Dieses Gefühl der Sicherheit hielt nur etwa drei Minuten lang an.
Ich war dicht vor Carmella an der Tür und riß sie auf.
Er taumelte herein, knallte die Tür sofort wieder hinter sich zu und schob den Riegel vor. Er hatte sich lange nicht rasiert. Schatten lagen unter seinen hellen Augen, und er trug kein schimmerndes Wams und keine enge Hose, sondern einen braunen Wollanzug und dunkle Wildlederschuhe. Aber er war Random – der Random, den ich auf der Karte gesehen hatte – nur wirkte der lachende Mund erschöpft, und seine Fingernägel waren schmutzig.
»Corwin!« sagte er und umarmte mich.
Ich drückte ihm die Schultern. »Du siehst aus, als könntest du einen Drink gebrauchen.«
»Ja. Ja. Ja . . .« sagte er, und ich führte ihn zur Bibliothek.
Etwa drei Minuten später hatte er Platz genommen, in einer Hand einen Drink und in der anderen eine Zigarette. »Sie sind hinter mir her«, sagte er. »Bald müssen sie hier sein.«
Flora stieß einen leisen Schrei aus, den wir ignorierten.
»Wer?«
»Leute aus den Schatten«, erwiderte er. »Ich kenne sie nicht und weiß nicht, wer sie geschickt hat. Es sind vier oder fünf, vielleicht sogar sechs. Sie waren mit mir im gleichen Flugzeug. Ich hatte einen Jet genommen. Sie tauchten ungefähr bei Denver auf. Ich habe das Flugzeug mehrfach versetzt, um sie zu subtrahieren, aber es klappte nicht – und ich wollte nicht zu weit vom Weg abkommen. In Manhattan konnte ich sie endlich abschütteln, aber das ist sicher nur ein kurzer Aufschub. Ich nehme an, sie werden bald hier sein.«
»Und du hast keine Ahnung, wer sie geschickt hat?«
Er lächelte kurz.
»Nun, man liegt wohl richtig, wenn man den Kreis der in Frage Kommenden auf die Familie beschränkt. Vielleicht sogar du, um mich hierherzulocken. Aber das hoffe ich eigentlich nicht. Du steckst doch nicht dahinter, oder?«
»Leider nicht«, erwiderte ich. »Wie unangenehm haben sie ausgesehen?«
Er zuckte die Achseln. »Wenn sie nur zu zweit oder dritt gewesen wären, hätte ich es mit einem Hinterhalt versucht. Aber doch nicht bei der Menge.«
Er war ein kleiner Mann, etwa einen Meter fünfundsechzig groß und vielleicht hundertzwanzig Pfund schwer. Aber seine Worte klangen todernst. Ich war ziemlich sicher, daß er es tatsächlich mit zwei oder drei Schlägern allein aufnehmen würde. Dabei kam ich auf meine eigenen Körperkräfte, wo ich doch sein Bruder war. Ich fühlte mich angenehm stark. Ich wußte, daß ich mich unbesorgt jedem Gegner im fairen Kampf stellen konnte.
Wie kräftig war ich?
Plötzlich erkannte ich, daß ich gleich eine Chance bekommen sollte, die Antwort auf diese Frage festzustellen.
Es klopfte an der Haustür.
»Was tun wir?« fragte Flora.
Random lachte, löste seine Krawatte, warf sie über seinen Gabardinemantel, der auf dem Tisch lag. Dann zog er sein Anzugsjackett aus und sah sich im Zimmer um. Sein Blick fiel auf den Säbel, und im Nu hatte er den Raum durchquert und die Waffe von der Wand genommen. Ich spürte das Gewicht der .32er in meiner Jackentasche und zog den Sicherungshebel zurück.
»Was wir tun?« fragte Random. »Es besteht die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich Zutritt verschaffen«, sagte er. »Also werden sie hier eindringen. Wann hast du zum letztenmal richtig gekämpft, Schwester?«
»Es ist schon zu lange her«, erwiderte sie.
»Dann solltest du deine Erinnerungen schleunigst auffrischen«, fuhr er fort, »denn es dauert nicht mehr lange. Die Burschen werden gelenkt, das kann ich euch verraten. Aber wir sind zu dritt, und die Gegenseite ist höchstens doppelt so stark. Warum sich also Sorgen machen?«
»Wir wissen nicht, wer sie sind«, gab sie zu bedenken.
Wieder ertönte das Klopfen.
»Kommt es darauf an?«
»Überhaupt nicht«, sagte ich. »Soll ich sie reinlassen?«
Beide wurden bleich.
»Wir können ebensogut abwarten . . .«
»Ich könnte die Polizei anrufen«, sagte ich.
Beide brachen in ein fast hysterisches Lachen aus.
»Oder Eric«, fuhr ich fort und sah Flora abrupt an.
Aber sie schüttelte nur den Kopf.
»Dazu haben wir keine Zeit mehr. Wir haben zwar den Trumpf, aber ehe Eric auf uns eingehen könnte – wenn er überhaupt dazu bereit ist –, wäre es zu spät.«
»Und vielleicht steckt er ja hinter der ganzen Sache, was?« fragte Random.
»Das möchte ich doch bezweifeln«, meinte sie. »So etwas paßt nicht zu seinem Stil.«
»Richtig«, erwiderte ich, nur um etwas zu sagen und anzuzeigen, daß ich im Bilde war.
Und wieder das Klopfen, diesmal lauter.
Mir fiel plötzlich etwas ein. »Was ist mit Carmella?« fragte ich.
Flora schüttelte den Kopf.
»Ich halte es für unwahrscheinlich, daß sie zur Tür geht.«
»Aber du weißt nicht, womit du es hier zu tun hast!« rief Random. Im nächsten Moment hatte er das Zimmer verlassen.
Ich folgte ihm durch den Flur ins Foyer und kam gerade noch zurecht, Carmella vom Öffnen der Haustür abzuhalten.
Wir schickten sie in ihr Zimmer zurück und gaben ihr die Anweisung, sich einzuschließen. »Ein Beweis für die Stärke der Opposition«, bemerkte Random. »Wo sind wir überhaupt, Corwin?«
Ich zuckte die Achseln.
»Ich würd’s dir sagen, wenn ich es wüßte. Im Augenblick sitzen wir jedenfalls im selben Boot. Zurück!«
Und ich öffnete die Tür.
Der erste Mann versuchte mich zur Seite zu drängen, doch ich schob ihn mit ausgestrecktem Arm zurück.
Es waren sechs, das konnte ich deutlich erkennen.
»Was wollen Sie?« fragte ich.
Aber es fiel kein einziges Wort. Waffen blinkten.
Ich trat gegen die Tür, ließ sie zuknallen und schob den Riegel vor.
»Okay, sie sind wirklich vorhanden«, sagte ich. »Aber woher soll ich wissen, daß du mich nicht reinzulegen versuchst?«
»Wissen kannst du das nicht«, sagte er. »Aber ich wünschte, ich täte es wirklich. Die Kerle sehen wirklich zum Fürchten aus.«
Ich mußte ihm recht geben. Die Burschen auf der Veranda waren breit gebaut und hatten sich die Hüte tief über die Augen gezogen. Ihre Gesichter waren von Schatten bedeckt.
»Ich wüßte gern, wo wir sind«, sagte Random.
Ich spürte eine durch und durch gehende Vibration in der Nähe meines Trommelfells und wußte sofort, daß Flora ihre Pfeife benutzt hatte.
Als ich rechts ein Fenster klirren hörte, überraschte es mich nicht, von links ein grollendes Knurren und ein tiefes Bellen zu vernehmen.
»Sie hat ihre Hunde gerufen«, sagte ich. »Sechs bösartige Bestien, die unter anderen Umständen auf unserer Fährte sitzen könnten.«
Random nickte, und wir eilten in die Richtung, in der es geklirrt hatte.
Als wir das Wohnzimmer erreichten, waren zwei Männer bereits im Haus. Beide trugen Waffen.
Ich schoß den ersten nieder und ließ mich zu Boden fallen, während ich auf den zweiten feuerte. Random sprang säbelschwingend hin und her, und ich sah, wie er dem zweiten Mann den Kopf von den Schultern trennte.
Schon waren zwei weitere Gestalten durch das Fenster geklettert. Ich leerte die Automatic auf sie und hörte, wie sich das Grollen von Floras Hunden mit Schüssen vermengte, die nicht aus meiner Waffe kamen.
Ich sah drei Männer und ebenso viele Hunde am Boden. Es war ein ganz angenehmer Gedanke, zu wissen, daß wir die Hälfte der Gegenseite schon ausgeschaltet hatten, und als die übrigen durch das Fenster kamen, tötete ich einen weiteren auf eine sogar für mich überraschende Weise.
Plötzlich und ohne nachzudenken ergriff ich einen riesigen Sessel und schleuderte ihn etwa fünf Meter weit durch das Zimmer. Das Möbelstück traf einen Mann und brach ihm das Rückgrat.
Dann sprang ich auf die beiden letzten Männer los, doch ehe ich das Zimmer durchqueren konnte, hatte Random einen von ihnen mit dem Säbel aufgespießt und überließ ihn den Hunden, während er sich dem letzten zuwandte.
Dieser wurde jedoch niedergeworfen, ehe er in Aktion treten konnte. Ehe wir es verhindern konnten, tötete er einen zweiten Hund, der aber sein letztes Opfer sein sollte. Random erwürgte ihn.
Es stellte sich heraus, daß zwei Hunde tot und einer schwer verletzt war. Random erlöste das verletzte Tier mit einem schnellen Stoß der Klinge in den Hals, und wir wandten uns den Männern zu.
Ihr Aussehen war irgendwie ungewöhnlich.
Gemeinsam mit Flora versuchten wir uns darüber klar zu werden.
Zum einen hatten alle blutunterlaufene Augen. Sehr blutunterlaufene Augen.
Bei den Männern schien der Zustand allerdings normal zu sein.
Außerdem besaßen alle sechs ein zusätzliches Gelenk an Fingern und Daumen, sowie scharfe, nach vorn gekrümmte Spitzen auf den Handrücken.
Das Kinn der Fremden war sehr ausgeprägt, und als ich einem den Mund öffnete, zählte ich vierundvierzig Zähne, zumeist länger als beim Menschen, und mehrere sahen auch sehr viel schärfer aus. Die Haut der Kerle war hart und glänzendgrau.
Es gab zweifellos noch andere Unterscheidungsmerkmale, doch diese Feststellungen reichten für gewisse Rückschlüsse zunächst aus.
Wir sammelten die Waffen der Toten ein, dabei nahm ich drei kleine flache Pistolen an mich.
»Wir hatten recht – die Burschen sind aus den Schatten gekrochen«, sagte Random, und ich nickte. »Ich hatte Glück. Offenbar hatten sie nicht angenommen, ich würde mir Verstärkung holen – einen kampfstarken Bruder und eine ganze Hundemeute!« Er äugte aus dem zerbrochenen Fenster, und ich ließ ihn gewähren. »Nichts«, meldete er nach einer Weile. »Ich bin sicher, daß keiner übrig ist.« Und er zog die schweren orangefarbenen Vorhänge zu und schob etliche hochlehnige Möbelstücke davor zurecht. Während er noch damit beschäftigt war, durchsuchte ich die Taschen der Toten.
