel! Ich war fast erfroren!
Und wohin führte das alles?
Natürlich auf den Thron von Amber.
Denn der war ein ausreichender Grund für alles.
Aber was war mit Brand?
Wo steckte er? Was geschah mit ihm, und wer tat ihm dies an?
Antworten? – Keine.
Doch während ich in die Nacht hinausstarrte und dem Weg der blauen Scheibe mit den Blicken folgte, kamen mir Zweifel. Gab es etwas, das mir im großen Bild entging, ein Faktor, den ich nicht richtig begriff?
Keine Antwort.
Ich setzte mich wieder an den Tisch, ein kleines Glas in Reichweite.
Ich blätterte durch den Stapel und fand Vaters Karte.
Oberon, Lord von Amber, stand in seinem grüngoldenen Gewand vor mir. Groß, breit, rundlich, der schwarze Bart von Silberstreifen durchzogen wie das Haar. Grüne Ringe in Goldfassungen und eine goldfarbene Klinge. Ich hatte früher einmal angenommen, daß nichts den unsterblichen Herrscher Ambers von seinem Thron stürzen könne. Was war geschehen? Ich wußte es noch immer nicht. Aber er war fort. Wie hatte mein Vater geendet?
Ich starrte auf die Karte und konzentrierte mich.
Nichts, nichts . . .
Etwas?
Etwas!
Ich spürte die Reaktion einer Bewegung, wenn auch sehr schwach, und die Gestalt auf der Karte wandelte sich, schrumpfte zu einem Schatten des Mannes, der Vater einmal gewesen war.
»Vater?« fragte ich.
Nichts.
»Vater?«
»Ja . . .« Sehr schwach und weit entfernt, wie durch das Rauschen einer Muschel, eingebettet in das ewige Summen.
»Wo bist du? Was ist geschehen?«
»Ich . . .« Eine lange Pause.
»Ja? Hier spricht Corwin, dein Sohn. Was ist in Amber geschehen, daß du jetzt fort bist?«
»Meine Zeit war gekommen«, erwiderte er – und seine Stimme schien sich noch weiter entfernt zu haben.
»Soll das heißen, daß du abgedankt hast? Keiner meiner Brüder hat mir bisher davon erzählt, und ich traue ihnen nicht so sehr, daß ich sie fragen möchte. Ich weiß nur, daß der Thron anscheinend jedem offensteht, der danach greifen will. Eric hält die Stadt, und Julian bewacht den Wald von Arden. Caine und Gérard herrschen über die Meere. Bleys möchte gegen alle kämpfen, und ich habe mich mit ihm verbündet. Wie sehen deine Wünsche in dieser Angelegenheit aus?«
»Du bist der einzige, der – danach – gefragt – hat«, keuchte er. »Ja . . .«
»›Ja‹ was?«
»Ja – kämpfe gegen – sie . . .«
»Was ist mit dir? Wie kann ich dir helfen?«
»Mir kann niemand mehr helfen. Ersteige den Thron . . .«
»Ich? Oder Bleys und ich?«
»Du!« sagte er.
»Ja?«
»Du hast meinen Segen . . . Ersteige den Thron – und beeil – dich – damit.«
»Warum, Vater?«
»Ich habe den Atem nicht mehr – ersteige ihn!«
Dann war auch er fort.
Vater lebte also.
Das war interessant. Was sollte ich tun?
Ich trank aus meinem Glas und überlegte.
Er lebte noch immer, irgendwo, und er war König in Amber. Warum war er nicht mehr hier? Wohin war er gegangen? Welcher Art . . . was . . . wie viele . . .?
Diese Art Fragen stellte ich mir.
Wer wußte Bescheid? Ich jedenfalls nicht. Im Augenblick gab es dazu nicht mehr zu sagen.
Aber . . .
Ich konnte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Sie müssen wissen, daß Vater und ich nie so richtig miteinander ausgekommen sind. Ich habe ihn nicht gehaßt, wie etwa Random oder einige andere seiner Söhne, aber ich hatte andererseits auch keinen Grund, ihn besonders zu mögen. Er war groß und mächtig gewesen – er war da gewesen. Das war so etwa alles. Er war zugleich identisch mit dem größten Teil der Geschichte von Amber, wie wir sie kannten – und die Geschichte Ambers geht so viele Jahrtausende zurück, daß man sie gar nicht erst zu zählen braucht. Was also war zu tun?
Am nächsten Morgen nahm ich an einer Besprechung von Bleys’ Generalstab teil. Er hatte vier Admiräle, die jeweils etwa ein Viertel seiner Flotte kommandierten, und eine ganze Messe voller Armeeoffiziere. Insgesamt waren etwa dreißig hochstehende Chargen versammelt – groß und rothäutig oder klein und pelzig, je nach dem.
Die Besprechung dauerte etwa vier Stunden, ehe wir alle eine Mittagspause machten. Man kam überein, daß wir in drei Tagen angreifen würden. Da ein Mann des Blutes von Amber erforderlich war, um den Weg zur Stadt zu öffnen, sollte ich von Bord des Flaggschiffs aus die Flotte leiten, während Bleys die Infanterie durch die Länder des Schattens führen wollte.
Dieser Plan beunruhigte mich, und ich fragte ihn, was er tun würde, wenn ich nicht gekommen wäre, um ihm diese Hilfe zu gewähren. Darauf erhielt ich zwei Antworten: Erstens hätte er allein vorgehen müssen; er wäre mit der Flotte durchgebrochen und hätte sie weit vor der Küste verlassen, um in einem einzelnen Schiff nach Avernus zurückzukehren und seine Fußsoldaten zu einem geplanten Treffpunkt zu führen; und zweitens hatte er gezielt einen Schatten gesucht, in dem ein Bruder auftauchen würde, um ihm zu helfen.
Als ich dies vernahm, kamen mir erste düstere Vorahnungen, auch wenn ich wußte, daß ich hier wirklich vorhanden war. Die erste Antwort kam mir ziemlich unpraktisch vor, da die Flotte zu weit draußen auf dem Meer lag, um Signale von Land zu erkennen. Das Risiko, den richtigen Zeitpunkt zu verpassen – bei einer so großen Einheit gab es immer unvorhergesehene Zwischenfälle –, war in meinen Augen zu groß, um den Plan wirklich realisierbar erscheinen zu lassen.
