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Als Beine, die größere Sonne von Mesklin, am Horizont erschien, trat Lackland aus der Luftschleuse seiner Kuppel und wartete dort, bis der Schlepper die letzten Meter zurückgelegt hatte.

Barlennan verfolgte die Unterhaltung der beiden Männer, die in seiner Nähe standen, und fragte sich, weshalb sie nicht beide in die Kuppel gingen, da sie offensichtlich unter der hohen Schwerkraft litten. Der Pilot schlug jedoch Lacklands Einladung aus.

»Ich möchte nicht ungesellig sein, Charlie«, sagte er, »aber würdest du an meiner Stelle länger als unbedingt nötig hier unten bleiben?«

»Ich könnte selbstverständlich auch von Toorey aus arbeiten«, stimmte Lackland zu, »aber der persönliche Kontakt ist in diesem Fall entscheidend.

Mir geht es vor allem darum, an Ort und Stelle möglichst viel zu lernen. Vielleicht b ekomme ich sogar heraus, wie wir uns Barlennan gegenüber erkenntlich zeigen können. Er nimmt ein großes Risiko auf sich, und meine Anwesenheit ist unter diesen Umständen bestimmt nützlich – für beide Teile.«

»Das verstehe ich nicht ganz.«

»Barlennan ist Forscher und Händler zugleich. Im Augenblick befindet er sich in einem Gebiet, das vor ihm noch kein Angehöriger seiner Rasse betreten hat. Er überwintert hier und setzt Schiff und Besatzung aufs Spiel. Du kannst dir vermutlich vorstellen, wie groß die Aussichten wären, einen zweiten Captain dieser Art zu finden!

Du brauchst dir nur zu überlegen, daß er normalerweise in Gebieten lebt, wo die Schwerkraft bis zu siebenhundert g erreicht. Wir können also nicht einfach Verbindung mit seinen Freunden aufnehmen! Außerdem gibt es wahrscheinlich nicht mehr als hundert Forscher seiner Art, die den Mut besäßen, unseren Auftrag durchzuführen. Und wie sollten wir einen dieser hundert anheuern? Die Bucht dort drüben führt zu einem Meeresarm mit über sechstausend Kilometer Länge und sehr zerklüfteter Küstenlinie; dann beginnt erst das eigentliche Meer. Und Barlennans Bree ist etwa zwölf Meter lang und knapp vier Meter breit; sie gehört zu den größten seetüchtigen Schiffen, obwohl sie kaum zehn Zentimeter hoch aus dem Wasser ragt. Wie sollen wir da ein zweites Schiff finden, dessen Captain vielleicht unseren Auftrag übernimmt?

Nein, Mack, daß wir Barlennan getroffen haben, war reiner Zufall, und ich bezweifle, daß sich Zufälle dieser Art wiederholen. Deshalb halte ich es gern noch vier oder fünf Monate hier unten aus, bis der Frühling kommt. Ich möchte allerdings keinen Cent darauf wetten, daß wir unsere Apparate im Wert von über zwei Milliarden Dollar wiederfinden, indem wir einen tausend Kilometer breiten und zweihunderttausend Kilometer langen Streifen absuchen, der…«

»Du hast n atürlich recht, Charlie«, gab der andere zu, »aber ich bin trotzdem froh, daß ich nicht an deiner Stelle hier unten sitze. Zum Glück kannst du dich wenigstens unterhalten, wenn es dir zu langweilig wird…« Die beiden Männer drehten sich nach Barlennan um.

»Du entschuldigst hoffentlich, daß ich dir Wade McLellan nicht vorgestellt habe, Barl«, sagte Lackland. »Wade, das hier ist Barlennan, der kühnste Seefahrer dieses Planeten – das hat er mir nicht selbst erzählt, aber seine Anwesenheit hier ist Beweis genug.«

»Ich freue mich, deine Bekanntschaft zu machen, Flieger McLellan«, antwortete der Kommandant.

»Die Entschuldigung war überflüssig, denn ich habe angenommen, daß euer Gespräch auch für meine Ohren bestimmt war.«

»Du sprichst gutes Englisch«, stellte McLellan fest. »Hast du es wirklich in weniger als sechs Wochen gelernt?«

»Ich weiß nicht, was ›Wochen‹ sind, aber ich bin deinem Freund vor weniger als fünfunddreißighundert Tagen begegnet«, erwiderte der Mesklinit.