Es überraschte mich nicht, daß sie keine Ausweise bei sich trugen.
»Gehen wir wieder in die Bibliothek«, sagte ich, »damit ich mein Glas austrinken kann.«
Doch ehe sich Random setzte, reinigte er vorsichtig die Klinge und hängte sie wieder an die Wand. In dieser Zeit holte ich Flora einen Drink.
»Offenbar bin ich vorübergehend in Sicherheit«, sagte Random, »nachdem wir nun diese Bühne zu dritt besetzt halten.«
»Sieht so aus«, meinte Flora.
»Himmel, ich habe seit gestern nichts mehr gegessen!« verkündete er.
Flora verließ das Zimmer, um Carmella zu sagen, daß sie wieder herauskommen könne und nur nicht ins Wohnzimmer gehen solle. Außerdem wollte sie eine umfangreiche Mahlzeit bestellen.
Sie war kaum aus dem Zimmer, als sich Random zu mir umwandte. »He, wie steht es zwischen euch?« fragte er.
»Du darfst ihr nicht den Rücken zudrehen.«
»Sie gehört immer noch zu Eric?«
»Soweit ich weiß.«
»Was machst du dann hier?«
»Ich wollte Eric dazu verleiten, selbst zu kommen. Er weiß, es ist die einzige Möglichkeit, wirklich an mich heranzukommen, und ich wollte wissen, wie sehr ihm daran liegt.«
Random schüttelte den Kopf.
»Ich glaube nicht, daß er darauf eingeht. Sicher nicht. Solange du hier bist und er dort steckt – warum sollte er da seinen Hals riskieren? Er hat noch immer die bessere Ausgangsposition. Wenn du ihn stürzen willst, mußt du schon zu ihm kommen.«
»Das habe ich mir auch gerade überlegt.«
Da begannen seine Augen zu funkeln, und sein altbekanntes Lächeln flammte wieder auf. Er fuhr sich mit der Hand durch das strohfarbene Haar und ließ meinen Blick nicht mehr los.
»Willst du’s denn tun?«
»Vielleicht.«
»Komm mir nicht mit ›vielleicht‹, alter Knabe! Dir steht’s doch ins Gesicht geschrieben! Ich bin fast geneigt mitzukommen, weißt du. Wenn es um das Verhältnis zu meinen Mitmenschen geht, steht der Sex ganz oben und Eric ganz unten auf der Liste.«
Ich zündete mir eine Zigarette an und dachte darüber nach.
»Du fragst dich jetzt: ›Wie sehr kann ich Random diesmal vertrauen? Er ist hinterlistig und gemein und wankelmütig wie sein Name, und er wird mich zweifellos verraten, sobald ihm jemand einen besseren Vorschlag macht.‹ Stimmt’s?«
Ich nickte.
»Bruder Corwin, du solltest andererseits bedenken, daß ich dir zwar noch nie sehr genützt habe, daß ich dir aber auch keinen besonderen Schaden zugefügt habe. Gewiß, da waren ein paar Streiche, das gebe ich zu. Aber alles in allem könnte man wohl sagen, daß wir beide in der Familie noch am besten miteinander ausgekommen sind – das heißt, wir sind uns nicht in die Quere gekommen. Denk mal darüber nach. Ich glaube, ich höre Flora oder ihr Hausmädchen kommen, da sollten wir lieber das Thema wechseln . . . Aber noch etwas! Du hast nicht zufällig einen Satz des Lieblingsspiels der Familie dabei?«
Ich schüttelte den Kopf.
Flora betrat das Zimmer. »Carmella bringt uns gleich etwas zu essen«, sagte sie.
Das war ein Anlaß zum Trinken, und Random blinzelte mir heimlich zu.
Am nächsten Morgen waren die Leichen aus dem Wohnzimmer verschwunden, es gab keine Flecke auf dem Teppich mehr, und das Fenster war anscheinend repariert worden. Random erklärte mir, er habe sich um die Dinge »gekümmert«. Ich hielt es nicht für angebracht, weitere Fragen zu stellen.
Wir liehen uns Floras Mercedes und unternahmen einen Ausflug. Die Landschaft kam mir seltsam verändert vor. Ich vermochte nicht genau zu sagen, was hier fehlte oder neu hinzugekommen war, doch irgendwie fühlte sich die Welt anders an. Auch dies verursachte mir Kopfschmerzen, als ich mich damit zu beschäftigen versuchte, und so beschloß ich solche Überlegungen zunächst aufzuschieben.
Ich fuhr den Wagen, Random saß neben mir. Ich sagte, daß ich gern wieder in Amber gewesen wäre – nur um zu sehen, wie er darauf reagierte.
»Ich hatte mich schon gefragt«, erwiderte er, »ob es dir nur um die Rache oder um mehr gegangen ist.« Damit spielte er den Ball zurück; die Entscheidung über Antwort oder nicht Antwort lag wieder bei mir.
Ich entschloß mich zu einer Antwort und versuchte mein Heil mit einem Gemeinplatz:
»Auch ich habe darüber nachgedacht und mir meine Chancen auszurechnen versucht. Weißt du, vielleicht ›versuche‹ ich’s tatsächlich.«
Daraufhin wandte er sich in meine Richtung (er hatte aus dem Seitenfenster gestarrt) und sagte: »Vermutlich haben wir alle mal diesen Ehrgeiz gehabt oder zumindest mit dem Gedanken gespielt – jedenfalls trifft das in meinem Fall zu, obwohl ich mich ziemlich frühzeitig aus dem Spiel zurückgezogen habe – und meinem Gefühl nach wäre es einen Versuch wert. Ich weiß, du willst in Wirklichkeit von mir wissen, ob ich dir helfen will. Die Antwort ist ›ja‹. Ich tu’s, schon um die anderen zu ärgern.« Dann: »Was hältst du von Flora? Könnte sie uns irgendwie helfen?«
»Das bezweifle ich sehr«, erwiderte ich. »Sie würde mitmachen, wenn das Ergebnis feststünde. Aber was ist in diesem Augenblick schon gewiß?«
»Oder jemals?«
»Oder jemals«, wiederholte ich, damit er annahm, ich wisse die Antwort auf meine rhetorische Frage.
Ich scheute davor zurück, ihn über den Zustand meines Gedächtnisses aufzuklären. Ich wollte ihm nicht vertrauen, und ich tat es auch nicht. Es gab so viel zu erfahren. Ich wollte ihm nicht vertrauen, und ich tat es auch nicht. Es gab so viel Unbekanntes, aber ich hatte niemanden, an den ich mich wenden konnte. Ich dachte während der Fahrt ein wenig darüber nach.
»Nun, wann willst du anfangen?« fragte ich.
»Wenn du bereit bist.«
Wieder hatte er mir den Ball zugespielt, und ich wußte nicht, was ich damit anfangen sollte.
»Wie wär’s mit sofort?« fragte ich.
Er schwieg und zündete sich eine Zigarette an. Wahrscheinlich wollte er Zeit gewinnen.
»Also gut«, sagte er schließlich. »Wann warst du zum letztenmal dort?«
»Das ist so verdammt lange her«, sagte ich, »daß ich mir nicht mal sicher bin, ob ich den Weg noch weiß.«
»Na gut«, erwiderte er, »dann müssen wir eben ein Stück fahren, ehe wir zurückkehren können. Wieviel Benzin hast du?«
»Der Tank ist dreiviertel voll.«
»Bieg an der nächsten Ecke links ab, dann sehen wir schon, was passiert.«
Ich tat, was er gesagt hatte, und plötzlich begannen die Bürgersteige zu funkeln.
»Verdammt!« sagte er. »Es ist jetzt etwa zwanzig Jahre her, seit ich zum letztenmal durch bin. Ich erinnere mich zu schnell an die richtigen Dinge.«
Wir setzten unsere Fahrt fort, und ich wunderte mich, was hier eigentlich passierte.
Der Himmel war hellgrün geworden, schimmerte sogar leicht ins Rosa hinüber.
Ich biß mir auf die Lippen, um die Fragen zurückzuhalten.
Wir fuhren unter einer Brücke hindurch, und als wir auf der anderen Seite herauskamen, hatte der Himmel wieder eine normale Farbe, doch überall in der Gegend standen Windmühlen, große gelbe Gebilde.
»Keine Sorge«, sagte er hastig. »Es könnte schlimmer sein.«
Ich bemerkte, daß die Menschen, die an uns vorbeikamen, ziemlich seltsame Kleidung trugen, und daß die Straße holprig gepflastert war.
»Jetzt rechts.«
Ich bog ab.
Purpurne Wolken verdeckten die Sonne, und es begann zu regnen. Blitze jagten durch das Firmament, und der Himmel grollte über uns. Ich stellte die Scheibenwischer auf volle Geschwindigkeit, aber sie richteten nicht viel aus. Ich schaltete die Scheinwerfer ein und ging noch mehr mit dem Tempo herunter.
Ich hätte schwören können, daß ich an einem Reiter vorbeikam, der in die andere Richtung galoppierte, ganz in Grau gekleidet, den Kragen hochgeschlagen, den Kopf vor dem Regen geduckt.
Dann brach die Wolkendecke wieder auf, und wir fuhren an einer Küste entlang. Die Wogen schäumten hoch, und riesige Möwen schwebten im Tiefflug darüber hin. Der Regen hatte aufgehört, und ich schaltete Licht und Scheibenwischer aus. Die Straße bestand jetzt aus Asphalt, doch ich erkannte die Gegend nicht. Im Außenspiegel entdeckte ich keine Spur von der Stadt, die wir eben verlassen hatten. Meine Hände krampften sich um das Steuerrad, als wir an einem unerwartet aufragenden Galgen vorbeikamen, an dem ein fast zum Skelett verwester Mensch vom Wind hin und her bewegt wurde.
Random rauchte und starrte aus dem Fenster, während unsere Straße die Küste verließ und sich um einen Hügel zog. Eine grasbestandene baumlose Ebene öffnete sich zu unserer Rechten, und links stieg eine Bergkette immer höher empor. Der Himmel leuchtete in einem dunklen, aber strahlenden Blau, wie ein tiefer klarer See inmitten von Bäumen. Einen solchen Himmel hatte ich meiner Erinnerung nach noch nie gesehen.
Random öffnete das Fenster, um die Kippe fortzuwerfen. Ein eisiger Windhauch wirbelte durch das Innere des Wagens, bis er die Scheibe wieder hochgedreht hatte. Die Böe trug einen salzig-scharfen Meeresgeruch herbei.
»Alle Straßen führen nach Amber«, sagte er, als handle es sich um einen Lehrsatz.
Dabei fiel mir ein, was Flora gestern noch gesagt hatte. Ich wollte ja nicht als Dummkopf dastehen oder als jemand, der lebenswichtige Informationen für sich behält, doch als mir klar wurde, was ihre Äußerungen bedeuteten, mußte ich ihm davon berichten – zu meiner wie zu seiner Sicherheit.
»Weißt du«, begann ich, »als du neulich anriefst und ich ans Telefon kam, weil Flora nicht da war – ich glaube, da versuchte sie gerade nach Amber durchzukommen und fand die Straße blockiert.«
Darauf lachte er nur.