Aber als Taktiker hatte ich Bleys stets für brillant gehalten; md als er nun die selbstgezeichneten Karten Ambers und des inliegenden Gebietes ausrollte und uns die Taktik erklärte, die er dort anzuwenden gedachte, wußte ich, daß er ein Prinz von Amber war, dessen Arglist nicht seinesgleichen fand.
Das Problem war nur, daß wir gegen einen anderen Prinzen von Amber vorrückten, einen Mann, der entschieden die bessere Ausgangsposition hatte. Ich machte mir Sorgen, doch angesichts der bevorstehenden Krönung schien uns kein anderer Weg offen zu stehen, und ich beschloß, Bleys bis zum bitteren Ende zu unterstützen. Wenn wir unterlagen, waren wir verloren, aber er vermochte die größte Angriffsmacht auf die Beine zu stellen und hatte einen praktikablen Zeitplan, den ich nicht aufweisen konnte.
So wanderte ich denn durch das Land, das Avernus hieß, und beschäftigte mich mit seinen nebelverhangenen Tälern und Schluchten, mit den qualmenden Kratern und der grellen Sonne am verrückten Himmel, mit den eiskalten Nächten und viel zu heißen Tagen, mit den zahlreichen Felsbrocken und Unmengen dunklen Sandes, mit den winzigen, doch bösartigen und giftigen Tieren und den riesigen purpurnen Pflanzen, die an schlaffe Kakteen erinnerten; und am Nachmittag des zweiten Tages stand ich auf einer Klippe und schaute unter einem gewaltigen zinnoberroten Wolkenmassiv auf das Meer hinaus – und da kam ich zu dem Schluß, daß mir die Gegend recht gut gefiel und daß ich ihre Söhne eines Tages, wenn ich dazu in der Lage war, mit einem Lied unsterblich machen würde, sollten sie im Krieg der Götter untergehen.
Nachdem ich meine Ängste vor dem Kommenden auf diese Weise besänftigt hatte, stieß ich zu der Flotte und übernahm das Kommando. Wenn wir es schafften, sollten diese Kämpfer für alle Ewigkeit in den Hallen der Unsterblichen gefeiert werden.
Ich war Anführer und Wegbereiter. Ich freute mich.
Am folgenden Tag setzten wir Segel, und ich befehligte die Flotte vom ersten Schiff aus. Ich führte uns in einen Sturm, und als wir die unruhige Zone verließen, waren wir unserem Ziel um ein Beträchtliches nähergerückt. Ich führte die Schiffe an einem gewaltigen Strudel vorbei, der uns ebenfalls weiterhalf. Ich steuerte durch felsige Untiefen, aber der Schatten des Wassers verdunkelte sich bald wieder. Seine Farbe begann der Tönung Ambers zu ähneln. Ich besaß die Fähigkeit also noch immer. Ich vermochte unser Schicksal in Zeit und Raum zu beeinflussen. Ich konnte uns nach Hause führen. In mein Zuhause, genauer gesagt.
Ich führte uns an unbekannten Inseln vorüber, auf denen grüne Vögel krächzten und grüne Affen wie Früchte pendelnd in den Bäumen hingen.
Ich führte uns aufs offene Meer hinaus und steuerte die Flotte dann wieder auf die Küste zu.
Inzwischen marschierte Bleys über die Ebenen der Welten. Irgendwoher wußte ich, daß er es schaffen würde, daß er die Barrieren überwinden würde, die Eric errichtet hatte. Durch die Karten blieb ich mit ihm in Verbindung und erfuhr von den Kämpfen, die er durchstehen mußte. So gab es zehntausend Tote bei einer Zentaurenschlacht in offenem Gelände, fünftausend Mann Verlust durch ein Erdbeben von erschreckendem Ausmaß, fünfzehnhundert Tote in einer Sturmbö, die das Lager durchtoste, neunzehntausend Tote oder Vermißte nach Kämpfen in den Dschungeln eines Gebiets, das ich nicht kannte, da von seltsamen Flugmaschinen, die am Himmel vorbeibrummten, Napalm herabregnete; weiterhin sechstausend Deserteure in einer Gegend wie der Himmel auf Erden, den man den Soldaten versprochen hatte, fünfhundert Vermißte beim Durchqueren einer Sandwüste, über der eine riesige Pilzwolke dräute, achttausendsechshundert Verschwundene in einem Tal voller unerwartet militanter Maschinen, die auf Ketten rollten und Feuer spien. Achthundert Kranke und Zurückgelassene, zweihundert Mann, die in einer Flutwelle untergingen, vierhundertfünfzig Opfer durch Duelle in den eigenen Reihen, dreihundert Tote von einer vergifteten Frucht, tausend Mann Verlust durch einen panischen Ausbruch büffelähnlicher Kreaturen, der Tod von dreiundsiebzig Mann, deren Zelte Feuer fingen, fünfzehnhundert bei Flußüberquerungen Davongeschwemmte, zweitausend, die von Stürmen aus den blauen Bergen getötet wurden.
Ich war froh, daß ich in der gleichen Zeit nur hundertundsechsundachtzig Schiffe verloren hatte.
Schlaf, vielleicht ein Traum . . . Ja, das paßt. Eric bekämpfte uns in Zentimetern und Stunden. Die vorgesehene Krönung sollte in wenigen Wochen stattfinden, denn wir starben und starben.
Nun steht geschrieben, daß nur ein Prinz von Amber durch die Schatten vordringen kann, allerdings vermag er jede Anzahl von Gefolgsleuten über denselben Weg hinter sich herzuziehen. Wir führten unsere Truppen und sahen sie sterben, doch über Schatten muß ich folgendes sagen: es gibt Schatten, und es gibt Substanz, und dies ist die Wurzel aller Dinge. An Substanz gibt es nur Amber, die reale Stadt auf der realen Erde, die alles umfaßt. An Schatten gibt es eine endlose Vielfalt. Irgendwo besteht jede Möglichkeit als Schatten des Realen. Durch die Tatsache seiner Existenz hat Amber solche Schatten in alle Richtungen geworfen. Und was läßt sich über die Dinge sagen, die außerhalb liegen? Die Schatten erstrecken sich von Amber bis zum Chaos, und in diesem weiten Bereich sind alle Dinge möglich. Es gibt nur drei Möglichkeiten, sie zu durchqueren, und jede ist mit Schwierigkeiten verbunden.