»Ich bin natürlich sprachbegabt – das muß man in meinem Beruf sein –, und die Filme, die Charles mir gezeigt hat, waren recht nützlich.«

»Zum Glück kannst du unsere Laute nachahmen, während unsere Stimmbänder nicht für deine Sprache geeignet sind.«

»Richtig«, stimmte Barlennan zu und hütete sich, dem Fremden zu verraten, daß er sich mit seiner Besatzung in einer Tonhöhe unterhalten konnte, die menschliche Ohren nicht mehr aufnahmen. Vielleicht hatte Lackland diese Tatsache noch nicht entdeckt, und selbst ehrliche Händler waren vorsichtig genug, ihre kleinen Tricks nicht jedem zu verraten. »Ich kann mir allerdings vorstellen, daß Charles einige Grundbegriffe unserer Sprache beherrscht, nachdem er uns so lange zugehört hat.«

»Tut mir leid, aber ich habe bisher nicht viel g elernt, Barl«, gab Lackland ehrlich zu. Er wandte sich wieder an seinen Kameraden. »Mack, du willst vermutlich so rasch wie möglich zu deiner Rakete zurück. Am besten lade ich Barl und die Funkgeräte auf den Schlepper, fahre dich zum Landeplatz und bringe Barl dann zu seinem Schiff.«

Bevor jemand darauf antworten konnte, setzte Lackland seinen Plan in die Tat um, denn die Idee war durchaus vernünftig – jedenfalls für Menschen, während Barlennan in diesem Augenblick fast den Verstand verloren hätte.

Der gepanzerte Handschuh des Raumfahrers sank rasch herab und hob Barlennan in die Höhe. Der Kommandant schwebte einige entsetzliche Sekunden lang durch die Luft; dann wurde er auf das glatte Dach des Schleppers gesetzt, an dessen Metall seine Zangen keinen Halt fanden, obwohl wenigstens die vielen Saugnäpfe an seinen Beinen auf der glatten Oberfläche hafteten. Aber er befand sich hoch über dem Boden! Wohin er auch blickte – an allen Seiten gähnten schreckliche Abgründe nur wenige Körperlängen von ihm entfernt.

Mehrere Sekunden vergingen, bevor er seine Stimme wiederfand, aber inzwischen war ihm eingefallen, daß das Mikrophon an der Rampe aus dieser Entfernung seine Stimme nicht mehr aufnehmen konnte – das wußte er von früher her. Und er erinnerte sich selbst in dieser entsetzlichen Lage daran, daß der Angstschrei, den er am liebsten ausgestoßen hätte, an Bord der Bree ebenso gut zu hören gewesen wäre, da dort ein Funkgerät stand.

Und nun hätte die Besatzung einen neuen Captain gewählt. Nur sein unbestreitbarer persönlicher Mut hatte die Leute dazu gebracht, ihm bis an den Rand der Welt zu folgen. Sobald sie das Vertrauen zu ihm verloren, büßte er Schiff und Besatzung ein – und wahrscheinlich auch das Leben. An Bord des Schiffes wurde kein Feigling geduldet, und Barlennan wußte recht gut, daß er nicht darauf hoffen konnte, einen Fußmarsch von über sechzigtausend Kilometer zu überleben.

Glücklicherweise zog sein Unterbewußtsein den einzig richtigen Schluß aus diesen Tatsachen und ließ ihn schweigen, während Lackland die Funkgeräte aufnahm und vor Mack in den Schlepper kletterte. Sekunden später zitterte das Metall unter Barlennans Füßen, und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung.

In diesem Augenblick ging eine seltsame Veränderung in dem unfreiwilligen Passagier vor. Eigentlich hätte er jetzt den Verstand verlieren müssen, denn seine Lage entsprach etwa der eines Menschen, der mit einer Hand am Dachvorsprung eines vierzigstöckigen Hochhauses hängt, aber zu seiner großen Überraschung gefiel es ihm hier oben sogar.

Er sah sich um, genoß den weiten Ausblick, der ihm völlig neue Perspektiven bot, und bedauerte es fast, als der Schlepper schon nach verblüffend kurzer Zeit vor der Rakete anhielt.

Barlennan genoß diesen Triumph so sehr, daß er McLellan fröhlich zuwinkte, und war zutiefst befriedigt, als der Raumfahrer seinen Gruß erwiderte.

Lackland schaltete jetzt die Scheinwerfer ein und fuhr rasch weiter; Mack dachte an Barlennan, der ungeschützt auf dem Dach des Schleppers hockte, und verschob den Start um einige Minuten. Als die Rakete langsam in den Nachthimmel aufstieg, spürte der Kommandant wieder seine alte Furcht in sich aufsteigen; er b eherrschte sich jedoch und sah der Rakete nach, bis der winzige Lichtpunkt erloschen war.