»Die Frau hat kaum Fantasie«, erwiderte er. »Natürlich ist die Straße in solchen Zeiten blockiert. In der letzten Phase, davon bin ich überzeugt, werden auch wir zu Fuß gehen müssen, und wir brauchen zweifellos sämtliche Kräfte und unseren ganzen Erfindungsreichtum, um ans Ziel zu gelangen, falls wir es überhaupt schaffen. Hat sie geglaubt, sie könne wie eine vornehme Prinzessin auf einem Blumenteppich zurückschreiten? Dumme Pute! Sie verdient es eigentlich nicht, zu leben, aber darüber habe ich nicht zu befinden, noch nicht.
An der Kreuzung nach rechts«, verkündete er.
Was ging hier vor? Ich wußte, daß er irgendwie verantwortlich war für die exotischen Veränderungen, die ringsum eintraten, doch ich vermochte nicht zu bestimmen, wie er das anstellte und wohin er uns brachte. Ich wußte, daß ich hinter sein Geheimnis kommen mußte, aber ich konnte ihn nicht einfach danach fragen, wenn er nicht erfahren sollte, daß ich keine Ahnung hatte. Damit hätte ich mich ihm ausgeliefert. Seine Tätigkeit schien sich auf das Rauchen und das Hinausstarren zu beschränken – doch als wir nun aus einer Senke kamen, erreichten wir eine blaue Wüste, und die Sonne schimmerte plötzlich rosa am strahlenden Himmel. Im Rückspiegel erstreckte sich die Wüste endlose Meilen hinter uns, so weit ich sehen konnte. Ein toller Trick, alle Achtung.
Dann begann der Motor auszusetzen, fing sich wieder, stotterte erneut.
Das Steuerrad verformte sich unter meinen Händen.
Es verwandelte sich in einen Halbkreis; der Sitz schien sich plötzlich weiter hinten zu befinden, der Wagen hing offenbar tiefer über der Straße, und die Windschutzscheibe war viel schräger.
Doch ich sagte nichts, auch nicht, als der lavendelfarbene Sandsturm einsetzte.
Doch als sich das Unwetter verzog, hielt ich den Atem an.
Etwa eine halbe Meile vor uns staute sich eine ungeheure Wagenreihe. Die Fahrzeuge standen still, und ich hörte sie hupen. »Langsamer«, sagte Random. »Jetzt kommt das erste –Hindernis.«
Ich gehorchte, und neue Sandwolken hüllten uns ein.
Ehe ich das Licht einschalten konnte, war die Erscheinung vorbei, und ich blinzelte mehrmals.
Die Wagen waren fort, ihre Hupen schwiegen. Aber die Straße funkelte nun ebenso wie vorhin die Bürgersteige, und ich hörte Random leise fluchen.
»Ich weiß, ich habe genauso reagiert, wie er es vorhatte, wer immer den Block errichtet hat«, sagte er. »Es ärgert mich, daß ich so gehorsam gewesen bin!«
»Eric?« fragte ich.
»Wahrscheinlich. Was meinst du? Sollen wir anhalten und es eine Zeitlang auf die harte Tour versuchen oder weiterfahren und sehen, ob noch weitere Sperren auftauchen?«
»Fahren wir ruhig ein Stück weiter. Schließlich war das erst der erste Block.«
»Gut«, sagte er, »fügte aber hinzu: »Wer weiß, wie der zweite aussieht?«
Der zweite war ein Etwas – ich weiß nicht, wie ich die Erscheinung beschreiben soll.
Das Ding sah wie ein Brennofen mit Armen aus. Es hockte mitten auf der Straße, griff sich ein Auto nach dem anderen und verschlang sie.
Ich trat auf die Bremse.
»Was ist los?« wollte Random wissen. »Fahr doch weiter! Wie kommen wir sonst daran vorbei?«
»Ich war im ersten Augenblick erschrocken«, sagte ich, und er warf mir einen seltsamen Blick zu, während zugleich der nächste Sandsturm begann.
Jetzt hatte ich etwas Falsches gesagt, das erkannte ich deutlich.
Als sich der Staub legte, rasten wir wieder auf einer leeren Straße dahin. Und in der Ferne ragten Türme auf.
»Ich glaube, jetzt habe ich ihn reingelegt«, sagte Random. »Ich habe mehrere miteinander verbunden, und jetzt haben wir wohl eine gefunden, mit der er nicht gerechnet hat. Schließlich kann niemand alle Straßen nach Amber im Auge behalten.«
»Das ist wahr«, sagte ich und hoffte den Faux Pas wiedergutmachen zu können, der seinen seltsamen Blick ausgelöst hatte.
Ich beschäftigte mich in Gedanken mit Random. Ein kleiner, schwächlich wirkender Bursche, der gestern abend in ebenso großer Gefahr gewesen war wie ich. Worin bestand seine Stärke? Und was bedeutete all das Gerede von den Schatten? Ich hatte das Gefühl, daß wir uns sogar in diesem Augenblick inmitten der Schatten bewegten, was immer sich dahinter verbergen mochte. Aber wie? Es lag an etwas, das Random tat, und da er physisch im Ruhezustand zu sein schien, da er die Hände ruhig im Schoße hatte, mußte es sich wohl um eine geistige Tätigkeit handeln. Und dabei ergab sich dieselbe Frage: Wie?
Nun, ich hatte ihn von »Additionen« und »Subtraktionen« sprechen hören, als sei das Universum, in dem wir uns bewegten, eine gewaltige Gleichung.
Mit plötzlicher Gewißheit erkannte ich, daß er auf irgendeine Weise Objekte zur ringsum sichtbaren Welt addierte oder davon abzog, um uns in eine immer genauere Ausrichtung zu jenem seltsamen Amber zu bringen, dem die Lösung dieser Gleichung galt.
Diesen Vorgang hatte auch ich einmal beherrscht. Und der Schlüssel dazu, das erkannte ich nun, lag in meiner Erinnerung an Amber.
Aber ich konnte mich nicht daran erinnern.
Die Straße beschrieb überraschend eine Kurve, die Wüste ging zu Ende und machte Feldern eines blauen Grases Platz, dessen lange Halme ziemlich scharf aussahen. Nach einiger Zeit wurde das Terrain hügelig, und am Fuß der dritten Erhebung endete das Pflaster; wir fuhren auf festgefahrener Erde weiter. Der schmale Weg wand sich zwischen größeren Erhebungen hindurch, auf denen jetzt kleinere Sträucher und Büsche mit bajonettähnlichen Dornen auftauchten.
Nachdem das etwa eine halbe Stunde lang so gegangen war, lagen die Hügel hinter uns, und wir erreichten einen Wald voller mächtiger Bäume mit rautenförmigen Blättern in herbstlicher Orange- und Purpurfärbung.
Es begann leicht zu regnen; Schatten hüllten uns ein. Aus dem feuchten Laub erhoben sich bleiche Nebelschwaden. Irgendwo zur Rechten hörte ich ein Heulen.
Noch dreimal veränderte das Steuerrad seine Form – die letzte Version war ein achteckiges Holzgebilde. Der Wagen war ziemlich hoch geworden, und wir hatten uns irgendwo eine Flamingoskulptur als Kühlerhaubenverzierung zugelegt. Ich enthielt mich jedes Kommentars über diese Details, sondern paßte mich den verschiedenen Stellungen an, die der Sitz einnahm, wie auch den veränderten Bedienungserfordernissen. Random jedoch warf einen Blick auf das Steuerrad – im gleichen Augenblick ertönte neues Geheul –, schüttelte den Kopf. Plötzlich waren die Bäume viel größer, wenn auch mit Ranken und bläulich schimmernden Flechten bekränzt, und der Wagen war fast wieder normal. Ich schaute auf die Benzinuhr und sah, daß der Tank noch halb voll war.
»Wir kommen voran«, bemerkte mein Bruder, und ich nickte.
Der Fahrweg erweiterte sich plötzlich und erhielt eine Betonoberfläche. Auf beiden Seiten erstreckten sich Kanäle mit schlammigem Wasser. Blätter, kleine Äste und bunte Federn trieben darauf.
Plötzlich war mir ein wenig schwindlig. »Langsam und tief atmen«, sagte Random, ehe ich eine Bemerkung darüber machen konnte. »Wir nehmen eine Abkürzung, und Luft und Schwerkraft sind eine Zeitlang verändert. Ich glaube, wir haben bisher ziemlich großes Glück gehabt, und ich möchte das natürlich ausnutzen – ich will in kürzester Zeit so dicht wie möglich ans Ziel heran.«
»Gute Idee«, sagte ich.
»Vielleicht – vielleicht aber auch nicht«, erwiderte er. »Aber ich glaube, es ist das Risiko wer . . . Paß auf!«
Wir fuhren gerade einen Hügel hinauf. Ein Lkw kam über den Kamm und raste auf uns zu – auf der falschen Straßenseite! Ich versuchte auszuweichen, aber der andere Wagen vollzog dasselbe Manöver. Um einen Zusammenstoß zu vermeiden, mußte ich den Wagen auf den weichen Seitenstreifen zu meiner Linken steuern und am Kanalufer entlangfahren.
Rechts von mir stoppte der Laster mit quietschenden Bremsen. Ich versuchte vom Seitenstreifen wieder auf die Straße zu kommen, doch wir steckten im Boden fest.
Im nächsten Moment hörte ich eine Tür zuknallen und sah, daß der Fahrer auf der rechten Seite des Führerhauses ausgestiegen war – was bedeuten mochte, daß er doch auf der richtigen Straßenseite gefahren war und wir uns im Unrecht befanden. Ich war sicher, daß in den Vereinigten Staaten nirgendwo britische Verkehrsvorschriften galten, aber ich war auch längst davon überzeugt, daß wir die mir bekannte Erde längst verlassen hatten.
Der Lkw war ein Tanklaster. In großen blutroten Buchstaben stand ZUÑOCO an der Seite und darunter das Motto »Wier beliewern die Weeld.« Der Fahrer belieferte mich mit Schimpfworten, als ich ausstieg, um den Wagen ging und mich zu entschuldigen begann. Er war so groß wie ich und hatte die Gestalt eines Bierfasses. In der Hand hielt er einen Schraubenschlüssel.
»Hören Sie, ich habe mich ja schon entschuldigt«, sagte ich. »Was wollen Sie denn noch? Niemand ist verletzt, und es hat keinen Schaden gegeben.«
»Sonntagsfahrer wie Sie sollte man nicht auf die Straße lassen!« brüllte er. »Ihr verfluchten Kerle seid eine Gefahr für Leib und Leben!«
In diesem Augenblick stieg Random aus dem Wagen. »Mister, Sie sollten lieber weiterfahren«, sagte er. Er hielt eine Waffe in der Hand.
»Tu das Ding weg«, sagte ich zu ihm, doch er zog den Sicherungshebel zurück.
Der Bursche riß angstvoll Augen und Mund auf, machte kehrt und wetzte davon.
Random hob die Waffe und zielte sorgfältig auf den Rücken des Mannes.
Erst im letzten Augenblick vor dem Schuß vermochte ich seinen Arm zur Seite zu schlagen.
Das Geschoß traf die Straße und surrte als Querschläger davon.
Random drehte sich zu mir um. Sein Gesicht war leichenblaß.