Ist man ein Prinz oder eine Prinzessin vom Blute, dann kann man zu Fuß gehen, dann kann man die Schatten durchqueren und die Umgebung im Vorbeigehen zwingen, sich zu verändern, bis sie schließlich genau die gewünschte Form hat, und dann aufhören. Diese Schattenwelt wird dadurch zur eigenen, und man kann damit machen, was man will – bis auf die Einwirkungen anderer Familienmitglieder. An einem solchen Ort hatte ich mich jahrhundertelang aufgehalten.
Die zweite Möglichkeit sind die Karten, die von Dworkin dem Meister nach unserem Ebenbild gezeichnet worden waren, um die Kommunikation zwischen den Mitgliedern der Königsfamilie zu erleichtern. Er war der urzeitliche Künstler, dem Raum und Perspektive nichts bedeuteten. Er hatte die Familientrümpfe geschaffen, die es dem Suchenden erlaubten, seine Verwandten anzusprechen, wo immer sie sich befinden mochten.
Ich hatte das Gefühl, daß die Karten nicht in voller Übereinstimmung mit den Absichten des Schöpfers eingesetzt worden waren.
Die dritte Möglichkeit war das Muster, das ebenfalls von Dworkin gezeichnet worden war und das nur von einem Mitglied unserer Familie abgeschritten werden konnte. Es führte den Gehenden in das System der Karten ein und gab ihm zum Schluß die Macht, die Schatten zu überspringen.
Die Karten und das Muster sorgten für einen sofortigen Sprung von der Substanz durch die Schatten. Die andere Möglichkeit, der Weg zu Fuß, war mühsamer.
Ich wußte, was Random geleistet hatte, als er mich in die wahre Welt führte. Im Verlauf unserer Fahrt hatte er aus dem Gedächtnis immer wieder Dinge addiert, an die er sich aus Amber erinnerte, und andere Details subtrahiert, die nicht dazugehörten. Als schließlich alles stimmte, wußte er, daß wir am Ziel waren. Im Grunde war das kein Trick, denn mit dem erforderlichen Wissen vermochte jeder von uns sein eigenes Amber zu erreichen. Auch jetzt noch hätten Bleys und ich ein Schatten-Amber finden können, in dem jeder von uns auf dem Thron saß; wir hätten bis in alle Ewigkeit dort herrschen können. Aber das wäre eben nicht das Wahre gewesen, denn keiner von uns hätte sich im wirklichen Amber befunden, in der Stadt unserer Geburt, in der Stadt, die Vorbild ist für alle anderen.
Für unseren Angriff auf Amber wählten wir also den anstrengendsten Weg, den Marsch durch die Schatten. Wer immer davon wußte und die Fähigkeit besaß, konnte uns Hindernisse in den Weg stellen. Das hatte Eric getan, und viele starben im Kampf dagegen. Wie würde das Ergebnis aussehen? Das wußte niemand.
Aber wenn Eric zum König gekrönt wurde, mußte sich das widerspiegeln und überall seine Schatten werfen.
Alle überlebenden Brüder, wir Prinzen von Amber, dessen bin ich sicher, hielten es jeder auf seine eigene simple Art für weitaus besser, diesen Status persönlich zu erlangen und die Schatten anschließend nach Belieben fallen zu lassen.
Wir passierten Gespensterflotten, die Schiffe von Gérard – die Fliegenden Holländer dieser Welt und jener Welt –, und wir wußten, daß wir uns dem Ziel näherten. Ich benutzte die anderen Flotten als Orientierungspunkte.
Am achten Tag unserer Reise standen wir dicht vor Amber. Und da brach das Unwetter los.
Das Meer wurde dunkel, die Wolken zogen sich über uns zusammen, und die Segel erschlafften in der beginnenden Flaute. Die Sonne verhüllte ihr Gesicht – ein riesiges blaues Gesicht –, und ich hatte das Gefühl, daß Eric uns endlich aufgespürt hatte.
Dann brach der Sturm los und fiel über mein Schiff her.
Wir wurden vom Unwetter angesprungen, vom Sturm zerfetzt. Ich fühlte mich innerlich ganz weich und haltlos, als die ersten Böen kamen. Wie Würfel in der Hand eines Riesen wurden wir hin und her geschleudert. Wir rasten über das Wasser und durch das Wasser, das vom Himmel rauschte. Der Himmel wurde schwarz, und Hagel mischte sich mit den glasiggrellen Glockensträngen, die den Donner einläuteten. Ich bin sicher, daß niemand stumm blieb in diesem Tosen – ich jedenfalls habe geschrien. Ich tastete mich über das schwankende Deck, um das verlassene Steuerruder zu übernehmen. Ich band mich fest und hielt das Ruder in den Händen. Eric hatte aus Amber losgeschlagen, soviel war sicher.
Eins, zwei, drei, vier Stunden – und der Sturm ließ nicht nach. Schließlich fünf Stunden. Wie viele Männer hatten wir verloren? Ich wußte es nicht.
Dann spürte und hörte ich ein Kribbeln und Klimpern und sah Bleys wie durch einen langen grauen Tunnel.
»Was ist los?« fragte er. »Ich habe andauernd versucht, dich zu erreichen.«
»Das Leben ist voller Unannehmlichkeiten«, erwiderte ich. »Wir plagen uns gerade mit einer herum.«
»Sturm?«
»Darauf kannst du jede Wette eingehen. Der Urvater aller Orkane. An Backbord scheint sich gerade ein Ungeheuer herumzutreiben. Wenn es überhaupt Verstand hat, wird es sich auf den Meeresboden zurückziehen . . . ja, das tut es jetzt.«
»Wir haben auch gerade eins gehabt«, meldete Bleys.
»Ein Unwetter oder Ungeheuer?«
»Unwetter«, entgegnete er. »Zweihundert Tote.«
»Beiß die Zähne zusammen«, sagte ich, »halte die Stellung und melde dich später wieder. In Ordnung?«
Er nickte, und ich sah hinter ihm die Blitze zucken.
»Eric hat uns aufgespürt«, fügte er hinzu, ehe er die Verbindung unterbrach.
Da mußte ich ihm recht geben.
Es dauerte drei Stunden, bis ich erfuhr, daß wir die Hälfte der Flotte verloren hatten (auf meinem Schiff – dem Flaggschiff – betrugen die Verluste ein Drittel von hundertundzwanzig Mann). Es war ein schweres Los.
Irgendwie schafften wir es in das Meeresgebiet über Rebma.
Ich nahm meine Karte zur Hand und hielt mir Randoms Bild vor Augen.
Als ihm klar wurde, wer sich meldete, sagte er sofort: »Kehrt um«, und ich fragte ihn nach dem Grund.