Lackland hatte den Start offenbar ebenfalls beobachtet, aber als es jetzt wieder hell wurde, legte er die letzte Strecke mit höchster Fahrt zurück. Er hielt hundert Meter von der Bree entfernt an, aber die Besatzung erkannte deutlich, daß ihr Kommandant hoch oben auf dem Schlepper hockte. Hätte Lackland Barlennans Kopf auf einer Stange vor sich hergetragen, wäre die Besatzung vermutlich weniger entsetzt gewesen.

Selbst Dondragmer, der intelligenteste und vernünftigste Mesklinit an Bord – den Captain nicht ausgenommen –, war einige Zeit wie gelähmt. Als er endlich wieder klar denken konnte, galt sein erster Blick den Flammstaubbehältern auf den ä ußeren Flößen. Barlennan mußte sich glücklich schätzen, daß der Wind nicht landeinwärts stand, denn der Maat hätte dem Schlepper sonst eine Flammenwolke entgegengeschickt, ohne daran zu denken, daß der Kommandant vielleicht noch lebte.

Aber auch Lackland hatte ausgesprochen Glück, daß die Besatzung daran gewöhnt war, sich nur langsam kriechend fortzubewegen, anstatt die hundert Meter mit einem einzigen Sprung zu überwinden, den der Schwächste von ihnen unter diesen Verhältnissen leicht geschafft hätte. Lackland sah sie herankriechen, bildete sich aber ein, sie wollten nur ihren Captain empfangen, und beeilte sich deshalb nicht sonderlich, Barlennan neben den Funkgeräten abzusetzen. Die Besatzung erkannte jetzt, daß ihr Kommandant noch lebte, und zögerte unentschlossen, weil niemand wußte, was er davon halten sollte, daß Barlennan dieses schreckliche Erlebnis heil überstanden hatte. Lackland hörte Dutzende von verschiedenen Stimmen, die in allen Tonlagen gleichzeitig sprachen. Er verstand kein Wort davon, aber das war vielleicht nur gut für seinen Seelenfrieden, denn er hatte schon vor einiger Zeit festgestellt, daß selbst das Material seines schweren Druckanzugs kein ernsthaftes Hindernis für die Zangen eines Meskliniten war.

Barlennan brachte seine Besatzung mit einem Brüllen zur Ruhe, das Lackland vermutlich selbst durch den Anzug hindurch gehört hätte, wenn die Wiedergabe durch die Kopfhörer ihn nicht bereits fast taub gemacht hätte. Der Kommandant konnte sich nur allzu gut vorstellen, was in den Köpfen seiner Leute vorging, und hatte nicht den Wunsch, Lacklands Knochen am Strand verstreut liegen zu sehen.

»Ruhe!« brüllte er deshalb streng, obwohl er sich darüber freute, daß die Besatzung so entschlossen reagiert hatte, als er scheinbar in Gefahr schwebte.

»Ihr wißt alle, daß man hier fast nichts wiegt – deshalb war alles ganz harmlos!«

»Aber du hast befohlen, wir…«

»Wir dachten schon, du…«

»Du warst so hoch und…«

Barlennan achtete kaum auf diese Einwände, sondern fuhr ruhiger fort: »Ich weiß, daß ich Kunststücke dieser Art streng verboten habe, und ihr kennt meine Gründe dafür. Aber der Flieger ahnt nicht einmal, was richtiges Gewicht bewirken kann, denn sonst hätte er midi nicht einfach aufgehoben und eben vor euren Augen wieder abgesetzt. In seiner Heimat herrscht praktisch Schwerelosigkeit, und er hat nie die Erfahrung machen können, wie gefährlich ein Fall aus größerer Höhe ist. Das beweist schon die Tatsache, daß er fliegt – wer an unsere Verhältnisse gewöhnt ist, würde sich nicht einmal in die Nähe seiner Maschine wagen.«

Die Besatzung hatte vermutlich kaum verstanden, was der Kommandant damit ausdrücken wollte, aber immerhin befand Lackland sich jetzt nicht mehr in Lebensgefahr, weil die Zuhörer abgelenkt worden waren. Als sie diese erstaunliche Neuigkeit untereinander diskutierten, schien ihr Zorn einer allgemeinen Verblüffung gewichen zu sein. Nur Dondragmer, der etwas von den anderen entfernt stand, schwieg weiterhin nachdenklich, und Barlennan war sich darüber im klaren, daß er seinem Maat eine ausführlichere Erklärung schuldig war.

Aber das hatte Zeit bis später; zunächst mußte die Besatzung nützlich beschäftigt werden.