»Du verdammter Narr!« sagte er. »Der Schuß hätte in den Tank gehen können!«
»Er hätte auch den Burschen treffen können, auf den du gezielt hast!«
»Na und? Wir kommen hier nicht mehr durch, jedenfalls nicht in dieser Generation. Der Schweinehund hat es gewagt, einen Prinzen von Amber zu beleidigen! Ich habe dabei an deine Ehre gedacht!«
»Ich kann meine Ehre selbst schützen«, entgegnete ich schroff. Plötzlich ergriff etwas Kaltes und Unwiderstehliches von mir Besitz und ließ mich fortfahren: »Die Entscheidung über sein Leben lag bei mir und nicht bei dir.« Ein Gefühl der Entrüstung erfüllte mich.
Da neigte er den Kopf, während die Lkw-Tür zuknallte und der schwere Wagen sich entfernte.
»Tut mir leid, Bruder«, sagte er. »Ich wollte nicht anmaßend sein. Aber es hat mich gekränkt, daß einer von denen so mit dir geredet hat. Ich weiß, ich hätte warten müssen, daß du dich des Burschen annimmst, wie du es für richtig hieltest – zumindest hätte ich dich fragen müssen.«
»Nun, wie dem auch sei«, sagte ich. »Wenn wir können, sollten wir auf die Straße zurückkehren und weiterfahren.«
Die Hinterräder waren bis zu den Radkappen eingesunken, und während ich sie noch anstarrte und mir überlegte, wie man die Dinge am besten in Angriff nahm, rief Random: »Okay, ich nehme die vordere Stoßstange. Du packst hinten an – wir tragen das Ding zur Straße – und zwar auf die linke Seite.«
Er meinte es ernst!
Er hatte zwar von einer geringeren Schwerkraft gesprochen, doch ich für mein Teil fühlte mich gar nicht leicht. Gewiß, ich war kräftig, doch ich hatte meine Zweifel, ob ich das hintere Ende des Mercedes anheben konnte.
Andererseits wurde so etwas offensichtlich von mir erwartet; also mußte ich es versuchen. Ich durfte mir die Lücken in meinem Gedächtnis nicht anmerken lassen.
Ich beugte mich also vor, stellte die Beine auseinander, packte zu und begann die Knie durchzudrücken. Mit saugendem Geräusch lösten sich die Hinterräder aus der feuchten Erde. Ich stemmte mein Ende des Wagens etwa zwei Fuß hoch über den Boden!
Das Auto war schwer – verdammt, und wie schwer! –, aber ich konnte es halten.
Mit jedem Schritt sank ich etwa fünfzehn Zentimeter tief in den Boden. Aber ich trug den Wagen! Und Random leistete an seinem Ende dasselbe.
Wir setzten das Fahrzeug auf der Straße ab; die Federung wippte etwas. Dann zog ich mir die Schuhe aus, leerte sie und reinigte sie mit Grasbüscheln; ich wrang meine Socken aus, bürstete die Hosensäume ab, warf meine Fußbekleidung auf den Rücksitz und stieg barfuß hinter das Steuer.
Random sprang auf den Beifahrersitz. »Hör mal. Ich möchte mich noch einmal entschuldigen . . .«
»Schon gut«, sagte ich. »Die Sache ist ausgestanden und vorbei.«
»Ja, aber ich möchte nicht, daß du mir etwas nachträgst.«
»Das tue ich nicht«, entgegnete ich. »Du solltest dich künftig nur etwas besser beherrschen, wenn es um das Töten in meiner Gegenwart geht.«
»Das will ich gern tun«, versprach er.
»Dann wollen wir jetzt weiterfahren.« Und das taten wir.
Wir bewegten uns durch eine Felsschlucht und erreichten schließlich eine Stadt, die völlig aus Glas oder glasähnlichen Substanzen zu bestehen schien – von hohen Gebäuden flankiert, die dünn und zerbrechlich wirkten, und mit Menschen, durch die die rosa Sonne hindurchschien und dabei ihre Organe und die Überreste der letzten Mahlzeit sichtbar machte. Die seltsamen Gestalten starrten uns nach. An den Straßenecken liefen sie zusammen, doch niemand versuchte uns den Weg zu versperren.
»Die von Dänikens dieser Welt werden von unserem Besuch sicher noch in vielen Jahren berichten«, sagte mein Bruder.
Ich nickte.
Schließlich war vor uns überhaupt keine Straße mehr, und wir fuhren über eine endlose Fläche, die aus Silikon zu bestehen schien. Nach einer Weile engte sich die Erscheinung ein und wurde zu unserer Straße, und ein paar Minuten später erstreckten sich Sümpfe zu beiden Seiten – flach, braun, übelriechend. Und ich entdeckte ein Tier, das garantiert ein Diplodocus war und das den Kopf hob und auf uns herabstarrte. Gleich darauf flog ein riesiger fledermausartiger Schatten über uns dahin. Der Himmel erstrahlte königsblau, die Sonne schimmerte hellgolden.
»Wir haben nur noch einen Vierteltank«, bemerkte ich.
»Gut«, sagte Random. »Halt an.«
Ich gehorchte und wartete ab.
Eine lange Zeit – vielleicht sechs Minuten lang – schwieg er. »Fahr weiter«, sagte er dann.
Nach etwa drei Meilen erreichten wir eine Barrikade aus Baumstämmen, und ich begann darum herumzufahren. Auf einer Seite tauchte eine Tür auf, und Random sagte zu mir: »Halt an und drück auf die Hupe.«
Das tat ich, und kurz darauf öffnete sich das Holztor mit quietschenden Angeln.
»Fahr hinein«, sagte er. »Hier sind wir sicher.«
Ich fuhr hinein, und zu meiner Linken erhoben sich drei Esso-Zapfsäulen mit Ballonköpfen. Das kleine Gebäude dahinter gehörte zu der Art, wie ich sie unter normaleren Umständen schon unzählige Male gesehen hatte. Ich hielt an einer Zapfsäule und wartete.
Der Mann, der aus dem Häuschen kam, war etwa einen Meter fünfzig groß, hatte einen ungeheuren Leibesumfang und eine erdbeerrote Nase. Seine Schultern mochten einen Meter breit sein.
»Was soll’s denn sein?« fragte er. »Volltanken?«
»Normalbenzin«, sagte ich nickend.
»Fahren Sie noch ein Stück vor«, wies er mich an.
Ich gehorchte und sagte zu Random: »Ob mein Geld hier gilt?«
»Schau’s dir doch mal an«, sagte er, und das tat ich.
Meine Börse war voller orangefarbener und gelber Banknoten.
In den Ecken standen römische Ziffern, gefolgt von den Buchstaben »D. R.«
Er grinste mich an, als ich den Packen durchsah.
»Siehst du, ich habe für alles gesorgt«, sagte er.
»Großartig. Übrigens bekomme ich langsam Hunger.«
Wir sahen uns um und entdeckten das riesige Reklamebild eines Mannes, der in einer anderen Welt Kentucky-Brathähnchen verkaufte.
Der Erdbeernasige ließ etwas Benzin auf den Boden rinnen, um auf eine gerade Summe zu kommen, hängte den Zapfhahn ein, kam herbei und sagte: »Acht Drachae Regum.«
Ich nahm einen orangefarbenen Geldschein mit »V D. R.« darauf und drei weitere mit »I D. R.« und reichte sie ihm.
»Danke«, sagte er und stopfte sich das Geld in die Tasche. »Soll ich Öl und Wasser nachsehen?«
»Ja.«
Er füllte etwas Wasser nach, sagte, der Ölstand sei in Ordnung, und schmierte mit einem Schmutzlappen über die Windschutzscheibe.
Dann winkte er uns zu und verschwand wieder in seinem Schuppen.
Wir fuhren zu Kenni Rois hinüber und bestellten uns einen Eimer voll gebratene Kentucky-Echsenstücke und einen Eimer mit dünnem, salzigem Bier.
Dann wuschen wir uns im Nebengebäude die Hände, drückten am Tor auf die Hupe und warteten, bis ein Mann mit einer Hellebarde aufmachte.
Und dann fuhren wir weiter.
Vor uns sprang ein Tyrannosaurus empor, zögerte einen Augenblick lang und ging dann irgendwo links seines Weges. Drei weitere Pterodaytylen zogen am Himmel vorbei.
»Ich gebe Ambers Himmel nur ungern frei«, sagte Random, was immer er damit meinen mochte. Ich knurrte etwas zur Erwiderung.
»Ich habe allerdings ein wenig Angst, alles auf einmal zu versuchen«, fuhr er fort. »Vielleicht werden wir in Stücke gerissen.«
»Der Meinung bin ich auch.«
»Andererseits gefällt mir diese Gegend nicht.«
Ich nickte, und wir fuhren weiter, bis die Silikonebene endete und uns auf allen Seiten nacktes Gestein umgab.
»Was willst du jetzt tun?« wagte ich mich vor.
»Nachdem ich den Himmel habe, will ich mich am Terrain versuchen«, sagte er.
Und als wir langsam weiterfuhren, wurde die Felsebene von Felsbrocken abgelöst. Nackter schwarzer Erdboden erstreckte sich dazwischen. Nach einiger Zeit verminderte sich der Anteil des Gesteins. Dann entdeckte ich erste grüne Stellen – da und dort ein Fleckchen Gras. Aber es hatte eine sehr helle Tönung, wie sie mir von der Erde, die ich kannte, vertraut war – doch zugleich auch wieder nicht.
Bald umgaben uns endlose Grünflächen.
Später tauchten ab und zu Bäume am Wegesrand auf.
Dann ein Wald.
Und was für ein Wald!
Solche Bäume hatte ich noch nie gesehen – riesig, majestätisch, von einem dunklen, saftigen Grün, mit einem leichten goldenen Schimmer. Sie ragten hoch über uns auf, sie strebten zum Himmel. Es handelte sich um riesige Kiefern, Eichen, Ahornbäume und andere Arten, die ich nicht zu erkennen vermochte. Zwischen den Stämmen wogte ein lieblicher Duft. Nachdem ich mehrmals tief eingeatmet hatte, beschloß ich das Fenster ganz herunterzudrehen und es so zu lassen.
»Der Wald von Arden«, sagte der Mann, der mein Bruder war. Ich wußte, daß er recht hatte, und irgendwie liebte und beneidete ich ihn zugleich wegen seiner Weisheit, wegen seines Wissens.
»Bruder«, sagte ich. »Du machst es richtig! Besser als erwartet. Vielen Dank.«
Dies schien ihn ziemlich zu überraschen.
Es war, als hätte ihm noch nie ein Verwandter ein gutes Wort gesagt.
»Ich gebe mir Mühe«, sagte er, »und das werde ich bis zum Schluß tun, das verspreche ich dir. Sieh dich doch um! Wir haben den Himmel, den Wald! Es ist fast zu schön, um wahr zu sein! Wir haben die Hälfte des Weges bereits hinter uns, ohne daß es besondere Probleme gegeben hat. Ich glaube, wir hatten bisher großes Glück. Gibst du mir eine Grafschaft?«
»Ja«, sagte ich, ohne zu wissen, was das bedeutete, doch bereit, ihm den Wunsch zu gewähren, wenn es in meiner Macht lag.