»Weil mir Llewella gesagt hat, Eric könnte euch mühelos in die Tasche stecken. Sie meint, ihr solltet eine Zeitlang warten, bis seine Wachsamkeit nachläßt, und dann zuschlagen – etwa in einem Jahr.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Das geht nicht. Um überhaupt bis hierher zu kommen, haben wir schon zu viele Verluste erleiden müssen. Jetzt oder nie.«
Er zuckte die Achseln und sagte: »Ich habe dich gewarnt.«
»Warum ist Eric so stark?« erkundigte ich mich.
»Vor allem weil er hier in der Gegend das Wetter kontrollieren kann, wie ich gerade erfahren habe.«
»Trotzdem müssen wir es riskieren.«
Wieder zuckte er die Achseln.
»Weiß er bestimmt, daß wir im Anmarsch sind?«
»Was glaubst du denn? Ist er ein Dummkopf?«
»Nein.«
»Dann weiß er Bescheid. Wenn ich es in Rebma schon erraten konnte, dann hat er in Amber Gewißheit darüber – und ich habe es tatsächlich erraten, anhand eines Schwankens in den Schatten.«
»Leider«, meinte ich, »habe ich hinsichtlich unserer Expedition ein dummes Gefühl, aber es ist Bleys’ Feldzug.«
»Steig doch aus und laß ihn allein zur Schlachtbank gehen.«
»Tut mir leid, das Risiko kann ich nicht eingehen. Er könnte siegen. Ich führe die Flotte heran.«
»Du hast mit Caine und Gérard gesprochen?«
»Ja.«
»Dann rechnest du dir auf dem Meer sicher eine Chance aus. Aber hör mir mal genau zu, Eric hat eine Möglichkeit gefunden, das Juwel des Geschicks zu kontrollieren – diese Tatsache geht aus Gerüchten über sein Doppel hervor. Zumindest kann er es einsetzen, um hier das Wetter zu beherrschen – soviel steht fest. Gott allein weiß, was er sonst noch damit anrichten kann.«
»Schade«, sagte ich. »Wir müssen’s über uns ergehen lassen. Wir können uns nicht von ein paar Stürmen entmutigen lassen!«
»Corwin, ich will ehrlich sein. Ich habe vor drei Tagen mit Eric gesprochen.«
»Warum?«
»Er hat sich mit mir in Verbindung gesetzt. Dabei hat er detailliert über seine Abwehr gesprochen.«
»Der Grund dafür ist Julian, von dem er erfahren hat, daß wir zusammen gekommen sind. So kann er sicher sein, daß mir seine Bemerkungen zu Ohren kommen.«
»Möglich«, sagte er. »Aber das ändert nichts an dem, was er gesagt hat.«
»Nein«, mußte ich zugeben.
»Dann laß Bleys seinen Kampf allein ausfechten«, sagte er. »Du kannst auch später noch gegen Eric vorgehen.«
»Er will sich in Amber krönen lassen.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber der Angriff auf einen König ist doch ebenso leicht wie der auf einen Prinzen, oder? Was macht es schon aus, wie er sich im Augenblick der Entscheidung nennt, solange du ihn nur besiegst? Er ist und bleibt Eric.«
»Sicher«, sagte ich, »aber ich habe mein Wort gegeben.«
»Dann nimm es wieder zurück.«
»Das geht leider nicht.«
»Dann bist du verrückt, Charlie.«
»Wahrscheinlich hast du recht.«
»Jedenfalls wünsche ich dir viel Glück.«
»Danke.«
»Bis demnächst.«
Und das war’s, und es beunruhigte mich.
Lief ich in eine Falle?
Eric war kein Dummkopf. Vielleicht hatte er eine richtige Todesfalle aufgebaut. Aber dann zuckte ich die Achseln und beugte mich über die Reling; die Karten waren wieder in meinem Gürtel verstaut.
Es ist ein stolzes und einsames Geschick, Prinz von Amber zu sein, ein Mann der unfähig ist, Vertrauen zu haben. In diesem Augenblick hatte ich nicht gerade viel übrig für dieses Dasein, aber was sollte ich tun?
Natürlich hatte Eric das Unwetter gelenkt, das wir gerade hinter uns hatten, und das schien zu dem zu passen, was mir Random über seine Wetterherrschaft in Amber erzählt hatte.
Und ich versuchte es selbst mit einem solchen Trick.
Ich führte uns inmitten eines dichten Schneegestöbers auf Amber zu.
Es war der schlimmste Schneesturm, den ich heraufbeschwören konnte.
Riesige Flocken begannen draußen über dem Ozean zu fallen.
Sollte er doch diese ganz normale Schattenerscheinung unterbinden, wenn er konnte!
Und das tat er.
Nach einer halben Stunde hatte der Schneesturm aufgehört. Amber war praktisch uneinnehmbar – und es war im Grunde die einzige existierende Stadt. Da ich nicht vom Kurs abweichen wollte, ließ ich den Dingen ihren Lauf.
Wir segelten weiter. In die Fänge des Todes.
Der zweite Sturm war schlimmer als der erste, aber ich ließ das Steuerrad nicht los. Das Unwetter brachte zahlreiche elektrische Entladungen und war allein gegen die Flotte gerichtet. Es trieb sie auseinander und kostete uns vierzig weitere Schiffe.
Ich hatte Angst, Bleys anzurufen, um zu erfahren, wie es ihm ergangen war.
»Etwa zweihunderttausend Soldaten sind noch übrig«, sagte er. »Eine Flutwelle«, und ich berichtete ihm, was Random mir mitgeteilt hatte.
»Könnte stimmen«, sagte er. »Aber wir wollen die Sache nicht zerreden. Wetter oder nicht – wir werden ihn besiegen.«
Ich stützte mich auf die Reling und hielt Ausschau.
Bald müßte Amber in Sicht kommen. Ich kannte mich mit den Tricks der Schatten aus und wußte, wie ich zu Fuß ans Ziel gelangen konnte.
Aber jedermann hatte düstere Vorahnungen.
Doch den idealen Tag würde es niemals geben . . .
Also segelten wir weiter, und die Dunkelheit hüllte uns ein wie eine riesige Welle, und der schlimmste Orkan von allen brach los.
Es gelang uns, die Wucht seiner Schläge abzureiten, aber ich hatte Angst. Alles war Realität, und wir befanden uns in nördlichen Gewässern. Die Sache konnte gutgehen, wenn Caine sein Wort hielt. Wenn er mit uns kämpfen wollte, hatte er nun eine vorzügliche Ausgangsposition.