»Sind die Jäger bereit zum Aufbruch?« Barlennans Frage brachte die Leute wieder zum Schweigen.

»Wir haben noch nicht gegessen«, antwortete Merkoos bedächtig, »aber die Waffen liegen bereit.«

»Ist das Essen fertig?«

»Es dauert nicht mehr lange.« Karondrasee, der Schiffskoch, machte sich ohne weitere Befehle auf den Weg zu seiner Kombüse.

»Don, Merkoos, ihr nehmt beide eine dieser Maschinen. Ihr habt gesehen, wie ich mein Funkgerät benütze – man braucht nur irgendwo in seiner Nähe zu sprechen. Mit seiner Hilfe sind wirklich große Zangenbewegungen möglich, weil die Führer einander nicht zu sehen brauchen.«

Barlennan zögerte und fuhr dann fort: »Don, ich bleibe wahrscheinlich nicht an Bord, wie ich es ursprünglich vorhatte. Ich habe festgestellt, daß man von der Fahrmaschine des Fliegers aus einen guten Blick über weite Entfernungen hat; wenn er zustimmt, fahre ich mit ihm in euer Jagdgebiet.«

»Aber… aber…« Dondragmer war sichtlich erschüttert. »Vertreibt das Ding nicht alles Wild?

Man hört es schon aus hundert Meter Entfernung, und ich weiß nicht, wie weit es sichtbar ist. Außerdem…« Er schwieg, weil er nicht wußte, wie er den wichtigsten Einwand vorbringen sollte. Barlennan sprach für ihn weiter.

»Außerdem könnte sich niemand auf die Jagd konzentrieren, solange ich dort oben sitze – ist das der Grund?« Die Zangen des Maats bewegten sich zustimmend, und der größte Teil der Besatzung machte die gleiche Bewegung.

Der Kommandant wollte schon an ihre Vernunft appellieren, aber dann fiel ihm ein, wie zwecklos dieser Versuch wäre. Er wußte nicht mehr bestimmt, wie er selbst auf einen Plan dieser Art reagiert hätte, aber ihm war jedenfalls klar, daß er sich ebenso wenig von ›vernünftigen‹ Argumenten hätte überzeugen lassen.

»Einverstanden, Don, ich bestehe nicht darauf – du hast vermutlich recht. Ich bleibe in Funkverbindung mit dir, aber immer außer Sichtweite.«

»Willst du wirklich auf diesem Ding fahren? Was ist plötzlich mit dir los? Ich weiß, daß hier am Rand der Welt ein kleiner Fall harmlos ist, aber ich würde es nie über mich bringen, diesen Fall geradezu herauszufordern, und ich kann n icht einsehen, was andere dazu bewegen könnte. Ich mag mir nicht einmal vorstellen, wie man sich dort oben fühlt.«

»Wenn ich mich recht erinnere, hast du dich erst neulich an einem Mast aufgerichtet«, antwortete Barlennan trocken. »Oder war das ein anderer, der die Rahen überprüfen wollte, ohne den Mast umzulegen?«

»Das war etwas anderes – ich hatte schließlich sechs Füße an Deck«, erwiderte Dondragmer kleinlaut.

»Dein Kopf wäre trotzdem tief gefallen. Ich habe ähnliche Kunststücke bei anderen beobachtet. Du erinnerst dich vielleicht noch an meinen Befehl, diese Scherze zu unterlassen.«

»Ist der Befehl noch in Kraft, seitdem du…« Der Maat zögerte, aber Barlennan wußte genau, was er hatte sagen wollen.

»Der Befehl wird hiermit aufgehoben«, sagte der Kommandant langsam. »Der Grund besteht nach wie vor, aber wenn einer von euch nach der Rückkehr Schwierigkeiten hat, ist er selbst dafür verantwortlich. In Zukunft muß jeder selbst wissen, was er tut. Will jemand mitfahren?«

Entsetzte Ablehnung von allen Seiten.

»Macht euch für die Jagd fertig. Ich höre euch zu.« Mit diesen Worten entließ der Kommandant die Besatzung, die gehorsam zur Bree zurückströmte. Barlennan wandte sich an Lackland und teilte ihm mit, was der Flieger seiner Meinung nach erfahren durfte. Der Kommandant war dabei etwas geistesabwesend, denn während der Unterhaltung war er auf einige brandneue Ideen gekommen. Aber damit konnte er sich noch beschäftigen, wenn er wieder mehr Zeit hatte. Im Augenblick hatte er nur den Wunsch, nochmals auf dem Dach des Raupenschleppers mitfahren zu dürfen.

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