Er nickte und sagte: »Du bist in Ordnung.«
Er war ein kampflustiger kleiner Schurke, der meiner wiederauflebenden Erinnerung nach stets eine Art Rebell gewesen war. Unsere Eltern hatten ihn zu erziehen versucht, aber ohne rechten Erfolg. Mir wurde zugleich klar, daß wir gemeinsame Eltern gehabt hatten, was auch auf mich und Eric und Flora, wie auch auf Caine, Bleys und Fiona zutraf. Und wahrscheinlich auch auf andere – doch an diese Namen erinnerte ich mich, diese Geschwister kannte ich bereits.
Wir fuhren auf einem harten Feldweg durch eine Kathedrale riesiger Bäume. Der Wald schien kein Ende zu nehmen. Ich fühlte mich sicher. Von Zeit zu Zeit scheuchten wir Rehwild auf oder überraschten einen Fuchs, der den Weg überquerte oder in der Nähe verharrte. Da und dort zeigten sich Hufabdrücke im Lehm. Das Sonnenlicht sickerte zuweilen durch die Blätter, fiel schräg herab wie straff gespannte goldene Saiten auf einem exotischen Musikinstrument. Der Wind war feucht und satt von Leben. Mir ging auf, daß ich diesen Ort kannte, daß ich früher oft auf dieser Straße geritten war. Ich war auf dem Pferderücken durch den Wald von Arden galoppiert, war zu Fuß hindurchgewandert, hatte darin gejagt, hatte lange unter riesigen Stämmen gelegen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, während mein Blick emporwanderte. Ich war zwischen den Ästen solcher Riesen herumgeklettert und hatte auf eine grüne Welt hinabgeblickt, die sich ständig veränderte.
»Ich liebe diesen Ort«, sagte ich – und mir war im ersten Augenblick nicht recht klar, daß ich laut gesprochen hatte.
»Das hast du immer getan«, erwiderte Random, und ein Hauch von Belustigung schien in seiner Stimme mitzuschwingen – ich war mir meiner Sache nicht sicher.
Aus der Ferne tönte plötzlich ein Laut herüber, von dem ich wußte, daß es sich um das Signal eines Jagdhorns handelte.
»Fahr schneller!« sagte Random plötzlich. »Das klingt nach Julians Horn.«
Ich gehorchte.
Wieder der Hornstoß, diesmal näher.
»Seine verdammten Hunde reißen den Wagen in Stücke, und seine Jagdvögel picken uns die Augen aus!« sagte er. »Ich würde ihm ungern über den Weg laufen, wenn er so gut gerüstet ist. Was immer er gerade jagt, er würde seine Beute bestimmt aufgeben, wenn er dafür Jagd auf zwei Brüder machen könnte.«
»›Leben und Leben lassen‹ – das ist heutzutage meine Devise«, bemerkte ich.
Random lachte leise vor sich hin.
»Was für eine drollige Vorstellung! Ich wette, die hält sich im Ernstfall höchstens fünf Minuten.«
Und wieder ertönte das Jagdhorn, diesmal noch näher, und er sagte: »Verdammt!«
Der Tachometer zeigte in altmodischen Runenziffern die Zahl fünfundsiebzig an. Ich wagte auf diesem Weg nicht schneller zu fahren.
Wieder ertönte das Horn, dreimal lang aufjaulend, ganz in der Nähe. Dann hörte ich Hundegebell links von uns.
»Wir sind der wirklichen Erde schon sehr nahe, wenn auch noch weit von Amber«, sagte mein Bruder. »Es wäre sinnlos, durch die benachbarten Schatten zu fliehen, denn wenn er es wirklich auf uns abgesehen hat, würde er uns verfolgen. Oder zumindest sein Schatten.«
»Was sollen wir tun?«
»Wir können nur aufdrehen und hoffen, daß er nicht hinter uns her ist.«
Und wieder gellte das Hörn auf, diesmal fast neben uns.
»Verdammt, worauf reitet er denn – auf einer Lokomotive?« fragte ich.
»Ich glaube, er reitet seinen mächtigen Morgenstern, das schnellste Pferd, das er je geschaffen hat.«
Ich ließ mir das vorletzte Wort eine Weile durch den Kopf gehen. Ja, es stimmt, sagte mir eine innere Stimme. Julian hatte Morgenstern aus den Schatten geschaffen, hatte in diesem Wesen die Wucht einer Dampframme mit der Geschwindigkeit eines Hurrikans verbunden.
Plötzlich fiel mir ein, daß ich guten Grund hatte, dieses Tier zu fürchten – und da sah ich es auch schon.
Morgenstern war sechs Hände größer als jedes andere Pferd, das ich je gesehen hatte, seine Augen wirkten seltsam tot, sein Fell war grau, und seine Hufe erinnerten an schimmernden Stahl. Er flog schnell wie der Wind dahin und hielt mit dem Wagen Schritt.
Julian duckte sich im Sattel – der Julian von der Spielkarte, mit langem schwarzen Haar und hellblauen Augen, und er trug seine schuppige weiße Rüstung.
Julian lächelte uns zu und winkte. Morgenstern warf den Kopf hoch, und seine herrliche Mähne wogte im Wind wie eine Flagge. Seine Beine waren ein einziger verwischter Schatten.
Mir fiel ein, daß Julian vor längerer Zeit einen Mann in abgelegte Kleidung von mir gesteckt und ihn veranlaßt hatte, das Tier zu quälen. Dies hatte dazu geführt, daß mich Morgenstern bei der nächsten Jagd niederzutrampeln versuchte, als ich abstieg, um einen Rehbock aufzubrechen.
Ich hatte das Fenster wieder zugemacht und nahm nicht an, daß Morgenstern am Geruch feststellen konnte, wer im Wagen saß. Doch Julian hatte mich entdeckt, und ich glaubte zu wissen, was das bedeutete. Er war von seinen Sturmhunden umgeben, robusten Tieren mit stahlharten Zähnen. Auch sie kamen aus den Schatten, denn kein normaler Hund vermochte so schnell zu rennen. Allerdings fühlte ich, daß das Wort »normal« in dieser Welt im Grunde auf nichts zutraf.
Julian signalisierte uns anzuhalten, und ich sah zu Random hinüber, der mir zunickte. »Wenn wir nicht gehorchen, reitet er uns nieder«, sagte er. Ich trat also auf die Bremse, fuhr langsamer, hielt an.
Morgenstern stieg auf die Hinterhand empor, ließ die Vorderhufe durch die Luft wirbeln, sprang mit allen vier Hufen auf und trabte näher. Die Hunde wimmelten hechelnd herum. Das Fell des Pferdes wies einen Schimmer auf, der vom Schweiß herrühren mußte.
Ich kurbelte das Fenster herunter.
»Was für eine Überraschung!« sagte Julian langsam, fast stockend, wie es seine Art war. Ein großer schwarzund grüngefiederter Falke kreiste herab und setzte sich auf seine linke Schulter.
»Kann man wohl sagen«, erwiderte ich. »Wie ist es dir ergangen?«
»Ach, großartig«, beschied er mich, »wie immer. Und wie geht es dir und Bruder Random?«
»Ich bin ganz gut in Form«, antwortete ich.
Random nickte.
»Ich hätte angenommen, daß du dich in solchen Zeiten mit anderen Spielen beschäftigst.«
Julian neigte den Kopf und musterte ihn schräg durch die Windschutzscheibe.
»Es macht mir Spaß, Tiere abzuschlachten«, sagte er, »und ich denke ständig an meine Verwandten.«
Ein Kälteschauer rieselte mir über den Rücken.
»Der Lärm eures Motorwagens hat mich von der Jagd abgelenkt«, sagte er. »Dabei wußte ich zunächst gar nicht, daß ich zwei Burschen wie euch darin finden würde. Ich möchte fast annehmen, daß ihr hier nicht zu eurem Vergnügen herumfahrt, sondern ein Ziel habt – Amber zum Beispiel. Stimmt’s?«
»Stimmt«, sagte ich. »Darf ich fragen, warum du hier bist – und nicht dort?«
»Eric hatmich hierhergeschickt, damit ich die Straße bewache«, erwiderte er. Unwillkürlich legte ich die Hand auf eine der Pistolen in meinem Gürtel. Ich hatte allerdings den Eindruck, daß sein Panzer sogar einer Kugel standgehalten hätte. Ich überlegte, ob ich auf Morgenstern schießen sollte.
»Nun, meine Brüder«, sagte er lächelnd. »Ich heiße euch im Schoße der Familie willkommen und wünsche euch eine gute Reise. Bestimmt sehe ich euch bald in Amber. Guten Tag.« Mit diesen Worten zog er sein Tier herum und ritt auf den Wald zu.
»Komm, wir wollen schleunigst hier verschwinden«, flüsterte Random. »Wahrscheinlich plant er einen Hinterhalt oder will uns jagen.« Er zog eine Waffe aus dem Gürtel und legte sie im Schoß bereit.
Ich fuhr in vernünftigem Tempo weiter.
Als ich nach fünf Minuten aufzuatmen begann, vernahm ich wieder das Horn. Obwohl ich wußte, daß er uns einholen würde, trat ich das Gaspedal nieder, denn ich wollte möglichst viel Zeit und Abstand gewinnen. Wir rutschten durch die Kurven, dröhnten Hänge hinauf und rasten durch Senken. Einmal hätte ich fast ein Reh gerammt, aber wir konnten dem Tier ausweichen, ohne die Fahrt zu verlangsamen oder gegen einen Baum zu krachen.
Die Hornstöße klangen schon wieder näher, und Random murmelte üble Verwünschungen.
Ich hatte das Gefühl, daß der Wald noch lange nicht zu Ende war – was mich nicht gerade aufmunterte.
Wir erreichten eine ziemlich lange gerade Strecke, auf der ich fast eine Minute lang höchstes Tempo fahren konnte. In dieser Zeit wurde Julians Jagdhorn wieder leiser. Aber dann erreichten wir ein Waldstück, in dem der Weg zahlreiche Kurven beschrieb, und hier mußte ich wieder langsamer fahren; hier begann er aufzuholen.
Etwa sechs Minuten später tauchte er im Rückspiegel auf, eine dahingaloppierende Masse auf dem Weg, von seiner hechelnden, bellenden, sabbernden Meute umgeben.
Random kurbelte sein Fenster runter, lehnte sich hinaus und begann zu feuern.
»Die verdammte Rüstung!« sagte er. »Ich bin sicher, daß ich ihn zweimal getroffen habe, aber es ist ihm nichts passiert.«
»Es gefällt mir zwar nicht, das Tier umzubringen«, sagte ich, »aber ziel auf das Pferd.«
»Habe ich schon mehrmals gedacht«, erwiderte er, warf seine leere Waffe wütend auf den Wagenboden und zog die andere. »Entweder bin ich ein schlechterer Schütze, als ich dachte, oder das Gerücht stimmt, wonach man ein Geschoß aus Silber braucht, wenn man Morgenstern töten will.«
Mit den restlichen Patronen erschoß er sechs Hunde, doch die Meute bestand noch mindestens aus zwei Dutzend Tieren.
Ich reichte ihm eine meiner Pistolen, und er erledigte fünf weitere Hunde.
»Die letzte Patrone hebe ich mir auf«, sagte er, »für Julians Kopf, wenn er nahe genug herankommt!«
Die Verfolger waren in diesem Augenblick noch etwa fünfzig Fuß hinter uns und holten immer mehr auf. Ich trat heftig auf die Bremse.