Ich nahm daher an, daß er uns verraten hatte. Warum auch nicht? Als ich ihn nähermanövrieren sah, bereitete ich die Flotte – dreiundsiebzig Schiffe waren noch übrig – zum Kampf vor. Indem ihn die Karten als Schlüsselfigur auswiesen, hatten sie entweder gelogen – oder waren überaus zutreffend gewesen.
Das führende Schiff hielt auf mich zu, und ich zog mein Boot herum und fuhr ihm entgegen. Wir drehten bei und musterten uns Seite an Seite. Wir hätten uns durch die Trümpfe verständigen können, doch Caine wählte diesen Weg nicht; dabei war er in dieser Situation der Stärkere. In solchen Fällen schrieb die Familienetikette vor, daß er die Verständigungsmethode wählte.
Er wollte seine Vormachtstellung offenbar für alle hörbar machen, denn er benutzte einen Lautsprecher.
»Corwin! Liefere deine Flotte aus. Ich bin dir zahlenmäßig überlegen! Du schaffst es nicht!«
Ich betrachtete ihn über die hochgehenden Wogen hinweg und hob meine Flüstertüte an die Lippen.
»Was ist mit unserer Vereinbarung?« fragte ich.
»Null und nichtig«, entgegnete er. »Du bist viel zu schwach, um gegen Amber etwas auszurichten, also rette Menschenleben und ergib dich sofort.«
Ich warf einen Blick über die linke Schulter auf die Sonne.
»Bitte hör mich an, Bruder Caine«, sagte ich, »und gewähre nir eine Bitte: Laß mir Zeit, mich mit meinen Kapitänen zu besprechen – bis die Sonne im Zenit steht.«
»Einverstanden«, erwiderte er sofort. »Ich bin sicher, sie werden ihre Lage richtig einschätzen.«
Ich wandte mich ab und gab Befehl, das Schiff zu wenden und zur Hauptflotte zurückzusteuern.
Versuchte ich zu fliehen, würde mich Caine durch die Schatten verfolgen und meine Schiffe eins nach dem anderen vernichten. Auf der realen Erde explodierte Schießpulver nicht, aber wenn wir uns sehr weit davon entfernten, konnte es zu unserer Vernichtung mit eingesetzt werden. Caine würde welches beschaffen, denn es war anzunehmen, daß die Flotte, wenn ich sie verließ, die Schatten-Meere nicht allein bewältigen konnte. Die Schiffe säßen dann wie lahme Enten in den realen Gewässern hier fest.
Die Mannschaften waren also tot oder gefangen – was immer ich tat.
Random hatte recht gehabt.
Ich nahm Bleys’ Trumpf zur Hand und konzentrierte mich darauf, bis er sich bewegte.
»Ja?« fragte er, und seine Stimme klang erregt. Ich hörte förmlich den Kampflärm rings um ihn.
»Wir haben Ärger«, sagte ich. »Dreiundsiebzig Schiffe haben es geschafft, und Caine hat uns aufgefordert, bis Mittag zu kapitulieren.«
»Verdammt soll er sein!« sagte Bleys. »So weit wie du bin ich noch gar nicht. Wir stehen mitten im Kampf. Eine riesige Kavalleriestreitmacht haut uns in Stücke. Ich kann dir also keinen wohlüberlegten Ratschlag geben, denn ich habe meine eigenen Sorgen. Tu, was du für richtig hältst. Sie greifen wieder an!« Und der Kontakt war unterbrochen.
Ich nahm Gérards Karte und suchte die Verbindung.
Als unser Gespräch begann, glaubte ich eine Küstenlinie hinter ihm zu erkennen, die mir bekannt vorkam. Wenn ich recht hatte, befand er sich in südlichen Gewässern. Ich erinnerte mich nur ungern an unsere Unterhaltung. Ich fragte ihn, ob er mir gegen Caine helfen könnte und wollte.
»Ich habe nur gesagt, ich würde dich vorbeilassen. Deshalb habe ich mich in den Süden zurückgezogen. Selbst wenn ich wollte, könnte ich gar nicht rechtzeitig zur Stelle sein. Ich habe dir keine Hilfe versprochen.«
Und ehe ich etwas erwidern konnte, war er verschwunden. Er hatte natürlich recht. Er hatte sich bereit erklärt, mir eine Chance zu geben, nicht meinen Kampf mitzukämpfen.
Welche Möglichkeiten blieben mir noch?
Ich schritt auf Deck hin und her. Der frühe Morgen war vorbei. Der Nebel hatte sich längst aufgelöst, und die Sonne wärmte mir die Schultern. Bald war es Mittag. Vielleicht noch zwei Stunden . . .
Ich betastete meine Karten, wog das Spiel in der Hand. Ich konnte mich durch die Trümpfe auf einen Kampf der Willenskräfte einlassen – mit Eric oder mit Caine. Diese Fähigkeit steckte in den Karten – und vielleicht noch andere, von denen ich im Augenblick keine Ahnung hatte. Sie waren auf Befehl Oberons gestaltet worden, von der Hand des verrückten Künstlers Dworkin Barimen, jenes glutäugigen Buckligen, der Zauberer, Priester oder Psychiater gewesen war – in diesem Detail widersprachen sich die Überlieferungen – und der aus irgendeinem fernen Schatten stammte, wo Vater ihn vor einem selbstverschuldeten schlimmen Schicksal bewahrt hatte. Die Einzelheiten waren unbekannt, doch hatte er seit jener Zeit nicht mehr alle Tassen im Schrank. Trotzdem war er ein großartiger Künstler, und es war eine unbestreitbare Tatsache, daß er über seltsame Fähigkeiten verfügte. Er war vor langer Zeit verschwunden, nachdem er die Karten geschaffen und das Muster in Amber niedergelegt hatte. Wir hatten uns oft über ihn Gedanken gemacht, doch niemand schien seinen Aufenthaltsort zu kennen.
Vielleicht hatte Vater ihn umgebracht, damit seine Geheimnisse nicht bekannt wurden.
Caine war sicher auf einen Angriff durch die Karten gefaßt, und wahrscheinlich vermochte ich ihn nicht niederzuringen, wenn ich ihn auch vielleicht in meinen Bann schlagen konnte. Aber das genügte nicht, da seine Kapitäne längst Order zum Angriff erhalten hatten.
Und Eric rechnete bestimmt mit allem – aber wenn es sonst keine andere Möglichkeit gab, konnte ich es genausogut versuchen. Ich hatte außer meiner Seele nichts zu verlieren.
Schließlich die Karte von Amber selbst. Mit dieser Karte konnte ich mich dorthin versetzen und es mit einem Attentat versuchen, aber ich schätzte das Risiko auf eins zu eine Million gegen mich.
Ich war zum Kampf bereit, doch es war sinnlos, all diese Männer mit mir in den Tod zu reißen. Vielleicht war mein Blut trotz meiner Macht über das Muster dünn geworden. Ein echter Prinz von Amber hätte Skrupel dieser Art nicht haben dürfen.
Ich begann zu ahnen, daß mich die Jahrhunderte auf der Schatten-Erde sehr verändert und vielleicht weicher gemacht hatten; daß sie in mir etwas bewirkt hatten, das mich nun von meinen Brüdern unterschied.
Ich beschloß, die Flotte auszuliefern und mich dann nach Amber zu versetzen, wo ich Eric zu einem entscheidenden Duell herausfordern wollte. Darauf einzugehen wäre dumm von ihm. Aber was machte das für einen Unterschied – ich hatte keine andere Wahl.
Ich drehte mich um und machte meine Offiziere mit meinen Wünschen bekannt und spürte plötzlich, wie mich die Macht befiel, und ich war sprachlos.
Ich spürte den Kontakt und brachte schließlich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Wer?« Es kam keine Antwort, doch etwas drehte und bohrte sich langsam in meinen Geist, und ich rang damit.
Als er nach einer Weile erkannte, daß ich mich nicht ohne langen Kampf besiegen ließ, hörte ich Erics Stimme im Wind.
»Wie stehen die Dinge bei dir, Bruder?« erkundigte er sich.
»Nicht gut«, erwiderte oder dachte ich, und er lachte leise, wenngleich sich in seiner Stimme die Anstrengung unseres Kampfes widerzuspiegeln schien.
»Das ist schade«, sagte er. »Wärst du zurückgekommen, um mich zu unterstützen, hätte ich dich fürstlich belohnt. Aber dazu ist es natürlich zu spät. Jetzt werde ich jubilieren, sobald ich dich und Bleys geschlagen habe.«
Ich antwortete nicht sofort, sondern kämpfte mit allen Kräften.
Vor diesem Angriff zog er sich ein Stück zurück, doch er vermochte mich an Ort und Stelle festzuhalten.
Wurde einer von uns auch nur einen Sekundenbruchteil lang abgelenkt, konnten wir in physischen Kontakt miteinander treten, oder einer von uns konnte auf der geistigen Ebene die Oberhand gewinnen. Ich vermochte ihn jetzt deutlich in seinen Palasträumen zu erkennen. Doch wer immer einen Angriff wagte, er würde sich der Kontrolle des anderen ausliefern.
Also starrten wir uns düster an und kämpften im Geiste. Mit seinem Angriff hatte sich eines meiner Probleme erledigt. Er hielt meinen Trumpf in der Linken, und seine Stirn war gerunzelt. Ich suchte nach einem Ansatzpunkt, konnte aber keinen finden.
Leute redeten mit mir, doch ich verstand ihre Worte nicht, während ich mit dem Rücken an der Reling stand.
Wie spät war es?
Mit dem Beginn des Kampfes hatte mich jegliches Zeitgefühl verlassen. Konnte es sein, daß zwei Stunden verstrichen waren? War es das? Ich war mir meiner Sache nicht sicher.
»Ich spüre deine Beunruhigung«, sagte Eric. »Jawohl, ich habe mich mit Caine abgesprochen. Er hat sich nach eurer Unterhaltung mit mir in Verbindung gesetzt. Ich kann dich mühelos weiter festhalten, während deine Flotte ringsum zerschossen und zum Verrotten nach Rebma geschickt wird. Die Fische werden sich an deinen Männern gütlich tun.«
»Warte!« sagte ich. »Sie sind schuldlos. Bleys und ich haben sie getäuscht, und sie glauben für eine gerechte Sache zu kämpfen. Ihr Tod hätte keinen Sinn mehr. Ich hatte mir schon vorgenommen, die Flotte kapitulieren zu lassen.«
»Dann hättest du nicht so lange zögern sollen«, erwiderte er. »Jetzt ist es zu spät. Ich kann Caine nicht anrufen und meine Befehle widerrufen, ohne dich freizugeben, und sobald ich dich loslasse, falle ich unter deine geistige Herrschaft oder bin einem physischen Angriff ausgesetzt. Unsere Gehirne sind zu sehr verwandt.«
»Wenn ich dir nun mein Wort gebe, daß ich meinen Vorteil nicht nutze?«
»Jeder Mensch schwört Meineide, um ein Königreich zu erringen«, sagte Eric.
»Kannst du meine Gedanken nicht lesen? Erspürst du ihn nicht in meinem Geist? Ich halte mein Wort!«
»Ich spüre ein seltsames Mitleid mit diesen Lebewesen, die du getäuscht hast, und weiß nicht, worauf eine solche Bindung beruhen könnte – trotzdem nein! Du weißt zu gut Bescheid. Selbst wenn du es in diesem Augenblick ehrlich meintest – was ja durchaus der Fall sein mag –, wäre die Versuchung zu groß, sobald sich die Gelegenheit bietet. Du weißt das so gut wie ich. Ich darf das Risiko nicht eingehen.«
Und ich wußte Bescheid. Zu sehr brannte Amber in unserem Blut.
»Du bist mit dem Schwert wesentlich besser als früher«, fuhr er fort. »Wie ich sehe, hat dir dein Exil in dieser Hinsicht durchaus genützt. Du bist von allen derjenige, der sich am ehesten auf meine Stufe stellen könnte – ausgenommen Benedict, der vielleicht tot ist.«
»Bilde dir nichts ein«, sagte ich. »Ich weiß, daß ich schon jetzt mit dir fertigwerde. Im Grunde . . .«
»Spar dir die Mühe. In diesem späten Stadium lasse ich mich mit dir nicht auf ein Duell ein.« Und er lächelte in der Erkenntnis meines Gedankens, der allzu offenkundig geworden war.
»Ich wünschte mir wirklich fast, du hättest dich auf meine Seite gestellt«, sagte er. »Ich hätte dich besser gebrauchen können als die anderen. Julian kann ich nicht ausstehen. Caine ist ein Feigling. Gérard ist stark, aber dumm.«
Ich beschloß, ein gutes Wort einzulegen – das einzige, mit dem ich vielleicht Erfolg hatte.