Einige Hunde vermochten nicht mehr rechtzeitig anzuhalten, aber Julian war plötzlich verschwunden, und ein dunkler Schatten segelte über uns dahin.
Morgenstern war über den Wagen gesprungen! Er wirbelte auf der Stelle herum, und als Pferd und Reiter sich in unsere Richtung wandten, gab ich wieder Gas. Der Wagen schleuderte los.
Mit einem großartigen Sprung brachte sich Morgenstern aus der Gefahrenzone. Im Rückspiegel sah ich, wie zwei Hunde ein Schutzblech fallenließen, das sie abgerissen hatten, und die Verfolgung wieder aufnahmen. Einige Tiere lagen auf der Straße, und nur noch fünfzehn oder sechzehn beteiligten sich an der Jagd.
»Gut gemacht«, sagte Random. »Aber du hattest Glück, daß sie nicht in die Reifen gebissen haben. Ist wahrscheinlich ihr erstes Auto.«
Ich gab ihm meine letzte Waffe. »Auf die Hunde«, sagte ich.
Er feuerte in aller Ruhe und sehr präzise und erledigte nacheinander sechs Hunde.
Julian galoppierte jetzt neben dem Wagen her und schwang ein Schwert in der rechten Hand.
Ich betätigte die Hupe in der Hoffnung, Morgenstern zu erschrecken – doch der Trick funktionierte nicht. Ich fuhr seitlich auf die beiden zu, doch das Pferd tänzelte leichtfüßig davon. Random duckte sich in seinem Sitz zusammen und zielte an mir vorbei. Er hielt die Pistole mit der rechten Hand, die er auf seinen linken Unterarm stützte.
»Noch nicht schießen«, sagte ich. »Ich will sehen, ob ich ihn so erwische.«
»Du bist ja verrückt«, sagte er, als ich wieder auf die Bremse stieg.
Aber er senkte die Waffe.
Kaum hatten wir gestoppt, als ich auch schon meine Tür aufriß und ins Freie sprang – und ich war barfuß! Verdammt!
Ich duckte einen Schwerthieb ab, packte Julian am Arm und riß ihn aus dem Sattel.
Mit der gepanzerten Faust versetzte er mir einen Schlag auf den Kopf, und ich sah zahlreiche Sterne aufblitzen und hatte stechende Schmerzen.
Er lag erschöpft am Boden, wohin er gefallen war, und ich war von Hunden umgeben, die nach mir schnappten, während Random Fußtritte austeilte. Ich nahm Julians Klinge vom Boden auf und hielt ihm die Spitze an die Kehle.
»Ruf sie zurück!« rief ich. »Oder ich nagle dich am Boden fest!«
Er schrie den Hunden einen Befehl zu, und sie zogen sich winselnd zurück. Random hielt Morgensterns Zügel und mühte sich mit dem Pferd ab.
»Und jetzt, mein lieber Bruder, frage ich dich, was du vorzubringen hast«, sagte ich.
Ein kaltblaues Feuer loderte in seinen Augen, und sein Gesicht war ausdruckslos.
»Wenn du mich töten willst, tu’s doch endlich!« sagte er.
»Nun mal langsam«, erwiderte ich. Irgendwie machte es mir Spaß, seine gepflegte Rüstung voller Schmutz zu sehen. »Doch zunächst die Frage, was dir dein Leben wert ist?«
»Natürlich alles, was ich habe.«
Ich trat zurück.
»Steh auf und setz dich hinten in den Wagen«, befahl ich.
Er gehorchte. Ehe er einstieg, nahm ich ihm noch den Dolch weg. Random stieg ebenfalls wieder ein; erhielt die Pistole mit der letzten verbleibenden Patrone unverwandt auf Julians Kopf gerichtet.
»Warum bringen wir ihn nicht einfach um?« fragte er.
»Ich glaube, er kann uns noch nützlich sein«, erwiderte ich. »Es sind noch zu viele Fragen offen. Und wir haben einen weiten Weg vor uns.«
Ich fuhr los. Ich sah die Hunde herum wimmeln. Morgenstern begann folgsam hinter dem Wagen herzutraben.
»Ich befürchte, ich kann euch als Gefangener nicht viel nützen«, sagte Julian. »Auch wenn ihr mich foltert, kann ich euch nur das verraten, was ich selbst weiß – und das ist nicht viel.«
»Na, dann fang doch damit an«, sagte ich.
»Eric scheint die stärkste Position zu haben«, berichtete er, »da er sich direkt in Amber aufhielt, als die ganze Sache losging. Jedenfalls habe ich die Lage so gesehen und ihm meine Unterstützung angeboten. Wäre es einer von euch gewesen, hätte ich wahrscheinlich genauso gehandelt. Eric beauftragte mich, in Arden aufzupassen, da es sich um einen der Hauptzugänge handelt. Gérard kontrolliert die Seewege im Süden, und Caine treibt sich in den nördlichen Gewässern herum.«
»Und was ist mit Benedict?« fragte Random.
»Keine Ahnung. Ich habe nichts von ihm gehört. Vielleicht ist er bei Bleys. Oder er treibt sich sonstwo in den Schatten herum und weiß von der ganzen Sache womöglich noch gar nichts. Vielleicht ist er sogar tot. Wir haben seit Jahren nicht mehr von ihm gehört.«
»Wie viele Männer hast du in Arden?« wollte Random wissen.
»Mehr als tausend«, erwiderte er. »Einige beobachten euch wahrscheinlich sogar in diesem Augenblick.«
»Und wenn sie wollen, daß du weiterlebst, sollten sie es dabei belassen«, sagte Random.
»Damit hast du sicher recht«, erwiderte Julian. »Ich muß zugeben, daß Corwin sehr klug gehandelt hat, als er mich gefangennahm, anstatt mich zu töten. Auf diese Weise schafft ihr es vielleicht durch den Wald.«
»Du sagst das ja nur, weil du weiterleben willst«, meinte Random.
»Natürlich möchte ich weiterleben. Darf ich?«
»Warum?«
»Als Gegenleistung für die Informationen, die ich euch gegeben habe.«
Random lachte.
»Du hast uns sehr wenig gegeben, und ich bin sicher, wir können dir noch mehr entreißen. Das werden wir sehen, sobald wir Gelegenheit zum Anhalten haben. Was, Corwin?«
»Wir werden’s sehen«, sagte ich. »Wo ist Fiona?«
»Irgendwo im Süden, glaube ich«, entgegnete Julian.
»Und Deirdre?«
»Keine Ahnung.«
»Llewella?«
»In Rebma.«
»Gut«, sagte ich. »Ich glaube, du hast mir alles verraten, was du weißt.«
»Ja.«
Wir fuhren schweigend weiter. Nach einiger Zeit begann sich der Wald zu lichten. Ich hatte Morgenstern längst aus den Augen verloren, obwohl ich zuweilen noch Julians Falke erblickte, der mit uns auf gleicher Höhe blieb. Die Straße führte über einen Hang auf einen Paß zwischen zwei purpurnen Bergen zu. Der Tank war noch zu gut einem Viertel gefüllt. Nach einer Stunde fuhren wir zwischen hochaufragenden Felshängen dahin.
»Hier wäre eine günstige Stelle für eine Straßensperre«, sagte Random.
»Möglich«, sagte ich. »Wie steht es damit, Julian?«
Er seufzte.
»Ja«, sagte er schließlich. »Ihr müßtet bald auf eine stoßen. Ihr wißt ja, wie ihr dann handeln müßt.«
Wir wußten es. Als wir die Absperrung erreichten und der in grünes und braunes Leder gekleidete Wächter mit gezogenem Schwert auf uns zukam, deutete ich mit dem Daumen auf den Rücksitz. »Kapiert?« fragte ich.
Und er kapierte schnell; außerdem erkannte er uns.
Hastig hob er die Barriere und grüßte, als wir vorbeifuhren.
Wir mußten zwei weitere Sperren überwinden, ehe wir den Paß hinter uns hatten – und irgendwo unterwegs hatten wir offenbar auch den Falken abgehängt. Wir waren nun mehrere tausend Fuß hoch, und ich bremste den Wagen auf einer Straße, die sich an einer Felswand entlangzog. Zu unserer Rechten ging es steil in die Tiefe.
»Raus!« sagte ich. »Du machst jetzt einen Spaziergang.«
Julian erbleichte.
»Ich werde nicht vor dir kriechen«, sagte er. »Ich werde dich auch nicht um mein Leben anflehen.« Und er stieg aus.
»Himmel!« sagte ich. »Ich habe seit Wochen keine schöne Kriecherei mehr gehabt! Nun ja . . . stell dich mal hier an die Kante. Bitte noch etwas näher heran.« Random zielte mit der Waffe auf seinen Kopf. »Vor kurzem«, sagte ich zu ihm, »erzähltest du uns, du hättest wahrscheinlich jeden unterstützt, der sich Erics Position sichern konnte.«
»Richtig.«
»Schau hinab.«
Er gehorchte. Die Schlucht war unvorstellbar tief.
»Gut«, sagte ich, »daran solltest du denken, falls sich plötzliche Veränderungen ergeben. Und vergiß später auch nicht, wer dir das Leben geschenkt hat, das dir andere bestimmt genommen hätten.
Komm Random, wir fahren weiter.«
Wir ließen ihn stehen. Er atmete heftig und hatte die Stirn gerunzelt.
Als wir die Paßhöhe erreichten, hatten wir fast kein Benzin mehr. Ich ging auf Leerlauf, stellte den Motor ab und ließ den Wagen anrollen.
»Ich habe mir so meine Gedanken über dich gemacht«, sagte Random. »Du hast nichts von deiner alten Arglist verloren. Ich hätte ihn für seine Gemeinheit wahrscheinlich umgebracht. Aber ich glaube, du hast richtig gehandelt. Er wird uns sicher unterstützen, wenn wir Eric in die Zange nehmen können. Aber zunächst meldet er Eric natürlich, was hier geschehen ist.«
»Natürlich«, sagte ich.
»Dabei hast du von uns allen eigentlich den besten Grund, dir seinen Tod zu wünschen.«
Ich lächelte.
»Persönliche Gefühle sind in der Politik, bei rechtlichen Entscheidungen oder bei Geschäftsabschlüssen nicht vom besten.«
Random zündete zwei Zigaretten an und reichte mir eine.
Während ich durch den Rauch nach vorn starrte, erhaschte ich einen ersten Blick auf das Meer. Unter dem tiefblauen, fast nächtlichen Himmel mit der goldenen Sonne wirkte das Meer dermaßen prächtig – dick wie Farbe, strukturiert wie ein königsblaues, fast purpurnes Stück Stoff –, daß ich gar nicht darauf schauen konnte. Ehe ich mich versah, sprach ich Worte in einer Sprache, die zu beherrschen ich keine Ahnung gehabt hatte. Ich zitierte aus der »Ballade der Wassergeher«, und Random hörte mir zu, bis ich fertig war, und fragte dann: »Es wird gemunkelt, daß du das Stück gedichtet hast. Ist das wahr?«
»Es ist so lange her«, erwiderte ich, »daß ich mich nicht mehr so recht erinnere.«
Und als sich die Klippe immer mehr nach links krümmte und wir uns an dem gewaltigen Steilhang abwärts bewegten, auf ein bewaldetes Tal zu – da wurde zugleich ein immer größer werdendes Stück des Meeres sichtbar.
»Der Leuchtturm von Carba«, sagte Random und deutete auf einen riesigen grauen Turm, der sich meilenweit vom Ufer entfernt aus dem Wasser erhob. »Ich hatte ihn fast vergessen.«
»Ich auch«, erwiderte ich. »Es ist ein seltsames Gefühl – zurückzukehren.« Und ich erkannte plötzlich, daß wir uns gar nicht mehr auf Englisch unterhielten, sondern in einer Sprache, die Than genannt wird.
Nach etwa einer halben Stunde waren wir unten. Ich ließ den Wagen ausrollen, ehe ich den Motor wieder anließ. Das Geräusch scheuchte im Gebüsch links von uns einen Schwärm dunkler Vögel auf. Ein graues, wolfsartiges Tier brach aus seiner Deckung und raste auf ein nahegelegenes Dickicht zu; das Reh, das es beschlichen hatte und das bis jetzt unsichtbar gewesen war, sprang davon. Wir befanden uns in einem fruchtbaren Tal, das allerdings nicht so dicht mit Bäumen bestanden war wie der Wald von Arden und das sich sanft dem fernen Meer zuneigte.
Zur Linken erhoben sich die Berge zu ungeahnten Höhen. Je tiefer wir in das Tal vorstießen, um so besser vermochten wir die Art und Ausdehnung des gewaltigen Felsmassivs zu erkennen, von dem wir einen der kleineren Hänge bewältigt hatten. Die Berge setzten ihren Marsch zum Meer fort und wurden dabei immer größer; zugleich legte sich an ihre Hänge ein schwankender Schimmer von grüner, malvenfarbener, purpurner und indigoblauer Tönung. Das Gesicht, das sie dem Meer zuwandten, war für uns aus dem Tal nicht zu erkennen, doch um den Rücken des letzten und höchsten Gipfels wirbelte ein Hauch gespenstischer Wolken, die die goldene Sonne von Zeit zu Zeit mit ihrem Feuer füllte. Ich schätzte, daß wir noch etwa fünfunddreißig Meilen von diesem Ort des Lichts entfernt waren, und die Tankanzeige stand fast auf Null. Dieser letzte Gipfel war unser Ziel, das wußte ich. Ungeduld packte mich. Random starrte in dieselbe Richtung.
»Sie ist noch immer da«, bemerkte ich.
»Ich hatte sie fast vergessen . . .«, sagte er.
Und als ich die Gangschaltung bediente, bemerkte ich, daß meine Hosen einen ungewohnten Glanz angenommen hatten, daß sie nun zu den Knöcheln ziemlich eng zuliefen. Außerdem stellte ich fest, daß meine Manschetten verschwunden waren. Dann fiel mein Blick auf das Hemd, das ich trug.
Es war eher ein Jackett, und es war schwarz und mit Silber besetzt; und mein Gürtel hatte sich erheblich verbreitert.
Als ich genauer hinschaute, sah ich, daß sich ein Silberstreifen um die Säume meiner Hosenbeine zog.
»Ich bin recht eindrucksvoll gekleidet«, sagte ich, um festzustellen, welche Reaktion ich damit auslöste.
Random lachte, und jetzt erst sah ich, daß auch er sich rotgestreifte braune Hosen und ein braunorangenfarbenes Hemd zugelegt hatte. Eine braune Mütze mit gelber Kapuze lag auf dem Sitz neben ihm.
»Ich hatte mich schon gefragt, wann es dir endlich auffallen würde«, sagte er. »Wie fühlst du dich?«
»Ziemlich gut«, entgegnete ich. »Übrigens haben wir fast kein Benzin mehr.«
»Daran können wir kaum noch etwas ändern«, sagte er. »Wir sind jetzt in der realen Welt, und es würde schreckliche Mühe bereiten, mit den Schatten herumzuspielen. Außerdem wäre das nicht möglich, ohne bemerkt zu werden. Ich fürchte, wir müssen tippeln, wenn der Wagen nicht mehr will.«
Zweieinhalb Meilen weiter war es soweit. Ich fuhr an den Straßenrand und bremste. Die Sonne verabschiedete sich bereits im Westen, die Schatten waren lang geworden.
Ich griff auf den Rücksitz – meine Schuhe waren zu schwarzen Stiefeln geworden, und als ich danach tastete, klapperte etwas.
Ich zog ein mittelschweres Schwert mit Scheide und silbernem Griff nach vorn. Die Scheide ließ sich wunderbar an meinem Gürtel befestigen. Außerdem lag hinten ein schwarzer Mantel mit einer Schnalle in der Form einer Silberrose.
»Hattest du die Sachen für immer verloren geglaubt?« fragte Random.
»So ziemlich«, sagte ich.
Wir stiegen aus dem Wagen und setzten unseren Weg zu Fuß fort. Die Abendluft war kühl und hatte einen angenehmen frischen Duft. Im Osten zeigten sich bereits die ersten Sterne, während die Sonne tiefer in ihr Bett tauchte.
Wir wanderten die Straße entlang.
»Mir will das nicht schmecken«, sagte Random plötzlich.
»Was meinst du?«
»Bis jetzt ist alles zu leicht gegangen«, erklärte er. »Das gefällt mir nicht. Wir haben den Wald von Arden fast mühelos überwunden. Sicher, Julian versuchte uns zu erledigen – aber ich weiß nicht recht . . . Wir sind so problemlos vorwärtsgekommen, daß ich fast das Gefühl habe, man hat geplant, uns so weit vorstoßen zu lassen.«
»Dieser Gedanke ist mir auch schon gekommen«, log ich. »Was schließt du daraus?«
»Ich fürchte«, sagte er, »wir tappen geradewegs in einen Hinterhalt.«
Mehrere Minuten lang gingen wir schweigend nebeneinander her.
»Hinterhalt?« fragte ich dann. »Der Wald hier scheint aber seltsam still zu sein.«
»Ich weiß nicht.«
Wir legten etwa zwei Meilen zurück, dann war die Abenddämmerung erloschen. Die Nacht war schwarz und von funkelnden Sternen durchsetzt.
»Für zwei Burschen wie uns ist das keine gute Fortbewegungsart«, meinte Random.
»Wie wahr!«
»Und doch habe ich Angst, uns Reittiere zu besorgen.«
»Ich auch.«
»Was hältst du von der Situation?« fragte Random.
»Tod und Tollkühnheit«, erwiderte ich. »Ich ahne, daß wir bald damit zu tun bekommen.«
»Meinst du, wir sollten den Weg verlassen?«
»Ich habe darüber nachgedacht«, log ich erneut. »Und ich glaube nicht, daß es uns schaden könnte, wenn wir ein bißchen seitlich davon gehen!«
Und das taten wir.
Wir gingen zwischen Bäumen hindurch, wir passierten die dunklen Umrisse von Felsbrocken und Büschen. Und langsam stieg auch der Mond auf, riesig, silbrig, die Nacht erhellend.
»Mich plagt das Gefühl, daß wir es nicht schaffen«, sagte Random.
»Und wie verläßlich ist dieses Gefühl?«
»Sehr.«
»Wieso?«
»Wir sind zu schnell vorangekommen«, entgegnete er. »Das gefällt mir ganz und gar nicht. Wir sind jetzt in der realen Welt, und zur Umkehr ist es zu spät. Wir können nicht auf die Schatten zurückgreifen, sondern müssen uns auf unsere Klingen verlassen.« (Er trug ein kurzes brüniertes Schwert.) »Ich bin fast der Meinung, daß unser Vordringen ganz Erics Plänen entspricht. Natürlich können wir nicht mehr viel an der Situation ändern, aber wo wir nun einmal hier sind, wünschte ich, wir hätten uns jeden Zentimeter des Weges mühsam erkämpfen müssen.«
Wir legten eine weitere Meile zurück und zündeten uns dann eine Zigarette an, die wir mit den Händen abschirmten.
»Eine schöne Nacht«, sagte ich zu Random und in den kühlen Wind.
»Mag sein . . . Was war das?«
Ein Stück hinter uns raschelte es im Gebüsch.
»Vielleicht ein Tier.«
Er hatte seine Klinge gezogen.
Wir warteten mehrere Minuten lang, doch es war nichts mehr zu hören.
Random stieß die Waffe wieder zurück in die Scheide, und wir gingen weiter.
Hinter uns blieb nun alles ruhig, doch nach einer Weile vernahm ich vor uns ein Geräusch.
Als ich zu ihm hinübersah, nickte er; und wir begannen uns anzuschleichen.
In der Ferne tauchte ein schwacher Lichtschimmer wie von einem Lagerfeuer auf.
Wir vernahmen keine weiteren Geräusche, doch er stimmte achselzuckend zu, als ich mich nach rechts wandte, um durch den Wald darauf zuzuhalten.
Es dauerte fast eine Stunde, bis wir das Lager erreichten. Vier Männer saßen um das Feuer, vier weitere schliefen in den Schatten.
Das Mädchen, das an einem Pfahl festgebunden war, hatte den Kopf zur anderen Seite gedreht, doch als ich ihre Gestalt erblickte, begann mein Herz schneller zu schlagen.
»Ist das vielleicht . . .?« flüsterte ich.
»Ja«, erwiderte er. »Ich glaube, du hast recht.«
Dann drehte sie den Kopf, und ich wußte, daß sie es war.
»Deirdre!«
»Ich möchte wissen, was sie angestellt hat«, sagte Random. »Nach den Farben der Kerle zu urteilen, bringen sie sie nach Amber zurück.«
Ich sah, daß die Männer Schwarz, Rot und Silber trugen – die Farben Erics, wie ich von den Trümpfen und sonstwoher wußte.
»Da Eric sie haben will, darf er sie nicht bekommen«, sagte ich.
»Ich habe nie besonders viel für Deirdre übrig gehabt«, sagte Random. »Ganz im Gegensatz zu dir, also . . .« Und er zog seine Waffe.
Ich tat es ihm nach.
»Mach dich bereit«, sagte ich und richtete mich in eine geduckte Stellung auf.
Dann griffen wir an.
Etwa zwei Minuten, so lange mochte es gedauert haben.
Sie beobachtete uns, und der Feuerschein verwandelte ihr Gesicht in eine schiefe Maske. Sie schrie und lachte und rief mit lauterund ängstlicher Stimme unsere Namen, und ich zerschnitt ihre Fesseln und half ihr auf die Füße.
»Sei gegrüßt, Schwester. Begleitest du uns auf der Straße nach Amber?«
»Nein«, sagte sie. »Ich danke euch für mein Leben, aber ich möchte es behalten. Warum wandert ihr nach Amber – eigentlich müßte ich’s mir ja denken können.«
»Es gibt dort einen Thron zu erringen«, sagte Random, was neu für mich war, »und wir wären immerhin daran interessiert.«
»Wenn ihr schlau seid, haltet ihr euch fern und lebt ein wenig länger«, sagte sie. Bei Gott! Sie war hübsch, wenn auch ein wenig mitgenommen und verdreckt.
Ich nahm sie in die Arme, weil ich den Wunsch dazu verspürte, und drückte sie an mich. Random fand eine Weinhaut, und wir alle tranken daraus.