»Hör zu«, sagte ich. »Ich habe Random durch einen Trick dazu gebracht, mich hierher zu begleiten. Ihm hat der Gedanke von Anfang an nicht gefallen. Ich glaube, er hätte dich unterstützt, wenn du ihn darum gebeten hättest.«
»Der Schweinehund!« sagte er. »Den ließe ich nicht mal die Nachttöpfe im Palast leeren. In meinem fände ich bestimmt einen Piranha-Fisch. Nein danke. Ich hätte ihn vielleicht begnadigt – aber damit ist es aus, nachdem du dich für ihn verwendet hast. Möchtest du, daß ich ihn an meine Brust drücke und ihn Bruder heiße, nicht wahr? O nein! Du bist ihm zu hastig zu Hilfe gekommen. Das offenbart mir seine wahre Einstellung, die er dir zweifellos enthüllt hat. Vergessen wir Random in den Höfen der Gnade.«
In diesem Augenblick bemerkte ich Rauchgeruch und vernahm metallisches Klirren. Das konnte nur bedeuten, daß Caine über uns hergefallen war und seine Arbeit tat.
»Gut«, sagte Eric, der die Eindrücke aus meinem Geist mitbekam.
»Halte sie auf! Bitte! Meine Männer haben keine Chance gegen eine solche Übermacht!«
»Selbst wenn du dich ergeben würdest . . .«Und er unterbrach mit einem Fluch. Da fing ich seinen Gedanken auf. Er hätte verlangen können, daß ich als Gegenleistung für die Schonung meiner Männer kapitulierte – ohne dann Caine in seiner Schlächterei Einhalt zu gebieten. Ein solcher Schachzug hätte ihm gepaßt, aber er hatte im Eifer des Gefechts die falschen Worte über die Zunge rutschen lassen.
Ich lachte über seinen Zorn.
»Ich erwische dich sowieso bald«, sagte er. »Sobald das Flaggschiff erobert wird.«
»Aber zuvor«, sagte ich, »solltest du dies mal versuchen!« Und ich griff ihn an, mit allem, was ich hatte. Ich drang in seinen Geist ein, peinigte ihn mit meinem Haß. Ich spürte seinen Schmerz, der mich zu weiteren Anstrengungen anspornte. Zum Ausgleich für all die Jahre meines Exils hieb ich nach ihm, suchte ich wenigstens diesen Lohn. Dafür, daß er mich grausam der Pest ausgeliefert hatte, hämmerte ich auf die Barrieren seiner geistigen Normalität ein, suchte ich meine Rache. In der Erinnerung an den Autounfall, für den er verantwortlich gewesen war, das wußte ich, drang ich auf ihn ein, suchte seine Qual zum Ausgleich für meinen Schmerz.
Er begann nachzulassen, und mein Angriff steigerte sich weiter.
Ich fiel über ihn her, und er begann die Herrschaft über mich zu verlieren.
»Du Teufel!« rief er schließlich und schob die Hand über die Karte, die er umklammerte.
Der Kontakt war unterbrochen, und ich stand zitternd an Deck.
Ich hatte es geschafft! Ich hatte ihn in einem Willenskampf besiegt. Im Einzelkampf brauchte ich meinen tyrannischen Bruder nie wieder zu fürchten.
Ich war stärker als er.
Ich machte mehrere tiefe Atemzüge und richtete mich auf, bereit für den Augenblick, da sich die innere Kälte eines neuen geistigen Angriffs anmeldete. Aber ich wußte auch, daß es nicht mehr dazu kommen würde, jedenfalls nicht von Eric. Ich spürte, daß er Angst hatte vor meinem Zorn.
Ich sah mich um. Ringsum wurde gekämpft. Schon strömte Blut über die Decksplanken. Ein Schiff lag längsseits, und seine Mannschaft enterte uns. Ein zweites Schiff versuchte auf der anderen Seite dasselbe Manöver einzuleiten. Ein Pfeil sirrte mir am Kopf vorbei.
Ich zog mein Schwert und stürzte mich in den Kampf.
Ich weiß nicht mehr, wie viele Männer ich an jenem Tag tötete. Nach dem zwölften oder dreizehnten Gegner verlor ich die Übersicht. In diesem ersten Zusammenstoß war es jedenfalls mehr als die doppelte Anzahl. Die Körperkräfte, die ein Prinz von Amber von Natur aus besitzt, leisteten mir heute gute Dienste; immerhin konnte ich einen Mann mit der Hand in die Luft reißen und über die Reling schleudern.
Wir töteten jeden Mann an Bord der angreifenden Schiffe, öffneten ihre Luken und schickten sie nach Rebma hinab. Meine Mannschaft war auf die Hälfte reduziert worden, und ich hatte unzählige Stiche und Schnitte abbekommen, allerdings nichts Ernstes. Anschließend kamen wir einem Schwesterschiff zu Hilfe und erledigten ein weiteres Piratenschiff Caines.
Die Überlebenden des geretteten Boots kamen an Bord des Flaggschiffes. Auf diese Weise verfügte ich wieder über eine komplette Mannschaft.
»Blut!« brüllte ich. »Blut und Rache schenkt mir an diesem Tag, meine Krieger, dann soll man sich eurer in Amber auf ewig erinnern!«
Und wie ein Mann hoben sie die Waffen und brüllten: »Blut!« Wir vernichteten zwei weitere Angreiferschiffe und ergänzten unsere Mannschaft mit Überlebenden von anderen Einheiten unserer Flotte. Während wir auf einen sechsten Gegner zuhielten, erklomm ich den Hauptmast und versuchte mir einen ungefähren Überblick zu verschaffen.
Caine schien drei zu eins in der Überzahl zu sein. Meine Flotte bestand noch aus fünfundvierzig bis fünfundfünfzig Einheiten.
Wir besiegten den sechsten Gegner und brauchten nicht lange nach dem siebenten und achten zu suchen – sie griffen uns an. Auch diese Schiffe kämpften wir nieder, doch ich zog mir mehrere Wunden zu in den Auseinandersetzungen, die meine Mannschaft erneut halbierten. An der linken Schulter und am rechten Schenkel klafften tiefe Schnitte, und ein Riß an der rechten Hüfte tat höllisch weh.
Während wir die beiden Schiffe auf den Meeresgrund schickten, rückten zwei weitere heran.