»Eric ist der einzige Prinz in Amber«, sagte sie, »und die Truppen sind ihm treu ergeben.«
»Ich habe keine Angst vor Eric«, erwiderte ich und wußte, daß ich mir dieser Äußerung nicht hundertprozentig sicher war.
»Er läßt euch nie nach Amber hinein«, sagte sie. »Ich war dort gefangen, bis ich vor zwei Tagen auf einem der geheimen Wege fliehen konnte. Ich dachte, ich könnte in den Schatten wandeln, bis alles vorbei war, doch es ist nicht leicht, in unmittelbarer Nähe der Wirklichkeit zu beginnen. Seine Truppen haben mich heute früh gefunden . . . Die Männer wollten mich zurückbringen. Vielleicht hätte er mich getötet – aber da bin ich mir nicht sicher. Jedenfalls bin ich in der Stadt eine reine Marionette gewesen. Ich glaube, Eric ist verrückt – aber auch dazu muß ich sagen, daß ich es nicht genau weiß.«
»Was ist mit Bleys?« wollte Random wissen.
»Er schickt Dinge aus den Schatten zu uns, und Eric ist beunruhigt. Aber er hat uns niemals mit seiner realen Kraft angegriffen, und so ist Eric nervös, und die Macht über Krone und Szepter bleibt ungewiß, auch wenn Eric beides in den Händen hält.«
»Ich verstehe. Hat er jemals von uns gesprochen?«
»Nicht von dir, Random. Aber von Corwin. Die Rückkehr Corwins nach Amber fürchtet er immer noch. Auf den nächsten fünf Meilen ist es noch relativ sicher, aber danach bringt jeder Schritt Gefahren. Jeder Baum, jeder Felsbrocken birgt Fallstricke und Hinterhalte. Und das alles nur wegen Bleys und Corwin. Es lag in Erics Absicht, euch zunächst bis hierhin kommen zu lassen, damit ihr nicht mehr mit den Schatten arbeiten oder euch mühelos seiner Macht entziehen könnt. Es ist einfach unmöglich, daß einer von euch Amber betritt, ohne einem seiner Tricks zum Opfer zu fallen.«
»Trotzdem bist du entkommen . . .«
»Das war ja auch etwas anderes. Ich wollte hinaus, nicht hinein. Vielleicht hat er mich nicht so gut bewacht, wie er es bei einem von euch veranlaßt hätte – das mag an meinem Geschlecht und an meinem mangelnden Ehrgeiz liegen. Wie dem auch sei – ihr seht ja, daß mir die Flucht nicht geglückt ist.«
»Aber zu guter Letzt doch noch, Schwester«, sagte ich, »und dabei soll es bleiben, solange meine Klinge sich für dich schlagen kann.« Und sie küßte mich auf die Stirn und drückte mir die Hand. So etwas hatte mich schon immer weich gestimmt.
»Ich bin sicher, daß wir verfolgt werden«, sagte Random, und auf seine Handbewegung hin verschwanden wir in der Dunkelheit.
Reglos lagen wir unter einem Busch und beobachteten den Weg, auf dem wir gekommen waren.
Nach einer Weile lief unser Geflüster darauf hinaus, daß ich eine Entscheidung treffen mußte. Die Frage war im Grunde ganz einfach: Was nun?
Das Problem war zu grundlegend, und ich konnte nicht mehr so weitermachen. Ich wußte, daß ich den beiden nicht vertrauen konnte, nicht einmal der lieben Deirdre, aber wenn ich schon mit offenen Karten spielen mußte, dann steckte Random zumindest bis zum Hals mit in der Sache drin, und Deirdre war meine Lieblingsschwester.
»Geliebte Blutsverwandte«, setzte ich an. »Ich muß euch ein Geständnis machen.« Randoms Hand lag bereits auf seinem Schwertgriff. Damit zeigte sich das Ausmaß unseres gegenseitigen Vertrauens. Ich hörte es förmlich in seinem Kopf klicken: Corwin hat mich hierhergeführt, um mich zu verraten, das redete er sich ein.
»Wenn du mich hierhergeführt hast, um mich zu verraten«, sagte er, »bringst du mich nicht lebendig in die Stadt.«
»Machst du Witze?« fragte ich. »Ich wünsche mir deine Unterstützung, nicht deinen Kopf. Ich habe nur eins zu sagen: Ich habe nicht den blassesten Schimmer, was hier eigentlich vorgeht. Ich habe so meine Vermutungen, aber im Grunde weiß ich nicht, wo wir sind, was Amber ist, was Eric tut, wer Eric ist oder warum wir hier in den Büschen hocken und uns vor seinen Soldaten verstecken. Und wo wir schon mal dabei sind – wer ich eigentlich bin, weiß ich auch nicht so recht.«
Das Schweigen dehnte sich unangenehm in die Länge, dann flüsterte Random: »Was soll das heißen?«
»Ja«, sagte Deirdre.
»Das soll heißen«, sagte ich, »daß es mir gelungen ist, dich zum Narren zu halten, Random. Hast du es nicht seltsam gefunden, daß ich mich auf dieser Reise ganz auf das Fahren des Wagens beschränkt habe?«
»Du warst der Boß«, sagte er, »und ich bildete mir ein, daß du alles geplant hattest. Du hast unterwegs ein paarmal ziemlich scharfsinnig reagiert. Ich weiß, daß du Corwin bist.«
»Und das ist ein Umstand, den auch ich erst vor ein paar Tagen herausgefunden habe«, sagte ich. »Mir ist bekannt, daß ich ein Mann bin, den ihr Corwin nennt, aber ich war vor einiger Zeit in einen Unfall verwickelt. Dabei habe ich Kopfverletzungen davongetragen und leide an Amnesie. Ich begreife euer Gerede von den Schatten nicht. Ich habe außerdem kaum Erinnerungen an Amber. Ich erinnere mich nur an meine Verwandten und an die Tatsache, daß ich ihnen nicht besonders vertrauen kann. Das ist meine Geschichte. Was kann man da unternehmen?«
»Himmel!« sagte Random. »Ja, jetzt begreife ich! Ich begreife all die Kleinigkeiten, die mir unterwegs zu schaffen gemacht haben . . . Wie hast du Flora so rückhaltlos überzeugen können?«
»Mit Glück«, erwiderte ich, »und mit instinktiver Arglist, vermute ich. Aber nein! Das stimmt gar nicht! Sie war dumm. Doch jetzt brauche ich euch wirklich.«
»Glaubst du, daß wir es in die Schatten schaffen?« fragte Deirdre, aber sie wandte sich nicht an mich.
»Ja«, sagte Random, »aber ich wäre nicht dafür. Ich möchte gern Corwin in Amber haben und Erics Kopf auf einen Pfahl gespießt sehen. Und um diese Ziele zu erreichen, nehme ich auch einige Risiken auf mich. In die Schatten gehe ich nicht zurück. Das kannst du gern machen, wenn du willst. Ihr alle haltet mich für einen Schwächling und aufgeblasenen Täuscher. Jetzt sollt ihr die Wahrheit kennenlernen. Ich bringe die Sache zu Ende.«
»Vielen Dank, Bruder«, sagte ich.
»Schicksalshafte Begegnung im Mondlicht«, bemerkte Deirdre.
»Du könntest jetzt noch gefesselt sein«, gab Random zu bedenken, und sie schwieg.
Wir lagen noch eine Zeitlang im Gebüsch, und schließlich betraten drei Männer das Lager und sahen sich um. Dann bückten sich zwei von ihnen und beschnüffelten den Boden.
Schließlich blickten sie in unsere Richtung.
»Werwesen«, flüsterte Random, als sie auf uns zukamen.
Ich sah alles ganz deutlich – allerdings nur schattenhaft. Die Gestalten gingen auf alle viere nieder, und das Mondlicht spielte mit ihrer grauen Kleidung. Dann waren nur noch die sechs schimmernden Augen unserer Jäger zu sehen.
Ich spießte den ersten Wolf mit meiner Silberklinge auf, und ein menschlicher Schrei ertönte. Random köpfte ein Wesen mit einem einzigen Hieb, und zu meiner Verblüffung sah ich, wie Deirdre einen Angreifer durch die Luft wirbelte und ihm mit kurzem, trockenem Geräusch über dem Knie das Rückgrat brach.
»Schnell, dein Schwert!« sagte Random. Ich stieß seinem und Deirdres Opfer die Klinge ins Herz.
»Wir sollten schleunigst hier verschwinden«, sagte Random. »Kommt!« Wir folgten ihm.
»Wohin gehen wir?« fragte Deirdre, nachdem wir uns etwa eine Stunde lang verstohlen durchs Unterholz bewegt hatten.
»Zum Meer«, erwiderte er.
»Warum?«
»Dort finden wir Corwins Erinnerungen.«
»Wo denn? Und wie?«
»Natürlich in Rebma.«
»Man würde dich dort umbringen und dein Fleisch an die Fische verfüttern.«
»Ich komme nicht bis Rebma mit. Du wirst an der Küste übernehmen und mit der Schwester deiner Schwester reden müssen.«
»Meinst du, er soll das Muster noch einmal durchmachen?«
»Ja.«
»Das ist riskant.«
»Ich weiß . . . Hör zu, Corwin«, sagte er. »Du hast mich in letzter Zeit sehr anständig behandelt. Wenn du zufällig doch nicht der echte Corwin bist, ist dein Leben verwirkt. Aber du mußt der Richtige sein. Etwas anderes ist gar nicht möglich – nicht nach dem, was du getan hast, und zwar ohne Erinnerungen. Nein, ich setze dein Leben darauf. Versuch dein Glück mit dem Gebilde, das wir Muster nennen. Du hast die Chance, daß es dir die Erinnerungen zurückgibt. Machst du mit?«
»Wahrscheinlich«, sagte ich. »Aber was ist das Muster?«
»Rebma ist die Gespensterstadt«, erklärte er. »Sie ist die Reflexion Ambers im Meer. Darin findet sich alles dupliziert, was es in Amber gibt, wie in einem Spiegel. Llewellas Leute leben dort unten, als befänden sie sich in Amber. Sie hassen mich wegen ein paar alter Sünden, deshalb kann ich dich nicht dorthin begleiten, aber wenn du offen mit den Leuten redest und vielleicht eine Andeutung über deine Mission machst, glaube ich, daß man dich das Muster von Rebma abschreiten läßt, das zwar spiegelverkehrt ist zu dem Muster Ambers, das aber dieselbe Wirkung haben müßte. Das heißt, es verleiht einem Sohn unseres Vaters die Fähigkeit, sich in den Schatten zu bewegen.«
»Wie kann mir diese Fähigkeit weiterhelfen?«
»Sie müßte dir verraten, wer du bist.«
»Dann tu ich’s«, sagte ich.
»So ist es richtig. Also ziehen wir weiter nach Süden. Es sind noch mehrere Tage bis zur Treppe . . . Gehst du mit ihm, Deirdre?«
»Ich begleite meinen Bruder Corwin.«
Ich wußte, daß sie das sagen würde und freute mich. Ich hatte Angst, doch zugleich war ich froh.
Wir marschierten die ganze Nacht hindurch. Dabei gingen wir drei bewaffneten Suchtrupps aus dem Weg und legten uns früh am Morgen in einer Höhle schlafen.