Wir flohen und taten uns mit einem meiner Schiffe zusammen, das siegreich aus einem Kampf hervorgegangen war. Wieder legten wir die Mannschaften zusammen, wobei wir diesmal die Standarte auf das andere Schiff hinübernahmen, das weniger beschädigt war, während mein bisheriges Flaggschiff bereits zu lecken begann und Schlagseite nach Steuerbord bekam.
Man ließ uns nicht die Zeit, zu Atem zu kommen; schon näherte sich ein weiteres Schiff.
Meine Männer waren erschöpft, und ich begann die Anstrengungen des Kampfes ebenfalls zu spüren. Zum Glück war die gegnerische Mannschaft auch nicht mehr sonderlich in Form.
Ehe ein zweites Schiff Caines eingreifen konnte, hatten wir es geentert und die Standarte erneut mitgenommen. Der Zustand dieses Schiffes war sogar noch besser.
Wir besiegten auch den nächsten Angreifer, und ich besaß nun ein gutes Schiff und vierzig Mann – und konnte bald nicht mehr.
Nun war niemand mehr in Sicht, der uns hätte helfen können.
Soweit meine Schiffe noch schwimmfähig waren, kämpften sie gegen mindestens einen Gegner. Als ein Angreifer auf uns zuhielt, ergriffen wir die Flucht.
Auf diese Weise holten wir etwa zwanzig Minuten heraus. Ich versuchte in die Schatten zu segeln, aber in solcher Nähe zu Amber ist das eine anstrengende, langwierige Sache. Es ist viel einfacher, nach Amber vorzudringen, als sich wieder davon zu entfernen, denn Amber ist das Zentrum, der Nexus. Hätte ich zehn Minuten länger Zeit gehabt, wäre es mir vielleicht trotzdem gelungen.
Doch ich schaffte es nicht.
Als der Verfolger näher kam, machte ich in der Ferne ein weiteres Schiff aus, das sich in unsere Richtung wandte. Es trug die schwarzgrüne Standarte unter Erics Farben und dem weißen Einhorn. Caines Schiff. Er wollte den letzten Akt persönlich miterleben.
Wir griffen den ersten Verfolger an, hatten aber kaum Gelegenheit, ihn zu versenken; schon fiel Caine über uns her. Schließlich stand ich auf dem blutigen Deck, von einem Dutzend Männern umgeben, und Caine ging zum Bug seines Schiffs und forderte mich auf, die Waffen zu strecken.
»Schenkst du meinen Männern das Leben, wenn ich es tue?« fragte ich.
»Ja«, erwiderte er. »Täte ich es nicht, würde ich noch ein paar Leute mehr verlieren – und das muß nun wirklich nicht sein.«
»Gibst du mir dein Wort als Prinz?« fragte ich.
Er überlegte einen Augenblick lang und nickte schließlich.
»Also gut«, sagte er. »Laß deine Männer die Waffen niederlegen und zu mir an Bord steigen, sobald ich längsseits komme.«
Ich steckte meine Klinge fort und schaute nickend in die Runde.
»Ihr habt einen guten Kampf geliefert, und ich liebe euch dafür«, sagte ich. »Doch in diesem Augenblick sind wir unterlegen.« Während des Sprechens trocknete ich mir die Hände an meinem Mantel ab und wischte sie sauber, da ich ungern ein Kunstwerk beflecke. »Streckt die Waffen in dem Bewußtsein, daß eure Mühen nicht vergessen werden. Eines Tages werde ich euch am Hofe Ambers besingen!«
Die Männer – neun große rothäutige Gestalten und drei Pelzwesen – weinten, als sie die Waffen niederlegten.
»Habt keine Sorge, daß etwa der Kampf um die Stadt verloren sei«, fuhr ich fort. »Wir sind lediglich in einer Schlacht unterlegen, der Krieg geht anderswo weiter. Mein Bruder Bleys kämpft sich in diesem Augenblick auf Amber zu. Caine wird sein Versprechen halten und euch verschonen, wenn er sieht, daß ich zu Bleys an Land gegangen bin. Es tut mir nur leid, daß ich euch nicht mitnehmen kann.«
Mit diesen Worten zog ich Bleys’ Trumpf aus dem Kartenspiel und hielt ihn vor mich, im Schutz der Reling, wo die Karte vom anderen Schiff aus nicht gesehen werden konnte.
Als Caine anlegte, rührte sich etwas unter der kalten, kalten Oberfläche.
»Wer?« fragte Bleys.
»Corwin«, sagte ich. »Wie geht es dir?«
»Wir haben die Schlacht gewonnen, dabei aber viele Männer verloren. Wir ruhen uns gerade aus, ehe wir weitermarschieren. Wie stehen die Dinge bei dir?«
»Ich glaube, wir haben fast die Hälfte von Caines Flotte vernichtet, doch er hat den Tagessieg errungen. Er ist im Begriff, uns zu entern. Hilf mir fliehen!«
Er streckte die Hand aus, und ich berührte sie und sank ihm in die Arme.
»Das wird nun schon langsam zur Gewohnheit«, brummte ich und bemerkte jetzt, daß er ebenfalls verwundet war – am Kopf – und daß sich eine Bandage um seine linke Hand zog. »Mußte das falsche Ende eines Säbels anfassen«, erklärte er, als er meinen Blick bemerkte. »Tut ganz schön weh.«
Als ich langsam wieder zu Atem kam, gingen wir zu seinem Zelt, wo er eine Flasche Wein aufmachte und mir Brot, Käse und etwas getrocknetes Fleisch vorsetzte. Er hatte noch reichlich Zigaretten, und ich qualmte vor mich hin, während ein Sanitätsoffizier meine Wunden versorgte.
Er hatte noch immer etwa hundertundachtzigtausend Mann hinter sich. Während ich auf einer Hügelkuppe den Beginn des Abends erlebte, hatte ich das Gefühl, über jedes Lager zu schauen, das ich je in meinem Leben gesehen hatte, ein Lager, das sich über endlose Meilen und Jahrhunderte erstreckte. Plötzlich spürte ich Tränen in den Augen, vergossen für die armen Kreaturen, die nicht wie die Herren von Amber sind, die nur eine kurze Lebensspanne haben und dann zu Staub werden; ich beweinte den Umstand, daß so viele dieser Wesen wegen unserer Launen auf den Schlachtfeldern der Welt den Tod finden mußten.
Schließlich kehrte ich in Bleys’ Zelt zurück, und wir leerten eine Flasche Wein um die andere.